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Beschreibung

Die Zeitschrift für Medienwissenschaft steht für eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft, die Untersuchungen zu Einzelmedien aufgreift und durchquert, um nach politischen Kräften und epistemischen Konstellationen zu fragen. Sie stellt Verbindungen zu internationaler Forschung ebenso her wie zu verschiedenen Disziplinen und bringt unterschiedliche Schreibweisen und Textformate, Bilder und Gespräche zusammen, um der Vielfalt, mit der geschrieben, nachgedacht und experimentiert werden kann, Raum zu geben. Heft 19 hat zwei Schwerpunkte: Jenseits eines Erstaunens über die Selbstverständlichkeit, mit denen Realitätsanker wie »Tatsachen« Halt in einer von Truthiness-Stürmen erschütterten Wissensordnung versprechen, erkundet der Schwerpunkt Faktizitäten (hg. von Eva Schauerte und Sebastian Vehlken), wie mediale Prozesse an deren Produktion beteiligt sind. Ein zweiter Heftschwerpunkt zum Thema Klasse (hg. von Ulrike Bergermann und Andrea Seier) macht darauf aufmerksam, dass Objekte der Medienwissenschaft als auch die Herkünfte der Forschenden einen Klassen-Marker tragen, und diskutiert Analysekriterien für mediale Artefakte, für Produktions- und Rezeptionsformen bis hin zu Möglichkeitsbedingungen der Wissensproduktion.

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Seitenzahl: 492

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2/2018

INHALT

Impressum

FAKTIZITÄTEN

EVA SCHAUERTE / SEBASTIAN VEHLKEN

FaktizitätenEinleitung in den Schwerpunkt

BENJAMIN PETERS

Vorsicht vor der Theorie der Verschwörungstheorie!

ASTRID DEUBER-MANKOWSKY

Die Wahrheit des Relativen in der Krise der Fake NewsDenken mit Alexandra Juhasz’ «#100hardtruths-#fakenews: A primer on digital media literacy»

ANDREAS SUDMANN

Fake-Dokus und ihr Beitrag zur Krise der Repräsentationskritik

HANNAH ZINDEL

Werkzeug WindkanalSimulationen in der Stadtklimaforschung

Debatte über widerspenstige Wahrheiten

BERNHARD PÖRKSEN Die neuen Wahrheitskriege

CLAUS PIAS Medien, Universitäten, Lügen. Ein Kommentar zum Beitrag von Bernhard Pörksen

EXTRA

SIMON ROTHÖHLER

Informationen, die Bilder habenZur Moderierbarkeit von visuellem Content

SEBASTIAN GIESSMANN

Elemente einer Praxistheorie der Medien

AUTOR_INNEN

BILDSTRECKE

FEMINISTISCHE GESUNDHEITSRECHERCHEGRUPPE vorgestellt von MICHAELA RICHTER

Praktiken radikaler Gesundheitsfürsorge

FAKTIZITÄTEN

Forensic Architecture:Rafah Master Drawing, 2014Diese Darstellung umfasst die Kartierung von Bombenkratern, Rauchwolken, Flugbahnen, Artillerieangriffen, Routen von Panzern und bewaffneten Fahrzeugen und vermutlichen Tunnelverläufen basierend auf der Analyse von Videomaterial, Satellitenbildern und Augenzeugenberichten. Montage mit Pléiades-Satellitenbild von Ost-Rafah, Gaza, vom 1.8.2014, 11:39 Uhr (Orig. in Farbe)

FAKTIZITÄTEN

Einleitung in den Schwerpunkt

I. Sie haben Ihre Zahlen, ich habe keine

Das Thema Faktizitäten verweist einerseits auf einen aktuellen gesellschaftlichen Diskurs und ist andererseits mit einer langen und weitreichend verzweigten Begriffsgeschichte verknüpft. Beides kann im Rahmen einer einzelnen Zeitschriftenausgabe nur unzureichend abgebildet werden. Der vorliegende Schwerpunkt macht es sich daher zur Aufgabe, den vielschichtigen Diskurs um Faktizität aus einer spezifisch medienwissenschaftlichen Perspektive in den Blick zu nehmen und damit die zu beobachtende Omnipräsenz von Schlagwörtern wie ‹Fake News›, ‹alternativen Fakten› oder ‹truthiness› kritisch zu befragen.1 Angesprochen ist damit ein Diskurs(schlacht-)feld, das sich zwischen verbissenem Fact-Checking2 und faktenindifferentem Bullshitting3 aufspannt. Umtost von den Kommunikations- und Aufmerksamkeitsdynamiken digitaler Plattformen, in denen die Portabilität, das leichte Sharing und die Veränderbarkeit digitaler Daten zu ökonomischen Schmetterlingseffekten führten, diffundiere zunehmend die bewusste Unterscheidung von Fakt und Fake mittels gezielt platzierter, ‹fabrizierter› Informationen aus den Heimwerkstätten,4 Fabriken5 oder Start-ups6 der Meinungstrollerei, so die einen. Die Berufung auf Fakten, hält die andere Seite dagegen, sei heute nicht mehr den sogenannten Qualitätsmedien vorbehalten: Den etablierten Nachrichtenmedien wird vorgeworfen, sich von einer korrupten Politikerelite instrumentalisieren zu lassen und Fakten beliebig zu manipulieren. Indem beide Seiten dasselbe Argument anführen, nämlich die jeweiligen Gegner des Fakes zu bezichtigen und gleichzeitig selbst die Wahrheit bereits zu besitzen, wird eine klassische, faktenbasierte Wahrheitssuche diskreditiert. Stattdessen, so wiederum Beobachter dieses Diskurses, entstehe ein neuer Sofortismus7 der unmerklichen Manipulation durch Social Bots und der algorithmischen Verzerrung von Meinungsbildungsprozessen durch individualisierende Echokammer-Effekte8 im Hintergrund, welcher verschiedentlich als Heraufdämmern einer «postfaktischen Ära»9 beschrieben und institutionell beglaubigt wurde.10 Dieses neue Zeitalter sei gekennzeichnet durch einen grundsätzlichen Skeptizismus gegenüber möglichen Zugängen zu einer ‹objektiven Realität› und allgemeingültigen Unterscheidungen zwischen ‹wahr› und ‹falsch›.

Die damit heraufbeschworenen Dynamiken des ständigen Meinens (und dessen unablässiger Distribution), aber auch der bewussten Fabrikation von Falschmeldungen und Lügen sollen einerseits vermehrt durch koordinierte crackdowns eingehegt werden – meist mittels politisch nicht unheikler Eingriffe in netzbasierte ‹Informationsfreiheiten›.11 Andererseits reagieren Teile des akademischen Bereichs weltweit mit Science Marches samt seltsam positivistischer Schnellschüsse à la ‹Zu Fakten gibt es keine Alternative!› auf den genannten Zweifel an Faktizitäten. Letztere appellierten dabei jedoch an eine «Szientokratie», so etwa Peter Strohschneider in einer differenzierten Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Wahrheitskonstruktionen im Spannungsfeld von Politik, Wissenschaft und Medien, die «ihrer inneren Logik nach antipluralistisch» sei – genau wie die Autokrat_innen und Populist_innen, gegen die sie sich wende.12

In den Blick gerät daher zunehmend die wissenschaftstheoretische Naivität von Post-Truth: War Wahrheit je ein beherrschendes Regulativ von Politik oder gar medialer Berichterstattung? Behauptet der Begriff nicht einen Zugang zu Fakten, den er anderen im Umkehrschluss abspricht? Impliziert er nicht die Möglichkeit zur Erkenntnis ‹objektiver› Wahrheiten, die alles wissenschaftshistorisch belegte Zweifeln an Faktizitäten quer durch verschiedenste Disziplinen ignoriert?13 Und verstellt dies nicht gerade den Blick auf die viel gefährlichere Verschiebung, die Wahrheit zur Funktion von Macht degradiert?

II. Faktizitäten

Der Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston zufolge können wir auf «Institutionen, die für Tatsachen garantieren, nicht verzichten.» Wahrheit komme in der Regel nicht durch «Geniestreiche ans Licht», sondern müsse «mühsam erarbeitet werden – und dazu tun Institutionen, Methoden und Beweismittel not»14 – Möglichkeitsbedingungen, die auch BENJAMIN PETERS in seinem Beitrag diskutiert. Dabei weist Daston auf die vertrackte Genese des Fakten-Begriffs hin: Noch in der Frühneuzeit war der Aspekt des Hergestellten und Gemachten parallel zur Vorstellung von Fakten als (göttliche) Gegebenheiten verbreitet. Erst mit dem Objektivitätsanspruch moderner (Natur-)Wissenschaften, der z. B. durch Prinzipien der Wiederholbarkeit, des Ausschlusses ‹unwissenschaftlichen› Imaginierens durch die Einbindung technischer Geräte und des ‹kollektiven Empirismus› neugeschaffener wissenschaftlicher Akademien gesichert werden sollte, drehte sich diese ‹konstruktive Arbeit› in analytische Verfahren um, die sich mehr dem Schmelzen und Säubern (smelting and purifying) als dem Bauen und Konstruieren (building and constructing) verschrieben, so Daston. Zunehmend delegiert an die ‹technische Objektivität› von Apparaturen, Aufzeichnungsmedien, und Experimentalsystemen, sorgten diese Verfahren dafür, Fakten als ‹naturgegebene› Unumstößlichkeiten erkennbar zu machen.15 Während sich Theorien und sogar die Objektivität selbst dem immer schnelleren Wandel der Zeit ausgesetzt sähen, bildeten ‹harte Fakten› ein Residuum überzeitlicher Gültigkeit. Ein derartiger Empirismus und Positivismus provozierte jedoch immer wieder auch heftige Auseinandersetzungen – mit den ‹Wahrheitskriegen› der 1990er Jahre und aktuellen Kontroversen rund um den ‹Spekulativen Realismus›, die in den Beiträgen von BERNHARD PÖRKSEN und CLAUS PIAS thematisiert werden, als rezenten Ausprägungen.

