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Gibt es Freundschaft unter Dunkelelfen?
Der dunkelelfische Waffenmeister Zaknafein ist tot. Er opferte sich, um seinen Sohn Drizzt Do'Urden zu schützen. Doch nun ist Zaknafein wieder da, Jahrzehnte nach seinem Tod. Noch wichtiger als die Frage, wie das geschehen konnte, ist das Warum. Um diese Fragen zu beantworten, taucht Drizzt tief in die Vergangenheit ein: in jene Zeit, als sein Vater ein aufstebender Waffenmeister war, und bei dem Söldner Jarlaxle etwas fand, was es unter Dunkelelfen eigentlich nicht geben sollte: Freundschaft.
Dies ist der Auftakt einer neuen Drizzt-Trilogie. Der zweite Band ist unter dem Titel
Grenzenlos
bereits in Vorbereitung.
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Buch
Der dunkelelfische Waffenmeister Zaknafein ist tot. Er opferte sich, um seinen Sohn Drizzt Do’Urden zu schützen. Doch nun ist Zaknafein wieder da, Jahrzehnte nach seinem Tod. Noch wichtiger als die Frage, wie das geschehen konnte, ist das Warum. Um diese Fragen zu beantworten, taucht Drizzt tief in die Vergangenheit ein: in jene Zeit, als sein Vater ein aufstrebender Waffenmeister war und bei dem Söldner Jarlaxle etwas fand, was es unter Dunkelelfen eigentlich nicht geben sollte: Freundschaft.
Autor
R. A. Salvatore wurde 1959 in Massachusetts geboren, wo er auch heute noch lebt. Bereits sein erster Roman »Der gesprungene Kristall« machte ihn bekannt und legte den Grundstein zu seiner weltweit beliebten Romanserie um den Dunkelelf Drizzt Do’Urden. Die Fans lieben Salvatores Bücher vor allem wegen seiner plastischen Schilderungen von Kampfhandlungen und seiner farbigen Erzählweise.
Die Legende von Drizzt bei Blanvalet:
Menzoberranzan
Die Dunkelelfen · Die Rache der Dunkelelfen · Der Fluch der Dunkelelfen
Das Eiswindtal
Der gesprungene Kristall · Die silbernen Ströme · Der magische Stein
Das Vermächtnis des Dunkelelfen
Das Vermächtnis · Nacht ohne Sterne · Brüder des Dunkels · Die Küste der Schwerter
Pfade der Dunkelheit
Kristall der Finsternis · Schattenzeit · Die Rückkehr der Hoffnung
Die Söldner
Der schwarze Zauber · Der Hexenkönig · Die Drachen der Blutsteinlande
Die Klingen des Jägers
Die Invasion der Orks · Kampf der Kreaturen · Die zwei Schwerter
Übergänge
Der König der Orks · Der Piratenkönig · Der König der Geister
Niewinter
Gauntlgrym · Niewinter · Charons Klaue · Die letzte Grenze
The Sundering – Die Gefährten
Das Buch der Gefährten
Die Nacht des Jägers · Der Aufstieg des Königs · Die Vergeltung des Eisernen Zwerges
Die Heimkehr
Meister der Magie · Meister der Intrige · Meister des Kampfes
Generationen
ZeitenlosWeitere Titel in Vorbereitung
Außerdem: Erzählungen vom Dunkelelf
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Roman
Deutsch von Imke Brodersen
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Timeless« bei Harper Voyager, New York.
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Copyright der Originalausgabe © 2018 by Wizards of the Coast LLC 2014
Published by arrangement with Harper Voyager, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC.
FORGOTTEN REALMS, NEVERWINTER, DUNGEONS & DRAGONS, D&D, WIZARDS OF THE COAST and their respective logos are trademarks of Wizards of the Coast LLC in the U.S.A. and other countries.
© 2019 Wizards of the Coast LLC. Licensed by Hasbro.
Published in the Federal Republic of Germany by Blanvalet Verlag, München
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Alexander Groß
Covergestaltung: Isabelle Hirtz, Inkcraft nach einer Originalvorlage von Harper Voyager
Coverdesign: Richard L. Aquan
Covermotiv: Aleksi Briclot
HK · Herstellung: sam
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-26652-3V001
www.blanvalet.de
Für Diane und für meine Familie. Der Rest davon ist nämlich nicht ganz so wichtig.
In der Vergangenheit … nur Drow
Haus Do’Urden
Oberin Malice Do’Urden: Die kampflustige junge Anführerin von Haus Do’Urden, ehrgeizig und unersättlich. Fest entschlossen, eines Tages in der Hierarchie der knapp achtzig Häuser von Menzoberranzan so weit aufzusteigen, bis sie einen Sitz im Herrschenden Konzil erhält, der nur den acht führenden Häusern zusteht.
Lehnsherr Rizzen Do’Urden: Der offizielle Gefährte von Malice. Vater von Nalfein. Die ehrgeizige Malice hält ihn für unglaublich mittelmäßig.
Nalfein Do’Urden: Ältester Sohn von Malice. Nalfein ist genau das, was von einem Vater wie Lehnsherr Rizzen zu erwarten wäre.
Briza Do’Urden: Älteste Tochter von Malice. Ungewöhnlich groß und breit, sehr mächtig.
Oberin Vartha Do’Urden: Mutter von Malice. Vor einhundert Jahren gestorben.
Haus Xorlarrin
Oberin Zeerith Xorlarrin: Mächtige Anführerin des Vierten Hauses der Stadt.
Horoodissomoth Xorlarrin: Hauszauberer und ehemaliger Lehrmeister von Sorcere, der Drow-Akademie für arkane Magie.
Kiriy Xorlarrin: Priesterin der Lolth, Tochter von Zeerith und Horoodissomoth.
Haus Simfray:
Oberin Divine Simfray: Herrscherin über ihr kleines Haus.
Zaknafein Simfray: Hochtalentierter junger Kämpfer aus Haus Simfray. Steht in dem Ruf, zu den besten Kriegern der Stadt zu zählen. Begehrt von der ehrgeizigen Oberin Malice, die mit ihm ihr Haus stärken und persönliche Gelüste befriedigen will.
Haus Tr’arach
Oberin Hauzz Tr’arach: Herrscherin über ihr kleines Haus.
Duvon Tr’arach: Sohn von Oberin Hauzz. Waffenmeister des Hauses. Will sich unbedingt bewähren.
Daungelina Tr’arach: Älteste Tochter von Oberin Hauzz und Erste Priesterin des Hauses.
Dab’nay Tr’arach: Tochter von Oberin Hauzz. Studiert noch in Arach-Tinilith, der Drow-Akademie für die Priesterinnen der Lolth.
Haus Baenre
Oberinmutter Yvonnel Baenre: Auch als Yvonnel die Ewige bekannt. Oberinmutter Baenre ist unangefochtenes Oberhaupt nicht nur des Ersten Hauses, sondern von ganz Menzoberranzan. Auch andere Familien können ihre Oberinnen zwar als Oberinmutter ansprechen, aber als »die Oberinmutter« der Stadt gilt Yvonnel Baenre. Sie ist die älteste lebende Drow und übt diese Machtposition schon länger aus, als sich jeder andere Bewohner der Stadt erinnern kann.
Gromph Baenre: Oberinmutter Baenres ältestes Kind. Erzmagier von Menzoberranzan, höchstrangiger Mann der Stadt und in den Augen vieler der mächtigste Zauberer im gesamten Unterreich.
Dantrag Baenre: Sohn von Oberinmutter Baenre. Waffenmeister ihres Hauses. Gilt als einer der größten Krieger der Stadt.
Triel, Quenthel und Sos’Umptu Baenre: Drei Töchter von Oberinmutter Baenre. Priesterinnen der Lolth.
Weitere wichtige Drow:
K’yorl Odran: Oberin von Haus Oblodra, das für seine Beherrschung der ungewöhnlichen Gedankenmagie, Psionik, bekannt ist.
Jarlaxle: Schurke ohne Haus und Gründer von Bregan D’aerthe, einer Söldnerbande, die unauffällig Dienste für diverse Drow-Häuser erledigt, vor allem aber auf den eigenen Vorteil bedacht ist.
Arathis Hune: Leutnant von Jarlaxle und Assassine der Extraklasse. Wie viele andere Mitglieder von Bregan D’aerthe nach dem Zusammenbruch seines Hauses zur Bande gestoßen.
In der Gegenwart … viele Völker
Drizzt Do’Urden: Geboren in Menzoberranzan, vor der Bosheit der Stadt geflohen. Drow-Krieger, Held des Nordens, einer der Gefährten der Halle.
Catti-brie: Menschenfrau, Frau von Drizzt. Auserwählte der Göttin Mielikki. In der arkanen und heiligen Magie bewandert. Gefährtin der Halle.
Regis alias Spinne Parrafin: Halbling. Mann von Donnola Topolino. Gefährte der Halle.
König Bruenor Heldenhammer: Achter König von Mithril-Halle, Zehnter König von Mithril-Halle, Dreizehnter König von Mithril-Halle, heute König von Gauntlgrym, einer uralten Zwergenstadt. Gefährte der Halle. Adoptivvater von Wulfgar und Catti-brie.
Wulfgar: Geboren im Elchstamm im Eiswindtal. Der große Mann wurde von Bruenor in der Schlacht gefangen genommen und wuchs als Adoptivsohn des Zwergenkönigs auf. Gefährte der Halle.
Artemis Entreri: Ehemaliger Erzfeind von Drizzt. Mensch und Assassine, dem Drow-Krieger möglicherweise im Kampf gewachsen. Gehört heute zu Jarlaxles Bande, Bregan D’aerthe, und betrachtet Drizzt und die anderen Gefährten der Halle als seine Freunde.
Guenhwyvar: Magischer Panther, Begleiterin von Drizzt, wird von der Astralebene zu ihm gerufen.
Lord Dagult Nieglut: Herrscht als Statthalter von Tiefwasser und Lordprotektor über die Stadt Niewinter. Ehrgeiziger, eindrucksvoller Mensch.
Penelope Harpell: Anführerin der exzentrischen Zaubererfamilie Harpell. Schützt von ihrem Landsitz aus, dem Efeu-Herrenhaus, die Kleinstadt Langsattel. Penelope ist eine mächtige Zauberkundige, die Catti-brie unterweist und gelegentlich Stelldicheins mit Wulfgar hat.
