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Beschreibung

Die Zeitschrift für Medienwissenschaft steht für eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft, die Untersuchungen zu Einzelmedien aufgreift und durchquert, um nach politischen Kräften und epistemischen Konstellationen zu fragen. Sie stellt Verbindungen zu internationaler Forschung ebenso her wie zu verschiedenen Disziplinen und bringt unterschiedliche Schreibweisen und Textformate, Bilder und Gespräche zusammen, um der Vielfalt, mit der geschrieben, nachgedacht und experimentiert werden kann, Raum zu geben. Heft 17, Psychische Apparate, hg. von Kathrin Peters und Stephan Trinkaus, geht den Verbindungen zwischen Medienwissenschaft und Theorien des Psychischen nach. Es fragt, ob sich Psychoanalyse als eine Theorie der Medialität verstehen lässt, der Verschränktheit von Innen und Außen, von Eros und Thanatos, Symbolischem und Imaginärem, Ab- und Anwesenheit, Individuellem und Sozialem. Die Beiträge zeigen: Wo Theorien des Psychischen nicht lediglich als narratologische oder als Figuren-Analyse betrieben werden, tritt anderes hervor: eine grundlegend relationale Perspektive, die nicht nur Verhältnisse zwischen Menschen, sondern auch ihre Beziehung zu Apparaten, ja das Psychische selbst als Apparat oder Maschine beschreibbar macht.

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Seitenzahl: 428

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2/2017

EDITORIAL

Medienwissenschaft zu betreiben bedeutet immer auch, sich zu fragen, was die Voraussetzungen und Bedingungen der eigenen Forschung sind. Die Medialität von Dingen und Ereignissen wird häufig erst in der Beschäftigung mit ihrer Theorie und Geschichte, ihrer Technik und Ästhetik freigelegt. In diesem Sinne betreibt die ZfM eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft, die Untersuchungen zu Einzelmedien aufgreift und durchquert, um nach politischen Kräften und epistemischen Konstellationen zu fragen.

Unter dieser Prämisse sind Verbindungen zu internationaler Forschung ebenso wichtig wie die Präsenz von Wissenschaftler_innen verschiedener disziplinärer Herkunft. Die ZfM bringt zudem verschiedene Schreibweisen und Textformate, Bilder und Gespräche zusammen, um der Vielfalt, mit der geschrieben, nachgedacht und experimentiert werden kann, Raum zu geben.

Jedes Heft eröffnet mit einem SCHWERPUNKTTHEMA, das von einer Gastredaktion konzipiert wird. Unter EXTRA erscheinen aktuelle Aufsätze, die nicht auf das Schwerpunktthema bezogen sind. DEBATTE bietet Platz für theoretische und/oder (wissenschafts-)politische Stellungnahmen. Die Kolumne WERKZEUGE reflektiert die Soft- und Hardware, die Tools und Apps, die an unserem Forschen und Lehren mitarbeiten. In den BESPRECHUNGEN werden aktuelle Veröffentlichungen thematisch in Sammelrezensionen diskutiert. Die LABORGESPRÄCHE setzen sich mit wissenschaftlichen oder künstlerischen Forschungslaboratorien und Praxisfeldern auseinander. Von Gebrauch, Ort und Struktur visueller Archive handelt die BILDSTRECKE. Aus gegebenen Anlässen konzipiert die Redaktion ein INSERT.

Getragen wird die ZfM von den Mitgliedern der Gesellschaft für Medienwissenschaft, aus der sich auch die Redaktion (immer wieder neu) zusammensetzt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich an der ZfM zu beteiligen: (1) die Entwicklung und redaktionelle Betreuung eines Schwerpunktthemas, (2) die Einreichung von Aufsätzen und Reviewessays für das Heft und (3) von Buchrezensionen und Tagungsberichten für die Website. Die Veröffentlichung der Aufsätze erfolgt nach einem Peer-Review-Verfahren. Alle Beiträge sind im Open Access verfügbar. Auf www.zfmedienwissenschaft.de befinden sich das Heftarchiv, aktuelle Besprechungen und Beiträge in den Web-Extras, der Gender-Blog sowie genauere Hinweise zu Einreichungen.

 

ULRIKE BERGERMANN, DANIEL ESCHKÖTTER, PETRA LÖFFLER, KATHRIN PETERS, FLORIAN SPRENGER, STEPHAN TRINKAUS, THOMAS WAITZ, BRIGITTE WEINGART

INHALT

Editorial

PSYCHISCHE APPARATE

KATHRIN PETERS/STEPHAN TRINKAUS

Psychische ApparateEinleitung in den Schwerpunkt

 

JOHANNES BINOTTO

SchutzbautenMatte paintings, glass shots und die Durchbrüche der Phantasie

 

SONJA WITTE

Zum Unheimlichen von Baudrys Begriff des filmischen Realitätseindrucks

 

REINHOLD GÖRLING

Szenische Verfasstheit der Subjektivität, Medienökologie der Psyche

 

CLEMENS APPRICH

Daten, Wahn, Sinn

 

PETER REHBERG

Queer Affect TheoryZum Verhältnis von Affekt und Trieb bei Sedgwick und Freud

 

MICHAEL CUNTZ

Der psychische Apparat ist auch nur eine Black BoxUnordnungen und Metamorphosen der französischen Ethnopsychiatrie

 

Einführung inŒdipe africain von MICHAELA OTT

MARIE-CÉCILE und EDMOND ORTIGUES

Besessenheitsriten

 

STATEMENTS VON GERTRUD KOCH/JOAN COPJEC/ELIZABETH COWIE/SULGI LIE/LAURENCE A. RICKELS/ANNA TUSCHLING UND MAI WEGENER EINGEHOLT VON MARIE-LUISE ANGERER

«Geister werden Teil der Zukunft sein» Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Medientheorie

BILDSTRECKE

KARIN MICHALSKI VORGESTELLT VON ANJA MICHAELSEN

An Unhappy Archive

LABORGESPRÄCH

TOM HOLERT/DOREEN MENDE UND VOLKER PANTENBURG IM GESPRÄCH MIT DANIEL ESCHKÖTTER UND BRIGITTE WEINGART

Instituieren statt Institutionalisieren Zur Einrichtung des Harun Farocki Instituts

EXTRA

ERHARD SCHÜTTPELZ

Medienrevolutionen und andere Revolutionen

DEBATTEN

Für gute Arbeit in der Wissenschaft – Teil IV

ANDREAS STUHLMANN Sackgasse Privatdozentur? Für neue Wege in die Wissenschaft nach der Promotion

 

LUZENIR CAIXETA und AZADEH SHARIFI im Gespräch mit KATRIN KÖPPERT Alien-Sprache. Race in academia

 

Netzwerkdurchsetzungsgesetz

JENNIFER EICKELMANN/KATJA GRASHÖFER UND BIANCA WESTERMANN #NetzDG #maaslos. Eine Stellungnahme zum Netzwerkdurchsetzungsgesetz

WERKZEUGE

STEPHAN PACKARD

Eine transitorische PraxisSpracherkennungssoftware als Reflexionsfläche akademischer Textproduktion

 

ANTONELLA GIANNONE

Dressing the ChairDresscodes, Personencodes und Moden in academia

BESPRECHUNGEN

BIANKA-ISABELL SCHARMANN Nischen, Szenen, Praktiken. Neue Literatur zur Medialität der Mode

 

AUTOR_INNEN

BILDNACHWEISE

IMPRESSUM

PSYCHISCHE APPARATE

Atelier von Annette Kisling, 2007

PSYCHISCHE APPARATE

Einleitung in den Schwerpunkt

«Psyche ist ausgedehnt, weiß nichts davon»,1 diese Bemerkung Freuds stand am Anfang unserer Überlegungen zu diesem Schwerpunkt. Wie dieser Satz zu verstehen ist, davon hängt einiges ab für das Verhältnis von Psychoanalyse und Medienwissenschaft. Er lässt sich jedenfalls schwer anders verstehen denn als Herausforderung unserer Vorstellung von Raum als etwas, worin wir uns befinden, das bestimmbar und gegeben ist. Ist das Unbewusste laut Freud zeitlos, so ist das Psychische nur als ein Ausgedehntes vorstellbar, dessen Innen/Außen-Grenzen instabil und veränderbar sind. Man könnte «das Unbewusste als ein internes Außen bezeichnen», schreibt JOAN COPJEC in ihrem Statement für diesen Schwerpunkt.2 Sie verweist damit auf die Unverfügbarkeit der eigenen Vergangenheit, auf eine Dringlichkeit, die von irgendwoher kommt und im «externen Außen» ihre Spuren hinterlässt.3 Die Beziehung der Medienwissenschaft zur Psychoanalyse hat – so eine unserer folgenden Überlegungen – etwas mit der Verhandlung dieser Grenzziehungen zwischen Innen und Außen zu tun und mit der Instabilität, ja Unmöglichkeit einer solchen Grenze.