Auch philosophische Begriffsgenealogien betonen die Bedeutungsvielfalt der Begriffe Faktizität und Fakt: So wirkte Gianbattista Vicos frühmoderner Begriff des verum factum als menschgemachter Tat bis in den deutschen Idealismus und in den Marxismus nach. Und selbst als das empiristisch-positivistische Ringen um objektive wissenschaftliche Wahrheiten mehr und mehr in den Vordergrund rückte, wurden philosophische Fragen nach dem Status von – hier hilft der differenzierende Sprung ins Englische – facticity im Gegensatz zur empirischen factuality weiterhin diskutiert: Von Kants tranzendentalem Faktum der Vernunft oder Diltheys Tatsächlichkeit über Heideggers frühes Projekt einer Hermeneutik der Faktizität hin zu Merleau-Pontys phänomenologisch-essenzialistischem Verständnis und zu Habermas’ Dualismus von Faktizität und Geltung.16 Für Jean-Luc Nancy schließlich geht die Faktizität dieser Welt insofern mit deren Bedeutung einher, als dass das «Element des Sinns eine Realität» sei, «die ununterscheidbar und zugleich empirisch und transzendental, materiell und ideell, physisch und geistig ist – eine ganz neuartige ‹Vernunfttatsache›, die gleichzeitig die Reinheit einer Logik und die Festigkeit eines Fleisches besäße».17

Das in diesem Themenschwerpunkt vorgeschlagene Verständnis von Faktizitäten schließt hier an, indem es die medialen Operationen in den Blick nimmt, welche die bei Nancy genannten Simultanitäten prozessieren. Der Begriff eröffnet eine Heuristik, die eine kritische Diskussion der Bedingungen, der Bestimmungen und möglicher Folgen von ‹Fakten› in Bezug auf aktuelle mediale Praktiken, Techniken, Politiken und Ästhetiken sowie deren Schnittstellen ermöglicht. In den Blick geraten dabei neben den ‹Fakten› immer auch deren ‹Alternativen›, die Rede über Faktizitäten schließt die Rede über Fälschung und Fake18 mit ein. Die Unterscheidung von Fälschung und Fake liegt dabei Martin Doll zufolge darin, dass Fälschungen nur so lange funktionieren, wie sie nicht erkannt respektive benannt werden. Wird eine Fälschung aufgedeckt, ist ihre Grundbedingung, nämlich sich an die Stelle eines Originals zu setzen, zerstört.19 Fakes hingegen, so Doll, tragen das «Moment der Enthüllung» bereits mit sich. Zumindest in der deutschen Verwendung des Begriffs sei die «Enttäuschung» anders als bei Fälschungen nicht «akzidentiell, sondern […] konstitutiv».20 Sowohl der Fälschung als auch dem Fake assistiert er jedoch die Fähigkeit, diskurskritisch wirksam zu werden. Nicht nur lenkten sie den Blick auf diskursive Aussage- und Möglichkeitsbedingungen, sondern brächten einen «grundlegenden Dissens gegenüber vorgefundenen Ordnungen, wie Wissen verteilt, oder allgemein, wie regiert wird, zur Artikulation».21

Fakten, sowohl in ihrer primären Erscheinung als auch in ihrer Falsifizierung, erscheinen je schon als ein relationales Gefüge, das sich aktuell jedoch vor allem in einer dem hypothetischen Index distribuierter digitaler Prozesse geschuldeten epistemologischen wie soziopolitischen Unübersichtlichkeit ausprägt – in einer fehlenden, dem menschlichen Verstehen zugänglichen «Ästhetik des Sublimen»22 für die Effekte der Verschränkung großer Datenmengen, multikausaler Relationen und automatisierter algorithmischer Prozesse. Der Plural Faktizitäten ist hier also bewusst gewählt: Mit ihm sei angezeigt, dass Medien Faktizität längst über ihre philosophisch-ontologischen Bestimmungen hinaus flexibilisieren, wenn ihr Operieren im Anschluss an gesicherte wie ungesicherte Faktenlagen Fakten schafft und sie sich an der Produktion, Dekonstruktion oder Transformation von Fakten beteiligen. Und zugleich ermöglicht der Begriff Faktizitäten eine historische Bewertung der angeblichen Disruptionseffekte dieser Verschränkung, wenn ein Zweifel an hergebrachten Mechanismen der Wahrheitsproduktion und des Wahrheitsdiskurses als typische Signatur jeweils neuer Medien in den Blick gerät – z. B. des Buchdrucks23 oder der Penny Press.24

III. Techniken / Ästhetiken: Justice 4 Grenfell

Am 14. Juni 2017 geriet inmitten des Londoner Stadtteils Kensington eine als Grenfell Tower bekannte Sozialwohnungsanlage aufgrund eines defekten Kühlschranks in Brand. Innerhalb von Minuten standen ganze Etagen und komplette Teile der Fassade in Flammen. Mehr als 70 Menschen starben, und schnell wurde die Katastrophe zu einem Sinnbild bürokratischen Versagens und zynischer Immobilienpolitik: Notfallsysteme waren defekt oder fehlten komplett, das Material der Fassade sprach Brandschutzvorschriften Hohn, und Hinweise auf Mängel von Bewohner_innen des Hochhauses waren im Vorfeld der Katastrophe von den Behörden ignoriert worden.25 Und selbst über ein Jahr später wartete ein Großteil der meist sozial benachteiligten ehemaligen Bewohner_innen noch immer auf die ihnen zugesicherten Ersatzquartiere im näheren Wohnumfeld (Abb. 1 und 2).

An der Aufarbeitung dieses Falles beteiligte sich auch die 2011 vom israelischen Architekten Eyal Weizman an der Goldsmiths University in London gegründete Agentur Forensic Architecture. Mit ihren unter dem Begriff der ‹counter-forensics› bekannt gewordenen Methoden macht sie sowohl auf politischer als auch künstlerischer Bühne Furore.26 Als Zusammenschluss von Architekt_innen, Filmemacher_innen, Programmierer_innen, Künstler_innen und Anwält_innen rekonstruiert die Agentur mit aufwendigen dreidimensionalen Computermodellen ‹uneindeutige› Szenarien aus Krisenregionen oder Fälle von Menschenrechtsverletzungen, die sich gegen die offizielle Darstellung von Vorgängen z. B. seitens staatlicher Akteur_innen und Institutionen richten – oder kurz: Sie nutzen «technology to expose injustice».27 ‹Counter-forensics› ist dabei als kollaboratives Verfahren konzipiert: Die Modellierungen von Forensic Architecture verdichten die Mannigfaltigkeit disperser Daten – z. B. Videos, Fotos, Audioaufzeichungen, Zeugenaussagen, Social-Media-Postings – und machen sie in Zeit und Raum lokalisierbar und explorierbar. Erst durch das cross-referencing partikularisierter Daten aus verschiedensten Quellen und unterschiedlichsten Formaten und ihrer Zusammenführung verdichten sich diese zu Fakten: «The only way to make sense of them is to locate them in space and time. You need to be able to see the relationship between evidence and space», so Weizman.28

Abb. 1/2obenPrototyp für ein ‹3D-Video› zur Analyse des Brands: Mapping und Projektion von Videomaterial auf ein Modell desGrenfell Towermit navigierbarer Zeitleiste und Zugriff auf dokumentierte Kommunikationsvorgänge.untenAlternative Ansicht mit perspektiviertem Videomaterial (texture projection). Bilder: Forensic Architecture,2018