Donnola Topolino: Halblingfrau von Regis. Oberhaupt der Halblingstadt Rebenblut. Sie stammt aus Aglarond, weit im Osten, wo sie einst eine Diebesgilde leitete.
Lady Inkeri Margaster: Adlige aus Tiefwasser. Gilt als Oberhaupt des Hauses Margaster von Tiefwasser.
Alvilda Margaster: Enge Vertraute und Cousine von Inkeri. Ebenfalls Adlige aus Tiefwasser.
Brevindon Margaster: Inkeris Bruder, weiterer Adliger aus Tiefwasser.
(Gegenwart, das Jahr des Wiedererstandenen Zwergenvolks, Zeitrechnung der Täler 1488)
»Herrin.« Als die von Oberinmutter Zhindia beschworene Dämonin aus dem Pentagramm von Haus Melarn glitt, dem Achten Haus der Drow-Stadt Menzoberranzan, hinterließ sie eine blubbernde Schleimspur. Die Zofe Eskavidne hatte ihre natürliche Form inne: ein unförmiger Klumpen, der einer zerlaufenden Kerze glich, mit wabernden Tentakeln. Jedes Wort, das die groteske Kreatur ausstieß, ging mit glucksenden Plopps einher.
Zhindia Melarn war von den kürzlichen Ereignissen noch derart mitgenommen, dass sie ihre Überraschung und Bestürzung nicht rechtzeitig verbergen konnte, als im Pentagramm eine zweite Zofe auftauchte. Diese erschien allerdings in Gestalt einer schönen, aufreizend gekleideten Drow. Und sie lächelte verschlagen. Dieses boshafte Lächeln kannte Zhindia gut. Genau das wusste sie an den Yochlol-Dämoninnen zu schätzen.
»Yiccardaria?«, fragte Zhindia. »Was verschafft mir die Ehre?«
»Ich wurde gerufen«, erwiderte die Yochlol in Drow-Gestalt.
»Ich habe Eskavidne gerufen«, widersprach Oberin Zhindia. »Wie kommt es …«
»Gewiss hast du von Yiccardarias … Missgeschick gehört«, antwortete Eskavidne anstelle der anderen Yochlol. Sie zählten beide zu den Zofen von Lolth, der Dämonenkönigin der Spinnen und Göttin der Drow.
Zhindia nickte zögerlich. Sie kannte die Gerüchte um Yiccardarias Niederlage in der Oberflächenwelt.
Aber wie kam die Zofe dann hierher? Und warum hatten zwei Zofen auf ihren Ruf reagiert, obwohl sie nur eine beschworen hatte?, fragte sich Zhindia beklommen. Angesichts ihrer eigenen Missgeschicke waren Oberin Zhindia und ihr Haus gerade sehr auf der Hut – vor allem. Ihr Status hatte gelitten, und Zhindia war dem Gespött ausgesetzt gewesen, was der stolzen Frau erheblich zu schaffen machte und sie noch immer regelmäßig vor Wut erzittern ließ. Sie wusste, dass sie sich gerade auf sehr brüchigem Eis bewegte. Die Oberinnen der acht – und nur dieser acht – höchstrangigen Häuser von Menzoberranzan bildeten das Herrschende Konzil, und derzeit war ihr eigenes Haus wegen katastrophaler Fehleinschätzungen und Versagens gegenüber den tückischen Machenschaften der Oberinmutter der Stadt auf den untersten dieser acht Ränge abgerutscht. Andere ehrgeizige Häuser unter ihr lauerten bereits und überlegten, wie sie das angeschlagene Haus Melarn endlich aus dem Weg räumen könnten. Denn alle Oberinnen der vielen Dutzend Häuser von Menzoberranzan kannten nur ein Ziel: einen Sitz im Herrschenden Konzil.
Diese Position wollte Oberin Zhindia keinesfalls aufgeben.
Doch jetzt waren ihrem Ruf nicht eine, sondern zwei mächtige Dämoninnen gefolgt, eine davon ungebeten, und sie fragte sich, ob sie überhaupt noch eine Wahl hatte.
»Oberin Zhindia, würdest du mir bitte verraten, was dir zu Ohren gekommen ist?«, fragte Yiccardaria.
Während sie dies sagte, schwenkte Eskavidne ihre Tentakel, verteilte ihren Schlamm aus dem Abgrund im ganzen Beschwörungsraum und ging unter dem Aufblitzen des schwarzen Lichts der Dämonenmagie zur Drow-Gestalt über.
Zhindia wich eilends zurück, weil sie sich von dem Schlamm angegriffen wähnte. Dann aber wischte sie sich die Spritzer vom Gesicht und betrachtete die freche, nackte Yochlol, die sie herausfordernd anstarrte.
»Was ist hier los?«, wollte Zhindia mutig wissen.
»Was wurde dir über meine Schwester zugetragen?«, fragte Eskavidne.
»Ja, es betrübt mich, dass du mich nicht direkt gerufen hast«, ergänzte Yiccardaria, während sie neben Eskavidne trat und eine Hand auf deren hinreißend zarte Schulter legte.
»Ich hatte gehört, dass du besiegt und für hundert Jahre in den Abgrund verbannt wurdest«, antwortete Zhindia.
In Yiccardarias Seufzen schwang ein schlammiges Gurgeln mit.
Eskavidne kicherte. »Besiegt«, sagte sie. »Geschlagen. Von den Fäusten eines simplen Menschen zu Brei zertrommelt.«
Yiccardaria seufzte noch einmal und versetzte ihrer Dämonenschwester einen Klaps.
»Kein simpler Mensch«, betonte Yiccardaria. »Ein Mönch. Der angesehene Großmeister der Blumen aus dem Kloster der Gelben Rose in dem Land Damarra. Bloß ein Mensch? Dieser Kane hat seine sterbliche Hülle transzendiert, die ihn einst als Menschen auswies. Jetzt ist er …«
»Oh, was du alles über ihn weißt … jetzt«, neckte Eskavidne.
»Weil ich es ihm heimzahlen werde. Gut geplant und mit viel Geduld.«
»Das geht mich nichts an«, erklärte Oberin Zhindia, um die Situation wieder in den Griff zu bekommen. Immerhin kam es im Umgang mit Dämonen – einschließlich der Zofen ihrer Göttin – entscheidend darauf an, selbstsicher aufzutreten. »Was verschafft mir die Ehre?«
»Das geht dich nichts an?« Yiccardaria schnaubte. »Drizzt Do’Urdens Verbleib geht dich nichts an?«
Das Funkeln in Oberin Zhindias Augen bei der Erwähnung des Abtrünnigen strafte ihre äußerliche Gelassenheit Lügen. Dieser Drow hatte den Angriff gegen ihr Haus angeführt, bei dem ihre Tochter umgekommen war. Auch Zhindia selbst wäre fast seinen Klingen zum Opfer gefallen und war danach von einer seiner Verbündeten gedemütigt und besiegt worden.
Und diese Zofe, Yiccardaria, war bei jener Niederlage dabei gewesen, in ihrem Zimmer. Sie hatte zugesehen. Und nicht eingegriffen.
»Was verschafft mir die Ehre?«, fragte Zhindia erneut. Hasserfüllt fixierte sie Yiccardaria und rief sich dabei jenen schrecklichen Tag ins Gedächtnis.
»Du hast mich gerufen«, erklärte Eskavidne. »Die Barriere zwischen dem Unterreich und der Hölle ist so dünn geworden, dass unsere Spinnenkönigin entschieden hat, dass meine Schwester das Jahrhundert ihrer Verbannung umgehen könnte. Allerdings nur, wenn sie zunächst gemeinsam mit einer anderen Zofe hierher zurückkehrt.«
»Mit der Beschwörung von Eskavidne hast du mich befreit«, fügte Yiccardaria hinzu und verneigte sich anmutig. »Dafür stehe ich in deiner Schuld.«
»Wie damals, als du zugelassen hast, dass dieses Ungeheuer mich in meinen eigenen Gemächern malträtierte?«, fuhr Zhindia auf, ehe sie sich beherrschen konnte. Immerhin sprach sie von Yvonnel, einer Drow, die viele für den Avatar von Lolth in der Welt Toril hielten.
»Du kennst die Wege der Lolth gut genug, um meinen damaligen Platz zu begreifen.« Zu mehr ließ Yiccardaria sich nicht herab. »Auf Wunsch der Göttin habe ich lediglich zugesehen und … dich beschützt.«
»Du hast zu Yvonnel gehalten«, beharrte Zhindia.
»Ich habe sie besänftigt.«
»Sie …«
»Geht dich nichts an«, warf Eskavidne ein, um den Wortwechsel zu beenden.
Oberin Zhindia leckte über ihre plötzlich trockenen Lippen. Wer war diese Yvonnel Baenre wirklich? Ja, sie wusste, dass Yvonnel die Tochter von Gromph Baenre, dem früheren Erzmagier von Menzoberranzan, und der dummen Närrin Minolin Fey war. Sie wusste auch, dass es viel Getöse und wilde Gerüchte gegeben hatte, weil angeblich Lolth selbst die schwangere Minolin aufgesucht und das Kind gesegnet hatte.
Davon glaubte Zhindia allerdings kein Wort, so ungewöhnlich diese Yvonnel Baenre auch war. Dieses – vom Alter her noch sehr kleine – Kind, das nach der größten Oberinmutter aller Zeiten von Menzoberranzan benannt war, hatte sich irgendwie in eine erwachsene Frau verwandelt, die unbestritten überaus schlau und mächtig war.
Natürlich stachelte das Zhindias Neugier an (und zugleich ihren Hass auf Yvonnel), aber damals hatte sie nicht gewagt, der Sache weiter nachzugehen.
»Ich habe dich gerufen, um mit dir über meine Tochter zu sprechen«, sagte Zhindia zu Eskavidne.
»Seid Ihr Euch ganz sicher?«, fragte Oberinmutter Quenthel Baenre zum dritten Mal.
Ihr Bruder Gromph ließ sich zu keiner Antwort herab, sondern schnaubte nur ungehalten.