Und, was weiß die Medienwissenschaft (noch) von der Psychoanalyse? Sicher, die Herkünfte von Medienwissenschaft sind vielfältig und ohnehin eine Angelegenheit der Rekonstruktion, dennoch, ohne die Psychoanalyse lässt sich eine Genealogie der Medienwissenschaft kaum denken.4 Uns ging es bei der Konzeption dieses Schwerpunkts allerdings nicht darum, alte Überzeugungen wiederzubeleben oder ihre immer währende Aktualität zu behaupten. Vielmehr fragen wir, wie sich die Beziehungen zwischen Psychoanalyse und Medienwissenschaft transformiert, ihre Begrifflichkeiten verschoben haben. Wo tauchen diese Beziehungen wieder auf? Wie und aus welchen Richtungen werden sie bestritten? Die hier versammelten Beiträge reagieren unterschiedlich auf diese Fragen. Vor allem arbeiten sie heraus, welche Probleme sich zwischen Medientheorien und Theorien des Psychischen gegenwärtig überhaupt stellen und welche Debatten sie auslösen. So ergeben die Beiträge ein Geflecht aus Quer- und Rückbezügen, mit Knotenpunkten, aber auch, um im Bild zu bleiben, mit Rissen. Damit lässt sich so oder so gut weiterarbeiten.

I.

In der früheren Geschichte der Beziehungen zwischen Theorien des Psychischen und des Medialen spielt die Apparatus-Theorie, die sich von den französischen Begriffen appareil und dispositif herleitet, eine bedeutsame Rolle. Für die Konzeption eines zuschauenden Subjekts und der filmischen Illusion, die die Apparatus-Theorie in den 1970er Jahren unternommen hat, ist die Psychoanalyse entscheidend. Denn das zuschauende Subjekt wird als Teil eines Dispositivs verstanden, einer Anordnung von Leinwand, Projektion und Film, zu der es kein Außen gibt und deren ideologischer Produktion dieses Subjekt nicht bloß ausgesetzt ist, sondern die es mitträgt und durch die es überhaupt erst subjektiviert wird.5 Die feministische Filmwissenschaft hat hier angesetzt und darauf hingewiesen, dass es innerhalb dieses filmischen Apparats eine Blickkonstellation gibt, die sich in ein Zum-Anschauen-Sein (to-be-looked-at-ness) und einen männlichen Blick (male gaze) spaltet.6 Dieses «Blickregime» ist, und das ist der springende Punkt der Argumentation, weitestgehend unabhängig von den jeweiligen Filmhandlungen und ihren Bedeutungsebenen wirksam.7 So heftig diskutiert und umstritten, revidiert und reformuliert diese Setzung auch sein mag,8 von ihr hängen Einsichten ab, die sich, so SULGI LIE in seinem Statement, längst nicht erledigt haben. Denn mit dem Aufgeben einer psychoanalytischen Argumentation, wie Laura Mulvey sie verfolgt hat, stehe auch eine spezifische Form der Kritik in der Filmtheorie auf dem Spiel, die für die Analyse einer gegenwärtigen visuellen Kultur mit ihrer autoaffektiven Struktur längst nicht ausgeschöpft sei. Auch LAURENCE A. RICKELS hält die Filmtheorie, soweit sie high theory ist, für geeignet, um uns durch die «Tumulte der Medieninnovationen hindurchzuführen».9

Dass filmischer und psychischer Apparat in einem Zusammenhang stehen, der weit mehr als metaphorisch ist, davon geht JOHANNES BINOTTO in seinem Beitrag aus. Zur Freud’schen Konzeption der Fantasie als einem Mischwesen, das zwischen Bewusstem und Unbewusstem changiert, findet Binotto eine Entsprechung in den filmischen Kompositaufnahmen der matte paintings – Hintergründe, die in die Filmaufnahme hineingemalt oder montiert sind. Zuweilen erscheint dieser technische Trick im Bild, wie Binotto an Spielfilmen der 1930er und 1940er Jahre darlegt: Dann zeigt sich, das der screen das Reale nicht nur abschirmt, sondern zugleich dessen Existenz zu erkennen gibt – und zwar nicht auf der Ebene der filmischen Illusion oder Narration, sondern in deren Zusammenbruch. SONJA WITTE wiederum thematisiert in ihrer Lektüre von Jean-Louis Baudrys zentralem Text zur Apparatus-Theorie 10 das Unheimliche jener Realität, die der kinematografische Apparat hervorbringt und die Unterscheidung zwischen medialem und psychischem Apparat destabilisiert. Die Psychoanalyse wird dabei von Witte als eine Möglichkeit des Antwortens auf den Schrecken dieser Ununterscheidbarkeitszonen oder Ambivalenzen aufgerufen – als eine Möglichkeit, nicht von der Ideologieproduktion des Apparats, sondern gerade vom Unheimlichen dieser Destabilisierung auszugehen.

Damit im Zusammenhang stehen die Diskurs- und Medienanalysen, die sich sowohl auf Sigmund Freud und Jacques Lacan als auch auf Jacques Derrida und Michel Foucault beziehen, aus denen in den 1980er Jahren auch die Medienwissenschaft entstanden ist. Dass technische Apparate nicht Mittel oder Vermittler sind, sondern Subjektpositionen verändern, sich in Fantasien und Phantasmen niederschlagen, daran erinnert auch MAI WEGENER mit Verweis auf die Bedeutung, die die Psychoanalyse für Friedrich Kittler hatte. Das Unheimliche der Maschine, das technologische Unbewusste, der mediale Wiedergänger – all das sind Topoi, die aus einer auch psychoanalytisch orientierten Theoriebildung mit ihrem Blick für Materialitäten und Signifikanten hervorgegangen sind.11 Sie richten die Aufmerksamkeit nicht auf den Gehalt, Inhalt oder ‹Sinn› von Texten, nicht auf Figuren oder Narration, sondern auf die Technologien und Apparate, in denen sie erscheinen – auf die Schrift, auf das Filmische oder auf das Digitale.12CLEMENS APPRICHS Beitrag knüpft hier an: Er geht der soziotechnischen Paranoia nach, die durch Big Data angereizt wird: Spezifische Filterprozesse und Algorithmen, die weitgehend verdeckt bleiben, erzeugen – wie Apprich anhand von Googles Deep Dream Generator zeigt – eine eigene Realität, die allerdings eine ohnehin schon als wahr befundene Weltwahrnehmung bloß bestätigt und schließt. Anstatt dem Datenwahnsinn, so könnte man sagen, mit einer Datenparanoia zu antworten, liegt das Potenzial einer psychoanalytisch inspirierten Medientheorie für Apprich in der reparativen Wirkung, die ein Wissen über Medien entfalten könne.

II.

Von Freud über Lacan und Laplanche bis hin zu Winnicott oder Abraham/Torok 13 ist die Frage der Relationalität (in) der Psychoanalyse immer wieder neu gestellt worden: Handelt sie zuallererst von der Aufteilung der Welt in ein psychisches, immaterielles Innen der seelischen Prozesse und ein objekthaftes, verkörpertes Außen der materiellen Welt oder ist die Psychoanalyse nicht gerade die Auseinandersetzung mit dieser Aufteilung?

MICHAEL CUNTZ entfaltet in seinem Beitrag die Kritik dieser Aufteilung bei Isabelle Stengers und in der Ethnopsychiatrie Tobie Nathans, die zuletzt von Bruno Latour in seinem Existenzweisen-Projekt aufgegriffen wurde: 14 Die Psychoanalyse schließe gewissermaßen jene Welten der Geister und anderer Zwischenwesen aus, die weder über eine objektive Existenz verfügten, noch einfach Hirngespinste, Pro- oder Introjektionen seien. Damit stellt sich für Cuntz die Frage nach der Lokalisierung des Medialen in der psychoanalytischen Theorie und damit – so könnte man sagen – auch die nach dem Stellenwert, der Dekolonialität in der Psychoanalyse eingeräumt wird. Cuntz sieht die Psychoanalyse als universalistische Kolonialisierung der Welt durch die Moderne und ihre begrifflichen Dichotomien. In diesen Kontext stellt auch MICHAELA OTT die Analyse der senegalesischen sogenannten Besessenheitsriten, vor allem des rab, der von Marie-Cécile und Edmond Ortigues 1966 beschrieben wurde. Aus deren Buch Œdipe africain bringen wir hier einen Ausschnitt in (von Michaela Ott besorgter) Erstübersetzung. Ott entfaltet in ihrer Einführung den vielschichtigen Kontext dieses Buchs, insbesondere betont sie den postkolonialen Zusammenhang, innerhalb dessen die psychoanalytischen Forschungen und Behandlungen zwar stattgefunden haben, für dessen Implikationen sie aber blind zu sein schienen. Zuvor hatte bereits Frantz Fanon, selbst Psychiater, eine Universalität der symbolischen Ordnung bestritten.15 Auch wenn die Ortigues’ als Lacanianer_innen hier an einer Integration des rab und der mit ihm verbundenen Welt der Geister in die psychoanalytischen Modelle und Konzepte arbeiten, kommt ihre Darstellung doch nicht ohne die Akzeptanz einer Zwischenwelt aus, die in diesen Grenzen nicht zu fassen ist – durchaus im Sinne von Deleuzes und Guattaris Anti-Œdipus (1972), wie Ott anmerkt.

