Zeitenfülle - Christian Bock - E-Book

Zeitenfülle E-Book

Christian Bock

0,0

Beschreibung

Nicht nur in den Geisteswissenschaften, der Kunst und Kultur des 20. Jahrhunderts ist die Komplexität und Vieldimensionalität der Zeit zu einem wichtigen Thema geworden. Dabei zeigt sich, dass die Frage nach der Zeit nicht restlos zu beantworten ist. Zeit ist wesentlich Geheimnis. Die Untersuchung wendet sich verschiedenen philosophischen und theologischen Konzeptionen des 20. Jahrhunderts zu (u.a. Heidegger, Ricoeur, Rahner, Balthasar, Pannenberg), deren Ansätze die Vielschichtigkeit der zeitlichen Schöpfung ernstnehmen und die deshalb für eine komplexe Sichtweise auf das Phänomen Zeit plädieren. Interpretationsschlüssel dabei ist der Begriff der Perichorese (= gegenseitigen Durchdringung), der die unterschiedene Einheit von Chronos, Kairos und Pleroma aufdeckt und sie von der zeitlichen Existenz Jesu Christi her auf die Gegenwart des dreifaltigen Gottes transparent macht.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 544

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christian BockZeitenfülle

Herausgegeben vonGisbert Greshake, Medard Kehlund Werner Löser

Christian Bock

Zeitenfülle

Annäherungen an das paradoxe Verhältnis von Vergänglichkeit und Vollendung

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2017 Echter Verlag GmbH, Würzburgwww.echter.de

ISBN 978-3-429-04334-6 (Print)

978-3-429-04910-2 (PDF)

978-3-429-06330-6 (ePub)

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim

VORWORT

Die vorliegende Arbeit ist im Sommersemester 2015 von der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom als Dissertation unter dem Titel »Die theo-logische Struktur der Zeit. Christlicher Äon als Perichorese von Chronos, Kairos und Pleroma« angenommen worden. Neben der Umformulierung des Titels wurde sie für die Veröffentlichung geringfügig überarbeitet.

Die Frage nach der Zeit und dem Umgang mit ihr begleitet mich seit langem auf unterschiedlichste Weise: als existentielle Anfrage und biographische Erfahrung, als denkerische Herausforderung durch ein vielschichtiges Phänomen und Einladung zum interdisziplinären Dialog, endlich als Aufgabe einer lebensdienlichen Theologie.

Vor diesem Hintergrund sei allen gedankt, die mir auf diesem Weg ihre Zeit geschenkt haben.

Zuerst gilt dieser Dank P. Elmar Salmann OSB, der das Entstehen dieser Untersuchung kenntnisreich und inspirierend begleitet hat. Sein geduldiges Interesse am Entstehungsprozess der Arbeit zeigte sich besonders darin, dass er sich für rasche Rückmeldungen, hilfreiche kritische Hinweise und anregende Gespräche stets großzügig Zeit nahm. Ebenso danke ich P. Felix Körner SJ für die Erstellung des Zweitgutachtens. Bei Herrn Prof. Dr. Gisbert Greshake bedanke ich mich für die Initiative zur Aufnahme der Untersuchung in die »Studien zur systematischen und spirituellen Theologie« des Echter-Verlages. Auch den Mitherausgebern, P. Medard Kehl SJ und P. Werner Löser SJ, sei an dieser Stelle gedankt.

Mein besonderer Dank gilt darüber hinaus jenen, die mir dieses Dissertationsprojekt ermöglicht haben: allen voran dem Erfurter Altbischof Dr. Joachim Wanke, der mir am Beginn des Projektes eine zweijährige Freistellung ermöglichte, sowie Weihbischof Dr. Reinhard Hauke, der Sorge dafür getragen hat, dass das Projekt auch danach noch fertiggestellt werden konnte, schließlich dem Bistum Erfurt für die großzügige finanzielle Unterstützung. Nicht zuletzt sei ausdrücklich den haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern der Pfarrei St. Franziskus in Sömmerda gedankt, ohne deren entlastende Unterstützung und begleitendes Gebet in den vergangenen fünf Jahren eine Fertigstellung der Arbeit sicher nicht möglich gewesen wäre.

Am Ende sei ein herzlicher Dank an alle gerichtet, mit denen ich den vergangenen Jahren in besonderer Weise verbunden gewesen bin. Stellvertretend für viele seien genannt: die Gemeinschaft des Collegium Germanicum et Hungaricum in Rom, P. Klaus Peter SJ für das geistliche Geleit, Franziska Eberhardt für sorgfältiges Korrekturlesen, Hubertus Iffland und Claudia Wanierke für manche Ermunterung zum Durchhalten sowie Sascha Jaeck für die Erstellung des Layouts.

Gewidmet sei diese Arbeit schließlich meinen Eltern Dagmar und Hubertus Bock sowie meinem Onkel Domkapitular Bernhard Bock, die mich von Anfang an gelehrt haben, dass die bisweilen so eng erscheinende Zeit tatsächlich ins Weite führt.

Sömmerda, Juni 2016

Christian Bock

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

ERSTER TEIL

Phänomenologische Hinführung

I. Thematische Vorbemerkung: Die theo-logische Relevanz der Frage nach der Zeit

II. Methodische Vorbemerkung

1. Perichorese als Thema, Reflexionsbegriff und Methode …10

2. Chronos, Kairos und Pleroma als phänomenologische Schlüsselbegriffe

3. Äon als theologischer Schlüsselbegriff

4. Grenzen der Untersuchung

III. Die begleitende Frage: Die mögliche Gestalt einer Wirklichkeit nach dem Tod

IV. Das geleitende Interesse: Die zeitliche Gestalt der durch den Tod begrenzten Wirklichkeit

1. Das lebensdienliche Interesse am Kairos: Gegenwart als kairologische Gestalt heutiger Zeiterfahrung

a) Kairologischer Zeitumgang

b) Die Vergegenwärtigungstendenz im Kontext heutiger Zeiterfahrung

c) Das Urphänomen Gegenwart als kairologische Mitte perichoretischen Zeitverständnisses

2. Das philosophische Interesse am Chronos: Gegenwart als chronologische Gestalt der Zeit

a) Zeit als Erfahrung von Vergänglichkeit

b) Die Chronologisierung der Zeit

c) Die philosophische Interpretation der Gegenwart aus chronologischer Perspektive

(1) M. Heidegger: Gegenwart als Dynamik der Zeit aus der Zukunft

(2) H. Rombach: Gegenwart als Dynamik der Zeit aus der Gegenwart

(3) P. Ricœur: Gegenwart als Dynamik der Zeit aus der Vergangenheit

(4) M. Cacciari: Gegenwart als Dynamik der Zeit ohne Chronos

3. Das theologische Interesse am Pleroma: Gegenwart als pleromatische Gestalt der Ewigkeit

a) Das Missverhältnis von Chronos, Kairos und Pleroma

b) Das Missverhältnis von Zeit und Ewigkeit

c) Das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit als perichoretisches Ineinander von Gegenwart und Pleroma

d) Die theologische Interpretation der Gegenwart aus pleromatischer Perspektive

(1) K. Rahner: Heranreifende Gegenwart

(2) K. Barth: Umfasste Gegenwart

(3) H. U. v. Balthasar: Durchbrochene Gegenwart

(4) W. Pannenberg: Dauernde Gegenwart

(5) J. Moltmann: Kommende Gegenwart

V. Die resultierende These: Christlicher Äon als Perichorese von Chronos, Kairos und Pleroma

VI. Zum Begriff der Perichorese

1. Zur Geschichte des Begriffs der Perichorese

a) Die ursprüngliche Bedeutung

b) Der Eingang in die Theologie: Christologische und trinitarische Perichorese

c) Die anschließende Rezeption des Begriffs

d) Die umstrittene Aktualität des Perichoresebegriffs

(1) Universalität der Perichorese: C. Sorč

(2) Unzulänglichkeit der Perichorese: M. Mühling

e) Fazit

2. Zeit und Perichorese: Denkanstöße

a) Zeit perichoretisch gedacht: Der Vorschlag K. Barths

b) Perichorese zeitlich gedacht: Der Entwurf P. Hünermanns

3. Zusammenfassung: Perichorese als Reflexionsbegriff und Theologumen

VII. Der doppelte Gang der Untersuchung

1. Formale Ausrichtung: Perichorese als Reflexionsbegriff

2. Materiale Ausrichtung: Perichorese als Theologoumenon

3. Die perichoretische Einheit von formaler und materialer Ausarbeitung

VIII. Exkurs: Alternative Einheitsmodelle von Zeit

1. Die morphologische Einheit der Zeit

a) Der Ansatz K. Gloys

b) Würdigung und Anfrage

2. Die tripolare Einheit der Zeit

a) Der Ansatz W. Achtners, S. Kunzes und T. Walters

b) Würdigung und Anfrage

IX. Die perichoretische Einheit der Zeit

ZWEITER TEIL

Philosophische Durchführung: Gegenwart aus der subjektiven Perspektive des Nunc

I. Formale Analyse: Gegenwart als perichoretisches Ineinander von Chronos, Kairos und Pleroma

1. Gegenwart als Chronos

a) Die Notwendigkeit der Kritik eines einseitig chronologisierten Zeitverständnisses

b) M. Heidegger: Die vulgäre Zeit

c) H. Rombach: Die fließende Zeit

d) P. Ricœur: Die aporetische Zeit

e) M. Cacciari: Die allverschlingende Zeit

f) Fazit: Der entmachtete Chronos

g) Ausblick: Die chronologische Dynamik der Gegenwart

2. Gegenwart als Kairos

a) Die gegenwärtige Brisanz kairologisch überformter Zeit

b) M. Heidegger: Die ursprüngliche Zeit als Augenblick

c) H. Rombach: Die konkrete Zeit als Situation

d) R Ricœur: Die konfigurierte Zeit als Erzählung

e) M. Cacciari: Die oszillierende Zeit als Äon

f) Fazit: Der gehobene Kairos

g) Ausblick: Der kairologische Zustand der Gegenwart

3. Gegenwart als Pleroma

a) Die prekäre Frage nach dem Ganzen der Zeit

b) M. Heidegger: Das Ganze der Zeit im Augenblick

c) H. Rombach: Das Ganze der Zeit in der Situation

d) P. Ricœur: Das Ganze der Zeit in der Erzählung

e) M. Cacciari: Das Ganze der Zeit im Äon

f) Fazit: Das gegenwärtige Pleroma

g) Ausblick: Die pleromatische Ganzheit der Gegenwart

H. Materiale Analyse: Die Zeitsignatur menschlicher Existenz

1. M. Heidegger: Existentieller Selbstbezug und zukünftige Zeit – Sorge

2. H. Rombach: Existentieller Weltbezug und gegenwärtige Zeit – Konkreativität

3. P. Ricœur: Existentieller Gemeinschaftsbezug und vergangene Zeit – narrative Identität

4. M. Cacciari: Existentieller Gottesbezug und äonische Zeit – Rekreation

5. Fazit: Die temporale Gestalt der Gegenwart aus der Perspektive menschlicher Existenz

6. Ausblick: Gegenwart als das Geheimnis menschlicher Existenz

a) Die Unabweisbarkeit des Geheimnisses

(1) M. Heidegger: Gegenwärtige Endlichkeit

(2) H. Rombach: Gegenwärtiger Zu-Fall

(3) P. Ricœur: Gegenwärtige Vermittlung

(4) M. Cacciari: Gegenwärtige Neuschöpfung

b) Die unabweisbare Gottesfrage

(1) M. Heidegger: Der letzte Gott als Theo-Logisierung der Endlichkeit

(2) H. Rombach: Der kommende Gott als Theo-Logisierung des Zu-Falls

(3) R Ricœur: Der biblische Gott als Theo-Logisierung der Vermittlung

(4) M. Cacciari: Der christliche Gott als Theo-Logisierung der Neuschöpfung

7. Geheimnis und Gottesfrage als Einladung zum Perspektivwechsel

8. Die philosophische Neuausrichtung der begleitenden Frage

DRITTER TEIL

Theologische Durchführung: Gegenwart aus der göttlichen Perspektive der Sempernitas