Damit arbeitet Forensic Architecture an einer wirksamen Verschränkung von Medientechniken und -ästhetiken, deren aktuelle Dimensionen etwa von Alexander R. Galloway befragt wurden, der sich in seinem Buch The Interface Effect mit Möglichkeiten der adäquaten Repräsentierbarkeit von Daten auseinandersetzt, die prinzipiell «no necessary visual form» haben.29 In eine ähnliche Richtung gehen Überlegungen von Nick Srnicek. Am Beispiel globaler Finanzmärkte fordert er die Entwicklung von «suitably complex and abstract form[s] of aesthetic representation in order to modulate our access to it.»30 Neben den dort aufgeführten Beispielen für Daten-(Re-)Präsentationen aus dem meist künstlerischen Bereich (etwa von Marc Lombardi über das Bureau d’Études hin zu Ryoji Ikeda), die eine ‹Gestalt› sozioökonomischer Strukturen und Effekte erscheinen lassen und eine Kritik gemeinhin sublimer, unfassbarer und ‹alternativloser› Gegenstandsbereiche eröffnen, wirken die explorationsfähigen Modelle von Forensic Architecture jedoch ungleich ‹aktiver›. Sie ermöglichen eine umfassende Konkretisierung abstrakter Datenkonvolute als virtuelle Verräumlichungen in architektonischen Computersimulationsmodellen: ein Zusammenspiel von «matter, media and memory»31 als eine Art entsubjektiviertes «cognitive mapping» im Sinne Jamesons.32

Im Fall Grenfell richtete die Agentur eine Plattform ein, auf die Bürger_innen eigenes Material hochladen können und deren Software Schnittstellen anbietet, die es freiwilligen Expert_innen z. B. für 3D-Mapping oder Bildanalyse ermöglicht, an der Modellierung mitzuarbeiten. Man könnte das Ergebnis eine «open-source-investigation»33 mit ‹Citizen science›-Elementen nennen. Diese macht exemplarisch erkennbar, wie sich innerhalb einer umfassenden Digitalität erstens (keineswegs ‹rohe›, sondern je schon formatierte) Daten erst durch ihre medientechnisch-ästhetische Kontextualisierung zu Fakten synthetisieren und wie diese Faktizität zweitens im Zuge von juristischen Verfahren Geltung erlangen kann.34 Was dabei interessiere, so Weizman, sei gerade die Betrachtung jenes Schmutzes, den herkömmliche Ermittlungsmethoden im Sinne einer ‹klaren› Beweisführung und eines Herunterbrechens von Ereignissen auf einfache juristische Sachverhalte stets zu bereinigen suchten. ‹Counter-forensics› sei ein Verfahren zur Rekonstruktion der Vieldimensionalität von Ereignissen, in der allein deren weiterer politischer Zusammenhang deutlich werde35 – oder anders: eine Synthese von Daten zu Fakten, die einer tiefergehenden Analyse und damit weiteren Faktizitäten vorausgeht. Ganz getreu Hito Steyerls Neudenken von Giambattista Vicos Prinzip des verum factum als factum verum stellt sich Wahrheit in der Produktion ein, während an der Geschaffenheit von Fakten ohnehin kein Zweifel bestehe.36

Damit spricht das Beispiel mediale Verfahren an, welche die Unterscheidungslinien zwischen Virtuellem und Materiellem zunehmend verschwimmen lassen: Wie im Beitrag von HANNAH ZINDEL diskutiert wird, betrifft dies z. B. epistemologische Transformationen im Kontext von (Computer-)Simulationen, die mit einer Fülle von ‹alternativen Fakten›, ungesicherten Annahmen oder gar kontrafaktischen Szenarien umgehen.37 Ebenso tangiert werden begriffliche Demarkationslinien zwischen Daten und Fakten, die im cross-referencing von Big Data und durch Fragen nach ihrer Ästhetisierung in neuartige Überlappungs- und Austauschbewegungen gebracht werden. Und darüber hinaus könnte man den Analyserahmen derartiger synthetischer Verfahren auf Bereiche wie 3D-Druck oder rapid prototyping ausdehnen, wo neue Objekte direkt aus digitalen Entwurfsumgebungen heraus entstehen. Spätestens dort zeigt sich auch eine ontologische Verschiebung an: Neben die vielzitierten Effekte einer «normativen Kraft des Faktischen»38 treten neuartige Faktizitäten des Normativen.

IV. Praktiken/Politiken: Imagepflege als Weltpolitik und die Krise des Medialen

Die Beziehung von Wahrheit und Politik wird historisch nicht nur als Begleiterscheinung politischer Krisen diskutiert, sondern steht vor allem dann zur Debatte, wenn das Politische selbst in die Krise gerät. Wie Hannah Arendt 1971 konstatiert, habe zwar die «Wahrhaftigkeit niemals zu den politischen Tugenden» gehört und die «Lüge immer als ein erlaubtes Mittel in der Politik» gegolten.39 Jedoch seien mit dem 20. Jahrhundert neue Akteur_innen hinter den Kulissen der politischen Bühne erschienen, mit welchen sich das Verhältnis von Wahrheit, Lüge und Politik erneut verschiebe. So gehe es in der politischen Debatte nicht mehr ultimativ um den Streit verhärteter Fronten, sondern vornehmlich um «Image-Pflege».40 Tatsachenwahrheiten – eigentlich unumstößlich in der Realität verankert – würden zu Meinungen degradiert und nichts weniger als «die faktische Wirklichkeit selbst»41 stehe dabei auf dem Spiel. Während sich Arendts Kritik zu Beginn der siebziger Jahre auf die um sich greifende Beschäftigung von PR-Berater_innen und «Problem-Lösern aus den Denkfabriken» kapriziert, welche sowohl die Politik selbst als auch die Medien durchdrangen, sind es heute gerade jene Medien, die im Fokus der Kritik stehen. Aus der Krise des Politischen wird auch eine Krise des Medialen. Die gegen- und wechselseitige Verbrämung sowohl klassischer ‹Qualitätsmedien› als auch zahlreicher Formate der ‹neuen Medien› als Fake News belebt nicht etwa einen produktiven, politischen Streit als Ausweg aus der Krise des Politischen, sondern alimentiert eine Diskussion, die sich mehr um die Medialität von Wahlkampf als um politische Inhalte dreht. Doch genau hier gerät das Mediale in die Krise, ist es doch seit jeher eine genuine Eigenschaft von Medien gewesen, sich im Hintergrund zu halten. Wo die Medien nur noch sich selbst zum Inhalt haben, scheint für das Politische kein Platz.

Projekte wie Forensic Architecture ebenso wie das von ASTRID DEUBER-MANKOWSKY in dieser Ausgabe als aktuelles Beispiel einer Ecology of Practice beschriebene künstlerische Projekt von Alexandra Juhasz stellen Versuche dar, mithilfe medialer Praktiken und Technologien neuartige Informationsumgebungen zu schaffen, um sowohl die Krise des Medialen als auch die Krise des Politischen zu durchbrechen. Wahrheitsarbeit, wie sie Bertolt Brecht 1931 in der wichtigen Exilschrift «Über die Wiederherstellung der Wahrheit»42 als verpflichtende Übersetzungsarbeit eines jeden Einzelnen beschrieben hat, wird zu einer gemeinsamen Arbeit am Faktischen. Als kollaboratives Medienprojekt macht sich diese Arbeit die ständige Überarbeitung und Revidierbarkeit digitaler Medien nutzbar und weist Wahrheit somit einen praxeologischen Charakter zu. Den zunehmenden Angriffen nicht nur auf einzelne Tatsachenwahrheiten, sondern auf die Methoden und Mittel der Faktenproduktion allgemein, so Eyal Weizmann, müsse man dabei mit einem verstärkten «fact-based activism»43 unabhängiger Agenturen und Gruppen begegnen. Ebenso wie der Abdruck oder die Fotografie einstmals sowohl zu einer Krise der Kunst als auch zu einer Steigerung der Evidenzkraft des Medialen beigetragen haben, machen sich neue Medien nun das konstruktive und manipulative Element digitaler Technologien zunutze. Das Ziel dabei ist pragmatisch: nicht der Beweis einer vor den Dingen liegenden, höheren Wahrheit, sondern eine fortwährende Handwerksarbeit zur Herausstellung und Nutzbarmachung des Faktischen. Dass dieses Faktische durchaus auch mit Praktiken des Fakes zu ermitteln ist, führt schließlich der Beitrag von ANDREAS SUDMANN vor. Fake-Dokumentationen nutzen fingierte Geschichten, um auf dahinterliegende Realitäten zu verweisen. Inwiefern das Format darüber hinaus als Genre- und somit auch zur Repräsentationskritik dienen kann, wird von Sudmann jedoch in Frage gestellt.

Wie eingangs beschrieben befindet sich das mit diesem Schwerpunkt angesprochene Untersuchungsfeld nicht nur in ständiger Bewegung. Es ist auch gekennzeichnet durch unklare Ränder und Grenzen. Der vorliegende Themenschwerpunkt versteht sich daher als ein exploratives Unternehmen, bei dem es weniger um eine Bestandsaufnahme und Verengung auf vermeintlich Maßgebliches geht als darum, ein Forum zu bieten für tentative Erkundungen aktueller Faktizitäten. Die Art der hier versammelten Beiträge mag dieses Vorhaben unterstreichen. Anstelle ‹ausgefertigter›, streng fachwissenschaftlicher Artikel erreichten uns überwiegend essayistische, teils auch meinungsstarke Texte. Diese mögen in mancherlei Hinsicht ein wenig ungewohnt erscheinen im Vergleich zu vorangegangenen Ausgaben der ZfM. Wir halten sie dem Thema jedoch für unbedingt angemessen: Denn es geht uns im aktuellen Umfeld einer stark aufgeladenen Debatte um die Wechselverhältnisse von Politik, Wissenschaft und Medien zuvorderst darum, diese Debatte in den Beiträgen nicht nur beobachtet zu sehen, sondern den Autor_innen auch Raum zu bieten, Möglichkeiten zur Intervention zu thematisieren und auszuloten.