Die prominente Verbindung der Psychoanalyse mit den Normalisierungs- und Effektivierungstechniken neoliberaler Subjektivität hat vielleicht in Vergessenheit geraten lassen, dass sie vor aller Normalisierung erst einmal eine Dezentrierung all dessen gewesen ist, worauf sich das ausgehende 19. Jahrhundert stützen zu können glaubte. Es gab immer schon eine Auffassung in der Psychoanalyse, der zufolge die Komplexität des, wie es z. B. bei Freud noch heißt, «Seelenlebens» einer vermeintlich äußeren, körperlichen Welt gerade nicht entgegengesetzt ist und der zufolge das Psychische als relationale Verstrickung mit Alterität, mit anderen Prozessformen und Existenzweisen gefasst wird. Auf diese Traditionen bezieht sich auch REINHOLD GÖRLING, wenn er mit dem Szenischen und dem Spiel jene psychoanalytischen Konzepte mobilisiert, die das Psychische als eine Verschränkung oder Einfaltung einander heterogener Prozesse fassen. Von hier aus lässt sich eine Ökologie des Subjekts oder eher eine relationale Ökologie des Psychischen denken. Görling sieht gerade darin, in diesem Zwischen der Relation, die grundlegende Medialität der Psychoanalyse und damit ihre notwendige Verknüpfung mit der Medienwissenschaft.

III.

Heute sind psychoanalytische Begriffe zwar zu einem Grundlagenwissen der Medienwissenschaft geworden, aber sie haben deutlich an Gewicht verloren. ANNA TUSCHLING und GERTRUD KOCH sehen in dieser, man könnte sagen, methodologischen Einhegung einen Grund für die Ermüdung psychoanalytischer Ansätze; Ansätze, die medienwissenschaftlich kaum weiterentwickelt worden sind und die, so Tuschling, als temperierte Kulturtheorie den Kontakt zu einer immer riskanten und herausfordernden psychoanalytischen Praxis verloren haben. Riskant deswegen, weil es darum gehen kann, sich auch als Wissenschaftlerin dem Nicht-Wissen und dem «internen Außen» zu stellen.

Interessanterweise verflüchtigen sich die Bezugnahmen der Medienwissenschaft auf die Psychoanalyse gerade dort, wo diese ein Denkrahmen gewesen ist oder sein könnte: Die Nähe des affective turns zu neurowissenschaftlichen Ansätzen ist bereits problematisiert worden, MARIE-LUISE ANGERER weist in diesem Heft noch einmal auf den Preis hin, der für den Verlust eines psychoanalytischen Verständnisses vom Unbewussten zu zahlen ist.16 Gleichwohl ist die Affekttheorie auch das Feld, in dem eine Weiterentwicklung und Transformation psychoanalytischer Konzepte durchaus erfolgt.

In der Gender und Queer Theory ist es insbesondere Judith Butler, die ihr Normen- und machtkritisches Denken nicht in Absetzung von psychoanalytischer Theorie entwickelt, sondern beides verbunden hat: In ihren gendertheoretischen Texten hat Butler – nicht zuletzt in Bezug auf feministische Auseinandersetzungen mit der Psychoanalyse etwas bei Luce Irigaray und Julia Kristeva – darauf bestanden, Gender nicht lediglich als ‹Rolle›, die nach Bedarf und Anlass auch abgelegt werden kann, zu verstehen, sondern als einen Prozess der Subjektivierung, der mit einer konstitutiven Melancholie einhergeht.17 Auch in ihren jüngeren Beiträgen zur Verletzbarkeit des Subjekts laufen Theorien des Psychischen mit, die sich immer ins Verhältnis zu politischem Handeln setzen; in diesen Texten rücken zudem Überlegungen zu (medialen) frames und (technischen) environments in den Vordergrund, die für medienwissenschaftliche Relationalitätsdebatten von Interesse sind, weil sie Konstellationen von Subjekten, Medienapparaten und Räumen entwerfen.18

Die Queer Theory, die das Sexuelle (wieder) in die Genderforschung eingebracht hat, arbeitet in vielen ihrer Stränge an einer Infragestellung des Freud’schen Triebbegriffs, indem sie sich auf Theorien des Psychischen stützt. Im Rekurs auf Melanie Klein, aber auch auf Félix Guattari und Gilles Deleuze wird die psychoanalytische Mythologie des Ödipus befragt, um das Sexuelle jenseits heterosexueller Register und deren Logik der Kastration und der Perversionen zu denken. PETER REHBERG entfaltet in seinem Beitrag diese Debatte und erweist dabei den frühen sexualtheoretischen Schriften Freuds Reverenz, mit denen das queere Denken einer dezentrierten Sexualität, die nicht von ‹Triebzielen› und starren Subjekt-Objekt-Verhältnissen bestimmt ist, in Verbindung steht. Wie dennoch oder wie anders am Primat des Sexuellen festhalten? Das ist eine Frage, die nicht nur Rehberg hier aufwirft, sie taucht im Heft mehrfach auf und bleibt einstweilen unbeantwortet. Vielleicht gibt Butler einen Hinweis, wenn sie nahelegt, dass Sexualität nichts anderes ist als eine grundlegende Relationalität, ein Außer-sich-Sein.19 Gefühle werden in der Queer Affect Theory als politische verstanden, weil sie von affektiven Bindungen, von Versprechen und Hoffnungen an eine bestimmte Ordnung gesättigt sind – Ordnungen, die jedes einzelne Subjekt betreffen und die von einem Imperativ des Glücklichseins und einem «grausamen Optimismus» gekennzeichnet ist.20 Diese Imperative, die mit Verleugnungen und Abwehr, wenn nicht gar mit Pathologisierung auch durch die Psychoanalyse einhergehen, können Aufforderung sein, sich mit der Geltung und Gültigkeit von bad feelings zu beschäftigen. KARIN MICHALSKI sammelt für ein Unhappy Archive in engem Austausch mit befreundeten Künstler_innen Bilder negativ konnotierter Gefühle, die mit queeren Leben einhergehen bzw. die jedes Leben durchqueren.

IV.

Wenn Derrida vom Vergessen der Psychoanalyse im doppelten Wortsinn spricht, dann hat er dabei auch die Möglichkeiten im Blick, die aus dem Vergessen der Psychoanalyse entstehen; einem Vergessen, das der Psychoanalyse widersteht und das sie – als Widerstand – hervorbringt: 21 die Ermöglichung eines anderen Schauplatzes, auf dem das Vergessen selbst zum Akteur werden kann und das Zukünftige sich auf das Vergangene hin öffnet und umgekehrt. Das wäre die Paradoxie der psychoanalytischen Szene, die ELIZABETH COWIE mit Verweis auf Derridas Hantologie in ihrem Beitrag hier noch einmal herausstreicht: Sie scheint auf ein Innen bezogen und handelt doch von nichts anderem als der Unmöglichkeit einer absoluten Trennung zwischen einem Innen und einem Außen. So bezieht sich Derrida denn auch auf jene Passage aus der Traumdeutung, in der Freud vom «Nabel des Traums» schreibt und die seinen Entwurf einer Entschlüsselung des Rätsels des Traums durch die Psychoanalyse ad absurdum zu führen scheint. Die wenigen Sätze über «ein Knäuel von Traumgedanken […], der sich nicht entwirren will», enden folgendermaßen: «Die Traumgedanken, auf die man bei der Deutung gerät, müssen ja ganz allgemein ohne Abschluß bleiben und nach allen Seiten hin in die netzartige Verstrickung unserer Gedankenwelt hinauslaufen. Aus einer dichteren Stelle dieses Geflechts erhebt sich dann der Traumwunsch wie der Pilz aus einem Mycelium.» 22

Diese vielzitierte Passage ist vielleicht so etwas wie die andere Ursprungserzählung oder eher Urszene der Psychoanalyse, eine Erzählung, die Möglichkeit und Notwendigkeit der Psychoanalyse nicht in der Deutung sieht, sondern in dem – wie Derrida sagt –, was sich ihr, ihrer Deutung, ihrer Analyse, ihrer Methodik widersetzt, was also nicht analysiert, nicht gedeutet werden kann. Wovon die Psychoanalyse hier ihren Ausgang nimmt, worauf sie sich bezieht, ist nicht ein bestimmtes Geschehen, ein ursprüngliches Ereignis, ein deutbarer Sinn, sondern das Geflecht eines nicht endenden und nicht restlos bestimmbaren Myceliums, aus dem das entsteht, wovon die Psychoanalyse (der Traumdeutung) handelt.

Die Ökologie von Pilzen hängt mit einer merkwürdigen, ja unheimlichen Topologie zusammen, in der Kontinuität und Diskontinuität, Innen und Außen, Zukunft und Vergangenheit keine Gegensätze bilden, das hat Karen Barad kürzlich in einem Aufsatz nahegelegt: 23 Pilze entstehen in vielen, zumeist prekären Konstellationen, nicht nur im feuchten Waldboden und nicht nur im Geflecht unserer Träume, sie sind gewissermaßen materialisierte Verschränkungen von Alterität, Raumzeitmaterialisierungen des Unbewussten der Welt oder eben der weltlichen Ausgedehntheit des Psychischen.