I. Vorbemerkung: Die prekäre Bestimmung des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit

1. K. Rahner: Ewigkeit als Frucht der Zeit

2. K. Barth: Ewigkeit als die die verlaufende Zeit umfassende Zeit

3. H. U. v. Balthasar: Vertikale Durchkreuzung der Zeit durch die Ewigkeit

4. W. Pannenberg: Dauer als zeitliches Abbild der Ewigkeit

5. J. Moltmann: Perichorese von Zeit und Ewigkeit

6. Fazit: Abschied vom klassischen Zeit-Ewigkeitsschema

II. Formale Analyse: Gegenwart als perichoretisches Ineinander von Altem und Neuem Äon

1. Das Schema von Altem und Neuen Äon

a) Exkurs: Der Verständnishorizont des Äonenbegriffes

(1) Etymologische Bestimmung des Äonenbegriffes….

(2) Der Äonenbegriff im biblischen Kontext

Altes Testament

Neues Testament

(3) Die weitere Rezeption des Äonenbegriffes

b) K. Rahner: Gleichzeitigkeit mit divergierenden Richtungskoeffizienten

c) K. Barth: Ungleichzeitige Gleichzeitigkeit

d) H. U. v. Balthasar: Reziprozität von Weltsituation und Weltziel

e) W. Pannenberg: Selbstbezogenes Jetzt und antizipierender Augenblick

f) J. Moltmann: Äonische Phasenverschiebung

g) Fazit: Das Äonenschema als theologischer Verständnisschlüssel eines perichoretischen Zeitverständnisses

2. Alter Äon

a) K. Rahner: Zeit der Freiheit

b) K. Barth: Zeit als Geschenk Gottes

c) H. U. v. Balthasar: Zeit der Liebe

d) W. Pannenberg: Zeit als endliche Dauer

e) J. Moltmann: Zeit der Schöpfung

f) Fazit: Die befristete Zeit des Alten Äon

3. Neuer Äon

a) K. Rahner: Ewigkeit als endgültige Auszeitigung der Freiheit

b) K. Barth: Ewigkeit als Treue Gottes

c) H. U. v. Balthasar: Ewigkeit als trinitarische Zeit Gottes

d) W. Pannenberg: Ewigkeit als zeit überbrückende Dauer

e) J. Moltmann: Ewigkeit der Neuschöpfung

f) Fazit: Die unbefristete Ewigkeit des Neuen Äon

4. Christlicher Äon als theologische Struktur der Zeit

a) K. Rahner: Gegenwart als Ereignis

b) K. Barth: Gegenwart als »Ver-Kehr« zwischen Gott und Mensch

c) H. U. v. Balthasar: Gegenwart als dramatische Gestalt der Liebe Gottes

d) W. Pannenberg: Gegenwart als Feld

e) J. Moltmann: Gegenwart als Perichorese

f) Fazit: Zeit als Perichorese von Gegenwart und Ewigkeit

g) Philosophische Rückvergewisserung

(1) M. Heidegger: Christlicher Äon als Ereignis

(2) H. Rombach: Christlicher Äon als Kokarde

(3) P. Ricœur: Christlicher Äon als Erzählung

(4) M. Cacciari: Christlicher Äon als rekreierende Unterbrechung

(5) Fazit: Wirklichkeit als Gegenwart des Christlichen Äon

III. Materiale Analyse: Die Zeitsignatur christlicher Existenz

1. Die temporale Gestalt des Christlichen Äon

a) K. Rahner: Die Fülle der Zeiten im absoluten Heilsbringer

b) K. Barth: Perichoretisches Heilsgeschehen in Christus

c) H. U. v. Balthasar: Universale Concretum

d) W. Pannenberg: Proleptische Antizipation des Eschatons in Christus

e) J. Moltmann: Geistesgegenwart

f) Fazit: Mensch und Schöpfung in Christi Gegenwart

2. Die temporale Gestalt christlicher Existenz

a) K. Rahner: Freiheit

b) K. Barth: Zuversicht

c) H. U. v. Balthasar: Darbietung

d) W. Pannenberg: Selbstständigkeit

e) J. Moltmann: Hoffnung

f) Fazit: Christliche Existenz als perichoretische Gegenwärtigkeit

3. Die theologische Neuausrichtung der begleitenden Frage

VIERTER TEIL

Perichoretische Zusammenführung

I. Schlussbetrachtung: Perichorese als Thema, Methode und Reflexionsbegriff

1. Perichorese als Thema: Das perichoretische Ineinander der Perspektiven von Sempernit as und Nunc

2. Perichorese als Methode: Das perichoretische Ineinander der philosophischen und theologischen Perspektiven

3. Perichorese als Reflexionsbegriff: Die theo-logische Struktur der Zeit als Perichorese von Chronos, Kairos und Pleroma

II. Die Lebensdienlichkeit perichoretisch gedeuteter Zeit

III. Perichoretischer Ausblick: Anstöße zum theologischen Weiterdenken

1. Protologisch-eschatologische Perspektive

2. Anthropologische Perspektive

3. Christologische Perspektive

4. Trinitarische Perspektive

5. Ekklesiologische Perspektive

6. Sakramental-liturgische Perspektive

7. Soteriologische Perspektive

8. Fazit: Die perichoretische Christusförmigkeit der Zeit

IV. Metaphorischer Schluss

V. Die perichoretische Neuausrichtung der begleitenden Frage

Literaturverzeichnis

I. Hilfsmittel

II. Primärliteratur

Hans Urs v. Balthasar

Karl Barth

Massimo Cacciari

Martin Heidegger

Jürgen Moltmann

Wolfhart Pannenberg

Karl Rahner

Paul Ricœur

Heinrich Rombach

III. Weitere Literatur

Zuversicht

Wenn alles rings befleckt ist

vom Schatten Blut des Lichts

die Helle zugedeckt ist

Verloren Sag das nicht

Verknüpfe verknote mit Worten

was immer die Erde mag

find Freude allerorten

Hoffnung jeden Tag

Einen sichren Anfang baust du

schweigend sprich nur nicht gleich

des Seins Brennpunkt schaust du

eine Herbstzeitlose bleich

František Halas1

1 Nachdichtung durch Franz Fühmann, in: F. FÜHMANN, Gedichte und Nachdichtungen, Rostock 1978, 93.

ERSTER TEIL

Phänomenologische Hinführung

I. Thematische Vorbemerkung: Die theo-logische Relevanz der Frage nach der Zeit

Wer sich mit der Frage nach der Zeit auseinandersetzt und dabei verschiedene Zeitkonzeptionen in ihrem jeweiligen historischen, soziologischen, kulturellen, religiösen, denkerischen und weltanschaulichen Kontext betrachtet, sieht sich mit einer vielgestaltigen Fülle unterschiedlicher Zeitverständnisse konfrontiert1. In ihnen schlägt sich die gesamte Bandbreite mannigfaltiger Zugänge des Menschen zur Weltwirklichkeit nieder. Die Weisen, Zeit zu erfahren und mit ihr umzugehen, sind so unterschiedlich wie die sie begründenden Kulturen. Dementsprechend variantenreich fallen die Antworten aus, die auf die Frage nach der Vergänglichkeit und der Einteilung der Zeit (Chronos), nach spezifischen Eigenzeiten und der nie wiederkehrenden einmaligen Gelegenheit (Kairos), sowie nach dem Ziel, der Unvergänglichkeit, der Ewigkeit beziehungsweise der Fülle der Zeit (Pleroma) gegeben werden. Aus dieser kontrastreichen Vielfalt resultiert notwendig die prinzipielle Unabgeschlossenheit eines jeden Zeitverständnisses und die Vorläufigkeit aller Zeittheorien. Dies wird bereits in der jeweils bewussten oder auch unbewussten Vorentscheidung deutlich, der zufolge Zeit etwa als vorfindliches Phänomen, als abstrakte Definition, als physikalisch-mathematisches Maß, als Form und Bedingung von Anschauung, als eine die Wirklichkeit konstituierende Matrix oder auch als reine Illusion verstanden wird. Zeit kann in ihrer vieldimensionalen Komplexität weder vollständig erfasst noch in ihrer grundsätzlichen Vorgegebenheit auf eine rein verfügbare Variable reduziert werden. Bei aller Erkenntnis bleibt sie rätselhaft und fordert dadurch zur ständigen Auseinandersetzung mit ihr heraus. So entzieht sie sich grundsätzlich einem einseitig rationalen Zugriff, da sie wesentlich Geheimnis ist. Insofern ist Zeit nicht nur physikalische Größe oder psychologische Bedingung, sie ist darüber hinaus – als Symbol und Zeichen – mit Sinn und Bedeutung aufgeladen, sie kann – als System und Ideologie missbraucht – den Umgang mit ihr bis zur Maßlosigkeit steigern, sie kann – als Gabe und Spiel gedeutet – dem Leben als rechtes Maß dienlich sein und schließlich – als Verheißung und Abgrund zugleich – zu einer existentiellen Frage des Glaubens werden. Die objektivierende Befragung der Zeit deckt nie etwas anderes als deren rationale Unfassbarkeit auf, so dass gerade seit der beginnenden Neuzeit neben dem (eher vernachlässigten) Raum2 die Zeit in ihrer komplexen Vieldeutigkeit zur letzten Platzhalterin jenes Geheimnisses wurde, das sich als verborgene Gegenwärtigkeit des ewigen Gottes nach und nach zu verflüchtigen begann, bis dessen erklärter Tod in der Moderne die Frage nach der Zeit, wie H. Blumenberg notiert, zu einem der »Reste des Unerreichlichen«3 macht: »Raum und Zeit sind die neuzeitlichen Dimensionen des Unerreichbaren.«4

Dieser Erfahrung entspringen die vielfältigen Weisen, nach Zeit zu fragen und über sie nachzudenken. Die Tatsache ihrer Unerreichbarkeit verwehrt einen erschöpfenden Zeitbegriff, wenngleich das Fragen nach ihr dadurch immer neu motiviert wird. Theoretische Zeitreflexionen bewegen sich gewöhnlich in Spannungsfeldern, die auf die Erfahrung ihrer Vergänglichkeit zurückgehen. Zeit wird deshalb vorwiegend auf ihre chronologische Seite hin bedacht, das heißt auf die Frage nach der Verschränkung der drei Zeitmodi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie deren Lokalisierung im menschlichen Bewusstsein (subjektive Zeit) oder der äußeren Wirklichkeit (objektive Zeit). Die darüber hinausweisende Erwägungen über Ursprung und Vollendung der Zeit, wie auch über die Unvergänglichkeit und Ewigkeit alles Zeitlichen, haben in rein empirisch begründeten und naturwissenschaftlich ausgerichteten Denkmodellen keinen Platz. Auch wenn diese Konzeptionen in der großen Linie abendländischen Zeitdenkens stehen, für das von Anfang an auch die Frage nach der Ewigkeit bedeutend war, hat sich das Hauptaugenmerk auf die chronologische Einheit der Zeit gerichtet. Spätestens mit dem mechanischen Weltbild der Neuzeit ist diese Chronologisierung der Zeit zum Paradigma modernen Zeitverständnisses geworden.