Der Essay von BENJAMIN PETERS verknüpft dabei über eine Kritik des Theoriebegriffs aktuelle Diskussionen um Verschwörungstheorien mit Partikularisierungstendenzen in modernen Forschungscommunitys. Dazu zieht er sowohl Beispiele aus altgriechischer Wissenschaft wie aus aktueller US-Politik heran. Seine Problematisierung des Theoretisierens wird durch rezente Ereignisse nur noch stärker aufgeladen: Gerade haben z. B. Eltern von Opfern des Sandy-Hook-Highschool-Shootings den Verschwörungstheoretiker Alex Jones verklagt, der mittels seiner Alt-Right-Website Infowars.com und Radioshows die Theorie verbreitete, es habe sich bei dem Massaker um eine geschauspielerte Aufführung zur Durchsetzung schärferer Waffengesetze gehandelt – und es sei gar niemand dabei getötet worden. Derartige Behauptungen wurden – und hierin liegt die Brisanz – etwa anhand von Artefakten und technischen Unstimmigkeiten im zur Verfügung stehenden Videomaterial des Amoklaufs zu belegen versucht. Und es wurde dazu aufgerufen, auch hier im Sinne einer ‹citizen science› vorzugehen, mit dem Effekt, dass (trauernde) Anwohner_innen der Highschool mit den Nachforschungen ‹recherchierender› Jones-Anhänger_innen konfrontiert wurden.44 Was also lernt man über wissenschaftliche Theoriebildung, wenn man sie einer quasiwissenschaftlichen Evidenzproduktion im Bereich der Verschwörungstheorie gegenüberstellt? Oder kann andersherum ein paranoider Stil gar mögliche Erkenntniswege eröffnen?45

BERNHARD PÖRKSENS Beitrag schließt an derartige Vexierspiele an, erweitert den Fokus jedoch auf Fragen nach der soziopolitischen Verantwortung und der kommunikativen Rolle von Wissenschaft in Zeiten fragwürdiger Faktizitäten. Er widmet sich einem feuilletonistischen und teils auch akademischen Diskurs, der letztere als Effekt einer angeblichen Beliebigkeit der Postmoderne und eines Relativismus des Konstruktivismus skandalisiere und im Umkehrschluss eine Hinwendung zu neuen Realismen und Essenzialismen predige. Darin äußere sich jedoch nicht nur eine Selbstüberschätzung der Reichweite wissenschaftlicher Spezialdiskurse, sondern vor allem eine Perpetuierung von Idiosynkrasien – mit tragischen Folgen für durchaus mögliche und wirksame Interventionen von Wissenschaft und Universität gegen die hybriden Politikstile heutiger Autokraten, für die Skepsis und Wahrheitszweifel lediglich ein Instrument zur Durchsetzung eigener Interessen und Ideologien seien.

Ob diese Diagnose jedoch nicht ihrerseits die (angeblich) unterbleibende Selbstreflexion akademischer Diskurse durchaus übertreibt und dabei gerade die Rolle von Medientechniken unterschätzt, befragt CLAUS PIAS in einem Kommentar zu Pörksens Beitrag. Hier mag sich Stoff für eine weiterführende Debatte entwickeln, die sich – und das wäre ganz in unserem Sinne – auf die ZfM-Website verlängern könnte.

An der Schnittstelle von Theoriediskurs und medientechnischen und medienpraktischen Rückbezügen arbeitet auch der Beitrag von ASTRID DEUBER-MANKOWSKY. Sie entwirft entlang des Projekts «#100hardtruths-#fakenews: A primer on digital media literacy» von Alexandra Juhasz mögliche Antworten auf die Frage, wie ein Denken mit dem Internet in und nach Fake News möglich ist. Juhasz begegnet den sogenannten alternativen Fakten der US-Regierung während deren ersten hundert Amtstagen mit jeweils hundert Wahrheiten über das Internet und wählt damit eine konstruktive Auseinandersetzung mit den Möglichkeitsbedingungen statt einer direkten Konfrontation mit der Fabrikation von Falschmeldungen. Die Ausbildung derartiger Informationsumgebungen diskutiert Deuber-Mankowsky mithilfe von Isabell Stengers Ökologie der Praktiken. Stengers bestimmt Denken als eine Praxis, die eine Relation zwischen Gehören-zu (belonging) und Werden (becoming) stiftet. Eine Ökologie der Praktiken weise insofern einen Ausweg aus dem Diskurs der Fake News, da sie helfe, Denkgewohnheiten zu ändern und den Praktiken so ein neues Habitat bereitzustellen – ein Habitat, wie es sich exemplarisch in Juhasz’ Online-Projekt entwickelte.

In seinem Beitrag zum Genre der Fake-Dokumentation setzt sich ANDREAS SUDMANN mit einem weiteren ästhetischen Zugang zu Fragen des Faktischen auseinander. Fake-Dokus erweisen sich hier als zweifach interessant: Zum einen werden sie gemeinhin als hybride, repräsentationskritische Erzählform zwischen den Polen des Spiel- und Dokumentarfilms verstanden, die mit Mitteln der (übertriebenen) Konstruktion auf die Gemachtheit des Mediums Film hinweist. Andererseits hinterfragt der Beitrag jedoch diese verbreitete Zuschreibung kritisch und zeigt auf, wie sich jene häufig als repräsentationskritisch qualifizierte Form des filmischen Erzählens strukturell aufhebt und damit systemisch nicht unbedingt zu einer Krise der Repräsentation im Sinne eines deleuzianischen Projekts, sondern zur Krise der Repräsentationskritik selbst beiträgt.

Zuletzt untersucht HANNAH ZINDEL frühe Stadtklimastudien in Windkanälen und zeigt dabei auf, wie in den 1960er und 1970er Jahren mit einer Wissenspraktik operiert wird, die sich als analoge Simulation bezeichnen lässt. Mit anderen Formen der Simulation teile diese eine konstitutive Ungenauigkeit: Ihre Ergebnisse figurierten eine veränderte Form von Faktizität jenseits binärer Unterscheidungen von wahr und falsch. Als Medientechniken der Verarbeitung und Erzeugung von Stadtklimadaten und als Medientechniken der Planung urbaner Gestaltung implementieren Windkanäle Zindel zufolge den epistemischen Status analoger Simulationen in einer zunehmend institutionalisierten Stadtklimaforschung und prägen deren Wissen über das Verhältnis von Stadt und Klima eminent mit.

Und damit lässt sich jene noch umfassendere epistemologische Umstellung nachvollziehen, die den in diesem Schwerpunkt angesprochenen Status von Faktizitäten im Spannungsfeld von Medien, Wissenschaft und Politik betrifft. Denn vielleicht steht tatsächlich nicht mehr so sehr die moderne Unterscheidung von Erkenntnis und Erkenntnisgegenstand zur Debatte, sondern sind die Effekte neuer Medientechnologien zu diskutieren, die nicht mehr auf Objekterkenntnis, sondern auf Mustererkennung als vorherrschende Erkenntnisform setzen. Es handelt sich, so Armin Nassehi, um Informationsformen, die ihre zugehörigen Fragen erst während der Auswertung von Daten generieren, die nicht für die entsprechende Fragestellung erhoben wurden.46 Und damit wüssten wir nicht mehr nur alles, was wir wissen, durch Medien. Sondern Medien wüssten auch das, was wir wissen wollen könnten, von dem wir aber nicht wissen können. Daher gilt es umso mehr, das Fragen zu wagen.

EVA SCHAUERTE, SEBASTIAN VEHLKEN

1 Letzterer Begriff geht zurück auf die satirische Late-Night-Show von Stephen Colbert: The Colbert Report, Comedy Central, USA 2005–2014.

2 Vgl. z. B. die Fact-Check-Abteilung der New York Times (nytimes.com/spotlight/fact-checks) oder die gemeinnützige Rechercheplattform Correctiv (correctiv.org), gesehen am 18.7.2018.

3 Vgl. Harry G. Frankfurt: On Bullshit, Princeton 2005.

4 Vgl. Ulrich Ladurner: Stadt der Lügner, in: Die Zeit, Nr. 52, 18.12.2016, online archiviert unter hdl.handle.net/11346/KWZW, gesehen am 18.7.2018.

5 Neil MacFarquhar: Inside the Russian Troll Factory: Zombies and a Breakneck Pace, in: The New York Times, dort datiert 18.2.2018, nyti.ms/2C6RZoE, gesehen am 18.7.2018.

6 Vgl. z. B. The Guardian: The Cambridge Analytica Files, online unter theguardian.com/news/series/cambridge-analytica-files, gesehen am 20.6.2018.