»Zaknafein Do’Urden, der Vater von Drizzt, wurde aus dem Grab geholt und zum Leben erweckt«, sagte Quenthel mehr zu sich selbst als zu ihrem Bruder, dem ehemaligen Erzmagier von Menzoberranzan. »Wenn es Lolth war, die Zaknafein Do’Urden aus dem Tod zurückgerufen hat, dann frage ich mich, warum. Und wenn sie es nicht war – wer dann?« Sie sah wieder Gromph an und fragte: »Die falsche Göttin Mielikki?«
Gromph hätte fast aufgelacht, weil seine Schwester unbedingt das Wort »falsch« einflechten musste. Mielikki war natürlich keine geringere Göttin als Lolth, und über solche kleinen Seitenhiebe, die aus servilem Selbstbetrug erwuchsen, konnte Gromph nur den Kopf schütteln. Er sagte sich gern, dass er über diesem ganzen Gezänk stand, welcher Gott am wichtigsten und mächtigsten sei.
»Bisher habe ich keinerlei Hinweise«, erwiderte er schließlich. »Wobei ich natürlich auch noch nicht intensiv nachgeforscht habe. Es erschien mir eher nebensächlich.«
»Dennoch hieltet Ihr es für ratsam, mich im Thronsaal aufzusuchen und zu informieren«, gab Quenthel bissig zurück.
»Ihr habt mich gebeten, Euch über alle Geschehnisse an der Oberfläche zu informieren. Und das habe ich getan. An vierter Stelle, wie Ihr bemerkt haben dürftet, nach der Errichtung des Hauptturms, den aktivierten Teleportationstoren der Zwergenstädte und den Fortschritten bei der Halblingsiedlung, die mit der Zwergenfestung von Gauntlgrym in Verbindung steht. Wenn ich Zaknafeins Rückkehr für sonderlich bedeutsam hielte, hätte ich sie nicht zuletzt genannt.«
»Für Lolth ist diese vierte Nachricht allerdings die wichtigste«, schalt die Oberinmutter. »Denn sie enthält wahrscheinlich Hinweise auf Lolths Willen und lässt uns erahnen, was sie diesbezüglich von uns erwartet.«
Gromph zuckte mit den Schultern, denn für ihn war dieser Aspekt nebensächlich. Immerhin erlebte er in der Oberflächenwelt mit, wie der Hauptturm des Arkanums wie von Zauberhand neu errichtet wurde, aber daran war weder die Dämonenkönigin der Spinnen noch eine andere Gottheit beteiligt. Unter Beteiligung des Urelementars des Feuers, der in der Lavagrube von Gauntlgrym festsaß, erschufen Gromph und andere einen lebendigen Turm, einen magischen, ausgehöhlten Baum aus Stein von ungeheuren Dimensionen und übernatürlicher Schönheit, der die geheimen Kräfte eines Wesens widerspiegelte, das so alt war wie die Götter und in vielerlei Hinsicht ebenso mächtig.
Er würde in diesem neuen Hauptturm des Arkanums die Forschungen leiten und dabei selbst dazulernen und mehr Macht erringen. Früher einmal hatte er geglaubt, als Erzmagier von Menzoberranzan den Gipfel seiner Laufbahn erreicht zu haben, doch nun eröffneten sich ihm neue Horizonte.
Was zählte da ein bloßer Kämpfer wie Zaknafein Do’Urden?
»Es ist gut, dass Tsabrak Xorlarrin jetzt Erzmagier von Menzoberranzan ist«, sagte Quenthel, während ihm all dies durch den Kopf ging.
Offenbar wollte sie ihm einen Stich versetzen, aber Gromph war ganz ihrer Meinung. Je kürzer er hier war, desto besser für ihn. Wenn er nicht wüsste, dass er Oberinmutter Quenthel pflichtbewusst Bericht erstatten musste, damit sie ihm und seinem Hauptturm keine Steine in den Weg legte, wäre er gar nicht erst gekommen.
Da schwangen die großen Türen des Thronsaals von Haus Baenre auf. Am jenseitigen Ende des langen schmalen Saals traten drei Drow-Frauen ein, deren kostbare Kleider ihren hohen Stand verrieten.
»Und?«, sagte Quenthel ungeduldig, als die drei näher kamen.
Die mittlere, die der Oberinmutter stark ähnelte, nur ein Stück größer war als sie, schüttelte irritiert den Kopf. »Nichts«, sagte sie. »Es gibt keinerlei Erklärung für die Rückkehr von Zaknafein Do’Urden. Weder die Zofen noch andere Dämonen, die wir kontaktiert haben, sagen etwas dazu. Es ist einfach so. Den Grund kennen wir nicht.«
Oberinmutter Quenthel zog die Brauen hoch. Der aufmerksame Gromph hatte registriert, dass sie das leise Hüsteln der Frau – ihrer Schwester Sos’Umptu – ebenso wenig überhört hatte wie deren Versäumnis, ihren vollen Titel zu verwenden. Typisch, dachte Gromph. Die eingebildete Sos’Umptu war einzig und allein Lolth ergeben. Von all seinen Geschwistern hasste er sie am meisten.
»Und die Urheberin kennen wir ebenso wenig?«, hakte die Oberinmutter nach.
»Genau«, erwiderte Sos’Umptu. »Die einzige Emotion, die ich während der Befragung diverser Dämonen wahrnehmen konnte, war Gleichgültigkeit. Das gilt auch für die Zofen. Das heißt, die Yochlols waren entweder angewiesen, keine Regung zu zeigen, oder es war ihnen wirklich egal.«
»Zaknafeins Auferstehung war also nicht das Werk der Lolth«, überlegte Quenthel.
»Das hat sie nicht gesagt«, glaubte Gromph genüsslich bemerken zu müssen.
Die Oberinmutter bedachte ihn mit einem drohenden Blick, ließ es jedoch dabei bewenden, weil sie sich Sos’Umptus exakte Formulierung – und die Bedeutung von Gromphs korrekter Anmerkung – noch einmal durch den Kopf gehen ließ.
»Die Spinnenkönigin gibt uns immer wieder Rätsel auf«, sagte Quenthel.
»Vielleicht ist es auch wirklich unwichtig, Oberinmutter«, bemerkte Oberin Zeerith, die älteste der drei Priesterinnen, die auf ihrer magischen schwebenden Scheibe auf einem bequemen Kissen thronte. Im Sitzen bedachte sie Quenthel mit einer halben Verbeugung. »Es gibt andere Angelegenheiten, um die wir uns dringender kümmern müssen«, ergänzte Zeerith. »Der Name Drizzt wird schon bald vergessen sein – oder er wird von denen unter uns, die mit angesehen haben, wie er sich mit Zwergen und Elfen gegen sein eigenes Volk gewendet hat, angemessen besudelt werden. Trotz aller Bemühungen jener ungewöhnlichen Kreatur, der Ihr den Namen Yvonnel gegeben habt, ist er kein Held von Menzoberranzan.«
Quenthels Blick glitt resigniert von Gromph zur dritten Priesterin, Minolin Fey. Die beiden waren die Eltern der jungen Yvonnel, wobei Quenthel ebenso wenig wie jeder andere verstand, wieso die Göttin einem Dummchen wie Minolin Fey ein so besonderes Kind gewährt hatte. Gromph pflichtete seiner mächtigen Schwester insgeheim bei, denn auch er begriff es nicht. Für ihn war Minolin ein Spielzeug gewesen, weiter nichts. Die Tatsache, dass aus diesem Spiel etwas so Spezielles wie Yvonnel erwachsen war, verblüffte ihn selbst, obwohl er darin natürlich auch einen Beweis seiner Überlegenheit sah.
»Durch Drizzt wurde große Macht geleitet. Er war ein Gefäß für das Schwarmgehirn der Illithiden, weiter nichts«, erklärte Oberinmutter Quenthel. Ihr Ton verriet unmissverständlich, dass sie bei diesem äußerst lästigen Thema das letzte Wort haben wollte. »Zu schade, dass er und die andere Abtrünnige neben ihm, die diese Illithiden-Macht kanalisiert hat, nicht dabei umgekommen sind.«
Gromph nickte, aber insgeheim war er anderer Ansicht. Zeerith Xorlarrin wurde von den Männern von Menzoberranzan sehr geschätzt, weil sie und ihr Haus mit den ansonsten rangniederen Drow-Männern liberaler umgingen. Doch nicht einmal sie wusste die Existenz von Drizzt voll zu würdigen, dessen Namen man sich in den Tavernen der Modergassen und entlang der Außenmauern der Häuser zuflüsterte, wo die Männer den Frauen dienten.
Oder vielleicht wusste und verstand sie es durchaus, dachte Gromph, als Zeerith ihn mit einem spöttischen Lächeln bedachte. Vielleicht galten ihre Behauptungen, Drizzt würde schon bald vergessen sein, lediglich Quenthel und ganz besonders Sos’Umptu, diesem fanatischen Albtraum von Schwester!
»Dann zu diesen anderen, wichtigeren Angelegenheiten«, sagte die alte Zeerith. »Haus Do’Urden wird bei der nächsten Zusammenkunft des Rats offiziell in Haus Xorlarrin umbenannt?«
»Das wird es, Oberin Zeerith Xorlarrin«, antwortete Oberinmutter Quenthel. »Es ist inzwischen Euer Haus, bemannt von Euren Soldaten. Deshalb sollte es auch offen Euren Namen tragen, einen Namen, der Furcht in den Herzen unserer gemeinsamen Feinde weckt. Werdet Ihr danach an der Westwand bleiben oder Euren alten Wohnsitz wieder beziehen?«
»Beides, wenn es Euch beliebt.«
»Nehmt Euren alten Wohnsitz«, entschied Quenthel zur Überraschung aller Anwesenden. »Haus Do’Urden könnt Ihr vorläufig behalten, aber ich betrachte es als gebührende Belohnung für ein Haus, das ich zu erheben gedenke.«
»Was diese Erhebung angeht …«, begann Zeerith.
»Oberin Byrtyn Fey wird Eurem Aufstieg zu einem höheren Sitz im Herrschenden Konzil nicht im Wege stehen«, unterbrach Minolin Fey sie.
Dass sie für ihre Mutter sprach, trug ihr einen halb ungläubigen, halb irritierten Blick von Zeerith ein, wie Gromph registrierte. Als ob Haus Fey-Branche eine Wahl hätte! Wenn es Einspruch erhöbe, wäre es für Haus Xorlarrin ein Leichtes, alle seine Adligen zu beseitigen.
»Ich werde also dem Fünften Haus von Menzoberranzan vorstehen, obwohl Xorlarrin früher das Dritte Haus war«, folgerte Zeerith.
Bevor Ihr dummerweise versucht habt, Gauntlgrym zu erobern und eine eigene Stadt zu gründen, dachte Gromph, war aber nicht anmaßend genug, dies laut auszusprechen.