Vor diesem Hintergrund erscheint dem Menschen Zeit als wertvolles und verwertbares Gut zugleich. Weil sie im Blick auf die befristete Lebenszeit des Einzelnen als endlich und angesichts der unermesslichen Weltzeit notwendig als zu kurz wahrgenommen wird5, zielen die Bemühungen des Menschen gewöhnlich darauf ab, die ihm gegebene Zeit sinnvoll und gut zu nutzen. Der mit dem mechanistischen Weltbild der Neuzeit einhergehende Quantifizierungsschub in der Handhabung und Beherrschung der Welt hat sich auch auf den Umgang mit der Zeit ausgewirkt: Die immer effizientere Taktung der Zeit ermöglichte eine zunehmend rentablere Planung und Ausbeutung von Zeiträumen6. Unter dem allherrschenden Diktat der chronologischen Seite der Zeit ging vor allem in den technisierten und industrialisierten Staaten das Bewusstsein weitestgehend dafür verloren, Zeit als ein für die Erfahrung komplexes und ein für das rationale Verstehen widersprüchliches Phänomen sowie als ein für eine sinnstiftenden Weltdeutung im letzten unergründliches Geheimnis wahrnehmen zu können7. Die mit der Chronologisierung der Zeit einhergehende Beschleunigungstendenz der Moderne scheint mit dem Beginn und dem derzeitigen Ausbau der globalen Vernetzung durch das Internet ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht zu haben. Die theoretisch jederzeit und überall herstellbare Realpräsenz virtueller Wirklichkeiten bedarf keiner chronologischen Wartezeiten mehr, um Informationen, Kommunikation, Bildung, Arbeit, Unterhaltung und Konsum sofort und augenblicklich verfügbar zur Hand zu haben, wobei das »Zur-Hand-Haben« längst kein Bildwort mehr ist, sondern dem technischen Standart jener handgerechten Kommunikationsmittel entspricht, mit deren Hilfe der Nutzer die ganze Welt »im Griff« hat8. Dabei bleibt die unermessliche Fülle der sich daraus ergebenden Möglichkeiten einer radikal neuen und überall verfügbaren Herstellung von bisher unerreichbarer Wirklichkeit nicht ohne Auswirkung auf den Umgang mit der Zeit. In der Gestaltung des Lebens und Arbeitens des global vernetzten Menschen im angehenden 21. Jahrhundert verliert die Monokultur chronologischer Zeitbeherrschung zunehmend an Bedeutung zugunsten eines Zeitumgangs, dessen Fokus sich mehr und mehr auf die je konkreten Gegenwartsgestalten mit der ganzen sich in ihnen anbietenden Fülle von Möglichkeiten richtet9. Die Gegenwart selbst wird zur Maßgabe eines solchen Zeitumgangs. Die globalen Gesellschafts-, Wirtschafts- und Finanzsysteme wie auch die Lebensgestaltung des Einzelnen werden freilich auch in Zukunft nicht ohne eine Taktung planbarer Zeit auskommen. Jedoch scheint die chronologische Einseitigkeit im Zeitumgang und das daraus folgende Verständnis des Phänomens der Zeit als reiner Chronos durch die derzeitige Vergegenwärtigungstendenz aufgebrochen. Angesichts der unermesslich erscheinenden Fülle von Möglichkeiten, die eine virtuell-reale Gegenwart je und je neu bietet, sind mit dem Kairos und dem Pleroma wieder jene Dimensionen der Zeit in das Zeitbewusstsein eingerückt, die durch ihre einem chronologischen Zeitumgang entgegenstehende Unvorhersehbarkeit und Ineffizienz fast gänzlich verdrängt worden waren. Der global vernetzte Mensch erfährt sich beständig neu im Kairos einer an potentiellen Möglichkeiten unerschöpflichen Gegenwart stehend. Dabei ist er ausgerichtet auf eine Fülle, die er in zunehmendem Maße zu vergegenwärtigen, jedoch nie endgültig zu erreichen vermag.

Durch dieses Unerreichbare der Zeit ist die Frage nach der Ewigkeit jeder Zeitspekulation unabweisbar mitgegeben, auch wenn diese als infinites Absolutum der Zeit vor dem Hintergrund des Plausibilitätsverlustes eines metaphysisch überhöhten Zeit-Ewigkeitsdualismus verloren gegangen zu sein scheint. Hinsichtlich der damit verbundenen Entstellungen einer zeitenthobenen Ewigkeit im Sinne eines unendlichen Kontinuums oder einer erstarrten Gegenwartssingularität kann dies freilich nur als konsequent und notwendig angesehen werden. Das Bemühen jedoch, den letzten Rest der für die jeweilige Gegenwart unerreichbaren Zeit durch die Vergegenwärtigung der beiden temporalen Dimensionen Vergangenheit und Zukunft einzuholen, steht dabei in der Gefahr, den Versuchungen jener ideologischen Kompensationen zu erliegen, die die verloren gegangene Ewigkeit entweder durch das Vergangene oder durch das Zukünftige zu ersetzen trachten: einmal in der regressiven Versuchung, Vergangenheit durch historisierende Wieder-holung erreichbar und Gegenwart damit zum Ort traditionalistischer Zukunftsabwehr zu machen, dann in der progressiven Versuchung, Zukunft durch Her-stellung erreichbar und Gegenwart damit zum Ort utopischer Vergangenheitsabkehr zu machen. Diese Versuche bleiben insofern defizitär, als die Erreichbarkeit der Vergangenheit durch Zementierung des Vergangenen (auf Kosten des Zukünftigen) und die Erreichbarkeit der Zukunft durch Verabsolutierung des Künftigen (auf Kosten des Vergangenen) die Gegenwart selbst unerreichbar werden lassen, welche zu einer verfügbaren Projektion des vermeintlich Erreichten herabgemindert wird. Bedingung solcher Reduktion ist die Einseitigkeit des auf die chronologische Seite der Zeit fixierten Zeitverständnisses, dessen strukturellen Bezugspunkte sich allein auf die drei zeitlichen Ekstasen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschränken. Ein solches Verständnis von Zeit wird auf die phänomenologische Beobachtung ihrer aus der kosmischen Entropie abgeleiteten Unumkehrbarkeit eingeengt. Entscheidend hierbei ist einzig der messbare Zeitraum, der zu einer quantifizierbaren Größe und nur aufgrund seiner Vergänglichkeit zu einem wertvollen Gut wird, dessen Qualifizierung sich freilich allein in seiner Verwertbarkeit erschöpft10. Die in die Gegenwart projizierten Dimensionen von Vergangenheit und Zukunft sind damit bloße Illusionen einer derartig herstellbaren Gegenwart, welcher nicht nur die Ewigkeit verloren gegangen ist, sondern auch der unmessbare Kairos als Ausdruck ihrer letzten Unverfügbarkeit und qualitativ-erfüllten Gestalt. Neben der temporalen Nichtigkeit von Vergangenheit und Zukunft kann innerhalb eines rein chronologischen Zeitverständnisses auch im Blick auf die Gegenwart nichts anderes als deren quantitativ-temporale Ausdehnungslosigkeit und damit deren wesenlose Nichtigkeit festgestellt werden. Dass ein derart einseitiges Zeitverständnis nicht haltbar ist, musste nicht erst durch die Relativitätstheorie und die Erkenntnisse der Quantenphysik im 20. Jahrhundert erwiesen werden11. Bereits Augustinus macht diese Unzulänglichkeit im Rahmen seiner Zeitanalyse geltend12. Zeit ist mehr als reiner Chronos. Sie ist das Getrenntsein des in der Gegenwart miteinander Verbundenen. Gegenwart ist damit mehr als eine reine Leerstelle oder haltlose Projektionsfläche inmitten eines quantifizierten Kontinuums nichtiger Zeitpunkte. Sie ist als »Urphänomen«13 die Verbundenheit des durch die Zeit voneinander Getrennten. Im Jetzt der Gegenwart verbinden sich deshalb chronologisch zerstreute Vergänglichkeit, kairologisch konkrete Gestalt und pleromatisch verheißene Ganzheit zu einer einheitlichen Erfahrung von Wirklichkeit, an der der Geheimnischarakter der Zeit selbst ablesbar wird.

Philosophische und theologische Denker haben deshalb nie aufgehört, auf die Einseitigkeiten eines rein chronologischen Zeitbewusstseins hinzuweisen, die sich daraus ergebenden Folgen für den Zeitumgang zu untersuchen und diese kritisch in den Blick zu nehmen. Während die quantenphysikalische Interpretation des Kosmos derzeit in Bereiche des Weltverständnisses vordringt, in denen der Faktor t gegenüber einer alles rationale Verstehen übersteigenden Wirklichkeitsdeutung allenfalls noch eine flankierende Rolle spielt14, wäre es die Aufgabe einer lebensdienlichen Theologie, heutiger Zeitwahrnehmung zu einem Bewusstsein aufzuhelfen, das im Phänomen der Zeit zuerst wieder jenes Geschenk zu erkennen vermag, das Gott dem Menschen und seiner Schöpfung gemacht hat. Im Geheimnis der Gegenwart, die durch die technisch-virtuellen Möglichkeiten in das Zentrum gegenwärtigen Zeitumgangs gerückt ist, ließe sich demnach jene anfängliche Spur finden, die der Schöpfer unwiderruflich in seine Schöpfung eingeschrieben hat: die Spur des Ewigen. Eine lebensdienliche Theologie sollte deshalb darauf aufmerksam machen, dass sich gegenwärtiger Zeitumgang nicht allein auf die potentiell nützlichen und konsumierbaren Möglichkeiten der Gegenwart beschränkt.