7 Vgl. Bernhard Pörksen: Die große Gereiztheit: Wege aus der kollektiven Erregung, München 2018, 50.

8 Vgl. z. B. Eli Pariser: Filter Bubble: Wie wir im Internet entmündigt werden, München 2012.

9 Vgl. z. B. Ralph Keyes: The Post-Truth Era, New York 2004.

10 Vgl. Oxford Dictionaries: Word of the Year 2016 is…, en.oxforddictionaries.com/word-of-the-year/word-of-the-year-2016, gesehen am 20.6.2018.

11 Vgl. z. B. N.N.: First Person Convicted under Malaysia’s Fake News Law, in: The Guardian, dort datiert 30.4.2018, theguardian.com/world/2018/apr/30/first-person-convicted-under-malaysias-fake-news-law, gesehen am 20.6.2018; N.N.: EU Anti-propaganda Unit Gets €1M a Year to Counter Russian Fake News, in: The Guardian, dort datiert 25.11.2017, theguardian.com/world/2017/nov/25/eu-anti-propaganda-unit-gets-1m-a-year-to-counter-russian-fake-news, gesehen am 20.6.2018.

12 Peter Strohschneider: Über Wissenschaft im Zeitalter des Populismus, Rede auf der Jahresversammlung der DFG am 4.7.2017, online unter dfg.de/download/pdf/dfg_im_profil/reden_stellungnahmen/2017/170704_rede_strohschneider_festveranstaltung.pdf, gesehen am 20.6.2018. Vgl. auch Armin Nassehi: Zu Fakten gibt es oft eine Alternative, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.6.2017, N 4; Aktuelle Publikationen zum Themenfeld umfassen u. a. Melissa Zimdars, Kembrew McLeod (Hg.): Fake News. Understanding Media and Misinformation in the Digital Age, Cambridge 2018; Zeitschrift für Medienphilosophie und Kulturtechnikforschung, Nr. 9/2, 2018: Alternative Fakten (in Vorbereitung); Günter Blamberger, Axel Freimuth, Peter Strohschneider (Hg.): VomUmgang mit Fakten. Antworten aus Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, Paderborn 2018; Karsten Könnecker (Hg.): Fake oder Fakt? Wissenschaft,Wahrheit, Vertrauen, Berlin, Heidelberg 2018; Daniel J. Levitin: Weaponized Lies: How to Think Critically in the Post-truth Era, New York 2017; Brian McNair: Fake News: Falsehood,Fabrication and Fiction in Journalism, London, New York 2017; Bruce McComiskey: Post-Truth Rhetoric and Composition, Boulder 2017; Michael A. Peters u. a.: Post-Truth, Fake News: Viral Modernity & Higher Education, Springer 2018.

13 Vgl. Pörksen: Die großeGereiztheit, 40 f.

14 Philipp Felsch, Lorraine Daston, Georg Mascolo: Welchen Fakten können wir trauen?, in: Philosophie Magazin, Nr. 3, 2017, 62.

15 Vgl. Lorraine Daston: Fear and Loathing of the Imagination in Science, in: Daedalus, Vol. 134, Nr. 4, 1998, 16–30, hier 18. Vgl. auch dies., Peter Galison: Objektivität, Frankfurt/M. 2017. Zur Differenzierung von Daten und Fakten vgl. z. B. Daniel Rosenberg: Data before the Fact, in: Lisa Gitelman (Hg.): Raw Data is an Oxymoron, Cambridge, London 2013, 15–40.

16 Vgl. François Raffoul, Eric Sean Nelson: Introduction, in: dies. (Hg.): Rethinking Facticity, Albany 2008, 2–4.

17 Jean-Luc Nancy: Das Vergessen der Philosophie, Wien 2010, 96.

18 Vgl. Martin Doll: FälschungundFake.ZurdiskurskritischenDimension des Täuschens, Berlin 2015.

19 Vgl. ebd., 21.

20 Ebd., 24.

21 Ebd., 13.

22 Nick Srnicek: Navigating Neoliberalism: Political Aesthetics in an Age of Crisis, Vortrag auf der Tagung The Matter of Contradiction:Ungrounding the Object, Vassivière, 8.–9.9.2012.

23 Vgl. z. B. Felsch, Daston, Mascolo: Welchen Fakten können wir trauen, 60.

24 Vgl. z. B. Kevin Young: Bunk: The Rise of Hoaxes, Humbug, Plagiarists, Phonies, Post-facts, and Fake News, Minneapolis 2017.

25 Vgl. Jörg Schindler: Die toten Häuser von London, in: Der Spiegel, Nr. 24, 2018.

26 Der Begriff ist entlehnt von Allan Sekula: Photography and the Limits of National Identity, in: Culturefront, Vol. 2, Nr. 3, 1993, 54 f. Er wird ausführlich thematisiert in Thomas Keenan: Counter-Forensics and Photography, in: Grey Room, Vol. 55, 2014, 58–77. Die Arbeit der Agentur erlangte durch eine Reihe von TV-Berichten und durch Ausstellungen auf der documenta 14, der 15. Architekturbiennale Venedig 2016 oder im ICA London Bekanntheit.

27 Adam Branson: Forensic Architecture: Using Technology to Expose Injustice, in: The Architect’s Journal, 26.4.2018, hdl.handle.net/11346/XFGC, gesehen am 18.7.2018.

28 Ebd.

29 Alexander R. Galloway: The Interface Effect, Cambridge 2012, 81.

30 Vgl. Srnicek: Navigating Neoliberalism.

31 Edwin Heathcote: How Forensic Architecture is Using Technology to Uncover Injustice, in: British GQMagazine, 28.4.2018.

32 Frederic Jameson: Cognitive Mapping, in: Marxism and the Interpretation of Culture, hg. v. Lawrence Grossberg u. Cary Nelson, Chicago 1990, 347–360.

33 Heathcote: Forensic Architecture.

34 Vgl. Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1997.

35 Vgl. Mladen Gladic: Schmutz im Licht, in: Der Freitag, Nr. 24, 2018.

36 Vgl. Hito Steyerl: Ungeschaffene Wahrheit. Produktivismus und Faktographie, dort datiert März 2009, eipcp.net/transversal/0910/steyerl/de, gesehen am 20.6.2018.

37 Ein sprechendes Beispiel ist hier das frühe Blasenkammer-Simulationsprogramm FAKE in der US-Teilchenforschung. Vgl. Gerald Lynch: Program FAKE: Monte Carlo Simulation of Bubble Chamber Events, University of California Lawrence Radiation Laboratory, Berkeley 1962, publications.lbl.gov/islandora/object/ir%3A137337/, gesehen am 29.6.2018. Dank an Arianna Borelli für diesen Hinweis.

38 Georg Jellinek: Allgemeine Staatslehre, Kronberg 1976 [1900], 338 ff.

39 Hannah Arendt: Die Lüge in der Politik, in: dies.: Wahrheit und Lüge in der Politik, München 2017, 7–42, hier 8.

40 Ebd., 19.

41 Hannah Arendt: Wahrheit und Politik, in: dies.: Wahrheit und Lüge, 44–92, hier 55.

42 Vgl. Bertolt Brecht: Über die Wiederherstellung der Wahrheit, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 20, Frankfurt/M., 1967, 191–198.

43 Branson: Forensic Architecture.

44 Vgl. z. B. Matthew Haag: Sandy Hook Parents Sue Alex Jones for Defamation, in: The New York Times, dort datiert 17.4.2018, nyti.ms/2JQPuaA, gesehen am 20.6.2018.

45 Vgl. z. B. Ned Rossiter: Paranoia is Real: Algorithmic Governance and the Shadow of Control, in: Media Theory, Vol. 1, Nr. 1: Manifestos, 2017.

46 Vgl. Nassehi: Zu Fakten gibt es oft eine Alternative.

BENJAMIN PETERS

VORSICHT VOR DER THEORIE DER VERSCHWÖRUNGSTHEORIE!1

Verschwörungstheorien sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sie ruinieren Leben und vergiften das Vertrauen der Öffentlichkeit in rechtmäßige Verfahren. Zerstörerischer als die Verschwörungstheorien selbst wirken jedoch ihre beiden Bestandteile – die tatsächlichen Verschwörungen einerseits und die Arbeit der Theorie andererseits. Dem ersten Punkt wird man wohl einvernehmlich zustimmen: Viele moderne Institutionen – angefangen beim staatlichen Einsatz von Informations- und Geheimdiensten über den investigativen Journalismus und die Erziehung zu kritischem Denken im Bildungssektor bis zur Ausbildung sogenannter Wissensindustrien in der Wissenschaft – teilen das gemeinsame Engagement, tatsächliche Verschwörungen an der Wurzel zu packen und zu erodieren. Dem zweiten Punkt hingegen wird gemeinhin weniger Aufmerksamkeit gewidmet: nämlich der weitreichenden Macht von Theorie selbst. Vielleicht liegt die größte Gefahr von Verschwörungstheorien in ihrer ausgeprägten kognitiven Anziehungskraft – einer Kraft, die bei näherer Betrachtung auch die ultimative Schwäche von Theorie offenbart, nämlich ihre Beweislosigkeit. Im Folgenden geht es allerdings nicht um eine allgemeine Kritik der Theorie (und ihre Differenzierung von der Philosophie). Vielmehr möchte dieser kurze und spekulative Essay den Möglichkeitsbedingungen einer solchen Kritik nachgehen.

