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Stuttgart 2021 – auf der Suche nach neuen Rezepten, außergewöhnlichen Lebensmitteln und Kochzubehör stoßen Sonja und ihre Freundin auf eine seltsame Pflanze. Als sich Sonja der Pflanze nähert, weiß sie noch nicht, dass sich dadurch ihr Leben von Grund auf ändern wird. Noch während ihre Freundin mit allen Mitteln diese Pflanze in das Restaurant der beiden bringen will, bricht in Stuttgart der Ausnahmezustand aus.
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Seitenzahl: 97
Z‘21 - Sonja
Stuttgart
Eine Novelle von Michaela Harich
1. Auflage, 2019
© Alea Libris Verlag, Wengenäckerstr. 11, 72827 Wannweil
Alle Rechte vorbehalten
Neuauflage von „Stuttgart‘21 - Sonja“
ISBN: 9783964434715
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Die Personen und die Handlung des Buches sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
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Yannick Allgaier
Simon Rottler
Das grelle Neonlicht und die vielen, unterschiedlichen Gerüche der Gerichte und neuartigen Lebensmittel, die vorgestellt wurden, vermischten sich zu einer recht eigenwilligen Komposition, die in der Nase stach. Sonja kniff die Augen zusammen und versuchte, möglichst flach und durch den Mund zu atmen. Hätte sie Sarah nicht versprochen, sie auf die Intergastra zu begleiten, wäre ihr das alles erspart geblieben und sie hätte sich einen schönen Tag mit ihrem Freund machen können. Aber nein, um den Pub attraktiver zu gestalten und mehr Gäste anzulocken, war sie mit Sarah auf die Gastronomie-Messe gegangen, um neue, vegane Gerichte zu entdecken und die Nachfrage danach zu bedienen. Sonja schüttelte den Kopf. Bisher hatten sie nichts Interessantes oder ansatzweise Essbares gefunden. Zumindest nichts, was sie persönlich den Gästen vorsetzen würde.
»Da! Schau mal!« Sarah griff nach ihrem Arm und deutete wild auf einen Stand, an dem sich eine beachtliche Menschenmenge versammelt hatte. »Lass uns mal da rüber gehen. Veganes Fleisch. Das muss ich sehen!«
Sonja verdrehte die Augen. Es handelte sich wahrscheinlich sowieso nur um eine Art Tofu mit Schweinefleischgeschmack, also nichts Weltbewegendes. Aber Sarah zwängte sich bereits durch die Menschen hindurch, schubste sie erbarmungslos zur Seite und so blieb ihr nichts anderes übrig, als sich mit einem schwachen Lächeln bei ihnen zu entschuldigen und ihr zu folgen.
»Schau mal.« Sarah drückte Sonja eine Broschüre in die Hand. »Bacon-Pflanze. Ulkiger Name.«
Sonja hob eine Augenbraue und betrachtete die leuchtend bunte Abbildung auf dem Flyer. Die Pflanze hatte etwas Unwirkliches an sich; rote Blätter mit weiß-grüner Faserung, ein einzelner, dicker Stamm, knotige Struktur. Die Ähnlichkeit zum Bacon war vorhanden - mit viel Fantasie. Unter appetitlich verstand sie allerdings etwas anderes. Kurz überflog sie die Informationen, die ihr reißerisch weißmachen wollten, dass diese Pflanze der Durchbruch der Menschheit darstellen würde und alle Probleme löste. Sonja schnaubte verächtlich. Das klang einfach zu absurd, um wahr zu sein.
»Das wäre doch der Hammer! Damit könnten wir unseren wahren Wert unter Beweis stellen, also, wenn wir diese Pflanze in den Pub mitbringen. Chefchen würde uns den Boden unter den Füßen vergolden!« Sarahs Stimme überschlug sich beinahe vor Eifer. Sie hatte Blut geleckt, das konnte Sonja nicht nur hören, das konnte sie sehen, als sie den Blick hob. Die Augen der Freundin waren geweitet, glänzten. Na klasse. Das konnte nur eines bedeuten: Sarah würde jetzt alles daran setzen, ein Exemplar zu bekommen. Ob ich mich schon mal vorsichtshalber bei den Ausstellern entschuldigen soll? »Wir könnten damit Werbung machen. Wir könnten damit dieser komischen, veganen Eisdiele zeigen, dass es auch anders geht. Wir wären endlich das In-Restaurant.«
Dann dürfte dein Kerl aber nicht mehr kochen, das kann er nämlich nicht, schoss es Sonja durch den Kopf, doch sie verbat sich diesen gemeinen Gedanken. Jannis war nun mal nicht die hellste Kerze auf dem Kuchen, dafür ertrug er Sarahs Launen und fungierte als menschlicher Punchingball - so gewann jeder etwas. Die Küchencrew ihre verdiente Ruhe und Sarah ihren persönlichen Punchingball. Jemand stieß gegen sie und ließ sie taumeln. Sonja musste nicht erst fragen, sie wusste, dass Sarah sich geradewegs durch die Menschen drängelte, um ihren Willen zu bekommen.