Dabei gilt es zur Vermeidung neuer Einseitigkeiten und Überforderungen im Umgang mit der Zeit alle drei temporalen Dimensionen in maßvoller Balance zu halten: Zeit ist immer Chronos in ihrer Befristung und ihrem gerichteten Verlauf, Zeit ist immer Kairos als die konkret-affizierende Gestalt der jeweiligen Gegenwart und Zeit ist immer Pleroma in der unendlichen Fülle ihrer Möglichkeiten. Vor diesem Hintergrund soll das Phänomen der Zeit als das gedeutet werden, als was es durch die derzeitige Vergegenwärtigungstendenz wieder erneut ins Bewusstsein rückt: als Gegenwart. Bemerkenswerterweise ist im deutschen Adverb »jetzt« deren Geheimnis etymologisch aufbewahrt15: ursprünglich zusammengesetzt aus »je« und »zu«, ist die Silbe »je« aus dem spätmittelhochdeutschen »aiwin« mit der Bedeutung »immer, irgendeinmal« entstanden. »Aiwin« wiederum ist als Kasusform zu »aiwi« mit dem altgriechischen »aion« verwandt und trägt die Bedeutung »Zeit, Ewigkeit« und im Blick auf die antike Herkunft auch noch die Bedeutung »Lebenszeit, lange Zeit, Ewigkeit« in sich16. In der heutigen Verwendung des Adverbs »jetzt« mit der »auffällige[n] Einschränkung der Bedeutung auf den gegenwärtigen Zeitpunkt«17 verbirgt sich also jene in der chronologisch verstandenen Zeit verloren geglaubte Ewigkeit, die hier noch in ihrer ursprünglichen Bedeutung gefasst ist: als konkrete Fülle und vollendete Ganzheit des Lebens oder eines Zeitalters.

Das Leitmotiv der vorliegenden Untersuchung ist deshalb ein Verständnis von Gegenwart als das Ineinander von gebrochener Wirklichkeit (Chronos), durchbrochener Wirklichkeit (Kairos) und ungebrochener Wirklichkeit (Pleroma). Dieses Ineinander soll als Perichorese bestimmt werden, um nicht die Aporien des überkommenen Zeit-Ewigkeitsdualismus zu wiederholen, der in seiner letzten Konsequenz zu einem unvermittelbaren Gegenüber einer rein materiell-immanent gedeuteten Welt mit ausdrücklicher Zurückweisung jeder Möglichkeit einer transzendenten Wirklichkeit auf der einen Seite und einem theologischen Jenseitstriumphalismus auf der anderen Seite führt, dessen Erlösungsdominanz die diesseitige Welt bis zur Bedeutungslosigkeit herabmindert. Wie noch zu sehen sein wird, entspricht der Perichoresebegriff in hohem Maße dem Anspruch des postmodernen Pluralitätsparadigmas, Phänomene aus unterschiedlichen Perspektiven ohne leichtfertige dialektische Auflösung in den Blick zu nehmen und so dem oszillierenden Spannungsreichtum einer immer vieldeutig bleibenden Wirklichkeit in Beobachtung und Deutung gerecht zu werden. Allein so vermag das komplexe Phänomen Zeit als Geheimnis einer zugleich chronologisch, kairologisch und pleromatisch gedeuteten Wirklichkeit gewahrt bleiben.

Zwei Hauptperspektiven bestimmen dabei den Gang der Untersuchung: zum einen die philosophische Blickrichtung auf die Zeit aus der Perspektive des Einzelnen, für den Gegenwart immer nur fragmentarisches Nunc sein kann, und die auf rationalem Wege im Phänomen der Gegenwart auf jenes Absolutum stößt, das dem Denken unabweisbar entzogen bleibt. Die philosophische Frage nach der Zeit mündet in jenes Geheimnis, das die theologische Blickrichtung auf die Zeit öffnet, die aus gleichsam göttlicher Perspektive die Gegenwart als Sempernitas zu deuten vermag. Beide Perspektiven gliedern den Gang der Untersuchung und geben ihr die perichoretische Struktur, die dem vorgeschlagenen perichoretischen Zeitverständnis entspricht: in einer Vielzahl philosophischer und theologischer Stimmen jenen Perspektivenreichtum zur Geltung zu bringen, der die Frage nach der Zeit als unablässigen und immer wieder neu zu beschreitenden Weg darstellt, sich auf unterschiedlichstem Wege dem Geheimnis der Gegenwart anzunähern. Dabei bleiben diese Näherungsversuche nicht nur auf dem Feld theoretischer Spekulationen stehen, sondern sind gänzlich von der praktischen Frage motiviert, wie Philosophie und Theologie einen lebensdienlichen Beitrag zum Umgang mit der dem Menschen und der Schöpfung gegebenen Zeit leisten können. Im perichoretischen Ineinander von Chronos, Kairos und Pleroma offenbart sich die theo-logische Struktur der Zeit, die in der Perichorese der drei göttlichen Personen gründet, aus dieser hervorgeht und in diese einmündet, und die sich allein deshalb als Christlicher Äon erweist, weil Gott in seinem eigenen Sohn allen und allem seine ganze Zeit schenken will.

II. Methodische Vorbemerkung

1. Perichorese als Thema, Reflexionsbegriff und Methode

Der noch näher in seiner Bedeutung und Rezeptionsgeschichte zu erläuternde Begriff der Perichorese hat in der vorliegenden Untersuchung eine dreifache Funktion:

(1) Als Thema bestimmt er das Wesen der Zeit selbst perichoretisch. Voraussetzung dieser These ist die vorangestellte Beobachtung, dass ein rein chronologischer Zeitbegriff in sich ungenügend und im Blick auf die Komplexität der Zeit unzulässig eindimensional ist. Vielmehr besteht die temporale Gestalt der Wirklichkeit aus dem ungetrennten und zugleich unvermischten Ineinander von chronologischer Struktur, kairologischer Situation und pleromatischer Ganzheit. Um diesem komplexen Ineinander gerecht zu werden, stellt die perichoretische Deutung der Zeit den Versuch dar, ein temporales Einheitsmodell zu entwickeln, das diese wechselseitige Diversität in Einheit und Verschiedenheit mit einbezieht18. Dabei ist nicht außer Acht zu lassen, dass der Perichoresebegriff primär ein Theologumenon ist, das zur Beschreibung des trinitarischen Wesens Gottes herangezogen wird. Deshalb beinhaltet das perichoretische Zeitverständnis immer auch eine theologische Dimension, die dem christlichen Bekenntnis zu dem drei-einen Gott entspricht, der Mensch und Schöpfung an seinem trinit arischen Wesen teilhaben lassen will. Wenn es Gottes Wesen entspricht, für Mensch und Schöpfung Zeit zu haben19, dann erweist sich die Zeit selbst als theo-logisch. Allein unter dieser Hinsicht kann die Zeit als Platzhalterin jenes Geheimnisses gedeutet werden, das sich heute als die Unerreichbarkeit der Zeit darstellt, in Wahrheit aber auf die verborgene Gegenwärtigkeit Gottes in der zeitlichen Wirklichkeit verweist.

(2) Mit der Perichorese als Reflexionsbegriff kann die temporale Struktur der Wirklichkeit perichoretisch ausgedrückt werden. Zeit ist nicht nur ihrem Wesen nach perichoretisch, sondern auch sprachlich nicht anders als perichoretisch artikulierbar. Da jedes Sprechen über die Zeit aufgrund ihrer entzogenen Geheimnishaftigkeit defizitär bleiben muss, dürfen einzelne Aussagen über die Zeit nie verabsolutierend für sich stehen, sondern müssen immer im Zusammenhang mit allen anderen Aussagen verstanden werden. Auch hier gilt für Reflexionen über die Zeit das, was das theologische Sprechen über das trinit arische Geheimnis kennzeichnet: So, wie das Sprechen über eine der drei göttlichen Personen immer die anderen beiden und dabei zugleich den einen Gott mitmeint, bleibt jedes Sprechen über Zeit ungenügend, wenn es nicht immer auch als ein Reflex auf das Ganze ihres Geheimnisses verstanden wird.

(3) Schließlich ist die Methode der Untersuchung perichoretisch gefügt. Vielfältige Perspektiven werden auf die eine Frage nach der Zeit eröffnet und, einander bereichernd und ergänzend, miteinander ins Gespräch gebracht. Die Auswahl der Autoren beschränkt sich bewusst auf Philosophen und Theologen des 20. Jahrhunderts, da diese in der Tradition abendländischen Zeitdenkens stehen und es im Blick auf dessen Krise aus dieser Perspektive heraus interpretieren, ihm kritisch begegnen und es über den Horizont seiner chronologischen Geläufigkeit hinaus befragen. Zwei Hauptperspektiven bestimmen dabei den Gang der Untersuchung: zum einen die gebrochene Perspektive des Menschen auf die Wirklichkeit aus seiner jeweiligen Situation heraus (philosophische Durchführung) und zum anderen die ungebrochene Perspektive Gottes auf die allumfassende Wirklichkeit (theologische Durchführung). Beide Perspektiven konvergieren in der Frage nach dem Absolutum der Zeit, weil die philosophischen Beiträge notwendig auf dieses stoßen und die theologischen Beiträge genuin von ihm ausgehen. Die Aufteilung der beiden großen Durchführungen in eine formale und eine materiale Ausarbeitung erscheint deshalb angebracht, weil sie als perichoretische Anordnung zu verstehen ist: Die formale Erarbeitung temporaler Strukturen ist reziproker Reflex auf die materiale Darstellung konkreter Wirklichkeitserfahrungen mit den darin gegebenen Zeitsignaturen und umgekehrt. Begleitet wird die Untersuchung schließlich von jener Frage, die den Menschen in seinem Fragen nach der Zeit immer wieder neu beunruhigt: die Frage nach der Möglichkeit postmortaler Existenz unter der Bedingung des Seins oder Nichtseins posttemporaler Wirklichkeit.

2. Chronos, Kairos und Pleroma als phänomenologische Schlüsselbegriffe

Zeit als Phänomen ist in sich komplex und dynamisch und bleibt einem bloß rationalen Zugang grundsätzlich entzogen, so dass jede verabsolutierende Verengung im Zeitverständnis notwendig zu einem einseitigen Zeitbegriff führt. Reine Chronologisierung reduziert das Zeitverständnis auf ein leeres Kontinuum fortlaufender Zeitpunkte, die durch definierte Maßgaben mathematisch quantifizier- und physikalisch messbar werden und die in ihrer Endlosigkeit zu einem Verständnis von Ewigkeit führen, das Hegel als eine »schlechte Unendlichkeit«20 bezeichnet hat. Die Reduktion der Zeit auf den Kairos dagegen beschränkt diese auf den fragilen Augenblick, der zum Ganzen der Zeit heraufbeschworen wird, dabei ein umfassenderes Verständnis von Gegenwart nicht zulässt und wiederum eine schlechte Ewigkeit hervorbringt, die nicht anders als Starre dieses einen Augenblickes verstanden werden kann. Wird Ewigkeit schließlich als metaphysische Übergröße der Zeit gedeutet, gerät die Zeit selbst in Gefahr, zu einer bloß vorübergehenden und deshalb jeder Bedeutung beraubten Größe herabgemindert zu werden. Deshalb wird zur Vermeidung dieses Missverhältnisses Ewigkeit im Kontext dieser Untersuchung immer als Pleroma – Zeitenfülle – verstanden.