Angesichts des Umfangs der dabei zur Sprache kommenden Beispiele von den Pythagoräer_innen bis zu #pizzagate werden die medien- und kommunikationstheoretischen Bezüge dabei schlank gehalten, auch wenn einige Passagen auf medientheoretische Meilensteine verweisen mögen, die Erkenntnisse aus den problematischen und oft porösen Grenzen zwischen sozialpsychologischen Ordnungen und Störungen ziehen. Während Verschwörungsdenken nicht unbedingt pathologisch ist, werden dessen Argumentationsstrukturen seit der Aufklärung und ihr Versuch der Trennung von allgemeinen Vernunftprinzipien und privatem Wahnsinn oft als paranoid dargestellt. Die prominenteste Fallstudie ist natürlich Daniel Paul Schrebers Autobiografie DenkwürdigkeiteneinesNervenkranken,2 deren begründeter Wahnsinn Sigmund Freud, Michel Foucault, Elias Canetti, Walter Benjamin oder Friedrich Kittler anregte.3 Weitere Theoretiker wie Gregory Bateson, R. D. Laing, Gilles Deleuze und Félix Guattari oder in jüngerer Zeit Amit Pinchevski haben gezeigt, wie Darstellungen von psychischen Erkrankungen und insbesondere der Schizophrenie zeigen, das normale Standards für soziales Verhalten das Abnormale oftmals enthalten und von ihm untergraben werden.4 Diese Erkenntnis gilt auch im größeren Rahmen: Richard Hoftstadters emblematischer Essay «The Paranoid Style in American Politics»5 und Hadley Cantrils berühmte Studie zur Psychologie von Panik6 normalisieren und kritisieren die amerikanische Öffentlichkeit als paranoid. Jefferson Pooley und Michael J. Socolow argumentieren jedoch überzeugend, dass Cantril dabei die Wirkung und den Grad der Panik bei der berüchtigten Radiosendung von Orson Welles’ War of the Worlds im Jahr 1938 übertrieben hat.7 Kurzum: Medientheoretiker_innen – ganz gleich ob eher mit literarisch-kritischer oder sozialwissenschaftlicher Perspektive – profitieren seit Langem von der Kernübung dieses Aufsatzes: der kritischen Reflexion über die unbequemen Mittel, mit denen öffentliche Behauptungen legitimiert oder für unrechtmäßig erklärt werden.

Philolaos, ein bekannter Pythagoräer, war – im Wortsinne – etwas weitsichtiger als seine Zeitgenoss_innen im alten Griechenland. Im Gegensatz zu vielen anderen lehnte er das damals verbreitete geozentrische Weltbild ab und proklamierte die Zentrierung des Erdorbits in Bezug auf einen Mittelpunkt, den er «Hestia» nannte, das große Feuer. Er gab auch dem kontinuierlichen Fluss von Schall Kontur, indem er die Schwingungsverhältnisse in musikalischen Intervallen entdeckte: Oktave (2:1), Quinte (3:2) und Quarte (4:3). Und es waren gerade solche empirisch verifizierbaren Beobachtungen, die sein Nachdenken über ein kosmologisches Ganzes antrieben, welches – so seine Behauptung – nur aus zwei Arten von Dingen bestehe: den unbegrenzten Dingen (Kontinua, Flussphänomene etc.) und den begrenzenden Dingen (Struktur, Schwellen, Brüche). Unbegrenzte und begrenzende Dinge stünden stets in einem Verhältnis zueinander, so dass sich die gesamte Natur für Philolaos in einer Harmonie von Zahlen ausdrückte: «All things that are known have number», behauptete er, «for without this nothing whatever could possibly be thought of or known».8

Philolaos war kein Verschwörungstheoretiker, dennoch lag er bei den meisten Details seiner Annahmen daneben. Mit anderen Worten ließen ihn seine Theorien über das hinausblicken, was tatsächlich zu sehen war – ein Phänomen, das wohl auf alle Theoretiker_innen zutrifft. Es stimmt einfach nicht, dass sich alle uns bekannten Dinge einer Zahl zuordnen lassen (nirgendwo existiert eine oder bedarf es einer kompletten Durchmusterung aller, sagen wir, Lilien, Wolken oder emotionalen Verbindungen zwischen Liebenden). Und ebenso wenig gilt im Umkehrschluss, dass wir alle Dinge (er)kennen, die durch eine Zahl ausgedrückt werden (man denke nur an den riesigen Ozean unverarbeiteter Daten, auf denen unsere heutigen medialen Environments treiben). Und auch Philolaos’ Modell des Sonnensystems steht im Widerspruch zu modernen astronomischen Beobachtungen: Es gibt nicht zehn Planeten (eine kosmische Zahl für ihn), der Mond wird nicht von gewaltigen Tieren bewohnt, und auf der gegenüberliegenden Seite des Orbits gibt es auch keine sich ebenfalls um die Sonne drehende Gegen-Erde. Dennoch gebührt Philolaos Anerkennung dafür, in einer Weise falsch gelegen zu haben, die von anderen Phytagoräer_innen korrigiert werden konnte. Sein Verdienst liegt in der Tatsache, dass seine Theorien nicht wahr oder falsch, sondern durch Beweise falsifizierbar waren. Heute sind die allermeisten Theorien verifizierbar, manche gar falsifizierbar; und eben dies gilt nicht für die allermeisten Verschwörungstheorien. Trotzdem teilen Theorie und Verschwörungstheorie eine Gemeinsamkeit: Alle Theoretiker_innen, und damit ist der oder die Verschwörungstheoretiker_in eingeschlossen, benutzen Theorie, um über das Evidente hinauszusehen. Der Begriff der Theorie – abgeleitet vom griechischen θεωρία (theōría), das den Vorgang des Betrachtens, Anschauens und Überlegens bezeichnet – beschreibt eine Weise, die Welt in neuem Licht zu betrachten, selbst wenn diese Welt (oder das Ding an Sich), wie Kant einwenden würde, stets in Teilen verborgen bleibt.9 Während die Empirie den oder die Theoretiker_in auffordern würde, seine_ihre Vision mit neuen Faktenmustern abzugleichen, hat die Theorie selbst keinen notwendigen Bezug zu Fakten. Theoretisieren heißt, weiter zu sehen, als es die Fakten erlauben.

Lassen Sie uns nun ein wenig vorspulen zu einer Rätselfrage, die unlängst im Kontext der US-amerikanischen Politik kursierte: Welcher US-Präsident wurde Ihrer Meinung nach angeklagt, ein in Kenia geborener Antichrist, heimlicher Muslim und reptilienhafter Marsianer zu sein, der seinen pakistanischen Ehemann in einer Schwulenorgie umgebracht habe, bevor er seine transsexuelle Ehefrau heiratete – und aus welchem Grund? All diese Anwürfe sind offensichtlich völliger Unsinn: Zukünftige Historiker_innen werden – im Gegensatz zu einer Reihe hier nicht genannter Online-Foren – keinerlei Anhaltspunkte dafür finden, dass es sich dabei um begründbare Behauptungen gegen irgendeinen US-Präsidenten handelte, schon gar nicht gegen Barack Obama. Nichtsdestotrotz könnte ein_e zukünftige_r Theoretiker_in erkennen, was dieser Liste von Behauptungen gegenüber der Religion (christlich), Nationalität (USA), sexuellen Orientierung (hetero), Geschlecht (männlich), Moral (nicht mordlüstern), Spezies (menschlich) und Herkunftsplanet (Erde) entgeht – nämlich ausgerechnet jene Eigenschaft, die öffentlich Obamas Minderheitenstatus markiert: seine afroamerikanische Abstammung. Mit anderen Worten braucht es dort, wo ein_e zukünftige_r Historiker_in zwar genügende und erdrückende empirische Belege für einen verbreiteten Rassismus in den USA finden wird, dennoch eine_n zukünftige_n Theoretiker_in um zu erkennen, was ungenannt bleibt in diesen unerhörten Äußerungen: dass die Gegner von Präsident Obama durch die Verbreitung derartiger Theorien dem tabuisierten Eingeständnis ausweichen, Afroamerikaner_innen in Machtpositionen schlichtweg nicht zu vertrauen. Stattdessen streuen sie ihre diversen Behauptungen, warum dieser bestimmten Person, die zufällig auch schwarz ist, nicht zu vertrauen ist, und eröffnen sich damit Möglichkeiten zur Theoretisierung – denn die Theorie ist unendlich kreativ in ihrer Rechtfertigung. Die Supermacht der Theorie kehrt sich hier in deren größte Schwäche um: Theorie lässt uns so weit blicken, bis wir irgendwann sehen, was nicht da ist.