»Ey, pass doch auf!«, fuhr sie ein verschwitzter, irgendwie gehetzt aussehender Mann an. Augenringe, so dunkel, dass sie schon schwarz wirkten, und unfassbare Wut stand in seinem Blick. Seine Kleidung schien nur von Trotz und Dreck gehalten zu werden. Er strahlte etwas Kampfbereites, Abstoßendes aus. Sonja schluckte. An seinem Anblick stimmte so vieles nicht, und sie stammelte eine Entschuldigung. Doch er schien sie nicht zu hören oder hören zu wollen. Seine Aufmerksamkeit richtete sich augenblicklich wieder auf den Stand, die Lippen zusammengepresst, die Hände zu Fäusten geballt. Sonja hob eine Augenbraue, Neugier drängte sie, herauszufinden, was hier vor sich ging. Der Stand, der Forscher - irgendwas hatte seinen Zorn geweckt. Aber was? Sollten nicht alle in Begeisterungsstürme ausbrechen, jetzt, wo es veganes Fleisch gab? Bevor sich Sonja allerdings den Kopf darüber zerbrechen und ihre Neugier stillen konnte, schrillte Sarahs Stimme in ihren Ohren. Die Aufregung ließ die Freundin noch einige Oktaven höher klingen. Sonja verzog leicht die Mundwinkel, bevor sie sich zu Sarah durchkämpfte. Der Forscher, auf den ihre Freundin einsprach, wirkte überfordert, sein Blick huschte gehetzt und Hilfe suchend über die Menge, die sich um den Stand drängte. Er schien nicht zu wissen, wie er mit dem Redefluss Sarahs umgehen sollte. Unwillkürlich kicherte sie.
»Sarah, jetzt lass den armen Mann doch auch mal mit den anderen hier sprechen«, beschloss Sonja ihn zu retten und die Freundin zu stoppen. »Du bist ja nicht die Einzige, die sich für diese ominöse Bacon-Pflanze interessiert.« Kaum hatte sie den Mund geschlossen, schien sich der Forscher auf sie zu konzentrieren. Dunkle Augen starrten sie eindringlich an, so eindringlich, dass Sonja den Drang verspürte, einige Schritte nach hinten zu machen, weit weg von ihm. Um Zeit zu schinden, musterte sie den Laborkittelträger. Das blütenreine Weiß leuchtete im Neonlicht, die dunklen Augen ließen nicht erkennen, was er wirklich dachte. Verkniffene Mundwinkel, ein Lächeln, das mehr als nur aufgesetzt wirkte. Etwas an ihm stieß sie ab. Etwas störte sie gewaltig. Sie konnte nur nicht sagen, was es war. Doch sie hatte das Gefühl, ihm nicht trauen zu können. Was vielleicht auch einfach nur daran liegen konnte, dass sie allen Forschern mit Misstrauen begegnete.
»Sie interessieren sich auch für die Bacon-Pflanze?« Seine Stimme jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Emotionslos, berechnend - zu glatt. »Ominös! Köstlich!« Er lachte. Sonja hätte es nicht gewundert, wenn jetzt die altbekannte Musik aus Horrorfilmen eingespielt worden wäre, die immer dann erklang, wenn etwas Furchtbares geschah. »Gestatten Sie mir, Ihre Zweifel und Fragen zu klären?«
Sonja hob eine Augenbraue. Es war offensichtlich, was er versuchte. Er wollte Sarah entkommen und ganz klare Bauernfängerei anwenden.
»Stell dir die Möglichkeiten vor! Was das für uns bedeuten könnte!« Sarah rüttelte an Sonjas Arm. »Wir wären der In-Laden, der Szeneladen schlechthin. Die würden uns die Bude einrennen! Wir brauchen diese Pflanze!«
»Wir wissen noch nicht einmal, ob die überhaupt gesund ist oder wie sie funktioniert. Die kann auch der gefährlichste Scheiß sein, den wir jemals finden werden«, murmelte Sonja.