»Ich bin sicher, dass Ihr weiter aufsteigen werdet«, sagte die Oberinmutter. »Vorläufig jedoch benötige ich die Stabilität und Ergebenheit der beiden Häuser über Euch.«
»Ja, Ihr könnt auf fünf der obersten sechs herrschenden Häuser bauen«, stellte Zeerith fest. »Aber bleibt bitte auf der Hut, denn es haben sich viele andere Oberin Mez’Barris vom Zweiten Haus zugewandt.«
»Die Stadt ist zweigeteilt«, bestätigte die Oberinmutter.
»Und reif für einen Bürgerkrieg«, sagte Zeerith.
»Dazu wird es nicht kommen«, warf Sos’Umptu ein. »Es sind noch viele Dämonen da, die in erster Linie Lolth dienen. Haus Baenre steht in der Gunst der Lolth weiterhin hoch oben.«
»Es wird keine Einigkeit geben«, warnte Zeerith.
»Ich habe Zugriff auf die Erinnerungen der größten Oberinmutter Baenre, Yvonnel der Ewigen«, erinnerte Quenthel sie kalt, und das war nicht gespielt, wie Gromph erkannte. Seine Schwester hatte hier die Oberhand und war sich ihrer Sache sehr sicher.
»Ich erinnere mich an die Gründung dieser Stadt«, fuhr Quenthel fort. »Und zwar sehr genau. Es hat niemals Einigkeit geherrscht, und das wird auch niemals so sein. Ja, wir müssen mit unseren Plänen auf der Hut bleiben, aber das gilt auch für Oberin Mez’Barris. Und für sie umso mehr, denn die Häuser, die unmittelbar hinter ihr stehen, sind keineswegs unbedeutend.«
»Einschließlich meines eigenen«, sagte Zeerith. Als Quenthel lächelnd nickte, kam das Gromph fast wie ein Freibrief für Zeerith vor, in den Krieg zu ziehen.
Fast.
»Ihr habt gehört, dass zur Neugründung von Haus Oblodra aufgerufen wurde?«, bemerkte Zeerith wie nebenher, doch es war offenkundig, dass sie sich die wichtigste Nachricht bis zum Schluss aufgehoben hatte. Diesmal überraschte sie Quenthel doch. »Nach dem Eingreifen des Schwarmgehirns gegen Demogorgon war dies schließlich zu erwarten, nicht wahr?«, fuhr Zeerith fort. Sie ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen.
»Die große Oberinmutter Yvonnel Baenre, meine Mutter, Eure Verbündete, hat Haus Oblodra durch die Macht der Lolth in den Klauenspalt gestürzt«, sagte Gromph, der ganz sicher keine Neugründung von Haus Oblodra wünschte. Er erlernte die Oblodra-Magie vom bisher einzigen bekannten Überlebenden dieses Hauses und zog es vor, allein über eine unter den Drow so seltene Fähigkeit zu verfügen. »Oder habt Ihr das vergessen?«
»Ganz sicher nicht!«, rief Zeerith aus. »Aber es gibt viele, die dies vergessen haben oder niemals wussten oder denen es in derart unsicheren, gefährlichen Zeiten gleichgültig ist. Die Oblodraner waren Häretiker, ja, doch sie verfügten über eine besondere magische Kraft, die Menzoberranzan im Kampf gegen Demogorgon gute Dienste geleistet hat. Das lässt sich nicht bestreiten.«
»Ich habe die Gerüchte vernommen«, sagte Quenthel in einem so herrischen Ton, dass Gromph sich seine Erwiderung verbiss. »Und es wird ihnen verwehrt. Der Illithiden-Schwarm hat uns in der Schlacht gegen Demogorgon beigestanden, richtig, aber die verbliebenen Mitglieder von Haus Oblodra werden nicht ermutigt, erneut ein Machtfaktor in Menzoberranzan zu sein.«
Oberin Zeerith warf Gromph einen misstrauischen Blick zu, den er durchaus zu deuten wusste. Beim Eingreifen der Illithiden gegen Demogorgon war er bei ihnen gewesen. Er hatte die Macht des Psi-Zaubers gespürt und dabei geholfen, ihn zu lenken und zu verstärken. Genau wie Jarlaxles mächtiger Psi-Offizier, Kimmuriel Oblodra, aus dem erwähnten, vor langer Zeit vernichteten Haus von Menzoberranzan. Selbstverständlich war Gromph mit Haus Baenre verbündet, genau wie Jarlaxle, und gemeinsam boten sie Oberinmutter Quenthel direkten Zugang zu der ungewöhnlichen Gedankenmagie der Psionik.
Diesen Vorteil würde Quenthel nicht aufgeben. Zeerith verstand das, wie Gromph sah, und obwohl er Zeerith, die den Männern mehr Rechte zugestand, viel abgewinnen konnte, war er angenehm überrascht, dass seine Schwester so resolut mit ihr umsprang.
In diesem Augenblick begriff der einstige Erzmagier, dass er nach wie vor an seine Heimat Menzoberranzan und insbesondere an Haus Baenre gebunden war. Denn allem Aufbegehren und geradezu lästerlichem Eigensinn zum Trotz war Gromph in seinem tiefsten Inneren noch immer der älteste Sohn des Hauses Baenre.
Bis gerade eben war ihm seit Jahren nicht mehr klar gewesen, wie wichtig es ihm war, dass Haus Baenre das Erste Haus von Menzoberranzan blieb.
»Ihr geht jetzt bitte, Oberin Zeerith«, sagte Oberinmutter Quenthel unerwartet. »Lasst uns beide überlegen, wie wir Haus Xorlarrin am besten an seinen rechtmäßigen Platz zurückbekommen, ohne einen Krieg anzuzetteln oder die Ergebenheit des Dritten oder Vierten Hauses zu gefährden.«
»Und was ist mit diesem auferstandenen Kämpfer? Wo wir schon dabei sind«, fragte Zeerith ziemlich schroff.
»Nichts«, sagte Quenthel. »Die Herrin Lolth hat uns nicht aufgetragen, Zaknafein zu jagen. Also werden wir diesen kleinen Kämpfer eines vernichteten Hauses nicht über Gebühr beachten. Genau wie seinen Sohn Drizzt, diesen Abtrünnigen. Als wir nach der Schlacht gegen Demogorgon hier mit ihm fertig waren, hat Yvonnel entschieden, ihn gehen zu lassen. Also lassen auch wir ihn seiner Wege ziehen. Sie ist ebenfalls gegangen, und wahrscheinlich ist sie in seiner Nähe. Wenn sie ihn am Ende tötet – gut so. Wenn nicht, spielt er für uns keine Rolle. Er war ein Speer. Dieser Speer wurde geworfen und hat sein Ziel erreicht.«
Oberin Zeerith blieb einen Augenblick herrisch sitzen, ohne eine Miene zu verziehen und ohne Oberinmutter Quenthel aus den Augen zu lassen. Sie versuchte, diese ungewöhnlich entschlossene Oberinmutter einzuschätzen, zu der Quenthel sich entwickelt hatte, dachte Gromph.
»Das halte ich für eine kluge Entscheidung, Oberinmutter«, sagte Zeerith mit einer neuerlichen leichten Verneigung. »Euer Kurs kann die Spinnenkönigin nicht verärgern. Solltet Ihr es Euch anders überlegen oder irgendwelche Unterstützung von Haus Xorlarrin wünschen, werden wir diesem Ruf selbstverständlich Folge leisten.«
»Nichts weniger hätte ich erwartet. Genau wie unsere Herrin Lolth.«
Zeerith verbeugte sich ein letztes Mal, ehe sie ihre magische Scheibe zur Tür gleiten ließ.
Gromph unterdrückte den Impuls, seiner Schwester Beifall zu zollen. Sie sollte nicht merken, wie froh er war, dass Oberinmutter Baenre beschlossen hatte, wegen Drizzt oder Zaknafein keinen Krieg zu führen. Ein Konflikt zwischen Gauntlgrym und Menzoberranzan wäre ihm nicht gelegen gekommen. Im Moment. Nicht, solange der Hauptturm weiterwuchs und es über die Magie und die Psionik noch so viel zu lernen gab.
Auf der anderen Seite der Stadt schäumte Oberin Zhindia Melarn vor Wut.
»Da ist nichts«, erklärte Eskavidne. »Eure Tochter ist für immer gegangen. Es gibt keine Seele mehr, die wiederauferstehen könnte.«
Das war ein schwerer Schlag für Zhindia. Die meisten Priesterinnen hatte sie wiederbelebt, nicht jedoch ihre einzige Tochter, die Thronfolgerin der Melarni. Yahzin Melarn war derselben Waffe zum Opfer gefallen, die auch Jerlys Horlbar getötet hatte, Zhindias Mutter: dem grauenvollen Dolch von Drizzt Do’Urdens Menschenfreund.
Zudem bestätigte Eskavidne, was bereits bekannt war: Wen die Klinge von Artemis Entreri tötete, dessen Seele war unwiederbringlich verloren.
»Das dürfte Euch natürlich freuen«, sagte Zhindia zu der Priesterin an ihrer Seite. Kyrnill war die Erste Priesterin von Haus Melarn. Die Anklage hing schwer zwischen ihnen im Raum, denn Kyrnill war einst die Oberin von Haus Kenafin gewesen und hatte sich einverstanden erklärt, beim Verschmelzen der beiden Häuser Zhindia zu dienen (allerdings nur in der Erwartung, dass Zhindia nicht mehr lange leben würde, wie sie beide wussten).
»Wie kommt Ihr nur auf so etwas, Oberin?«, fragte Kyrnill.
»Spielt hier nicht die Unschuldige«, fuhr Zhindia sie an.
Kyrnill sah die beiden Yochlol an, die lachend nickten.
»Nun gut«, sagte Kyrnill. »Ihr wolltet Yahzin über mich erheben. Sie sollte an meiner Stelle Erste Priesterin werden und Euch auf den Thron von Haus Melarn folgen.«
»Und das hat dich gestört?«, fragte Eskavidne.
Die einstige Oberin lachte. »Nein. Es war weder meine Entscheidung noch die von Oberin Zhindia. Wir alle erfüllen nur den Willen der Lolth.«
»Eine weise Antwort«, sagte die immer noch brodelnde Zhindia.