KATHRIN PETERS, STEPHAN TRINKAUS

1 Sigmund Freud: Ergebnisse, Ideen, Probleme (London, Juni 1938), in: Gesammelte Werke, Bd. XVII, Frankfurt/M. 1972, 149 – 152, hier 152. Siehe hierzu auch Reinhold Görling in diesem Heft, 51 – 53.

2 Copjec in diesem Heft, 105, Herv. i. Orig. Die hier versammelten Statements reagieren auf Fragen, die Marie-Luise Angerer einer Reihe von Autor_innen, die im Bereich Film- und Medienwissenschaft und Psychoanalyse arbeiten, gestellt hat, vgl. 102 – 120.

3 Copjec, 105, Herv. i. Orig.

4 Das bedeutet, Medien-(wissen-schafts-)geschichte nicht im Sinne von Chronologie zu betreiben, sondern von diskursiven Verdichtungen und einem Modus der Rekonstruktion auszugehen, die nicht ohne Fiktion auskommt. (Eine solche Geschichtsschreibung hat mit einem psychoanalytischen Verfahren wohl einiges gemeinsam.) Zu denken ist etwa daran, wie bedeutungsstiftend psychoanalytische Begriffe und Konzepte in Texten waren, die für Medienwissenschaft einschlägig geworden sind, z. B. Walter Benjamins Begriff des «Optisch-Unbewußten» im Kunstwerkaufsatz (1931/1936) oder Freuds «Notiz über den Wunderblock» (1925), beide in: Claus Pias u. a. (Hg.): Kursbuch Medienkultur, Stuttgart 1999. Oder es rücken Fassungen von Film- und Medientheorie in den Fokus, die sich in Beschäftigung mit psychoanalytischen Texten Freuds und besonders Lacans in den 1980er Jahren herausgebildet haben, worauf wir im Folgenden eingehen.

5 Siehe u. a. Teresa de Lauretis, Stephen Heath (Hg.): The Cinematic Apparatus, London, New York 1985; Philip Rosen (Hg.): Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theory Reader, New York 1986; Hartmut Winkler: Der filmische Raum und der Zuschauer, Heidelberg 1992.

6 Vgl. Laura Mulvey: Visuelle Lust und narratives Kino [1975], aus dem Englischen neu übers. v. Katja Wiederspahn, in: Kathrin Peters, Andrea Seier: Gender&Medien-Reader, Zürich, Berlin 2016, 45 – 60.

7 Vgl. Kaja Silverman: Dem Blickregime begegnen, in: Christian Kravagna (Hg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, 41 – 64. Auch Teresa de Lauretis’ Formulierung der «Technologien des Geschlechts» knüpft an Mulvey an: Teresa de Lauretis: Technologies of Gender, Bloomington 1987.

8 Vgl. z. B. Gertrud Koch: Was ich erbeute, sind Bilder. Zum Diskurs der Geschlechter im Film, Basel 1989.

9 In diesem Heft, 111.

10 Vgl. Jean-Louis Baudry: Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks, in: Robert F. Riesinger (Hg.): Der kinematographische Apparat. Geschichte und Gegenwart einer interdisziplinären Debatte, Münster 2003, 41 – 62. Weitere Beiträge zur Debatte stammen von Jean-Louis Comolli, Christian Metz, Kaja Silverman u. a., vgl. Rosen (Hg.): Narrative, Apparatus, Ideology.

11 Hier ließe sich weit ausholen zur Produktivität von Freud- und Lacan-Lektüren für eine Medientheorie, die sich aus der Absetzbewegung von Geisteswissenschaft konstituiert hat, pars pro toto: Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800 | 1900, München 1985; ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993; Christoph Tholen: Die Zäsur der Medien, Frankfurt/M. 2002; siehe auch Avital Ronell: Das Telefonbuch: Technik, Schizophrenie und elektrische Rede (1989), Berlin 2001.

12 Neuere Beiträge siehe Annette Bitsch: Diskrete Gespenster: Die Genealogie des Unbewussten aus der Medientheorie und Philosophie der Zeit, Bielefeld 2009, sowie Michaela Wünschs Arbeiten zu Serialität und Wiederholung zwischen Film/Fernsehen und Psychoanalyse, u. a. dies.: Im inneren Außen. Der Serienkiller als Medium des Unbewussten, Berlin 2010.

13 Vgl. Jean Laplanche: Die unvollendete kopernikanische Revolution in der Psychoanalyse, Gießen 2005 [1992]; Donald W. Winnicott: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt,Gießen 2002 [1965]; Nicolas Abraham, Maria Torok: The Shell and the Kernel. Renewals of Psychoanalysis, Bd. 1, Chicago 1994.

14 Vgl. Tobie Nathan: Nous ne sommes pas seuls au monde. Les enjeux de l’ethnopsychiatrie, Paris 2001; Bruno Latour: Existenzweisen: Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2014.

15 Vgl. Frantz Fanon: Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt/M. 1985 [1952]. Zur aktuellen Thematisierung Schwarzer Subjektivität, von Rassismus und Psychoanalyse siehe u. a. Fred Moten: Baldwin’s Baraka, His Mirror Stage, the Sound of His Gaze, in: ders.: In the Break: The Aesthetics of the Black Radical Tradition, Minneapolis, London 2003; Grada Kilomba: Plantation Memories. Episodes of Everyday Racism, Münster 2008.

16 Siehe hierzu Marie-Luise Angerer: Vom Begehren nach dem Affekt, Zürich, Berlin 2007; dies., Bernd Bösel, Michaela Ott (Hg.): Timing of Affect. Epistemologies, Aesthetics, Politics, Zürich, Berlin 2014.

17 Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M. 1991; dies.: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt/M. 2001.

18 Vgl. Judith Butler: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt/M. 2010 [Frames of War. When Is Life Grievable?, 2009]; dies.: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Frankfurt/M. 2016.

19 Vgl. Judith Butler: Außer sich: Über die Grenzen sexueller Autonomie, in: dies.: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Berlin 2009, 35 – 70, hier: 59.

20 Sara Ahmed: Happy Objects, in: Melissa Gregg, Gregory Seigworth (Hg.): The Affect Theory Reader, Durham, NC, London 2010, 29 – 51; Lauren Berlant: Cruel Optimism, Durham, London 2010; siehe auch Ann Cvetkovich: Depression. A Public Feeling, Durham, NC, London 2012.

21 Vgl. Jacques Derrida: Widerstände, in: ders.: Vergessenwir nicht – die Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1998, 128 – 178.

22 Sigmund Freud: Die Traumdeutung, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. II/III, Frankfurt/M. 1999, 1 – 642, hier 530.

23 Vgl. Karen Barad: No Small Matters. Mushroom Clouds, Ecologies of Nothingness, and Strange Topologies of Spacetimemattering, in: Anna Tsing u. a. (Hg.): Arts of Living on a Damaged Planet, Minneapolis 2017.

JOHANNES BINOTTO

SCHUTZBAUTEN

Matte paintings, glass shots und die Durchbrüche der Phantasie

«C’est surtout d’être un composé, une condensation de souvenirs et de fantasmes, de telle sorte que se projettent en lui des éléments essentiels.» 1

GUY ROSOLATO

«Solche Erregungen von außen, die stark genug sind, den Reizschutz zu durchbrechen, heißen wir traumatische.» 2

SIGMUND FREUD

I.Mischwesen Phantasie

Im Bauplan des psychischen Apparats mit seiner Differenzierung der drei Systeme des Bewusstseins, des Vorbewussten und des Unbewussten ist ausgerechnet die Lage der Phantasie nicht recht zu lokalisieren. Vielmehr scheint die Phantasie gerade die interne Differenzierung des psychischen Apparats nachhaltig durcheinanderzubringen.