Was kann man nun aus diesem ebenso altertümlichen wie modernen Über-Sehen lernen? Verschwörungstheorien benötigen keine Konventionen von wahr oder falsch, um zu gedeihen – sie müssen einfach nur unsere bevorzugten kognitiven Vorurteile bedienen und anregen. Philolaos, ein Fan von Verhältnissen, fand den Himmel von diesen übersät, ebenso wie Bewerber_innen um politische Ämter genau jene Dämonen bekämpfen, die sie in ihren Gegner_innen identifizieren und die sie auszutreiben versprechen. In Russland ist es z. B. unter Geschäftsleuten mit politischen Ambitionen gang und gäbe zu behaupten, alle Politiker_innen seien korrupt, was es im Umkehrschluss leichter für Seiteneinsteiger_innen wie sie selbst macht, bereits amtierenden Mitstreiter_innen den Sitz zu entreißen.10

Die Unterstellung von Verschwörungen, welche auf das Unterdrücken von Beweisen abstellt, gedeiht am besten auf dem Nährboden der von ihm selbst geschaffenen Unsicherheit: Im Laufe des US-Präsidentschaftswahlkampfs 2016 wurde etwa im Kontext der sogenannten #pizzagate-Verschwörung behauptet, die Demokratische Partei betreibe einen Kinderpornoring im Keller einer Pizzeria in Washington, D. C. Auch wenn es natürlich keinerlei Beweise für diese Behauptung gab, hatte diese eine höchst moralische Schlagkraft, einfach nur, weil sie theoretisch denkbar war, ganz gleich ob wahr oder falsch:11 Wer in aller Welt würde Personen, die Kinderpornografie betreiben, an die Macht wählen? Wäre die Verschwörung wahr, wäre es moralisch verwerflich, öffentliche Beamte_innen zu unterstützen, die sich derartiger Machenschaften schuldig erwiesen. Die Gefahr von #pizzagate liegt im hypothetischen Charakter ihrer perversen Anschuldigung: Niemand würde sich theoretisch einer solchen Lage entgegenstellen – wenn sie wahr wäre.

Wie viel vernunftgeleiteter Zweifel wird zurückgehalten von dem Pulverfass ‹was wäre wenn›? Schon ein einziges ‹wenn› kann genügend explosive Möglichkeit verdichten, um die Welt an den Abgrund zu führen. Hypothetizitäten können sich selbst außer Kontrolle bringen: Was wäre, wenn Präsident Trump eines Nachts, machttrunken und um sein ebenso massives wie fragiles Ego zu pflegen, in seinen Fieberträumen tatsächlich zum Atomkoffer griffe? Was wäre, wenn sich die Schuld am korrupten Herzen Amerikas zu großen Teilen der russischen Einmischung in die Präsidentschaftswahl zuschieben ließe? Was wäre, wenn es wahr wäre? Die außergewöhnliche Macht der Theorie liegt darin, dass sie den Geist anregt und die Grenzlinie zwischen dem Denkbaren und dem Begehrenswerten verwischt; und natürlich ist in der Politik (oder in dem, was Richard Hofstadter eine «arena of angry minds» nennt)12 das Begehren beunruhigend hoch – es ist quasi identitätsstiftend –, sich immerzu seinen Gegner_innen entgegenzustellen.

Eine Theorie ist stets nur so gut wie die Beweise, die ihre kühnsten Thesen eingrenzen. Im Gegensatz dazu sind Theorien, die in Ermangelung von Beweisen gedeihen, so machtvoll, weil ihre Behauptungen in einer Weise strukturiert sind, die eine Überzeugung von ihrem Gegenteil möglichst erschweren. Doch diese Wirkmacht ist zugleich auch ihre sie zersetzende Schwäche, denn mittels Theorie allein kann man bloße Verschwörungstheorien und tatsächliche Verschwörungen nicht voneinander unterscheiden. Wenn eine Person z. B. behauptete, sie oder er sei so intelligent, dass kein externer Test dies messen könne, so schön, dass nur jemand mit weiter entwickelten Sinnesorganen dies wahrnehmen könne, oder derart mächtig, dass sie oder er sogar diesen bedeutenden Einfluss zu verbergen imstande sei, so würde eine solche Behauptung nichts als Nonsens darstellen – abgesehen vielleicht von einer Situation, die als präventiver Protest gegen jene gemeint wäre, die sie oder ihn als dumm, hässlich oder machtlos bezeichnen würden. Oder nehmen wir jenen Zirkelschluss einer US-Regierung, welche die Bezeichnung ‹Verschwörungstheorie› in einer Weise popularisiert, die gerade jene Akteur_innen diskreditiert, die daran arbeiten, ihre vielen tatsächlichen Verschwörungen ans Licht zu bringen. Getreu dem Motto: Gäbe es diese tatsächlich, so sollten eben kaum oder gar keine Beweise existieren, die dies stützen würden. Letztlich kann eine nicht falsifizierbare Behauptung nie das bedeuten, was sie aussagt – sie bedeutet stets weniger und mehr. Man ist versucht, das empiristische Credo hochzuhalten: Glaube nicht, was nicht getestet werden kann.

Solch ein hartgesottener empirischer Realismus mag in gewisser Weise zwar oftmals dem ‹gesunden Menschenverstand› entsprechen, ist jedoch ebenfalls ungeeignet, um den Druck aus dem Kessel zu nehmen, den die Theorie in der Verschwörungstheorie erzeugt. Verschwörungstheorien tun viel mehr als bloß nicht überprüfbare Behauptungen aufzustellen: Sie fungieren als eine modische moderne Folklore, sind ein sprachliches Gewand, aus dem eine wissenschaftlich klingende Tracht für eine Narration von Gruppenidentität gewebt werden kann, die lediglich auf der Gegnerschaft zu anderen Gruppen beruht. In diesem Diskursgewebe rühmt sich dann eine Gruppe ihres Wissens über das geheime Wissen ihrer Gegner_innen, und dies führt zu endlosen Gegenüberstellungen von ‹uns› und ‹denen› (anbei sei bemerkt: Die Verwendung des universellen ‹wir› in diesem Beitrag ist sowohl intendiert als auch problematisch). Gruppen, die sich auf Kosten anderer Gruppen definieren, stellen sich ihre jeweiligen internen Experten_innen als hehre Ritter des Wissens vor, die in den Kampf gegen fremde Bedrohungen ziehen, die sich aus vier möglichen Richtungen nähern könnten, wie der Publizist Jesse Walker bemerkt: Er unterscheidet den «Feind von oben» (z. B. King George, der seine Kolonien mit ruinösen Steuern belegt), den «Feind von unten» (z. B. das Proletariat, das den König stürzen will), den «Feind von außen» (z. B. sowjetische Spione), und den «Feind von innen» (z. B. ‹Kommunisten› in der McCarthy-Ära).13 In Wahrheit gibt es natürlich wirklich Feind_innen in der Welt, allerdings kaum jene, die Walker benennt – und wir müssen uns darüber klar werden, dass der gemeinsame Feind allen modernen Forschens nicht die Gegner_innen selbst, sondern die falschen Behauptungen über diese sind.

Wenn also das Etikett ‹Verschwörungstheorie› ein Element moderner Folklore für die Konstruktion gelehrter Gruppenidentität ist, dann markiert die Theorie der Verschwörungstheorie einen beachtlichen Widerspruch innerhalb der Mythologien modernen Forschens: Denn eine Behauptung mit dem Begriff einer ‹Verschwörungstheorie› zu versehen, hat oftmals den ungewollten Effekt fortgesetzten Verschwörungstheoretisierens. Setzt man Verschwörungstheoretiker_innen mit jenen gleich, die für nicht falsifizierbare Theorien eintreten, dann führt der Versuch, etwaige Behauptungen durch das Geißeln von Mitgliedern der von ihnen überzeugten Community als Verschwörungstheoretiker_innen zu delegitimieren, gerade zur Legitimation der innergemeinschaftlichen Überzeugung, man besitze bestimmte geheime (und d. h. zulässigerweise nicht falsifizierbare) Erkenntnisse. Anstatt eine verstärkte Skepsis gegenüber Verschwörungstheoretiker_innen zu schüren, rechtfertigt die Forderung nach strenger Empirie lediglich die Selbstwahrnehmung einer solchen Gruppe, außergewöhnliche Erkenntnisse zu hüten. Solche Beschuldigungen vergiften den Brunnen der Theoriegemeinschaft, liefern genau den Widerstand, den die Gemeinschaft braucht, um ihre eigenen Erzählungen über die Opferrolle zu rechtfertigen, und stellen die Legitimität jedes Gegenarguments in Frage, bevor es gemacht werden kann. Bestenfalls also ein unfairer Schachzug, macht die Bezeichnung ‹Verschwörungstheorie› ihr Zielobjekt – eine Theoriegemeinschaft – auf eine vorwissenschaftliche Weise unwissenschaftlich.