»Oberin, ich habe Euch gut gedient«, erwiderte Kyrnill. »Natürlich wollte ich Oberin Melarn werden, als unsere Häuser sich vereinigten. Aber Lolth hat eine andere Wahl getroffen, daher akzeptiere ich meine Position.«
»Eine Position, die dir bei der Spinnenkönigin hohe Gunst verheißt«, betonte Eskavidne. »Euch beiden.«
»So hohe Gunst, dass wir von dem Häretiker und seinen verfluchten Freunden überrannt wurden«, schnaubte Zhindia. »So hohe Gunst, dass ich wieder kinderlos bin, nachdem ich so viel Mühe darauf verwandt hatte, Yahzin zu einer ordentlichen Melarni-Oberin zu formen.«
»Nichts geschieht ohne Grund«, sagte Eskavidne.
»Ein merkwürdiger Kommentar für eine Zofe der Herrin des Chaos«, stellte Zhindia fest.
»Das Chaos ist der Grund«, antwortete die Zofe sofort. »Und jetzt sind dein Haus und dein Einfluss geschwächt, wohingegen Oberinmutter Baenres Einfluss auf die Stadt zunimmt.«
»Und der von Oberin Zeerith Xorlarrin«, zischte Zhindia. Von allen Drow hasste sie Zeerith Xorlarrin am meisten. Und nun war Haus Xorlarrin zurück – oder würde es bald sein, denn es sollte Haus Do’Urden ersetzen, gegen das Zhindia vergeblich in den Krieg gezogen war.
»Gebt ihr euch geschlagen?«, fragte Eskavidne.
Ihre Worte trafen die zwei mächtigen Priesterinnen bis ins Mark. Schockiert starrten die beiden die Zofe an.
»Seid ihr bereit, in dieser dunklen Stunde für Haus Melarn alles aufzugeben, was euch groß gemacht hat?«, fuhr Eskavidne fort. »Ihr seid die ergebensten Anhängerinnen von Lolth auf ganz Toril. Ist euch das nicht mehr wichtig?«
»Was soll das heißen?«, fragte Kyrnill.
»Wie lautet euer Angebot?«, formulierte Oberin Zhindia die Frage korrekt um.
»Uns sind gewisse Informationen zu Ohren gekommen«, teilte Yiccardaria ihnen mit. »Der Vater von Drizzt wurde der Ewigkeit entrissen und an die Seite seines Sohnes zurückgeschickt. Er, der einst die Sklaverei des Lebenden Geistes Zin-carla erdulden musste, hat irgendwie großen Lohn erhalten. Viele halten das für einen Affront gegenüber Lolth und glauben, dass diejenige, die diesen abscheulichen Frevel behebt, gesegnet sein wird.«
Fasziniert wechselten Zhindia und Kyrnill einen Blick.
»Viele glauben das?«, fragte Zhindia.
»Es steht uns nicht zu, mehr zu sagen«, gab Yiccardaria zur Antwort. »Über die Geheimnisse dieser Welt stellt die Spinnenkönigin fest, wer ihre treuesten und wertvollsten Anhängerinnen sind.«
»Die Herrin Lolth legt Wert auf Intelligenz, nicht auf blinden Gehorsam«, fügte Eskavidne hinzu. »Die einen werden in diesem Geschehen einen klaren Aufruf zum Handeln sehen. Andere akzeptieren vielleicht, dass die Sache keine Eile hat.«
»Weiß die Oberinmutter davon?«, fragte Zhindia.
»Selbstverständlich«, sagte Yiccardaria. »Ebenso wie sie weiß, dass Lolth den abtrünnigen Drizzt persönlich auf die Oberflächenwelt geschickt hat. Und Lolth hat ihn nicht getötet.«
»Warum?« Zhindias fassungslose Frage zeugte von ihrer Überraschung.
Beide Zofen kicherten.
»Nun gut. Und wer hat Drizzt seinen Vater zurückgegeben?«
»Geheimnisse«, flötete Yiccardaria.
»Ein ganzes Netz voll«, fügte Eskavidne hinzu.
Kyrnill schien etwas sagen zu wollen, aber Zhindia war so in Gedanken, dass sie die Närrin mit einer Handbewegung zum Schweigen brachte.
»Ein Netz, ja«, sagte die Oberin von Haus Melarn. »Gesegnet sind wir, denn Lolth hat uns dieses gewaltige Netz aus Intrigen geschenkt, damit wir die heiligen Mysterien entwirren und sie damit erfreuen.« Ihr Lächeln wurde noch breiter, und sie nickte. »Das Netz von Drizzt, dem Abtrünnigen, der das Chaos bringt, glorreiches Chaos. Allein durch seine Existenz«, sagte sie. »Und als das Chaos sich legte, ergriff Oberinmutter Quenthel einen Faden dieses Netzes und wob damit einen Krieg in den Silbermarken und schickte Haus Xorlarrin aus, die Ruinen von Gauntlgrym zu erobern.« Zhindia warf den Yochlol einen Blick zu, aber die behielten ausdruckslose Mienen bei, während die Oberin die Geschichte selbst entwirrte. »Diese Niederlagen bedrohten die Ordnung von Menzoberranzan«, überlegte sie. »Daraufhin ergriff Oberinmutter Quenthel einen Faden dieses zweiten Netzes und webte ein drittes.«
»Indem sie die Straßen von Menzoberranzan mit Dämonen flutete«, ergänzte Kyrnill, wozu Zhindia eifrig nickte. »Noch mehr glorreiches Chaos, aber damit konnte die Oberinmutter ihre Herrschaft festigen.«
»Und den großen Demogorgon zu den Toren von Menzoberranzan führen«, erinnerte Yiccardaria.
»Und dann ergriff Yvonnel einen Faden von Oberinmutter Quenthels Netz und webte ein weiteres«, fuhr Zhindia begeistert fort. »Damit sie Drizzt, den Abtrünnigen, und die Illithiden – ausgerechnet die Illithiden! – benutzen konnte, um Demogorgon zu schlagen, den größten Rivalen der Lolth. Das gefiel ihr natürlich. Wie sehr die Spinnenkönigin es genossen haben muss, als ihr Volk den großen Demogorgon in einen bibbernden Schleimhaufen verwandelte!«
»Vielleicht hat sie Drizzt deshalb am Leben gelassen«, stellte Yiccardaria in den Raum.
»Sind das ihre Worte?«
Die Zofe kicherte wieder. »Wenn das ihre Worte wären, hätte ich meine Aussage nicht relativiert …«
»Dann eben ein Hinweis?«, fragte Kyrnill.
»Nein«, antwortete Zhindia entschieden. »Welche Freude sollte ihr das bereiten? Der Abtrünnige ist ihr nicht den Hauch des Wortes wert, das sein Leben auslöschen würde. Nein, sie hat uns ein Netz geschenkt, eines, an dessen Fäden wir ziehen dürfen, wenn wir klug genug sind, die Zusammenhänge zu erkennen.«
»Das liegt in ihrem Wesen, Oberin Zhindia«, sagte Yiccardaria.
»Darin liegt ihre Schönheit«, fügte Eskavidne hinzu.
»Damit ich es richtig verstehe: Die Spinnenkönigin hat in Bezug auf den Abtrünnigen, Drizzt, und seinen wiederauferstandenen Vater keinen Befehl erlassen?«, fragte Zhindia. »Und sie gibt keinen Hinweis dazu?«
»Wie gut ist ein Netz, in dem sich niemand verstrickt?«, gurrte Yiccardaria.
Zhindias Brust weitete sich vor Glück. Soweit sie es begriff, hatten die beiden Zofen der Herrin Lolth, die engsten Vertrauten der Spinnenkönigin und Stimme der Lolth gegenüber ihren ergebenen Priesterinnen, ihnen gerade die Erlaubnis erteilt, gegen den Drow-Verräter vorzugehen, der Haus Melarn einen so empfindlichen Stich versetzt und Zhindia beide Kinder geraubt hatte.
Zhindia würde dieses neue Intrigennetz finden und an einem Faden ziehen.
Und dann würde sie ihr eigenes Netz weben.
Echos aus der Vergangenheit
Im Unterreich sind Netze nicht zu sehen. Erst zu spät nimmt man sie wahr – wenn sie zu kitzeln beginnen oder beim ersten Stolpern. Vielleicht schreit man noch entsetzt auf, ehe man stirbt.
Aber man sieht sie nicht.
Weder Spinnennetze noch die Fallen anderer Wesen, die den abenteuerlustigen Dummkopf erwischen, der sich in Bereiche vorwagt, wo er nicht hingehört.
Weshalb das auch kaum jemand tut. Kaum jemand gehört ins Unterreich, und die wenigen, die dort leben, betrachten die Finsternis als Verbündete für ihre eigenen Machenschaften.
Hier hacken die Duergar-Zwerge hasserfüllt auf das Gestein ein. Fluchend und knurrend nagen sie sich mit ihren Pickeln durch den Fels, und jeder metallische Funke zeigt zerfurchte, stets drohende Mienen.
Hier legen die monströsen Höhlenfischer ihre langen Fäden aus, um unvorsichtige Besucher zu Fall zu bringen und hilflos zappelnd in das wartende Maul emporzuhieven.
Hier zermalmen mächtige Erdkolosse unterschiedslos Stein und Fleisch.
Hier sammeln sich die Riesenpilze und hecken Katastrophen aus.
Hier flattern wachsame Schatten umher, deren eisige Finger alles Lebende erwürgen.
Hier tarnen sich die Angreifer als fester Boden. Hier hängen sie zwischen den Stalaktiten. Und wer von ihnen entdeckt wird, glaubt, das Unterreich selbst hätte sich erhoben, um ihn zu verschlingen.
Was durchaus stimmt.
Und dann stirbt man, vom Schatten vertilgt, wie so viele zuvor.
Denn hier ist das Unterreich, wo die Schatten zu dicht beieinanderliegen, um noch als Schatten zu gelten, wo das Licht für den, der es trägt, gefährlicher ist als der Pfad, den er geht, wo die Jagdgründe nahtlos aneinandergrenzen, wo die meisten noch Glück haben, wenn sie ihre Todesart selbst wählen können, indem sie sich ihr eigenes Schwert ins Herz stoßen, ehe die Tentakelkatze sie vom Sims zieht oder die Spinne ihnen in einem undurchdringlichen Kokon den letzten Lebenssaft aussaugt.
Hier streifen unendlich wütende Dämonen umher, die Meister des Mordens.
Hier verdichten sich die geruchlosen, unsichtbaren Dünste ferner Auseinandersetzungen zu ewigem Schlaf oder lassen ein Aufblitzen von Flint und Stahl zu einem Feuerball auflodern, der den Erzmagier von Menzoberranzan erblassen ließe.