So haben Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis in ihrer Lektüre des psychoanalytischen Phantasie-Konzepts auf den merkwürdigen Umstand hingewiesen, dass Freud das Wort «Phantasie» ebenso für unbewusste wie auch für bewusste Vorgänge benutzt. Was der verwirrten Leserin als terminologische Unschärfe erscheinen muss (die Freuds Übersetzer James Strachey denn auch kurzerhand durch seine eigenmächtige Begriffsunterscheidung zwischen «fantasy» und «phantasy» zu eliminieren versuchte),3 erweist sich freilich, Laplanche/Pontalis zufolge, als eigentliche Pointe von Freuds Konzept:

Freud findet in der Phantasie […] den privilegierten Punkt, an dem man den Prozess des Übergangs von einem System ins andere in Aktion sehen kann: Verdrängung oder Wiederkehr des Verdrängten. Es ist dies das gleiche Mischwesen, der gleiche ‹Mischling›, der, nahe der Grenze zum Unbewussten, von einer Seite zur anderen übergehen kann.4

Als buchstäbliches Medium, nämlich als ein zwischen Bewusstsein und Unbewusstem Eingeschobenes, gelingt es dem «Mischwesen» der Phantasie diese beiden Bereiche sowohl zu trennen als auch sie ineinander übergehen zu lassen, sie zu vermischen. Der Phantasie kommt somit die zweideutige Funktion dessen zu, was man im Englischen als screen bezeichnet – ein Schirm, der das Verdrängte zugleich abschirmen als auch, im Sinne eines Bild-Schirms, dieses Verdrängte überhaupt erst zu sehen geben soll. Eben dies ist denn auch die Paradoxie der «Deckerinnerung», die in der englischen (wie auch der französischen Übersetzung) sogar noch besser wiedergegeben ist als im deutschen Original, nämlich als «screen memory» (oder «souvenir-écran»). Die Deckerinnerung, verstanden als «screen memory», fungiert als Blickschutz und Bildgebung zugleich. Obwohl sie doch eigentlich ihrem Namen zufolge dazu da ist, einen verdrängten Inhalt zu verdecken, ist die Deckerinnerung gerade dadurch auch ein Verweis auf eben dieses Verdrängte. Dies gilt umso mehr, als nicht etwa eine bereits bestehende Erinnerung als Deckerinnerung benutzt wird, sondern die Deckerinnerung vielmehr, im Sinne eines Symptoms, durch Verdrängung überhaupt erst entsteht. Als nachträgliche Kompromissbildung, in der sich tatsächliche und imaginierte Elemente vermischt finden, erweist sich denn auch die Deckerinnerung, ihrem Namen zum Trotz, weniger als Erinnerung, sondern vielmehr als Phantasie. Statt Reproduktion eines vergangenen Erlebnisses zu sein, ist die Deckerinnerung vielmehr eine Phantasie von Vergangenheit. Dies macht denn auch der Schluss von Freuds Aufsatz unmissverständlich klar:

Vielleicht ist es überhaupt zweifelhaft, ob wir bewusst Erinnerungen aus der Kindheit haben, oder nicht vielmehr bloß an die Kindheit. Unsere Kindheitserinnerungen zeigen uns die ersten Lebensjahre, nicht wie sie waren, sondern wie sie späteren Erweckungszeiten erschienen sind. Zu diesen Zeiten der Erweckung sind die Kindheitserinnerungen nicht, wie man zu sagen gewohnt ist, aufgetaucht, sondern sie sind damals gebildet worden […].5

II.Filmtechnik der Psychoanalyse

Wie eng verwandt solch phantasierte Bildungen der Erinnerung mit den (Mnemo-)Techniken des Films sind (insbesondere mit dem Verfahren der Überblendung), hat unlängst Matthias Wittmann eindrücklich aufgezeigt und dabei die Freud’sche Deckerinnerung als nichts Geringeres denn als «Schlüsselkonzept filmischer Erfahrungslogik» deklariert.6 Dabei ist die Pointe von Wittmanns Untersuchung, dass für ihn Kino nicht etwa bloß menschliche Erinnerungstätigkeit nachzubilden versucht, sondern vielmehr dem Zuschauer vorgibt, wie er sich zu erinnern hat. Die Erfahrung des Kinos bildet der Zuschauerin Erinnerung ein.

Entsprechend lässt sich zeigen, wie die Psychoanalyse nicht nur Konzepte liefert, um Potenziale filmtechnischer Verfahren zu verstehen, sondern auch umgekehrt und möglicherweise provokanter wie sich in der Filmtechnik psychoanalytische Theoreme immer schon implementiert und umgesetzt finden.7 Haben Shoshana Felman und nach ihr auch Jacques Rancière dargelegt, dass die Bezugnahmen Freuds auf bildende Kunst und Literatur nicht etwa der bloßen Illustration psychoanalytischer Theorie dienen, sondern die Kunst überhaupt erst die Grundlage des Freud’schen Denkens darstellt,8 ist Entsprechendes auch für den Film und dessen Technik zu postulieren. Psychoanalyse und Filmtechnik befinden sich, um die Formulierung Felmans aufzugreifen, in einem Verhältnis gegenseitiger «Implikation»: «each one finding itself enlightened, informed, but also affected, displaced, by the other.» 9

Dabei erweist sich insbesondere jene angeblich nur auf Unterhaltung zielende Filmindustrie des klassischen Hollywood als besonders reichhaltig, gerade ob ihrer Innovationskraft im Bereich der technischen Möglichkeiten des Films. In exakter Umkehrung von Marc Vernets Aufsatz «Freud: effets spéciaux – Mise en scène: U.S.A.», der den Einfluss der Psychoanalyse im amerikanischen Kino thematisiert,10 wäre demnach weniger die Freud’sche Psychoanalyse als nach Amerika importierter Special Effect zu untersuchen, sondern vielmehr gerade umgekehrt die Tricktechniken Hollywoods als heimliche Verfahren der psychoanalytischen Theorie anzuerkennen.

Im Unterschied zu einer nicht nur medientechnisch, sondern, wie Joan Copjec gezeigt hat, leider auch psychoanalytisch eher unpräzisen und dabei vor allem das Zuschauerdispositiv in den Blick rückenden apparatus theory,11 gilt es dabei nicht länger nur auf, sondern gleichsam in den Apparat hineinzuschauen, um in konkreten Mechanismen den Zusammenhang zwischen psychischem und filmischem Apparat zu erkennen. In solch einem noch zu schreibenden «filmtechnischen Vokabular der Psychoanalyse» müsste denn auch der hier zu skizzierende Eintrag zur Phantasie prominent figurieren. Dabei liegt die Analogie zwischen psychoanalytischem Phantasie-Konzept und Verfahren des Films nicht etwa in jener bloß vagen Gemeinsamkeit, dass es beim psychischen wie im filmischen Apparat um irgendwie illusionäre Bildungen gehe, sondern vielmehr in der konkreten Bauweise dieser Bildungen. Dies macht denn auch bereits Jacques Lacan klar, wenn er in seinem Seminar der Jahre 1956/57 über die Objektbeziehung die Funktionsweise von Phantasie und Deckerinnerung ausgerechnet in Bezugnahme auf den Film zu erklären versucht. Unter den durchaus häufigen Verweisen Lacans auf das Kino nimmt diese Passage insofern eine ganz besondere Stellung ein, als er hier nämlich nicht auf einen bestimmten Film oder Regisseur, sondern stattdessen explizit auf die Technik des filmischen Mediums zu sprechen kommt:

Mit der Phantasie stehen wir vor etwas, das von gleicher Art ist, das den Gang des Gedächtnisses fixiert und auf den Zustand des Augenblicklichen reduziert, indem es an jener Stelle innehält, die Deckerinnerung heißt. Stellen Sie sich vor, wie eine kinematografische Bewegung, in raschem Ablauf begriffen, plötzlich an einer Stelle angehalten wird und dabei alle Figuren erstarren. Dieses Augenblickliche ist bezeichnend für die Reduktion der vollen, signifikanten, von Subjekt zu Subjekt artikulierten Szene auf das, was stillgelegt wird in der Phantasie.12

Die Phantasie entspricht folglich nach Lacans Beschreibung nichts anderem als einem freeze frame, in welchem die Bewegung des Films unterbrochen wird, um knapp vor dem innezuhalten, was als Nächstes sich zeigen würde. So wie die Phantasien des Fetischisten sich an eben jenen Schleiern aufhalten, die ihm den Blick verstellen auf das, was sich hinter ihnen verbirgt,13 soll auch die Blockade des freeze frame den Fortgang der Geschichte verschleiern: «Die Deckerinnerung ist nicht einfach nur eine Momentaufnahme, sondern eine Unterbrechung der Geschichte, ein Moment, in dem sie innehält und erstarrt und in dem sie folglich die Fortsetzung ihrer Bewegung, jenseits des Schleiers anzeigt.» 14

Was in diesem Vergleich Lacans zwischen psychischer und filmischer Technik indes fehlt, ist der Aspekt des Übergangs und der Vermischung, wie ihn Laplanche/Pontalis an der Phantasie betonen. Auch Freuds Hinweis, dass die Deckerinnerung sich durchaus nicht nur als Einzelbild, sondern auch als «längere Szene und mehrere kleine Bilder» zeigt,15 scheint nicht recht zum freeze frame zu passen. Mithin macht auch Lacans eigener Vergleich mit dem Schleier klar, dass es bei der Phantasie nicht nur um eine Blick-Blockade im erstarrten freeze frame geht, sondern auch um die Möglichkeit einer dynamischen (zumindest teilweisen) Durch-Sicht: Schließlich zeichnet sich ein Schleier doch dadurch aus, dass er das hinter ihm Verborgene wenigstens vage durchschimmern lässt. Besser noch als die einzig den Aspekt der Erstarrung betonende Technik des freeze frame entspräche der Phantasie darum wohl eine Filmtechnik der subtilen Vermischung von Starrheit und Bewegung, von Verdeckung und Durch-Sicht. Als Vermischung von eigentlich inkommensurablem Material entspräche der Phantasie eine Filmtechnik, die selber solche «Mischwesen» hervorbringt: eine Technik für Kompositaufnahmen.