In ihrem perichoretischen Zusammenhang bringen alle drei Begriffe auf ihre Weise eine Seite der Zeit zum Leuchten, die nicht ohne die anderen beiden Perspektiven gesehen werden darf. Chronos21 verweist auf die verlaufend-vergängliche, trennend-zerstreuende und irreversibel-gerichtete Seite der Zeit, die die je konkrete Gegenwart in die kairologische Dynamik eines permanenten Wandels stellt und die aufgrund ihrer Endlichkeit zu pleromatischer Erfüllung und Vollendung strebt. Die konkrete Gestalt der Zeit wird durch den Kairos22 angezeigt, der die Gegenwart unverfügbar ergehen, fragmentarisch, aber erfüllt vorübergehen und unweigerlich vergehen lässt, der damit dem leeren Chronos konkrete Gestalt verleiht und in der Ganzheit der situativ auf-, vorüber- und vergehenden Gegenwart auf das Pleroma als deren Fülle und Verheißung verweist. Im Pleroma23 selbst kommen Fülle und Vollendung der Zeit zum Ausdruck als Gewähr und Erhalt alles Zeitlichen in der einen Gegenwart, die chronologisch unermesslich und kairologisch unerschöpflich ist. Chronos, Kairos und Pleroma verweisen in ihrem perichoretischen Ineinander auf das Geheimnis der Zeit, das in dieser Untersuchung als »Christlicher Äon« dargestellt werden soll.

3. Äon24 als theologischer Schlüsselbegriff

Wenn Gegenwart als Jetzt erfahren wird, so ist in dieser Erfahrung, wie etymologisch bereits gezeigt wurde, etwas Ewiges, wenn auch verborgen, mitgegeben. Die im deutschen Adverb »jetzt« als »Aiwi« bewahrte Ewigkeit leitet sich aus dem altgriechischen »Äon« ab, was mit »Lebensalter, Zeitalter, Ewigkeit« übersetzt werden kann. Ewigkeit ist unter dieser Hinsicht keine leere abstrakte Größe, sondern konkrete Fülle, vollendete Ganzheit und unverlierbare Lebendigkeit. Vor diesem Hintergrund soll Äon25 als spezifisch theologischer Zeitbegriff verstanden werden, der das komplexe Phänomen Zeit im umfassendsten Sinn als unvermischtes wie ungetrenntes Ineinander von Chronos, Kairos und Pleroma deutet. Dies bewahrt neben den bereits benannten Gefahren eines einseitigen Zeitverständnisses vor einer dualistisch missverstandenen Zwei-Äonenlehre, die zugunsten eines noch zu erwartenden (besseren) Äon den hiesigen abwertet. Die Spezifizierung als »Christlichen Äon« gründet im christologischen Faktum der Inkarnation, durch die sich Gott selbst in die geschöpflich verlaufende Zeit hingegeben und damit als Herr über alle zeitlichen Dimensionen erwiesen hat26, deren perichoretische Einheit er gewährt. Damit kommt auch die ursprüngliche, auf das konkrete Leben bezogene qualitative Begriffsbedeutung von Äon ins Spiel, insofern sich im durch Tod und Auferstehung vollendeten Leben Jesu Christi die Fülle der Zeiten als Maßgabe und Sinnmitte jeglicher Zeitlichkeit offenbart. Erst von dieser Perspektive her darf es eine Unterscheidung von Altem und Neuen Äon geben, die qualitativ einmal den befristeten Zeitraum der dem Tode verfallenen Schöpfung und zugleich den fristlosen Zeitraum des unverlierbaren Lebens der Neuschöpfung kennzeichnet. Christlicher Äon verweist also auf das perichoretische Ineinander beider Äonen und weist damit die Gesamtwirklichkeit als offene und oszillierende Gegenwart aus, die aus theologischer Perspektive allein vom Christusereignis her gedeutet werden kann.

4. Grenzen der Untersuchung

Die maßgebliche Grenze der Untersuchung liegt im Begriff der Perichorese selbst. In seiner doppelten Funktion als Reflexionsbegriff und Theologumenon kann er weder eine endgültige Antwort auf die Frage nach der Zeit sein noch die Lösung der mit ihr verbundenen Aporien darstellen. Vielmehr betont die perichoretische Interpretation der Zeit deren unbedingten Geheimnischarakter und bringt damit eine der ursprünglichen Bedeutungen des Wortes Perichorese zur Geltung: »herumgehen«, »das Land einkreisen« und »umringen«. Allein in dieser umkreisend-tastenden Weise kann die Frage nach der Zeit so gestellt werden, dass durch die prismatische Vielfalt der Perspektiven deren theo-logische Mitte als Geheimnis gewahrt bleibt. Jede fertige Antwort und jeder eindeutige Vorschlag würden dem Anliegen dieser Untersuchung widersprechen, die oszillierende Wirklichkeit in all ihrer theo-logischen Frag-Würdigkeit offen zu halten. Deshalb bedarf es neben den theologischen Überlegungen auch einer philosophisch-rationalen Vergewisserung, damit das theo-logische Fragen nach der Zeit nicht zu einem theologischen Kurschluss führt, der die offene Aporetik der Zeit leichtfertig als unhinterfragbares Mysterium behauptet und damit ein zirkulärmeditatives Fragen und Denken nicht überstiege. Der spezifische Beitrag dieser Untersuchung zu einer perichoretisch interpretierten Phänomenologie der Zeit liegt deshalb in der inhaltlichen Freilegung perichoretischer Denkstrukturen innerhalb der einzelnen vorgestellten Konzeptionen von Zeit und Ewigkeit, deren Darstellung durch die gegenseitige Bereicherung, kritische Infragestellung und permanente Neuakzentuierung der unterschiedlichen Ansätze ermöglicht wird. Die schier unermessliche Anzahl möglicher Perspektiven setzt dieser Untersuchung dabei ihre methodische Grenze in der Beschränkung der philosophischen und theologischen Zeitkonzeptionen auf eine bestimmte Auswahl von Autoren des 20. Jahrhunderts. Die Auswahl bestimmend ist zum einen das Kriterium der den Autoren gemeinsamen Suche nach einem einheitlichen, postchronologischen Zeitverständnis angesichts der Krise des neuzeitlich-mechanistischen Weltbildes und zum anderen die akzentuiert unterschiedlichen, zum Teil gegensätzlichen Perspektiven, die eine Fülle philosophischer, phänomenologischer, theologischer, spekulativer und lebensdienlicher Aspekte in die Frage nach der Zeit einbringen und so einen ausdrücklich dialogischen Gang der Untersuchung ermöglichen. Allen Autoren ist dabei gemeinsam, dass sie in ihrer Weise auf die Zeit als Geheimnis hindenken (philosophisch) beziehungsweise die Frage nach der Zeit von deren Geheimnis her stellen (theologisch). Hinsichtlich eines angemessenen äußeren Umfangs dieser Untersuchung ist ein Verzicht auf andere relevante Beiträge27 nicht zu vermeiden und bedeutet keinesfalls, dass diese nicht auch für ein perichoretisches Zeitverständnis aussagekräftig wären. Darüber hinaus lässt es die ohnehin umfangreiche Auswahl an Zugängen nicht zu, diese in einem jeweils eigenständigen Entwurf vollständig darzulegen. Diesbezüglich kann auf die zu jedem der Autoren bereits vorliegende Forschungsliteratur verwiesen werden28. Der Aufbau der vorliegenden Untersuchung ist deshalb nicht auf die Autoren selbst bezogen, sondern gründet in der typologischen Aufgliederung der theo-logischen Frage nach der Zeit, deren inhaltlicher Gang durch die spezifischen Einzelperspektiven der jeweiligen Autoren bestimmt wird. Dies setzt voraus, dass deren Konzeptionen nicht in ihrem genuinen Entstehungszusammenhang, sondern immer nur in ihrem auf die Frage selbst bezogenen Sinnzusammenhang gesehen werden müssen29. Unter der Maßgabe dieser genannten Grenzen ist der methodisch gewollte perichoretische Perspektivenreichtum der folgenden Überlegungen vor allem als ein möglicher Beitrag zu einer Phänomenologie der Zeit zu verstehen, der als solcher selbst in die bestehende Fülle alternativer Zeitkonzeptionen perichoretisch eingefügt ist.

III. Die begleitende Frage: Die mögliche Gestalt einer Wirklichkeit nach dem Tod

Die Frage nach der Unvergänglichkeit alles Zeitlichen gehört zu den Grundfragen des Menschen. Besonders im Hinblick auf die sterbliche Existenz stellt sich die dringliche Frage, ob das irdisch einmalige Leben mehr als ein nur »gebrochenes Versprechen«30 ewigen Lebens ist. Gibt es etwas, das die Zeit grenze endlicher Lebensfrist bleibend überdauert? Hat die Hoffnung auf Unsterblichkeit und Verewigung des gelebten Lebens in eschatologisch vollendeter Gemeinschaft eine glaubwürdige Berechtigung? Ist vor diesem Hintergrund die Rede von Erfüllung und Vollendung des Lebens jenseits der Todesgrenze mehr als nur illusorische Vertröstung, die die Diesseitigkeit menschlichen Daseins zu einem »nichtig verlöschende[n] Zufallsfaktor im Sein«31 herabmindern will? Führt die Vision einer universellen letzten Gerechtigkeit über die unheilvolle Versuchung hinaus, menschliche Gemeinschaften vorschnell vom ernsthaften Bemühen um innerweltliche Gerechtigkeit entbinden zu wollen? Und: Wird es eine Weise der vollendeten Gottesbegegnung geben, die über die flüchtigen Erfahrungen seiner »abwesenden Präsenz«32 derart hinausgeht, dass Geheimnis und Sinn von Welt und Leben umfassend, erfüllend und auf ewig erschlossen sind?

Die bleibende Aktualität dieser Fragen zeigt sich in der Fülle gegenwärtiger Publikationen, die sich – zwischen Sensationslust und Seriosität – mit der Möglichkeit einer Weiterexistenz nach dem Tod auseinandersetzen33. Unabhängig von den höchst unterschiedlichen Motivationen, sogenannte Nahtodeserfahrungen zu veröffentlichen, vereint alle diesbezüglichen Berichte ein gemeinsames temporales Schema, nach welchem auf das Diesseits ein Jenseits folgt, in welchem sich das Leben dann fortsetzt. Die inhaltliche Gestalt dieser Beschreibungen postmortaler Existenz reicht dabei vom Unvermögen, das geheimnisvoll Erfahrene adäquat auszudrücken, über Berichte von persönlichen und höchst emotionalen Begegnungen mit bereits Verstorbenen bis hin zur unbekümmerten Adaption religiöser Jenseitsvorstellungen, die unter bewusster Vernachlässigung des in diesen zum Ausdruck kommenden Bild- und Symbolgehalts als Grundlage eines persönlichen Erlebnisberichtes herangezogen werden34. Hintergrund dieser Berichte, die allenfalls etwas über den inneren Prozess des Sterbens35, nichts jedoch über eine mögliche Gestalt postmortaler Existenz auszusagen vermögen, ist jener Zeit-Ewigkeitsdualismus, der mehrheitlich das temporale Schema der Bilderwelt religiöser Jenseitsvorstellungen bestimmt. Auch die christlichen, zum Teil biblisch begründeten Topoi von Himmel, Hölle, Fegefeuer und Jüngstem Gericht haben zumindest auf der Ebene ihres bildhaften Gehalts dieses temporale Schema zur Grundlage. Angesichts eines materialistischen und mechanistischen Weltbildes, in dem die Gesetzmäßigkeiten von Entropie und Irreversibilität dominieren, ist die Frage nach einem Jenseits und dem Leben nach dem Tod jedoch irrelevant geworden, denn kein rationales Wissen kann etwas anderes lehren als dass der Tod das unausweichliche Ende aller weltimmanent-materiellen Existenz ist. Das Schema »zeitliches Diesseits – ewiges Jenseits« erweist sich als fragwürdig hinsichtlich einer Wirklichkeit, von der zunehmend erkannt wird, dass ihr Geheimnis nicht in ein unbestimmtes Jenseits ausgelagert, sondern in dieser selbst zu finden ist.