»Aber, aber!« Wieder dieses falsche, künstliche Lachen. Sonja verengte die Augen. »Diese Pflanze ist ungefährlich, was soll sie denn schon ausrichten? Sie bietet die perfekte Möglichkeit für unsre veganen Freunde, Fleisch zu genießen, ohne dass ein Tier dafür sein Leben lassen musste. Sie ist wirklich rein pflanzlich und völlig ungefährlich.« Er schnipste - eine Geste, die Sonja die Nase rümpfen ließ. Ein junges Mädchen, höchstens achtzehn, huschte schnell hinter dem Stand hervor, die Hände um einen großen, wuchtigen Topf gepresst. Die Pflanze, die darin wuchs, sah noch abstoßender aus als in der Broschüre. Ein einzelner, daumendicker Stamm wuchs leicht schräg in die Höhe, knotig und dunkelgrün. Äste, anders konnte Sonja es nicht nennen, standen nahezu im rechten Winkel davon ab, erinnerten sie an Finger. Die Blätter in ihrer seltsam weiß-grünlich-roten Beschaffenheit waren dick und fleischig und ein seltsamer Geruch ging von ihr aus. Fasziniert und abgestoßen zugleich näherte sie sich der Pflanze. Vorsichtig streckte sie eine Hand danach aus, was offensichtlich ein Zeichen für den Forscher war, sie mit allen Mitteln überzeugen zu wollen. »Die Vorteile der Baccon-Pflanze sind phänomenal und einzigartig. Allein dieses Exemplar reicht aus, um -« er hielt inne, zählte die Blätter. »- viele Mäuler zu stopfen und Veganer glücklich zu machen. Und am nächsten Tag, dank unseres Spezialdüngers, ist der Strauch wieder voll. Alles ungefährlich, das verspreche ich euch.« Mit einem Nicken forderte er Sonja auf, die Blätter zu berühren. Während ihre Finger über die wulstige Oberfläche strichen, wurde Sonja mit Fakten überschüttet, was diese Pflanze alle könne und zu welchen Ergebnissen man kommen würde. Dabei erwähnte der Laborkittelträger immer wieder diesen Spezialdünger, was sie mehr als stutzig machte.
»Also, ich will ja jetzt nicht spießig klingen, aber dieser Spezialdünger - ich glaube nicht, dass das so koscher ist.« Sonja zog ihre Hand zurück, verschränkte die Arme vor der Brust. Sie konnte den bohrenden Blick Sarahs spüren, ignorierte die Freundin aber. »Das ist mir echt zu genbearbeitet. Das kann nicht gesund sein. Sorry, aber ich würd da ungern die Finger im Spiel haben.«
»Ich kann Ihre Skepsis verstehen, aber glauben Sie mir, wir haben genügend Tests durchgeführt, um sicherzustellen, dass der Dünger und auch die Pflanzenbestandteile nicht schädlich für den menschlichen Körper sind. Es gibt keinen Grund zur Sorge. Wirklich. Die Daten lügen nicht.«
»Das ist alles eine Lüge!«
Sonja fuhr mit einem leisen Schrei zusammen. Der Mann, der ihr vorhin schon aufgefallen war, hatte wohl die Beherrschung verloren.
»Das ist alles eine Lüge! Genmanipulation ist alles, aber nicht gesund!« Seine Stimme war laut, übertönte den Messelärm. »Wir haben immer wieder versucht, Einsicht in die Forschungsunterlagen und Ergebnisse zu bekommen, aber es wurde uns immer verweigert. Es gibt keine eindeutigen Ergebnisse. Niemand kann sagen, dass die Wirkstoffe des Düngers die Pflanze nicht doch so beeinflussen, dass sie schädlich für die DNS des Menschen sind.«
Sonja nickte langsam. Der Mann sprach aus, was sie befürchtete. Der Schriftzug auf dem Pullover des Mannes leuchtete, verriet, dass er Mitglied der Gruppe »Natureen« war. Natureen, Natureen - Sonja kratzte sich am Ohr. Bei diesem Namen klingelte es bei ihr, doch sie kam nicht sofort drauf.
»Ich bin von Natureen. Wir beschäftigen uns mit nachhaltigem Anbau von Gemüse und Obst und wollten die Bevölkerung über die Gefahren, genmanipulierter, überzüchteter Lebensmittel aufklären. Dazu gehört auch die Baccon-Pflanze. Diese Pflanze ist nicht ausgereift genug, um jetzt schon als Nahrungsquelle zu dienen!«
»Das täuscht. Der Verzehr ist völlig unbedenklich möglich«, behauptete die junge Frau, die die Pflanze noch immer umklammert hielt. »Es ist alles getestet worden. Weder der Dünger noch die Stoffe in den Blättern sind für die menschliche DNA schädlich oder zerstören das Biosystem. Keine Nebenwirkungen, keine Schäden. Wir würden niemals ein Menschenleben gefährden!«
»Und warum wurde uns keine Einsicht in die Unterlagen gewährt? Warum hat man uns stets abgewiesen? Uns vom Gelände gejagt? Wenn diese Forschungsergebnisse wirklich so ausgefallen sind, wie man der Öffentlichkeit weismachen will, dann wäre es doch kein Problem gewesen, sie Natureen zukommen zulassen!«
Wo er recht hat, hat er recht, schoss es Sonja durch den Kopf. Mit einem Mal war ihr wieder eingefallen, wer oder was Natureen war. Natur und Green zu einem Wort verschmolzen, ein etwas klingenderer Name als der ursprüngliche - Naturgut. Natureen war so etwas wie die Stiftung Warentest nur eben für Lebensmittel und ihre Natürlichkeit oder Verträglichkeit bezüglich genmanipulierter Lebensmittel. Was sie absegneten, war auch wirklich gut. Dass die Baccon-Pflanze vor ihnen abgeschirmt worden war, verhieß nichts Gutes und verstärkte nur das sehr, sehr ungute Gefühl.