Hier schlägt ein fernes Tropfen den bedrohlichen Puls, ein feines Geräusch, das von Stein zu Stein tanzt und durch die absolute Stille dröhnt.
Hier klappern die Knochen der unverwesten Toten, die schwarze Magie an schwarzen Orten zu Untoten erweckt, die mit Zähnen und Klauen angreifen.
Ja, das ist das Unterreich, und hier liegt Menzoberranzan, die Spinnenstadt, wo die Dämonengöttin verehrt wird, die sich die Spinnenkönigin nennt.
Nur ein Narr kommt ungebeten hierher.
Nur ein Narr schlägt die Einladung hierher nicht aus.
Denn hier leben die Drow, die Dunkelelfen, die Meister der heiligen und der arkanen Magie, die Meister über die Waffen, die mit den grausamen Zaubern des Faerzress belegt sind, jener magischen Grenze, die das Unterreich mit Leben erfüllt und es – wie passend – mit den Reichen der Dämonen und Teufel verbindet.
Ja, hier leben die Drow, die sich nur so lange nicht gegenseitig töten, wie sie brauchen, um dich zu töten.
»Was soll ich mitnehmen, Vater?«, fragte in einer berühmten Fabel aus Faerûn der junge Mann, der ins Unterreich aufbrechen wollte.
»Zwei Münzen.«
»Goldmünzen aus Tiefwasser? Silbermünzen aus Cormyr?«
»Das ist egal«, sagte der Vater.
»Wie viel Essen soll ich einpacken?«
»Das ist egal. Zwei Münzen.«
»Und natürlich Wasser, Vater. Wie viel Wasser soll ich mitnehmen?«
»Das ist egal. Zwei Münzen.«
»Ich bekomme alles, was ich brauche, für nur zwei Münzen? Und welche Waffe wäre am besten? Ein Schwert? Ein Bogen?«
»Zwei Münzen. Mehr nicht.«
»Um alles zu kaufen, was ich brauche?«, fragte der Sohn verwirrt.
»Nein«, antwortete der Vater. »Damit sie nach deinem Tod auf deinen Augen liegen können. Denn nichts, was du mitnehmen könntest, wird dir helfen.«
Das ist das Unterreich, das Land der Mordenden.
Das Land der Drow.
Drizzt Do’Urden
(Vor 470 Jahren, Jahr der Drachenwut, Zeitrechnung der Täler 1018)
Das Netz der Oberin
»Einhundert Jahre«, sagte Lehnsherr Rizzen zu Oberin Malice Do’Urden. Die beiden befanden sich in dem kleinen Thronsaal des niederen Hauses Daermon N’a’shezbaernon, das die meisten als Haus Do’Urden kannten. Trotz der Enge des Raums – die meisten derartigen Säle in Menzoberranzan waren deutlich größer – hatte Malice das Zimmer auf ihre brillante Art zu einem Schmuckstück für Lolth, die Spinnenkönigin, gestaltet. Ihr Thron auf dem Podest war mit schwarzer Seide bezogen, in die rote Spinnen eingewebt waren. Hinter ihr hingen schwere schwarze Vorhänge, die sich schimmernd in einem beständigen magischen Wind wiegten, als wären sie lebendig.
An diesen Vorhängen waren echte Spinnennetze befestigt, in denen echte Spinnen krabbelten, die meisten größer als eine Drow-Faust, alle giftig und allesamt durch verschiedene Zauber darauf konditioniert, Malice nichts zu tun.
Rechts und links des Throns standen zwei Jadestatuen, der Stolz des Hauses Do’Urden. Viele Drow-Häuser besaßen animierte Jadespinnen, aber Malice hatte diese übliche Praxis einen Schritt weitergetrieben, obwohl ihre Kühnheit ihr Ärger mit der Spinnenkönigin hätte einhandeln können. Die Jadestatuen dieses einfachen Hauses von Menzoberranzan waren animierte Drider, Mischwesen aus Drow und Spinne. Es war ein rein äußerlicher Unterschied zu den normalen Golems von Menzoberranzan, aber dass Oberin Malice zu diesem Schritt bereit gewesen war, zeugte von großer Kühnheit. Und sie stand weiterhin in der Gunst der Lolth.
Malices kleines Gesicht spannte sich an, als sie Rizzen anstarrte, wobei nicht ganz klar war, ob ihr Abscheu sich auf seine beiläufige Bemerkung bezog oder doch gezielt auf ihn.
»Nur wenige Oberinnen haben ein ganzes Jahrhundert gedient«, fügte der oft unaufmerksame Mann hinzu. »Das ist ein großer Tag. Für Euch wie für Haus Do’Urden.«
»Haus Do’Urden«, wiederholte Malice abfällig. Vor einhundert Jahren hatte sie die Herrschaft übernommen, an dem Tag, an dem ihr erstes Kind, Briza, geboren wurde. An dem Tag, an dem ihre Mutter, Oberin Vartha Do’Urden, gestorben war. An jenem Tag vor langer Zeit hatte Malice Do’Urden große Pläne gehabt. Sie wusste, dass sie in der Gunst der Göttin gestanden hatte, denn sie hatte ein Mädchen geboren, und der Vergiftungszauber, den sie während der Geburt gewirkt hatte, hatte wunderbar funktioniert. Nie war ihr Gemunkel über den Tod von Oberin Vartha Do’Urden zu Ohren gekommen.
Sie hatte ihr Haus somit fest im Griff, und obwohl es ein niederes Haus war, hatte es viel Potenzial und vor allem einen soliden, gut zu verteidigenden Standort im Bereich der Westwand von Menzoberranzan. Tatsächlich war Haus Do’Urden direkt in die undurchdringliche Westwand der Höhle gebaut, was die Verteidigung deutlich erleichterte. Und Malice hatte ihre Tochter, die heute eine Hohepriesterin von beträchtlicher Macht war.
Doch der Aufstieg durch die Ränge von Menzoberranzan war nicht leicht, und Oberin Malice war nie für ihre Geduld berühmt gewesen. Ja, Haus Do’Urden arbeitete sich allmählich hoch, aber das lag zumeist daran, dass die Kriege zwischen den Häusern die Ränge über ihr dezimierten oder Häuser mit zu wenig Adligen aufgaben oder von den größeren, herrschenden Häusern geschluckt wurden. Malice wusste nur zu gut, dass Haus Do’Urdens beste Strategie beim Aufstieg bisher darin gelegen hatte, wie unbedeutend es war.
So unwichtig, dass die größeren Häuser nicht auf sie achteten.
Nun jedoch, wo sie sich den Rängen der obersten zwölf Häuser näherten, würde sich das bald ändern. Die Drow von Do’Urden konnten nicht länger im Hintergrund verharren. Allerdings hatten sie gefährlich wenig Adlige, denn in den letzten drei Jahrzehnten hatte Malice zwei Schwestern und einen Bruder verloren. Sie hatten keinen guten Hauszauberer, auf den man bauen konnte, und ihr Waffenmeister Dreveseer, Malices ältester Bruder, hatte seit fünfzig Jahren keinen ordentlichen Kampf mehr ausgefochten.
Das edle Blut war nie aufgefrischt worden, und nun stand Haus Do’Urden einerseits dicht davor, die Aufmerksamkeit der höheren Häuser zu erregen, und war andererseits schlechter denn je dafür gerüstet.
»Wenn ich daran denke, wo wir herkommen«, sagte Rizzen salbungsvoll. Er seufzte tief. »Und alles nur wegen der Netze von Oberin Malice. Euer heimliches Bündnis mit zwei der großen Häuser, ein Band, das allein Eurem Charisma …«
»Ruhe jetzt«, befahl Oberin Malice gereizt, aber nicht nur, weil sie seine Stimme satthatte. Rizzens Worte entsprachen der Wahrheit, denn Malice pflegte ihre Verbindungen zu zwei der mächtigsten Oberinnen von Menzoberranzan. Aber diese beiden hassten einander, sodass solche Fäden besser im Dunkel blieben.
Da ging die Tür auf, und ihr Sohn Nalfein trat ein, ihr einziges weiteres Kind. Er war ein attraktiver Drow, klein wie Malice und nur wenige Jahre jünger als Briza. Doch im Gegensatz zu seiner Schwester war Nalfein in jeder Hinsicht Mittelmaß. Obwohl Nalfein sich an der Drow-Akademie für Krieger, Melee-Magthere, bisher nicht sonderlich hervorgetan hatte, hätte er längst den offenen Kampf fordern müssen, um sich als Waffenmeister von Haus Do’Urden zu etablieren. Aber dazu konnte er sich nicht durchringen. Vermutlich befürchtete er, nicht siegreich zu sein, doch Malice wollte ihm diesen wichtigen Titel nicht einfach so übertragen, weil sie fürchtete, ihn mit dieser Auszeichnung zur Zielscheibe für Herausforderer zu machen.
Und Nalfein würde nicht allzu viele schlagen können.
Als sie von ihrem Sohn kurz zu Rizzen zurückblickte, konnte sie ihr Missfallen kaum verbergen. Nalfein war sein Kind. Rizzen behauptete, auch Briza wäre von ihm, aber nur, weil ihm das aufgetragen worden war, denn er kannte die Wahrheit über ihre Empfängnis und war nicht daran beteiligt gewesen. Er hatte Malice lediglich diesen mittelmäßigen Sohn verschafft und keine weiteren Kinder. Ein zusätzlicher Punkt auf der langen Liste der Enttäuschungen durch Rizzen. Wenn sie ihn jetzt musterte, kam ihr nicht zum ersten Mal der Gedanke, dass sie ihn vielleicht längst der Spinnenkönigin hätte opfern sollen.
Seufzend wandte sie sich wieder Nalfein zu. Rizzen war ihr treu ergeben, stellte sie nie in Frage und war mit jeder Entscheidung glücklich. Als Liebhaber war er durchaus zufriedenstellend, zumal sie sich keineswegs auf ihn allein beschränkte. Oberin Malice gab es ungern zu, denn es war viel einfacher, Rizzen die Schuld zuzuschreiben, doch angesichts der Anzahl ihrer Bettgefährten hatte das Ausbleiben weiterer Kinder in den letzten fünfundneunzig Jahren höchstwahrscheinlich mehr mit ihr zu tun als mit ihm.
»Sie hat das Anwesen verlassen«, teilte Nalfein seiner Oberin mit.