Vor diesem Hintergrund ist es auch künftig Aufgabe einer lebensdienlichen Theologie, die bleibende Frage nach der Möglichkeit einer Existenz nach dem Tod wach und lebendig zu halten, weil sie zu allen Zeiten Ausdruck der tiefsten Sehnsucht des Menschen nach unverlierbarem Leben ist, über das der Tod keine Macht mehr hat. Glaubwürdigkeit kann ein solches Fragen freilich nur dann für sich beanspruchen, wenn dabei auf den metaphysischen Dualismus von Zeit und Ewigkeit verzichtet wird. Denn dieser stellt erstens eine beliebig vorstellbare jenseitige Existenz als Anschluss an die diesseitige Existenz dar und mindert dafür die abgründige Radikalität des Todes zu einer bloßen Schnittstelle herab, so dass gelebte und erhoffte Existenz außer einer bleibenden Identität des Einzelnen nichts miteinander gemein haben. Zweitens erwächst aus einem solchen Dualismus jener Glaubenstriumphalismus, der der Ausgesetztheit und Fragwürdigkeit menschlicher Existenz angesichts des Todes nicht mehr gerecht wird und damit die Geheimnishaftigkeit diesseitiger Wirklichkeit preisgibt. Durch die Tendenz, das diesseitige Leben zugunsten des verheißenen zu relativieren, verstärkt er schließlich drittens einen Nihilismus, der jene durch den Wegbruch des Jenseits frei gewordene Leerstelle besetzt, die die menschliche und geschöpfliche Existenz auf deren unausweichliche Todesverfallenheit verengt.

Im Hinblick auf den Kreuzestod Christi muss christliches Fragen nach der Möglichkeit postmortaler Existenz das Faktum des Todes in seiner ganzen Abgründigkeit radikal ernst nehmen. Soll der Tod dabei nicht nur als Schnittstelle und Übergang in ein besseres Leben gesehen werden, sondern als unverfügbarer Garant allumfassend verwandelter Wirklichkeit, muss das in diesem Fragen vorausgesetzte temporale Diesseits-Jenseits-Schema vermieden werden. Dabei soll im Verlauf dieser Untersuchung auf die Frage, ob es denn ein Leben nach dem Tod gebe, die Maßgabe M. Heideggers angewandt werden, die Fragen, auf die es keine letztgültigen und eindeutigen Antworten gibt, wenigstens immer besser zu stellen36. Weil die Frage nach der Möglichkeit postmortaler Existenz keine letztgültige Antwort für sich beanspruchen kann, sondern im Gegenteil den existentiellen Ernstfall der Frage nach der Zeit darstellt, soll sie die folgenden Ausführungen in dem Versuch begleiten, sie möglichst immer besser stellen zu können. Das heißt konkret in einem ersten Schritt: Die Frage nach der Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod hat sich hinsichtlich der oben genannten Problemfelder als unzureichend und fragwürdig erwiesen. Weil sich jedoch in dieser Frage die Annahme verbirgt, dass die Möglichkeit postmortaler Existenz nur unter der Voraussetzung einer konkreten und gleichsam temporal strukturierten Gestalt postmortaler Wirklichkeit denkbar ist, verschiebt sich der Akzent innerhalb der Frage selbst: nicht das nach ist eigentlicher Fragegegenstand, sondern die Gestalt dieses möglichen Lebens. Freilich kann über dieses »Leben« bislang nichts anderes gesagt werden, als dass sich der Horizont seiner Möglichkeit zwischen den beiden Polen von unerschöpflich-allumfassenden Sein und restlos-ausgelöschtem Nichts erstreckt. Die neu gestellte Frage lautet demzufolge: »Was ist das Leben nach dem Tod: Alles oder Nichts?«

IV Das geleitende Interesse: Die zeitliche Gestalt der durch den Tod begrenzten Wirklichkeit

Ausgangspunkt der Frage nach der möglichen Gestalt einer Existenz nach dem Tod ist die Erfahrung der Vergänglichkeit von Mensch und Schöpfung. Der Tod bestimmt maßgeblich die temporale Gestalt der vergänglichen Wirklichkeit, indem er ihr unvorhersehbare Frist, unüberwindliche Grenze und abgründige Frage zugleich ist. Im Gegensatz zu dieser individuellen Begrenzung ist die Erfahrung der Zeit selbst in den unermesslichen Horizont ihrer bleibenden Entzogenheit gestellt37. Gegenwart ist dabei der Zeit-Raum, in dem diese Spannung permanent ausgetragen wird: als fragmentarischgebrochene Perspektive des Einzelnen auf das Ganze der Wirklichkeit, das ihm prämortal verborgen und postmortal verheißen ist. Die temporale Gestalt dieser Spannung ist bereits als das Ineinander von chronologischer, kairologischer und pleromatischer Seite der Zeit ausgewiesen worden, so dass das leitende Interesse dieser Untersuchung durch drei daraus abgeleitete Aspekte akzentuiert wird: das lebensdienliche Interesse an der Zeit anhand des Kairos, der zunehmend den gegenwärtigen Zeitumgang globalisierter Weltwirklichkeit bestimmt; das philosophische Interesse am Phänomen der Zeit selbst durch den Chronos, dessen geläufige Zerstreutheit die Frage nach der Zeit unablässig herausfordert; schließlich das theologische Interesse an der Zeit mittels des Pleroma, das als die Verheißung der Zeit auf die schon allgegenwärtige, individuell jedoch noch ausstehende Fülle vollendeter Wirklichkeit in entgrenzt-defragmentierter Gegenwart verweist.

1. Das lebensdienliche Interesse am Kairos: Gegenwart als kairologische Gestalt heutiger Zeiterfahrung

a) Kairologischer Zeitumgang

Die Unzulänglichkeit eines einseitig chronologischen Zeitverständnisses zeigt sich bereits an der einfachen Tatsache, dass Zeit, die nur gemessen oder mit der nur gerechnet wird, leer und inhaltslos erscheint. Die für das menschliche Zusammenleben in der Welt nützliche Einteilbarkeit des Chronos erweckt den Eindruck einer definierbaren Objektivität von Zeit, die sich spätestens dann als gegenstandslos erweist, wenn Erfahrungen mit Zeit ins Wort gehoben werden sollen. Selbst die Metrisierung jedweder Abläufe, Entwicklungen, Prozesse, Zyklen oder Fristen ist nur insofern objektiv, als die dazu erforderliche Synchronisationsleistung institutionalisierter Zeit einer von allen geteilten Anerkenntnis bedarf. Es gibt nicht »die Zeit«38, sondern immer nur die Zeit von etwas, die relativ zu der Zeit von etwas anderem ist. Wachsen, Vergehen, Ereignisse, Handlungen, Dinge und jegliches Dasein haben ihre eigene Zeit39, die je einmalig, nie wiederkehrend und unwiederholbar ist. Chronologisch mag die Zeit um den Menschen herum in der Teilnahmslosigkeit der Weltzeit40 vergehen. In allem aber, das den Menschen unmittelbar betrifft, das ihm begegnet und das ihm die Vielfalt seiner intersubjektiven Beziehungen und lebensweltlichen Bezüge ermöglicht, ergeht ihm Zeit in kairologischer Gestalt. Es ist die Weise, Zeit ursprünglich, eigentlich und vor allem gegenwärtig zu erfahren.

Lange vor der technisch vorangetriebenen chronometrischen Beherrschung bestimmte die kairologische Zeit-Weise den menschlichen Zeitumgang. Dieser war an konkreten Handlungszeiten orientiert und basierte auf mythischen Zeitverständnissen, die der Beobachtung kosmischer Zyklen und der Erfahrung naturgegebener Rhythmen entsprangen. Die schon früh entwickelte Zeitmessung stand dabei häufig im Dienst der kultisch ritualisierten Ausdrucksformen dieser Zeitverständnisse, ohne sie jedoch zu dominieren41. Die Zeit der Lebenswelt war von den Naturrhythmen bestimmt, die zyklisch zwar vorhersehbar waren, aufgrund ihrer zeitweiligen Instabilität jedoch immer wieder neu erfleht werden mussten. Zeit war göttliche Gewähr für das Leben oder deren Verweigerung.

Der in der griechischen Mythologie als Gott verehrte Kairos bringt dieses Verständnis anschaulich zum Ausdruck: Das Ergreifen seines Haarschopfes im flüchtigen Augenblick seines Hinübergangs verweist auf die Erfahrung, dass alles seine Zeit hat und es nur eine unwiederbringliche Gelegenheit gibt, die »Gunst der Stunde« zu nutzen und diese »Gelegenheit beim Schopfe zu packen«.

Im Anschluss an D. Hattrup kann in diesem Zusammenhang eine doppelte Bewegung der Zeit unterschieden werden42, die sich aus dem perichoretischen Wechselspiel von Chronos und Kairos ergibt. Während der Chronos Abfolgen gebiert und damit die Bewegung der Zeit ist, erhält diese Bewegung erst durch den Kairos konkrete Zeitgestalt. Als unverfügbare Neuheit des sich konkret Ereignenden ist es der Kairos, der die Zeit bewegt.

So begegnet Zeit kairologisch in der nicht messbaren Qualität einer unableitbaren Eigenzeit. Der Kairos fordert von seinem Adressaten eine unbedingte Antwort als Bedingung seiner Manifestation, andernfalls verweigert er diesem seine Gunst und entschwindet ebenso unbemerkt wie er gekommen war. Dies macht den Umgang mit ihm zu einer beständigen Herausforderung, die durch ein einseitig chronologisch akzentuiertes Zeitverständnis erschwert wird. Der je einmalig-konkrete Vorübergang eines Kairos passt sich nie oder nur selten chronologischer Zeitplanung an. Eher bringt eine solche das paritätische Verhältnis beider Zeitdimensionen aus dem Gleichgewicht, indem sie durch vorausschauende Planung den Chronos für den unplanbaren Kairos verschließt. Der vor der kairologischen Seite der Zeit zurückscheuende Mensch mag als Terminverwalter einiges an Planungssicherheit gewinnen. Er bringt sich damit jedoch um seine Freiheit, die ihm der Kairos unverfügbar und je neu gewährt. Dabei wird gerade im Kairos das Wechselspiel von Freiheit und Verantwortung ausgetragen. Im kairologischen Ergehen von Zeit wird der Mensch jeweils zum angemessen-maßvollen Reagieren in einer konkreten Situation herausgefordert. Zu dieser Freiheit gehört auch, dass nicht jeder Kairos angenommen, das heißt jede Gelegenheit ergriffen werden muss, denn auch ihn zurückzuweisen ist ein freiheitlicher Akt verantwortet-kairologischen Zeitumgangs. Vor diesem Hintergrund verleiht der Kairos dem Dasein spezifische Gestalt, Charakter und Einmaligkeit. In der Offenheit für seine unableitbare Neuheit gewährt er individueller Lebensgestalt unwiderrufliche Bedeutsamkeit.