III.Vorbauten der Psyche, Verbauungen des Bildes

«Die Phantasien», so schreibt Freud im Mai 1897 an Wilhelm Fließ, sind «vorgelegt», sind «Schutzbauten, Sublimierung der Fakten, Verschönerungen derselben, dienen gleichzeitig der Selbstentlastung», sind «psychische Vorbauten».16 Und auch in der Traumdeutung heißt es über Phantasien, sie hätten die Funktion, «an den Traum gleichsam eine Fassade anzubauen».17 Doch nicht nur im Traum, auch in der Traumfabrik Hollywood sind solche «angebauten Fassaden» und «Vorbauten» zur «Sublimierung der Fakten» laufend in Betrieb, nur nennt man sie hier glass shots und matte paintings.

1905 bessert der Kameramann und Fotograf Norman A. Dawn die Fotoaufnahmen eines Fabrikgebäudes so aus, dass er die störenden Telefonmasten, Gebüsche und Abfalleimer im Vordergrund dadurch kaschiert, dass er zwischen Kamera und Sujet eine Glasplatte stellt, auf der er all das, was nicht mit aufs Bild soll, durch attraktivere auf die Glasplatte gemalte Details verdeckt.18 In seinem Film Missions of California (1907) wendet Dawn dieses Verfahren auch auf das Bewegtbild des Kinos an und so etabliert sich schließlich die Technik des glass shot (die 1916 etwa auch für die Monumentalbauten von D. W. Griffiths Intolerance zur Anwendung kommt) zu einem Standardverfahren der Filmindustrie in den 1920er und 30er Jahren als kostengünstigere Variante zum Bau von aufwändigen Filmsets.19

Abb. 1 Illustration des glass shot-Verfahrens nach Norman Dawn

Bemerkenswert ist dabei nicht zuletzt, wie sich in der Technik des glass shot das Repräsentationskonzept der Renaissance aufgenommen und umgewendet findet: Die Glasplatte, auf welcher der matte artist malt, erinnert an Albertis Raster-Fenster, welches die zentralperspektivisch aufeinander zulaufenden Fluchtlinien der dreidimensionalen Welt studierbar macht.20 Doch statt dieses im Fenster sich zeigende Bild abzuzeichnen, wird beim glass shot in dieses Fenster selbst hineingemalt. Statt den optischen Fluchtpunkt aufzuspüren, wird vielmehr ein ‹falscher› Fluchtpunkt auf die Aussicht aufgetragen. Auf die Scheibe wird etwas aufgemalt, was als Hintergrund wahrgenommen werden soll, dabei aber eigentlich der Verdeckung dieses Hintergrunds und seiner ungefälligen Details dient. Dieses Verfahren entspricht ziemlich genau Lacans Beschreibung der Phantasie als ein in den Fensterrahmen eingepasstes Bild, das dazu dienen soll, die Aussicht und insbesondere deren Fluchtpunkt, von welchem aus die Welt bedrohlich zurückblickt, zu verdecken.21 Die Phantasie, welche von einer bedrohlichen Aussicht abschirmen soll, ist ein Trompe-l’Œil wie das matte painting, welches die unliebsamen Details des Drehorts überdecken soll. Wird jedoch das matte painting als solches erkannt, verliert es seine illusionistische Wirkung und wird damit selbst zu einem unliebsamen Detail: zu einem Fleck in der Aussicht.22

Dass die Trompe-l’Œils der matte paintings auch im filmischen Produktionsprozess eigentlich nichts anderes als schwarze Flecken sind, zeigt sich in der aus den glass shots sich weiterentwickelnden Technik der in-camera matte shots noch deutlicher. Hier wird jener Teil des Bildes, der ausgebessert werden soll, nicht mehr direkt am Drehort durch eine ausgearbeitete Malerei ersetzt. Stattdessen wird auf das Glas nur eine Schwarzmaske (matte) aufgetragen, welche den betreffenden Teil des Bildkaders auf dem Filmstreifen unbelichtet lässt. Dieser noch ausgesparte Teil wird dann später in einem zweiten Schritt durch ein matte painting belichtet werden.23

Dabei macht diese zeitliche Aufteilung im Produktionsprozess klar, wie es sich bei den hier entstehenden Kompositbildern buchstäblich um nachträgliche Einbildungen von Vergangenheit handelt: Was zum Zeitpunkt der Aufnahme unbelichtet blieb, wird erst hinterher in der Postproduktion ins Bild eingetragen. Die so entstehenden Bilder-Mischwesen bringen damit nicht nur die unterschiedlichen Medientechniken der Malerei und Fotografie durcheinander,24 sondern offenbar auch verschiedene Zeitebenen: Die Zeit der zu repräsentierenden Vergangenheit, die Zeit der Aufnahme und die Zeit der Postproduktion vermischen sich im Kompositbild zu einer phantasierten Erinnerung an Vergangenheit, die es so nie gegeben hat.

Abb. 2: Illustration aus: Movie Makers. Magazine of the Amateur Cinema League, November 1936

Indes werden in Hollywood nicht nur mit Vorliebe Bauwerke, sondern auch die sie umgebenden Landschaften und mithin der Himmel durch Malerei ersetzt – mit jeweils mehr oder weniger naturalistischem Effekt. Insbesondere das Naturschauspiel der Wolken wird dabei zum beliebten Anwendungsbereich von matte paintings, um nachträglich zu kompensieren, was dem Himmel am Drehplatz an pittoresker Qualität abging.25 Ein wolkenlos strahlender Himmel bietet nämlich beste Licht- und damit ideale Drehverhältnisse, erscheint auf Schwarzweißfilm aber nur als langweilig monochromes Grau. Um diese Monotonie zu vermeiden, werden jene Wolken, die beim Dreh nur gestört hätten, hinterher ins Bild gemalt, wenn auch mit widersprüchlichem Effekt: Denn natürlich bewegen sich die gemalte Wolken im Gegensatz zu den tatsächlichen nicht, was wiederum von der Betrachterin als unnatürlich empfunden wird und darum verschiedene Techniken zur ‹Mobilisierung› dieser Wolkenbilder auf den Plan ruft.26

Indes sind es gerade die subtilen Irritationen, die sich etwa angesichts eines unbewegten Film-Wolkenhimmels einstellen, welche die Technik des matte painting jenseits von Produktionsbedingungen auch rezeptionsästhetisch so faszinierend machen. Das gemeinhin als «invisible art» 27 sich definierende Verfahren des matte painting wird interessant gerade dort, wo es seine behauptete Unsichtbarkeit verliert und sich sein angeblicher Fotorealismus als Trick entlarvt. Es geschieht, was Bernhard Siegert als Eigenart des Trompe-l’Œil hervorgehoben hat, dass sich nämlich «Mimesis innerhalb ihrer eigenen Grenzen gegen sich selbst wendet» und damit «gleichsam über sich selbst hinaus[schießt]».28 Auch ein ungeübter Betrachter wird beispielsweise die kitschigen Panoramen, welche die Special-Effect-Teams um Peter Ellenshaw für die Disney-Filme der späten 1950er und frühen 1960er Jahre erstellt haben, sogleich als jene Malerei erkennen, die sie in Wahrheit sind. Alle sehen, dass die pittoresken London-Ansichten in Mary Poppins (1964) eigentlich gemalt sind – umso mehr, als dieser Film ja ohnehin auf solche Tricktechniken des Mischbildes explizit hinweist, wie in jener berühmten Sequenz, wo die Kinder in die gemalten Bilder des Straßenartisten Bert steigen.

Einmal auf deren Technik aufmerksam geworden, fallen einem die matte paintings indes nicht nur in dezidiert auf ihre eigene Künstlichkeit hinweisenden Filmen wie Mary Poppins auf, sondern buchstäblich überall im klassischen Hollywood und dessen Genres: sei es angesichts der Bilder des alten Rom in Epen wie Quo Vadis (1951) oder Ben Hur (1959), den Stadtlandschaften des film noir, den Landstrichen des Abenteuerfilms oder den Traumarchitekturen des Musicals.