»Allein?«
»Auf einer Xorlarrin-Scheibe. Niemand wird sie anrühren.«
»Ihr habt ihr die Antwort mitgeteilt?«
Nalfein nickte. »Sie hat sich zu der Frage erkundigt …«
»Das geht sie nichts an«, erwiderte Malice. »Sie musste lediglich die Antwort erfahren.«
Beide Männer musterten Malice neugierig, aber das war ihr gleichgültig. Haus Do’Urden hatte viel zu lange auf der Stelle getreten. Die Zeiten, in denen die Häuser über ihnen sich gegenseitig zerstört hatten, waren vorüber. Oberin Malice musste endlich aus den Schatten treten und ihrem Haus die Stärkung zukommen lassen, die seinem gegenwärtigen Status gebührte. Denn die aufstrebenden Häuser hinter Do’Urden mussten erfahren, dass sie gegen Malice nicht ankamen, und die Häuser über ihr sollten wissen, dass ein Angriff auf Do’Urden sie zu teuer zu stehen käme.
Lolth hatte ihr eine Chance offenbart, und die würde sie sich nicht entgehen lassen.
Hohepriesterin Briza Do’Urden war unbehaglich zumute, während sie auf der schwebenden Scheibe durch die gewundenen Straßen von Menzoberranzan glitt. Jeder Stalagmitenhügel in der großen Höhle war ausgehöhlt und einem Drow-Haus angegliedert. Entlang der natürlichen Tropfsteingebilde waren Treppen und Balkone zu sehen, die von harmlos glimmendem Feenfeuer in unterschiedlichsten Rottönen beleuchtet wurden.
Doch nicht die Nähe zu den etablierten Häusern machte Briza nervös – immerhin stand sie auf einer magischen Scheibe, die erkennbar zu Haus Xorlarrin gehörte und damit unter dem Schutz von Oberin Zeerith stand. Xorlarrin war das viertmächtigste Haus der Stadt und eng mit Haus Baenre verbündet, den unangefochtenen Herrschern über Menzoberranzan. Solange Briza auf einer solchen Scheibe stand, würden die mächtigen Häuser sie nicht anrühren, doch es gab in der Stadt genügend unberechenbare Schurken, und ihr Weg zu den höheren Bereichen der Höhle, in denen die einflussreichsten Häuser angesiedelt waren, führte am Braeryn vorbei, den Modergassen, wo es Räuberbanden gab, die wenig zu verlieren hatten.
Allerdings war sie auch eine angesehene Hohepriesterin der Lolth, die sich ihren Status zäh erkämpft hatte. Also rief sie ihre Göttin an, um sich mit Schutzzaubern und Runen zu wappnen.
Sie sollte nichts davon brauchen. Als Briza die Rampe zum hochgelegenen Qu’ellarz’orl emporschwebte, ließ ihre Furcht vor einem Überfall nach, doch sie wappnete sich angesichts der bevorstehenden Beurteilung. Hier lagen die großen Häuser der Stadt, insbesondere ein Großteil der acht, deren Oberinnen im Herrschenden Konzil saßen. Natürlich würden sie alle ihr Kommen registrieren, und damit wäre das Abkommen zwischen Haus Do’Urden und Haus Xorlarrin kein Geheimnis mehr – falls es dies je gewesen war.
Darum hatte Briza überrascht reagiert, als sie erfuhr, dass Oberin Zeerith Xorlarrin ihr für diese Unterredung eine Scheibe geschickt hatte. Oberin Zeerith hatte natürlich ihre eigenen Motive, denn Haus Do’Urden spielte für die herrschenden Häuser keine Rolle. Wichtiger waren die Gerüchte, die zu Malices hundertjährigem Jubiläum als Oberin wieder lauter wurden – dass Haus Do’Urden sich einst mit Haus Xorlarrins Hauptgegner, Haus Barrison Del’Armgo (einem niederen Haus von ausgezeichnetem Ruf), auf finstere Machenschaften eingelassen hatte. Offenbar legte Oberin Zeerith Wert darauf, Oberin Soulez Armgo zu zeigen, wie Briza die Rampe zum Qu’ellarz’orl hinaufflog.
Briza war im großen Spiel zwischen den Häusern lediglich eine Figur, die gezogen wurde.
Dieser Gedanke lastete schwer auf Brizas starken Schultern, als sie an dem eindrucksvollen Palast von Barrison Del’Armgo vorbeikam, der für ein Haus dieses Ranges definitiv zu groß und zu stark befestigt war. Diese Familie stand in der Hierarchie der Stadt weit unter Haus Do’Urden, aber Briza begriff sehr wohl, dass ein Feldzug gegen Barrison Del’Armgo für ihre Familie in einer prompten, katastrophalen Niederlage enden würde.
Jenseits der fein gearbeiteten Zäune um das Gelände von Del’Armgo marschierten Soldaten in perfektem Gleichschritt und enger Formation. Diese Männer waren immer am Marschieren, immer im Drill, immer in Bereitschaft, und kein Haus – nicht einmal zwei Häuser gemeinsam – konnte sich eines stärkeren Kontingents an männlichen Kriegern rühmen. Und zu allem Überfluss wurden die Soldaten von Barrison Del’Armgo von einem jungen Waffenmeister angeführt, Uthegental, der in der Drow-Stadt einen schon jetzt legendären Ruf genoss.
Als Briza vorbeikam, wurde sie von vielen Augen registriert.
Sie starrte stur geradeaus, als würde sie es nicht bemerken oder als wäre es völlig unwichtig, und dann spielte es bald wirklich keine Rolle mehr, denn ihre Scheibe erreichte das Nobelviertel und trug sie um eine Ecke zum vierten Haus der Stadt.
Keine Drow-Familie war in der arkanen Magie besser bewandert als Haus Xorlarrin. Im Gegensatz zu vielen anderen Drow zeigte sich Oberin Zeerith gegenüber ihren Männern nachsichtig und gestand ihnen einen höheren Rang zu, weshalb fast alle – auch diejenigen, deren Anspruch auf eine edle Herkunft bestenfalls fadenscheinig war – die Drow-Akademie für Magie, Sorcere, besuchen durften. Und mit Hilfe dieser Zauberer hatte Oberin Zeerith die geschwungenen Wände ihres Anwesens mit sich unablässig verändernden Wogen aus buntem Feenfeuer dekoriert, einem hypnotisierenden Tanz im gesamten Spektrum des normalen sichtbaren Lichts.
Über den Mauern thronten Zinnen, und um die Stalagmiten und Stalaktiten auf dem Gelände führten elegante Treppen, die immer wieder größere Distanzen überbrückten, um die vielen Gebäude zu verbinden.
In der Mitte des Geländes erhob sich ein gewaltiger, einzeln stehender Turm, der erstaunlicherweise höher wirkte als die Decke der großen Höhle. Ähnliche magische Kunstgriffe ließen auch die Mauern länger erscheinen, ganz als würden sie sich über aberhundert Schritte ziehen. All das vermittelte eine Größe, die dem Status des Hauses widersprach, und genau darum ging es hier.
Briza rang um Gelassenheit, als die Scheibe direkt vor das Haupttor von Haus Xorlarrin schwebte. Es schwang auf, um sie einzulassen. Als die Scheibe hineinfuhr, zuckte Briza unvermittelt zusammen, denn die beiden Torflügel schwangen nicht auf einem kunstvoll gearbeiteten Metallpfosten auf, wie sie erwartet hatte, sondern wurden jeweils von einem kleinen Eisengolem bewegt.
Dann jedoch bestaunte sie den Anblick. Ihr kam in den Sinn, wie absurd die heftige Rivalität zwischen den Oberinnen Zeerith und Soulez doch war, denn unter allen Häusern von Menzoberranzan waren gerade sie es, die sich am meisten auf lächerliche Männer verließen: Zeerith auf Zauberer, Soulez auf Krieger.
Nach einem tiefen Seufzer ließ Briza die Scheibe die breite Eingangstreppe zur prächtigen Vordertür des Turms im Zentrum hinaufschweben. Dort hob sich das rückwärtige Ende der Scheibe und stellte Briza so ganz unzeremoniell auf dem Boden ab. Ihr größter Fehler war, sich kurz mit einer Hand an der Scheibe festzuhalten, um sich auszubalancieren, denn im selben Moment verschwand die Scheibe, und Briza geriet ins Straucheln. Beinahe wäre sie gestürzt.
Doch sie besann sich auf ihre Würde, denn sie wusste, dass gerade viele Augen auf ihr ruhten und dass es in diesem speziellen Haus selbst viele Männer wagen würden, über sie zu lachen.
Dieser Gedanke war ihr derart zuwider, dass sie sich sehr schnell wieder fing. Briza ging zur Tür, die sich augenblicklich öffnete. Ein Mann in prächtigen violetten Gewändern, die mit Spinnen und explodierenden Sternen bestickt waren, nahm sie in Empfang. Seine Haare hingen lang vor den Schultern herab, waren aber am Hinterkopf bis zum Schädelansatz kurz geschoren. Diese ungewöhnliche Frisur trug nur Horoodissomoth, der Hauszauberer der Xorlarrins, ein ehemaliger Meister von Sorcere, der im Ringen um den Titel des Erzmagiers von Menzoberranzan beinahe den großen Gromph Baenre besiegt hätte.
»Seid gegrüßt, Priesterin Do’Urden«, sagte er mit einer tiefen Verbeugung. »Bitte folgt mir, denn Ihr werdet selbstverständlich erwartet.«
»Selbstverständlich«, erwiderte sie hoheitsvoll, um ihn daran zu erinnern, dass er trotz all seiner Verdienste bloß ein Mann war, sie hingegen eine Hohepriesterin der Lolth. Er war mindestens zweihundert Jahre älter als sie, doch in Menzoberranzan hatte es ihm gut angestanden, sich vor ihr zu verbeugen.
Die hochgewachsene Do’Urden-Priesterin straffte die breiten Schultern und spannte den Kiefer an, während sie neben Horoodissomoth zu dem zauberhaften Thronsaal von Haus Xorlarrin schritt.
»Meine werte Oberin«, sagte er, als sie schließlich den Thron sahen: eine weitere schwebende Scheibe, aber diese hatte schön verzierte Armlehnen und eine hohe Rückenlehne voller Runen, die sich magisch drehten und Gebete an die Herrin Lolth abspulten. Wenn sie sich konzentrierte, glaubte Briza, das magische Flüstern der Gebete zu vernehmen.