Wer seinen vorübergehenden Charakter gelöst annehmen kann, dem lässt er den Segen der Zeit zuteil werden. Für denjenigen, der ihn gleichgültig verstreichen lässt, ihn in sein eigenes Maß zwingen will oder un-mäßig an ihm festhalten will, kann er zum Fluch werden. Er begegnet überraschend, weisend, befreiend, erleuchtend, rufend, schillernd, lockend und gelegentlich auch verführend, zugleich ist er in seiner Unbedingtheit auch erschreckend, nötigend, abgründig, furcht einflößend, verwirrend, fordernd, bezwingend oder gar abstoßend43. Er ist Gewähr und Entzug erfüllter Lebenszeit, er muss ergriffen und ebenso wieder gelassen werden.

Sein numinoses Erscheinen deutet die geheimnisvoll-ambivalente Tiefendimension der Zeit an. Die irreversible Faktizität des Kairos verweist auf das Pleroma als erhoffte, ersehnte, aber auch angezweifelte und sogar zurückgewiesene Vollendung alles Vergänglichen. Insbesondere die chronologisch prinzipiell unvollendet bleibende äonische Geschlossenheit jeweiliger kairologischer Gestalt provoziert in ihrer vergehenden Einmaligkeit die Frage nach Grund und Bestimmung des Kairos, nach seiner Herkunft und seinem Ziel, nach seiner Zufälligkeit oder Providenz und schließlich nach seiner Vergänglichkeit oder Unvergänglichkeit.

Dem in dieser Weise auf das pleromatische Geheimnis der Zeit verwiesenen Menschen kann der Kairos darüber hinaus zum originärunverfügbaren Zeit-Raum der Gottesbegegnung werden. Offenbarungsstruktur ist kairologisch verfasst. Gottes unvorhersehbarer Vorübergang im Kairos ereignet sich grundsätzlich als Re-Velatio: als Wiederverbergung. Der in der vergehenden Zeit darauf antwortende Mensch erfährt durch die Gabe der Zueignung Gottes die Unbedingtheit seines eigenen Daseins und ist dabei gefordert, das kairologisch erfahrene »Schon« des Pleroma im »Noch-Nicht« des Chronos auszutragen.

Der Kairos begegnet freilich nicht nur in herausgehobenen Augenblicken göttlicher Offenbarung, interpersonaler Begegnung, plötzlicher Erkenntnis, zur Tat rufender Forderung, einen Neuanfang setzender Eröffnung, Besinnung einfordernder Anfrage oder unterschiedlichster situativer Zusammenfälle. Er gibt der Zeit konkrete Gestalt in jeglichem Geschehen, in den Eigenzeiten der Natur mit ihren großen und kleinen Zyklen sowie in den Rhythmen und wechselnden Gestalten menschlichen Lebens. Wird diesen nicht entsprochen, weil deren Eigendynamik getakteter Zeitplanung zum Opfer fällt, versagen sie auf Dauer ihren Segen. Rücksichtslose wirtschaftliche Bezwingung der Natur und ihrer eigenzeitlichen Prozesse etwa führt zu deren dauerhafter Zerstörung. Dies zieht wiederum ökologische Katastrophen nach sich, in denen sich die aus dem Gleichgewicht gebrachte Natur gegen ihre Ausbeuter zu wenden scheint. Auch der dem Diktat der Uhren und Kalender unterworfene menschliche Lebensrhythmus kehrt sich langfristig gegen seinen Beschleuniger. Wenn nur noch »inhaltsleere Funktionslust«44 und »Erledigungsfanatismus«45 das alltägliche Handeln bestimmen, folgen daraus nicht selten Ermüdungserscheinungen, Erschöpfungszustände und Antriebslosigkeit bis hin zu chronischen Erkrankungen des sich um seine Lebenszeit bringenden Menschen. Generell resultiert aus der Unterdrückung des Kairos im Zeitumgang ein Verlust unmittelbarer Welt- und Lebenserfahrung, der die Möglichkeit einer ursprünglichen Begegnung mit Gott und dem Anderen hemmt.

b) Die Vergegenwärtigungstendenz im Kontext heutiger Zeiterfahrung

Die mit Beginn der Neuzeit einsetzende und bis in die Gegenwart hinein auf multimediale Echtzeit verdichtete Beschleunigung der chronologisch ausnutzbaren Zeit46 findet ihr kairologisches Pendant in den neuesten Formen virtualisierter Kommunikation im weltweiten und durch mobile Geräte jederzeit und überall verfügbaren Internet. Interpersonale, informative oder unterhaltende Konstellationen lassen sich beliebig zeit- und raumübergreifend simultan herstellen. So wird ein Zeitumgang ermöglicht, der »sich nicht mehr durch eine chronologische Abfolge von Handlungen beschreiben lässt, sondern sich immer mehr in einem Einheitsbrei zielloser, gleichzeitig durchgeführter Daueraktivitäten aufzulösen scheint.«47 Vor diesem Hintergrund scheint es, als nahe sich »das Zeitalter der Uhrzeit […] seinem Ende.«48 Ebenso vermag übersteigerte Eventisierung nicht über die Leere hinwegzutäuschen, die sie selbst erzeugt, denn »[d]er Segen des rechten Augenblicks entzieht sich, wenn man ihn an die Kandare legt.«49

Es scheint, als würde Zeit unter den neueren kommunikationstechnischen Entwicklungen wieder stärker von ihrer kairologischen Seite her erfahren werden, gesammelt in den gegenwärtigen Augenblick gleichzeitiger Bezüge und Tätigkeiten. Gelegentlich wird schon von einer Rückkehr archaischen Zeitempfindens gesprochen, wie es M. Dworschak tut: »Mit dem Mobilfunk kehrt die vormoderne Erlebniszeit zurück: Feste Verabredungen, Pünktlichkeit und Zeitpläne werden überflüssig, wenn Jugendliche gemeinsam durch den Großstadtdschungel streifen wie Jäger- und Sammlerhorden, immer in Rufweite – und nie allein.«50

M. Serres hält ganz bewusst ein optimistisches Plädoyer für diesen kairologischen Zeitumgang der »vernetzten Generation«51, die er im Blick auf die zukunftsweisende Handhabung der Smartphones zuneigungsvoll als »Kleine Däumlinge«52 bezeichnet:

»Ohne, dass wir dessen gewahr wurden, ist in einer kurzen Zeitspanne, in jener, die uns von den siebziger Jahren trennt, ein neuer Mensch geboren worden. Er oder sie hat nicht mehr den gleichen Körper und nicht mehr dieselbe Lebenserwartung, kommuniziert nicht mehr auf die gleiche Weise, nimmt nicht mehr dieselbe Welt wahr, lebt nicht mehr in derselben Natur, nicht mehr im selben Raum. […] Mit einem anderen Kopf ausgestattet, erkennen sie anders, als ihre Eltern es noch taten. Sie schreiben anders. […] Sie sprechen nicht mehr dieselbe Sprache.«53

Die globale Vernetzung mit Personen an den unterschiedlichsten Orten, die jederzeit sofortige Verfügbarkeit von Informationen sowie ein omnipräsentes Wissen führen zu einer vollkommen neuen Erfahrung von Gegenwart, die – virtuell erweitert – die bisherige chronometrische Dominanz im Zeitumgang endgültig durchbrochenhat. Der von H. Blumenberg angezeigten Hiatus von Lebenszeit und Weltzeit54 kann mit einem Mal durch eine virtuell herstellbare Realpräsenz von Kommunikation, Information, Wissen, Bildung und Unterhaltung effektiv überbrückt werden, ohne ihn dabei freilich zu überwinden, weil er sich mit steigender Informations- und Wissensfülle in Wahrheit exponentiell vergrößert. M. Serres weist jedoch darauf hin, dass die vernetzte Generation diesen Zug ins Unermessliche nicht mehr als chronologisch unerreichbares Defizit wahrnimmt, sondern diesen positiv als umfassenden Horizont ihrer konkreten Gegenwart erfährt:

»Ihre Vorfahren hatten ihre Kultur auf einen Zeithorizont von ein paar tausend Jahren gegründet, gesäumt von der griechisch-lateinischen Antike, der jüdischen Bibel, ein paar mit Keilschrift bedeckten Tafeln, einer kurzen Vorgeschichte. Ihr Zeithorizont dagegen, auf Milliardenumfang angewachsen, reicht von der Planck-Ära über die Akkretion des Planeten und die Entstehung der Arten bis zu den Gegenständen einer Paläoanthropologie, die ihrerseits Jahrmillionen alt sind. Nicht länger Bewohner derselben Zeit, leben sie eine ganz andere Geschichte.«55

Gegenwart ist unter dieser Hinsicht nicht mehr defizitärer Ausstand des Unerreichbaren der Zeit, sondern potentielle Verbundenheit mit allem in Echtzeit Gewärtigen. In der globalen Vernetzung durch das »WorldWideWeb« hat das Pluralitätsparadigma der Postmoderne seine technische Entsprechung und in den mobilen Kommunikationsgeräten seinen Katalysator gefunden.

c) Das Urphänomen Gegenwart als kairologische Mitte perichoretischen Zeitverständnisses

Mit dem Begriff der Echtzeit hat die kairologische Seite der Zeit einen neuen Namen erhalten, der unerwartet das eigentliche Wesen von Gegenwart aufdeckt: im ursprünglichsten Sinn ist Gegenwart die einzige Zeitweise, von der wahrhaft gesagt werden kann, dass sie echte Zeit ist. Erst so kommt die Gegenwart wieder als das Urphänomen zur Geltung, das Chronos, Kairos und Pleroma perichoretisch miteinander vermittelt, ohne dass eine der drei Dimensionen die anderen beiden dominiert: Chronos als echte Zeit, Kairos als Echtzeit und Pleroma als echte Zeit.

2. Das philosophische Interesse am Chronos: Gegenwart als chronologische Gestalt der Zeit

a) Zeit als Erfahrung von Vergänglichkeit

Eine der wesentlichen menschlichen Erfahrungen von Zeit ist die ihrer Vergänglichkeit. Zeit vergeht, sie verläuft und sie kehrt nicht wieder. In ihrer Geläufigkeit verstreicht sie gewöhnlich unbemerkt. Dann aber zerrinnt sie plötzlich und scheint zu entfliehen, oder sie dehnt sich unerträglich und es entsteht der Eindruck, sie geriete zum Stillstand. Was die Uhren zeigen, hat damit nur so viel gemein, dass auch an ihnen nicht mehr als die Vergänglichkeit der chronometrisch präzise gemessenen Zeit ablesbar ist56. Diese Erfahrungen von Zeit und die Verfahren, sie in den Griff zu bekommen, spiegeln die chronologische Seite der Zeit wieder.