Man wird einwenden, die Künstlichkeit der matte paintings enthülle sich in vielen Fällen nur dann, wenn man bereits um ihre Technik wisse und bewusst auf sie achte, wohingegen diese ‹unsichtbare Kunst› der naiven Kinozuschauerin durchaus realistisch erscheine. Das ist insofern problematisch, als doch jenes angeblich naive Publikum, welches die Artifizialität filmischer Darstellung nicht durchschaut, wahrscheinlich selbst ein bloßer Mythos ist, wie etwa Christian Metz (im Rückgriff auf Octave Mannonis Theorie des «delegierten Aberglaubens») dargelegt hat.29 Vor allem aber droht man dabei zu unterschlagen, dass Sichtbarkeit immer und notwendigerweise durch Vorwissen bedingt ist, wie bereits die Wissenschaftstheorie Ludwik Flecks klipp und klar festhält:

Um zu sehen, muss man wissen, was wesentlich und was unwesentlich ist, muss man den Hintergrund vom Bild unterscheiden können, muss man darüber orientiert sein, zu was für einer Kategorie der Gegenstand gehört. Sonst schauen wir, aber wir sehen nicht, vergebens starren wir auf die allzu zahlreichen Einzelheiten, wir erfassen die betrachtete Gestalt nicht als bestimmte Ganzheit.30

Fleck liefert damit offenbar einen ins Optische gewendeten Nachtrag zu seiner Theorie des «Denkstils», der zufolge wissenschaftliche Erkenntnis nicht aus angeblich voraussetzungslosem Beobachten folgt, sondern Ergebnis eines «gerichteten Wahrnehmens» ist.31 Wahrnehmung ist somit nie naiv, sondern notwendigerweise vorgeprägt. Entsprechend ist auch das Film-Sehen durch bestimmte Denkstile informiert. Der Denkstil der Psychoanalyse zeichnet sich dadurch aus, dass er das scheinbar unwesentliche Detail ins Zentrum des Interesses rückt (etwa wenn unwesentlich scheinenden Fehlleistungen symptomatische Bedeutung attestiert wird). Mit dem Denkstil der Psychoanalyse Filme und deren Technik zu betrachten, wird darum auch hier gerade eine angeblich invisible art des matte painting sichtbar machen wollen, als heimliches Zentrum des Interesses. Statt dem Film also Theoreme überzustülpen, wie man es der psychoanalytischen Filmtheorie vorgeworfen hat,32 lässt der psychoanalytische Denkstil vielmehr hervortreten, was eigentlich auf der Oberfläche des Films und auf Ebene seiner technischen Gestaltung zutage liegt. Und so, wie die Psychoanalyse gegenüber den Äußerungen der Analysant _ innen die Haltung einnimmt, präzise auf das zu hören, was diese tatsächlich sagen, und nicht auf das, was sie meinen,33 muss sie sich auch beim Film an dessen konkreter technischer Verfasstheit aufhalten.

Im Falle der matte paintings rückt somit ein psychoanalytisch informiertes Sehen den gemalten Hintergrund in den Vordergrund. Das ist umso passender, als solch eine Verschiebung nur zutage fördert, was produktionstechnisch ohnehin schon Sache war: Denn tatsächlich sind die gemalten Hintergründe ja in Wahrheit auf einer Glasplatte vor den Darstellern platziert. Die für die Wahrnehmung so wesentliche Unterscheidung von Figur und Grund findet sich im Verfahren des matte painting gestört, aber gerade auf dieser Störung gründet ihr illusionistischer Effekt: Damit der Illusionismus des matte painting funktioniert, muss man das, was im Moment der Aufnahme eigentlich vorne war, im fertigen Filmbild als Hintergrund wahrnehmen. Diese falsche Wahrnehmung indes wird durch die der psychoanalytischen Theorie eigenen Verkehrungen von Figur-Grund-Verhältnissen erneut umgedreht und damit richtiggestellt. So entstellen psychoanalytisches Phantasie-Konzept und filmische matte painting-Technik sich gegenseitig zur Kenntlichkeit: Dieselbe Verkehrung von Figur-Grund-Verhältnissen, wie sie das matte painting vorführt, zeichnet nach Laplanche/Pontalis auch die Phantasie als Schwelle innerhalb des psychischen Apparats aus, an welchem Bewusstsein und Unbewusstes ineinander übergehen und die Plätze wechseln. Dieser Wechsel der Plätze ist denn auch der Grund für Freuds Ablehnung des Begriffs des «Unterbewusstseins», impliziert dieser doch eine eindeutige Hierarchie.34 Hingegen liegt das Unbewusste weder unter, noch hinter dem Bewusstsein, sondern zeigt sich in diesem – als Lücke, Riss und Spur. Auch Lacans Begriff der extimité als topologischer Matrix der Psyche trägt dieser Durchdringung Rechnung: Als Neologismus, in dem die sich scheinbar widersprechenden Begriffe exterieur und intimité zu einem einzigen Wort zusammengezogen werden, ist mit extimité nichts anderes als die radikale Äußerlichkeit scheinbar intimer, intrapsychischer Prozesse beschrieben.35

Als Moment solch einer Veräußerung des Verdrängten soll auch die ‹unsichtbare› (bzw. unbewusste) Kunst des matte painting betrachtet werden – nämlich als Ort, an dem gerade in der Verdeckung der Phantasie sich das Bahn bricht, wovor sie hätte schützen sollen. Und umgekehrt dürfte die Betrachtung eines filmtechnischen Verfahrens wie das des matte painting genauer akzentuieren, wie man die Extimität des Unbewussten zu konzeptualisieren hat.

IV.Der große Andere als Deckmalerei

Dienen die Trompe-l’Œils von Phantasie und Deckerinnerung dazu, ein traumatisches Verdrängtes im Zaum zu halten, so gibt sich dieses Verdrängte gerade im Verfahren des Verdeckens wieder zu sehen. Ein (nicht zuletzt politisch) besonders brisantes Beispiel, an dem sich zeigen lässt, wie im Mischbild des matte painting sich Bahn bricht, was die «Schutzbauten der Phantasie» eigentlich hätten bewahren sollen, wäre jene Instanz, die Lacan als «großen Anderen» bezeichnet. Als Verkörperung radikaler und nicht assimilierbarer Andersheit (im Gegensatz zur Spiegelbildlichkeit des «kleinen anderen») hat zunächst die Mutter, deren Begehren dem Kind ein Rätsel bleiben muss, den Platz dieses Anderen inne. Später erweist sich dieser Andere als Agent symbolischer Investitur schlechthin, von welchem sich das Subjekt angerufen (im Sinne Althussers) 36 und in die symbolische Ordnung eingesetzt sieht.37 Es ist dieser Andere, zugleich bedrohlich und faszinierend in seinem mächtigen Begehren, gegen den der Schutzbau der Phantasie abschirmen soll, wobei gerade dieser Schutzbau wiederum diesem Anderen und seinem Begehren ein Denkmal setzt.

Abb. 3Matte painting von Mario Larrinaga für Citizen Kane, Regie: Orson Welles, USA 1941

Abb. 4 Screenshot aus: Citizen Kane

Wie bereits erwähnt, kommen im klassischen Hollywoodkino matte paintings mit besonderer Vorliebe dort zum Einsatz, wo es gilt, imposante Bauwerke zu zeigen, die tatsächlich als Set zu bauen für die Studios nicht nur zu kostspielig, sondern unter Umständen schlicht unmöglich wäre, wie etwa die märchenhafte Emerald City aus The Wizard of Oz (1939). Herrschaftsarchitektur ist somit im Hollywoodfilm mit Vorliebe als gemalte Maske zu sehen, als in den Vordergrund eingefügt Illusion, deren Irrealität die wissende Zuschauerin alsbald durchschaut. So ist es denn auch nur passend, dass eines der berühmtesten Beispiele von Herrschaftsarchitektur im Film, nämlich das prunkvolle Anwesen von Charles Foster Kane in Orson Welles’ Citizen Kane (1941), ebenfalls nur als Malerei, als matte painting des Künstlers Mario Larrinaga, zu sehen ist.38

Kanes Schloss Xanadu, das in Anlehnung an den Palast in Samuel Taylor Coleridges «Kubla Khan» so genannt wird, ist bereits in Coleridges Text nichts als ein (Opium-)Traumgebilde und so wird es auch in Welles’ Film immer nur als mehr oder weniger fadenscheinige Simulation gezeigt. Doch ist dies bei Weitem nicht die einzige Stelle, an der in Citizen Kane matte paintings zum Einsatz kommen. Noch verblüffender (und demaskierender) ist, dass auch Kanes Wahlveranstaltung bei seiner Kampagne um den Gouverneursposten zum größten Teil nur gemalt ist. Während auf der Tonspur lautstarker Applaus zu hören ist, zeigt der genaue Augenschein keinerlei Regung in den angeblich begeisterten Publikumsrängen.

Das Publikum ist nur ein matte painting und entpuppt sich damit als von derselben Machart wie jenes riesige Porträt Kanes, das als Leinwand hinter dem Kandidaten aufgehängt ist: bloße Vorstellung. Einzig die mit Kane auf dem Podium sitzende sowie zwei in der Gasse vor dem Podium stehende Figuren sind in dieser Szenerie nicht gemalt. Bei eingehender Betrachtung wird man in einer Einstellung sogar sehen, dass unter den mit Kane auf dem Podium befindlichen Personen bei der Figur ganz links der Kopf abgeschnitten ist – offensichtlich weil an dieser Stelle das matte painting zu weit in den ausgesparten Spielbereich hineinragt. Was als Hintergrund hätte erscheinen sollen, wird damit plötzlich sichtbar als vorgelegte Abdeckung. Der filmische Illusionismus bricht zusammen und zeigt damit sofort die Kehrseite dessen, was die Szene angeblich erzählen will.