»Werte Oberin Xorlarrin«, sagte nun auch Briza und verneigte sich leicht.
»Es heißt, heute sei Euer Geburtstag, Priesterin Briza«, erwiderte Oberin Zeerith. »Ich erinnere mich gut an jenen Tag vor einhundert Jahren, an dem Eure Großmutter so unerwartet erkrankte und verstarb.«
In ihren Worten schwang mehr mit als eine leise Andeutung, begriff Briza überrascht, aber was konnte ein Ereignis, das hundert Jahre zurücklag, mit dem Abkommen zu tun haben, das heute besiegelt werden sollte?
Zeerith jedoch fuhr ohne weitere Erklärungen fort: »Ihr habt die Abwandlung des Jadespinnen-Dweomer dabei?« Etwas säuerlich ergänzte sie: »Ich hatte erwartet, dass Eure Oberin ihn persönlich überbringt.«
»Ich … selbstverständlich«, stotterte Briza, ohne auf die Herabsetzung einzugehen. »Und die Salbe, um die Ihr ersucht habt. Es gibt keine bessere Alchemistin als …«
Der zu stille Angriff von Haus Tr’arach
Aus dem Dunkel einer Gasse in der Nähe der Tore von Haus Baenre beobachtete ein auffällig gut gekleideter junger Drow, wie Briza Do’Urden zügig Haus Xorlarrin verließ. Um die Frau genauer sehen zu können, hob er seine verzauberte Augenklappe, einen Neuerwerb, der ihm Dinge verriet, die seine Augen nicht sehen konnten, und ihn zugleich davor bewahrte, von anderem gesehen zu werden als dem bloßen Auge. Sie war kaum jünger als er, und er glaubte tatsächlich eine Ähnlichkeit mit ihrem angeblichen Vater zu erkennen.
Er lächelte wissend, als die Priesterin von Haus Do’Urden vorsichtig weiterlief und sich dabei unablässig nach allen Seiten umsah, als erwarte sie den Angriff eines Mordkommandos. Besonders amüsant fand er, wie sie am Anwesen von Barrison Del’Armgo vorbeieilte.
Jarlaxle waren Gerüchte aus sehr zuverlässiger Quelle zugetragen worden, weshalb er natürlich nach entsprechenden Beweisen gesucht hatte. Er gab sich größte Mühe, von möglichst allem die Wahrheit zu kennen. Informationen waren für ihn schon deshalb so wichtig, weil er zumindest offiziell kein Haus hatte, das ihn schützte.
Was ihn am Leben erhielt, war sein Wissen.
Und natürlich sein offenkundiger Charme, wie Jarlaxle gegenüber jedem, der fragte, betonte, wobei er sich meist mit einer Hand über das kurze weiße Haar strich, das er mit Hilfe von klebriger, zerdrückter Gelatine so frisierte, dass es wie eine Krone aus weißen Flammen auf seinem wohlgeformten Schädel stand.
Jarlaxle war von edler Herkunft. In dieser Hinsicht stand kaum ein Mann von Menzoberranzan über ihm. Aber er war nicht reich. Noch nicht. Denn das war sein unbedingtes Ziel. Dass er dieses hochgesteckte Ziel noch nicht erreicht hatte, bedeutete jedoch nicht, dass er sich nicht so verhalten könnte, als hätte er substanzielle Mittel zur Verfügung. Seine noch junge Organisation führte er weitgehend über Versprechungen und große Visionen, und für die besten Kleider und ein paar andere nützliche Kostbarkeiten, die er nicht stehlen konnte – wie seine Augenklappe –, gab er mehr Münzen aus, als er behielt.
Im Land der Schatten wirkte Jarlaxle wie eine wandelnde Laterne. Seine Kleider hatten stets leuchtende Farben. Er bevorzugte die kleidsame Zusammenstellung eines hellblauen Hemds mit engem, maßgeschneidertem rotem Wams. Dazu trug er einen auffälligen Gürtel aus riesigen gewebten Federn, von denen einer angeblich starke Magie innewohnte.
Er führte nur eine Waffe offen mit sich, einen Degen, doch wer Jarlaxle kannte, wusste, dass er jederzeit eine zweite hervorziehen konnte, ob einen Dolch zum Werfen, einen Hirschfänger zum Parieren oder einen zweiten Degen.
Wobei jede Waffe dieses Ganoven eher der Ablenkung diente. Zum Töten bevorzugte Jarlaxle andere, kreativere Methoden.
Aber zum Töten war er heute nicht hier. Zumindest nicht in diesem Moment.
»Gut, dass Ihr gekommen seid«, sagte er, ohne sein Gesicht von der jetzt leeren Straße abzuwenden, obwohl er wusste, dass sein Informant aus Haus Xorlarrin hinter ihm stand.
»Vielleicht ist Jarlaxle weniger schlau, als er glaubt«, meinte Horoodissomoth.
»Ihr habt mich nur gefunden, weil ich mich von Euch finden lassen wollte«, entgegnete Jarlaxle. Das war eine Lüge, mit der er seinen Fauxpas vertuschen wollte. Wenn er nicht die Augenklappe angehoben hätte, um Briza Do’Urden zu beobachten, hätte diese den Xorlarrin-Zauberer davon abgehalten, seinen Standort magisch zu ermitteln. Da er jedoch nie etwas einräumte, was an seinem Mysterium gekratzt hätte, fuhr er sogleich fort: »Wenn Oberin Zeerith diese Sache wirklich erledigt haben will, bleibt uns wenig Zeit.«
»Was soll das heißen?«, fragte Horoodissomoth. »Was gibt es Neues zu den Häusern Simfray und Tr’arach?«
»Nichts Genaues. Aber die Straßen sind dort heute ungewöhnlich ruhig.«
»Ihr kennt Euren Auftrag?«
»Ich kenne meine Bezahlung«, antwortete Jarlaxle. Jetzt drehte er sich doch um.
»Es ist eine beträchtliche Summe.«
»Wie vereinbart.« Der Schurke streckte die Hand aus, aber der Zauberer reichte ihm keinen Beutel mit Münzen und Edelsteinen.
»Er wird übergeben. Lebend.«
Jarlaxle seufzte ungeduldig, ohne die Hand sinken zu lassen. »Oberin Zeeriths Kontakte haben ausführlich mit mir gesprochen. Wir haben eine Vereinbarung.«
»Ich will nur …«
»Und diese Vereinbarung umfasst Vorauszahlung«, mahnte Jarlaxle.
»Wisst Ihr nicht, wer ich bin?«, plusterte sich der Xorlarrin-Zauberer hochmütig auf. In der Tat zählte er zu den bedeutendsten Zauberern der Stadt.
»Ich weiß genug. Die Armbrüste, Zauber und auf Euch trainierte Assassinen würden im Zweifelsfall reichen«, antwortete Jarlaxle. »Und ich weiß genug, um mich klugerweise an diesem Ort finden zu lassen, unmittelbar neben dem Anwesen von Oberin Baenre, der guten Freundin Eurer Oberin Zeerith.«
Horoodissomoth richtete sich auf und musterte den Söldner nachdenklich.
»Die auch mir eine gute Freundin ist«, fügte Jarlaxle hinzu.
»Die Hälfte vorab«, bot der Zauberer an.
»Dafür liefere ich Euch die Hälfte dieses Kriegers, der Euch so interessant erscheint.«
»Nicht mir.«
»Dann eben Eurer Oberin.« Jarlaxle bluffte, denn er wusste sehr genau, worum es tatsächlich ging.
»Oberin Do’Urden«, stellte Horoodissomoth gezwungenermaßen klar.
»Oh, natürlich. Sobald Zeerith mit ihm fertig ist. Es heißt, er sei ein begehrter Gespiele. Viele Damen von hohem Geblüt beobachten ihn aus der Ferne. Wie ich höre, soll er sich im Kampf mit atemberaubender Geschmeidigkeit bewegen.«
»Ihr tut so, als würdet Ihr ihn nicht persönlich kennen.«
»Mein lieber Horoodissomoth Xorlarrin, ich kenne jeden Drow in Menzoberranzan persönlich.«
»Und der hier?«
»Er ist unglaublich. Wusstet Ihr, dass er in Melee-Magthere zu gut war? Die Meister haben ihn beim Üben und bei den Trainingskämpfen gezügelt. Sie wollten verhindern, dass er die Söhne adliger Drow-Häuser beschämt, weil er von so geringer Herkunft ist, dass der bevorstehende Kampf zwischen seinem Haus und Haus Tr’arach nicht einmal Thema für den Qu’ellarz’orl wäre, wenn es nicht auch um ihn ginge.«
»Das ist ohnehin kein Thema.«
»Wir reden darüber.«
»Weil ein Kopfgeld für ihn gezahlt wurde … aber nur lebend.«
Jarlaxle zuckte mit den Schultern. Das spielte keine Rolle. »Gebt mir das Kopfgeld, und ich gehe an die Arbeit. Oder haltet mich noch länger auf und erklärt Oberin Zeerith, dass der fragliche Krieger entweder tot ist oder in den Händen von Jarlaxle, der den Preis erhöht hat.«
Irgendwo hinter sich in den Schatten hörte Horoodissomoth, wie ein Dutzend Armbrüste entsichert wurden, dazu ein geflüstertes Zauberwort – vielleicht für einen Stab – und eine gedämpfte Anrufung.
Vor ihm stand immer noch Jarlaxle, der ihm gelassen die Hand entgegenstreckte.
Horoodissomoth überreichte ihm den Beutel.
»Und erinnert Oberin Zeerith bitte daran, dass alle Überlebenden, die ich in diesem Kampf für mich gewinne, offiziell und mit ihrem Segen und dem ihrer Verbündeten im Herrschenden Konzil zu mir gehören. So lautete unsere Übereinkunft, und das war die für mich wichtigste Gegenleistung für meine Dienste.«
»Stellt Ihr eine Armee auf, Jarlaxle?«, fragte der Zauberer. »Eine Armee aus heimatlosen Schuften? Das könnte einen Mann das Leben kosten, wisst Ihr.«
»Es könnte viele Drow das Leben kosten«, antwortete Jarlaxle. »Vermutlich mehr, als Ihr Euch vorstellen könnt.«
Der Zauberer schnaubte. »Beeilt Euch, Jarlaxle, denn Tr’arach marschiert noch heute Nacht.«
»Woher wisst Ihr das?«
Der Zauberer lachte, und mit einem Fingerschnippen war er verschwunden.