Über den Chronos ist die Zeit dem Menschen in unmittelbarer Weise zugänglich. Er ist unter der Bedingung der »grundlegenden Interpendenz von Materie, Raum und Zeit«57 ursprünglicher Zeit-Raum für alles Leben und dessen Entfaltung. In den Kategorien von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, beziehungsweise früher und später58 wird Zeit wesentlich als Vorübergang erlebt. Über diese Kategorien ist Zeit einteilbar und kann gemessen werden. Der Mensch kann mit ihr rechnen und planen. Insofern ermöglicht der Chronos verlässliche Orientierung in der Zeit. Kalender und Uhren sind unentbehrliche Hilfsmittel im Umgang mit ihr und Voraussetzung dafür, dass der Mensch sich von Naturzeiten und -zyklen zum großen Teil emanzipieren konnte. Die taktgenaue Quantifizierbarkeit des Chronos kommt der sozial-kulturellen Synchronisationsleistung institutionalisierter Zeit ebenso zugute wie dem technisch-wissenschaftlichen Fortschritt. Industrie und Handel sind ohne den Wirtschaftsfaktor chronometrisierter Zeit nicht denkbar59. Unter den gegenwärtigen Bedingungen der Globalisierung stellt Zeit zunehmend eine kostbare, bewirtschaftbare Ressource dar60.

Die dazu unabdingbare Kontinuität und Stabilität gewährt die als irreversibel erfahrene Linearität des Chronos. Er ist der gerichtete Zeit-Raum, in dem alle Formen von Wachstum und Schwund, Fortschritt und Niedergang gründen und der darin seine konkrete geschichtliche Gestalt erhält. Historisch einzigartige Kairoi und langfristige Entwicklungen können chronologisiert und in ein datierbares Verhältnis zu anderen Ereignissen gesetzt werden. Die Unwiederholbarkeit einmal geschehener Ereignisse und die Unwiederbringlichkeit versäumter Möglichkeiten verweisen dabei auf das dynamische Ineinander von Chronos und Kairos. Der Kairos bedarf für seinen Vorübergang des chronologischen Zeitraums, ist in diesem als einmaliges Geschehen jedoch weder festhaltbar noch wiederherstellbar. Zeit erhält ihre qualitativ-konkrete Gestalt wiederum nur durch die kairologische Erfüllung des eigentlich quantitativ-leeren Chronos. In dieser Wechselseitigkeit gründet die Erfahrung zeitlicher Vergänglichkeit. Zeit ist endlich, weil ihre kairologische Einmaligkeit chronologisch nicht wiederherstellbar ist.

Insofern ist Zeiterfahrung immer auch eine Erfahrung von Befristung und Begrenzung der Zeit. Im Wissen um ihre Knappheit muss der Mensch zu ihr ein Verhältnis einnehmen, das seinen faktischen Umgang mit ihr bestimmt. Die tiefe Ernsthaftigkeit einer solchen Wahl resultiert aus der Gewissheit seiner eigenen Sterblichkeit, die ihm den zeitlichen Fristcharakter seines Daseins bewusst macht. Der Mensch kann mit dieser Perspektive reifen und zunehmend lernen, die ihm gegebene Zeit und das sich in ihr zumeist unverfügbar Ereignende anzunehmen. Er kann aber auch im Unterdrücken seiner Todesgewissheit der Illusion verfallen, seinem Leben durch Erlebnismaximierung und Organisationsoptimierung ein Mehr an Zeit abringen zu können. Hierin verbirgt sich die folgenreiche Versuchung, Zeit zum Zweck ihrer größtmöglichen Nutzbarkeit auf ihre chronologische Dimension zu reduzieren und dabei den unberechenbaren Kairos zu tilgen61. Diesem angestrengten Zeitumgang mangelt es neben der Gelassenheit für den Kairos auch an der pleromatischen Weite, das Leben in der Zeit als vorläufig, fragmentarisch und erlösungsbedürftig anzuerkennen. Der Bedeutung des Chronos wird ein solcher Zeitumgang nicht gerecht. Zeit mag unter chronologischer Perspektive befristet und häufig zu knapp erscheinen. Sie mag den Menschen über die erschreckende Begrenztheit seiner sterblichen Existenz belehren und ihn darüber womöglich verzweifeln lassen. Jedoch kann ihre Endlichkeit im Hinblick auf die Erfahrungen von Leid, Verzweiflung, Schmerz und Konflikten zugleich auch als erlösend-befreiend angenommen werden. Insbesondere die Fähigkeit des Menschen zu einem versöhnten Umgang mit Vergänglichkeit, Endlichkeit und der eigenen Sterblichkeit verweist auf diese heilsam-tröstliche Seite des Chronos, die freilich nur im Zusammenhang mit den anderen zeitlichen Dimensionen erfahrbar wird. Denn nur über die kairologische Seite der Zeit erschließt sich dem Menschen die unableitbare Einmaligkeit seiner Existenz, die irreversible Faktizität alles zeitlich Vergehenden und die Hoffnung auf einen unverlierbaren Bestand all dessen. Die chronologisch vergängliche Zeit ergeht in ihrer Unverfügbarkeit, Unableitbarkeit und jeweiligen Neuheit kairologisch. Ihre Bewegung erhält Gestalt und Kontur durch das permanent sie bewegende und in ihren linearen Verlauf einbrechende Neue62. Der unendliche chronologische Verweisungszusammenhang der einzelnen Kairoi untereinander weist dabei über die Vergänglichkeit und Endlichkeit ihrer je konkreten Gestalten hinaus, so dass die Fülle der Zeiten nicht etwa die summierte Gesamtheit der Weltzeit63, sondern deren unabgeschlossene Offenheit ist. Somit erschließt sich über den geläufigen Chronos das Pleroma als die Offenheit der Zeit. Das Pleroma ist dabei weder leer, inhaltslos noch eine der Zeit dualistisch gegenüberstehende, abstrakt-quantitative Größe. Vielmehr wird es kairologisch-konkret je und je neu qualifiziert und gewährt als diese Fülle sowohl den unvergänglichen Bestand als auch die offene und unverfügbare Dynamik aller zeitlichen Prozesse.

Die Erschließung der pleromatischen und der kairologischen Seite der Zeit aus chronologischer Perspektive bleibt grundsätzlich vor-läufig, allerdings wird aufgrund der perichoretischen Wechselbeziehung der drei zeitlichen Dimensionen die maß-gebende Bedeutung des Chronos innerhalb des Zeitgefüges deutlich. Menschliches Dasein vollzieht sich ursprünglich in den Kategorien seiner geläufigen Struktur. Ohne chronologisches Maß könnten keine Erfahrungen von Dehnung und Verdichtung der Zeit, von Langeweile und Kurzweiligkeit oder von Zeitüberdruss und Simultaneität gemacht werden. Hoffnung und Angst, Freude und Trauer hätten keinen Zeit-Raum, ebenso wenig Wachstum, Veränderung, Beziehungen und die Möglichkeit zum Neuanfang. Diese Merkmale bestimmen die in Welt und Zeit eingeborgene Dynamik menschlicher Existenz als Gegenwart, in der der Mensch die chronologische Gestalt der Zeit immer neu in all ihren Entwicklungen und Verläufen, ihren vielfältigen Bezügen und Beziehungen, ihrem Gelingen und Zerbrechen, ihren Gewissheiten und Irrtümern erfährt.

Menschliche Freiheit und Chronos sind in diesem Spannungsfeld menschlichen Daseins aneinandergebunden. Während Freiheit nur in chronologischer Zeitigung verwirklicht werden kann, prägt sich die spezifische Zeitgestalt des Chronos durch das kairologisch-herausfordernde Ergehen von Freiheit und die je konkrete Antwort des Menschen darauf aus. Angesichts der als Pleroma gegenwärtigen Fülle aller konkreten Zeitgestalten ist der Mensch in besonderer Weise angegangen, seine Freiheit in einer Weise von Verantwortung zu leben, die sich noch vor allen berechtigten ethischen, moralischen und religiösen Postulaten zunächst für das offen hält, was ihn in einer jeweils unableitbaren Situation zur antwortenden Entscheidung fordert.

Chronos ist vor diesem Hintergrund vorwegnehmender Zeit-Raum der Bewährung. Er kann gelassen gelebt, antwortend-verantwortet gestaltet und geduldig ertragen werden. In seiner endlich-vergänglichen Gegenwärtigkeit führt er den Menschen zum Fragen nach sich selbst, nach seiner Herkunft, seiner Bestimmung und seinem letzten Ziel, schließlich auch zur Frage nach Gott.

b) Die Chronologisierung der Zeit

Die theoretischen Zeitreflexionen der abendländischen Geistesgeschichte haben sich von Anfang an mit der Frage nach der gerichteten

Vergänglichkeit der Zeit auseinandergesetzt64. Diese dem Denken noch vorgängige Erfahrung schlägt sich im wesentlichen in drei Fragerichtungen nieder65:

(1) Aus wissenschaftslogischer Perspektive kann Zeit bestimmt werden als Modalzeit, bei der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft voneinander unterschieden werden, oder als Lagezeit, die den Charakter der Zeit als Kontinuum in der Unterscheidung von »früher als…« und »später als…« betont. Zugleich kann die Weise ihres Vergehens zyklisch, linear oder auch holistisch jeweils als spezifische Ganzheitserfahrung von Zeit wahrgenommen werden und so zu mythischen, rationalen oder mystischen Interpretationen führen. Die unterschiedlichen Zeitumgänge aller Kulturen und Geschichtsepochen spiegeln die Vielfalt der Möglichkeiten wieder, mit denen der Mensch im Verhältnis zu den biologischen, natürlichen und kosmologischen Eigenzeiten lebt, sein soziales Miteinander gestaltet und auf einen religiösen Horizont ausgerichtet ist. Je größer dabei die Unabhängigkeit von den natürlichen Zeiten, die Komplexität des sozialen Gefüges und das Reflexionsvermögen auf wissenschaftlicher wie auch auf theologischer Ebene ist, desto höher ist auch der Abstraktionsgrad des jeweiligen Zeitverständnisses.

(2) Abstraktes Zeitverständnis öffnet den transzendentalphilosophischen Fragehorizont, der das Verhältnis von Zeit und menschlichem Bewusstsein zu ergründen sucht. Der Spannungsbogen möglicher Interpretationen reicht hier von reiner Objektivierung der Zeit als einer äußerlich-gleichförmigen Größe bis hin zu subjektivistischen Positionen, die Zeit als eine nur im Bewusstsein gründende Erkenntnisleistung deuten. Die vermittelnden Positionen bemühen sich, Zeit als eine im und durch das menschliche Bewusstsein erfahrbare, von diesem jedoch nicht konstituierte Realität zu bedenken.