Abb. 5 Screenshot aus: Citizen Kane (Detail)

Was innerhalb der Diegese eine beeindruckende Zurschaustellung von Kanes symbolischer Investitur hätte sein sollen, erweist sich somit angesichts seiner filmtechnischen Gestaltung unversehens als Demontage. Die Deckerinnerungen von/an Kane (vergessen wir nicht, dass ja der gesamte Film immer nur retrospektiv und post mortem von Kane berichtet) zelebrieren also weniger dessen legendäre Macht, sondern geben (unbeabsichtigt) den Blick darauf frei, wie sehr es diesem angeblichen Souverän eigentlich an Substanz mangelt.

Entsprechend wäre übrigens auch die von André Bazin an Citizen Kane so herausgestrichene Ästhetik der Tiefenschärfe einer kritischen Re-Lektüre zu unterziehen: Nicht wenige der angeblich mit großer Tiefenschärfe operierenden Szenen sind nämlich in Wahrheit Kompositbilder unter Verwendung von matte paintings. Die von Bazin behauptete realistische Wirkung der Tiefenschärfe wäre demnach wohl auch selber solch ein Mythos, der von den matte paintings des Films im selben Zug behauptet wie auch demontiert wird.39 Hingegen ist Bazins gewagte These, die tiefenscharfen Bilder von Citizen Kane würden eine aktivere Beteiligung des Zuschauers erzwingen und führten mithin «die Mehrdeutigkeit wieder in die Struktur des Bildes ein»,40 sogar noch treffender, wenn man erkennt, dass die Tiefenschärfe eigentlich nur von matte paintings simuliert wird: Als aus unterschiedlichen Medien zusammengesetzte Mischbilder führen gerade die matte paintings eine komplexe Mehrdeutigkeit in den Film ein. Diese Ambivalenz der technischen Gestaltung schlägt sich denn auch in der Diegese nieder und verkehrt unweigerlich ins Gegenteil, was die Bilder zu erzählen vorgeben: Sind die auf Beeindruckung angelegten Triumphbilder Kanes erst als Foto-Malerei-Collagen durchschaut, wirken sie ätzend ironisch. Die matte paintings von Kanes angeblicher Erfolgsgeschichte funktionieren wie jene von Lacan erwähnten Gottesdarstellungen, deren Pracht in Wahrheit nur camouflieren soll, wie hohl sie eigentlich sind: «Wenn es schöne Bilder sind – und Gott weiß, dass die religiösen Bilder immer per definitionem dem herrschenden Schönheitskanon entsprechen –, dann übersieht man, dass sie stets hohl sind […], dass man im Bild, im Jenseits der Bestrickung durch das Bild die Leere Gottes übersieht, die zu entdecken wäre.» 41 Das Bild des Allmächtigen erweist sich damit gerade als Marke der Begrenztheit seiner Macht. Ähnlich bricht sich in den matte paintings von Citizen Kane nichts Geringeres Bahn als die Erkenntnis, dass der angeblich souveräne Andere, an den sein Publikum glaubt und von dem es sich Anerkennung und Versicherung erhofft, in Wirklichkeit genauso ohnmächtig ist wie wir. Es ist genau das, was Lacan in seiner eigenen Formalisierung des psychischen Apparats als Ⱥ schreibt: «Il n’y ait pas d’Autre de l’Autre» – «es gibt keinen Anderen des Anderen», was heißen soll: Der Andere, der sich als Garant der symbolischen Ordnung geriert, ist in Wahrheit selber mangel- und zweifelhaft.42 Und es war gerade dieser schockierende Mangel im Anderen, den die Phantasien eigentlich überdecken sollten: «Die Phantasie stellt einen Versuch dar, diesen Mangel des Anderen, nicht des Subjekts, aufzufüllen, d. h. die Konsistenz des großen Anderen wieder zu konstituieren.» 43 Das nur eingemalte Publikum in Citizen Kane soll kaschieren, was dem starken Mann auf der Bühne eigentlich an Stärke abgeht, und zugleich ist es genau diese Kompensationsbildung der Phantasie, welche diesen Mangel des Anderen schonungslos entlarvt.

Abb. 6 Screenshots aus: North by Northwest, Regie: Alfred Hitchcock, USA 1959

So gibt sich über eine psychoanalytische Lektüre der Filmtechnik (die auch eine filmtechnische Lektüre der Psychoanalyse ist) selbst ein derart kanonischer und scheinbar gänzlich ausgedeuteter Film wie Citizen Kane noch einmal anders zu lesen. Doch was sich an den Szenen symbolischer Investitur in Citizen Kane zeigen lässt, wäre auch bei weit weniger bekannten Beispielen zu leisten, etwa an den matte paintings modernistischer Übermenschenarchitektur in The Fountainhead (1949) oder den römischen Prunkbauten in Cleopatra (1963), wobei genauer zu untersuchen wäre, wie diese über matte paintings behaupteten Vorstellungen von Herrschaft in den verschiedenen Filmen durchaus unterschiedlich libidinös aufgeladen sind. Gemein ist ihnen indes der decouvrierende Effekt der als Trompe-l’Œils durchschauten matte paintings: Die Macht ist morsch und gerade die Phantasien, welche dieses Morsche hätten überpinseln sollen, zeigen es an.

Entsprechend wären denn auch die zahlreichen matte paintings in einem Film wie Hitchcocks North by Northwest (1959) zu lesen: als Durchstreichung des großen Anderen. Das nur als Malerei gezeigte UNO-Gebäude, die nur gemalten Präsidentenköpfe von Mount Rushmore, aber auch das gemalte Haus des Bösewichts Philip Vandamm – sie alle sollen zwar symbolische Autorität anzeigen, sind dabei aber bloße Deckphantasien.

Über die Präsidentenköpfe von Mount Rushmore in North by Northwest hat Raymond Bellour geschrieben, sie symbolisierten das ödipale Gesetz, dem sich die Filmfiguren unterworfen sehen: «How can we help seeing in it a fantastic representation of the dead father? Subsuming the Professor and Townsend who are but its delegates, the very symbolization of the law, fixed in its eternity, the petrified images of the presidents seal the submission of desire to the law of Oedipus and of castration.» 44 Die Präsidentenköpfe sind nur in das Bild hineingemalt, als fadenscheinige Schutzschirme. Das ödipale Gesetz des Vaters, für das sie stehen, hält nicht. Auch die Väter sind kastriert. Die angebliche Ordnung des Symbolischen, für welche UNO, Präsidenten-Denkmal und Schurkenzentrale stehen, ist in Wahrheit gänzlich aus den Fugen und so hohl, wie jene Figur, in welcher der Schurke die geklauten Mikrofilme aufbewahrt. Und so zeigen die matte paintings von North by Northwest dasselbe wie jenes O in der Abkürzung «ROT», dem Firmenlogo des Filmprotagonisten Roger Thornhill: nichts als eine Lücke, das Loch des Gesetzes, die schiere Absenz von Bedeutung. «What does the O stand for?», fragt die Heldin den Helden, als sie dieses Logo sieht. Seine Antwort: «Nothing».

Freilich – auch das zeigt Hitchcocks Film – bedeutet diese Erkenntnis der Kastration des Vaters nicht, dass er, der Vater, deswegen einfach wirkungslos wäre, so wie auch die Hohlheit des großen Anderen nicht einfach als dessen Inexistenz verkannt werden sollte. Vielmehr erscheint die Macht, die dieser Andere, trotz seiner Mangelhaftigkeit ausübt, damit nur abgründiger. Wo sich in der berühmten Schlussszene von Citizen Kane zusammen mit dem ominösen Schlitten «Rosebud» auch Kanes ganze Existenz in Rauch aufzulösen scheint und damit alles, wofür er stand, auslöscht, ist North by Northwest deutlich zynischer: Das ganze System der Macht, die symbolische Ordnung, auf die sich die Agenten berufen, mag genauso hohl sein wie die erfundene Figur des angeblichen Spitzenspions George Kaplan. Trotzdem kommen auf der Jagd nach einem Phantom echte Menschen um. Das als bloßes Maskenspiel durchschaute System generiert handfeste Konsequenzen. Mag sein, dass die symbolischen Autoritäten wie CIA oder FBI bloß eine «alphabet soup» sind, wie es deren Chef ausdrückt, leeres Geschwätz. Geschossen aber wird in diesem Spiel trotzdem mit echten Kugeln, wie der Bösewicht Vandamm indigniert feststellt: «That wasn’t very sporting, using real bullets!»

V.Durchbrüche zur Außenseite

Sind die Schutzbauten der Phantasie der Ort, an welchem, was im Unbewussten hätte verbleiben sollen, zum Bewusstsein durchbricht, so erweisen sich die Auftritte von glass shots und matte paintings im Hollywoodfilm als Bruchstellen, an denen der Kinoapparat nicht zuletzt auch das zeigt, was eigentlich unrepräsentierbar ist: nämlich sich selbst als großen Anderen, der die Filmbilder generiert. Wie Stanley Cavell betont hat, ist die filmende Kamera von dem Gefilmten notwendigerweise ausgeschlossen: «One can feel that there is always a camera left out of the picture: the one working now.» 45