Die Auflösung dieses Widerspruchs liegt nicht im strikten Misstrauen der Empirie gegenüber der Theorie, auch wenn Falsifizierbarkeit, Wirklichkeitsnähe, Verifizierung und andere Standards bei allem Ungenügen wichtig bleiben. Wenn Falsifizierbarkeit als Goldstandard für die Differenzierung von Wissenschaft und Verschwörungstheorie Geltung haben sollte, dann müssten viele Gelehrte umgehend auch die von ihnen bevorzugten nicht falsifizierbaren Theoriegebäude in die hinteren Winkel der Regale verfrachten, ganz gleich, welche nützlichen Erkenntnisse sie auch bringen mögen. Beispielsweise finden sich im Zusammenhang mit dem Marx’schen falschen Bewusstsein, der Freud’schen Psychoanalyse oder der Lacan’schen Dekonstruktion haufenweise nicht falsifizierbare Ansätze zur kritischen Lektüre. Und um die Qualia, aus denen sich die Erfahrung der Dichtung, der Künste und anderer Inspirationsquellen speist, wäre es angesichts eines solch strikten Standards kaum besser gestellt. Kurzum: Das Verwerfen jedweder nicht falsifizierbaren Quelle wäre sicherlich ein viel zu hoher Preis, als dass ihn Wissenschaftler_innen in den Geistes- und Sozialwissenschaften zu zahlen bereit wären, die sich u. a. ja auch gerade für das Gedeihen und die öffentliche Anerkennung der Humanwissenschaften einsetzen.

Stattdessen wollen wir über jene Lichtschimmer reflektieren, die hier und da durch kritische Risse in den Methoden moderner Forschung fallen. Viele Verschwörungstheoretiker_innen lassen sich nur schwer unterscheiden von den hingebungsvollsten, gar obsessiven, wissenschaftlichen Forscher_innen: Sowohl wissenschaftliche Empirist_innen als auch Verschwörungstheoretiker_innen widmen sich der Zusammenstellung oder Filterung extrem komplexer und detaillierter Aufzeichnungen, gehen unerwarteten kausalen Verbindungen nach und fördern einen tieferen Sinn aus zuvor scheinbar unbedeutenden Einzelheiten hervor. Weder die eine noch die andere Gruppe kann im Vorhinein einschätzen, ob ihre favorisierte Theorie aufgrund zu großer Simplizität oder Komplexität experimentell scheitern wird (Verschwörungstheorien werden oftmals verworfen, weil ihre Erklärungen zu dürr oder zu blumig erscheinen). Und beide Seiten beglückwünschen sich selbst zu ihrer eigenen Aufgeschlossenheit und Vorurteilsfreiheit, die sie der anderen Gruppe zugleich absprechen: Verschwörungstheoretiker_innen verorten diese Offenheit in Bezug auf die Möglichkeit, dass ihre Lieblingstheorie zutrifft. Auf der anderen Seite sind Anhänger_innen eines auf Falsifizierbarkeit bauenden Empirismus offen für jede Art von Behauptung, die durch Beweise gestützt werden kann. In der Konsequenz schließt die eine Offenheit die andere gerade als Engstirnigkeit aus und andersherum. Und ebenso wie Verschwörungstheoretiker_innen anderen Ansichten die ‹Wahrheit› absprechen, geschieht dasselbe durch die Verwendung des Labels ‹Verschwörungstheorie›. Wie im Fall des anderen großen zweischneidigen Begriffs ‹Fake News› und weiterer Phänomene innerhalb des Zerrspiegelkabinetts der Online-Troll-Unkultur produziert dies eine eigenartige Rückkopplungsschleife: Jeder Gruppe, die eine andere Gruppe für deren Ächtung anderer Gruppen ächtet, wird dies bei der Beanspruchung einer entweder methodologischen oder moralischen Überlegenheit auf die Füße fallen.

Selbstverständlich bedeutet der Appell zum Verzicht auf den Vorwurf der Verschwörungstheorie nicht einen Verzicht auf kritisches Denken. Natürlich soll Nonsens auch weiterhin als solcher bezeichnet werden können. Dies ist berechtigt und notwendig. Bloß sollten Wissenschaftler_innen und Studierende nicht lediglich die Kardinalsünde spiegeln, die sie den Verschwörungstheoretiker_innen vorwerfen, nämlich sich gegen eine Welt wissenschaftlicher Beweise zu stellen. Wissenschaftliche Communitys, die mit den Fallstricken von Verschwörungstheorien um sich werfen, führen dabei lediglich jene schrillen und beschränkten Identitätspolitiken wieder auf, wie wir sie aus Diskussionen rund um Fragen nach Geschlechtlichkeit oder race in Online- und Offline-Echokammern und -Filterblasen hinlänglich kennen.14 Vielleicht wachsen Identitätsgemeinschaften, welche auch immer, am besten auf dem Boden der Erfahrung.

Statt eine_n Verschwörungstheoretiker_in bloß mit dem entsprechenden Label zu versehen, sollten wir vielleicht die oder den dabei in Frage stehende_n Theoretiker_in um eine ausführliche Auskunft über die eigenen Versuche bitten, ihre oder seine aussagekräftigsten Theorien zu widerlegen. Wir müssten vielleicht zugeben, dass moderne Forschung auf der tautologischen Figur beruht, dass jedwede Annahme, die von der Abwesenheit von Beweisen profitiert, illegitim sei – was, wie so unterschiedliche Wissenschaftsphilosophen wie Karl Popper15 und Paul Feyerabend16 klargestellt haben, eine nicht hinreichend gerechtfertigte Annahme ist. Genau diese fundamentale Begrenztheit moderner Forschung – dass nämlich Wahrheit Beweisen folgt, die Theorien eingrenzen, nicht Theorien, die Beweise eingrenzen – liefert Grund zur Hoffnung: Denn diese Begrenztheit macht deutlich, dass das verlockende Festmahl der modernen Forschung viele Gänge hat, bevor es zum Ende kommt. Das probate Gegenmittel zu Verschwörungstheorien ist kein betonköpfiger Empirismus, sondern es sind jene selbstbewusst eingeschränkten Theoretiker_innen, die, Josiah Royce folgend, anerkennen, dass der übergreifende Zweck von Theorie in der Aufrechterhaltung von Forschungscommunitys und ihrer gemeinsam geteilten Standards von kritischer Begutachtung und Beurteilung besteht.17

Und so lässt sich schließlich festhalten, dass die Theorie der Verschwörungstheorie jedwede Theorie ist, die sich von solch einer Welt der Beweise abkoppelt – von einer Welt, die umfassender als das eigene Weltbild sein muss und die damit eingrenzbar ist. Wenn das außerordentliche Versprechen der Theorie darin besteht, uns über das, was ist, hinaussehen zu lassen, dann leitet uns eine nachhaltige Theoriepraxis, die sich an einem Abschwächen und Abwägen mittels Beweisen orientiert, vielleicht dazu an, weniger und nicht mehr zu erkennen, als uns die Theorie anfangs sehen ließ. Die Theorie frei fließen zu lassen, von Philolaus bis #pizzagate, wird uns sicher in den septischen Gewässern unserer eigenen unkontrollierten Vorurteile versinken lassen. «Verschwörungstheorie» ist nicht nur das Stigma, mit dem moderne Menschen andere versehen, weil sie die Theorie zu ernst nehmen – es ist ein Blick auf jene Küste voller Schiffswracks, die alle modernen Forscher_innen verwirrt, die ihr Handwerk zu sehr am Sirenengesang der Theorie ausrichten. Vorsicht also vor der Theorie der Verschwörungstheorie, denn die unermesslichen Gipfel der Theorie allein sind schwindelerregend und gefahrvoll. Es ist gerade unsere moderne Neigung, unseren eigenen Theorien zu glauben, ohne anzuerkennen, dass wir vielleicht schon jetzt auf der falschen Seite der Geschichte stehen, die eine solche Theorie isoliert. Vorsicht vor der Theorie der Verschwörungstheorie, mit der die Folklore der Vorurteilsbestätigung im Gewand moderner Wissenschaft daherkommt – denn hier expliziert sich nicht weniger als eine der gefährlichsten und machtvollsten Geschichten, die sich die Moderne selbst erzählt.

Aus dem Englischen von Eva Schauerte und Sebastian Vehlken

1 Dieser Text ist die deutsche Fassung eines zeitgleich bei MIT Press erscheinenden Essays: Benjamin Peters: Beware the Theory in Conspiracy Theory, in: Melissa Zimdars, Kembrew McLeod (Hg.): Fake News. Understanding Media and Misinformation in the Digital Age, Cambridge 2018. Der Autor dankt Joli Jensen, Mark Brewin, Seth Lewis, Sebastian Vehlken und zwei anonymen Gutachter_innen für kritische Kommentare und Hinweise.

2 Vgl. Daniel Paul Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken: nebst Nachträgen und einem Anhang über die Frage: ‹Unter welchen Voraussetzungen darf eine für geisteskrank erachtete Person gegen ihren erklärten Willen in einer Heilanstalt festgehalten werden?›, Berlin 2003.

3 Vgl. Friedrich Kittler: Flechsig – Schreber – Freud. Ein Nachrichtennetzwerk der Jahrhundertwende, in: Der Wunderblock. Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. 11/12, 1984, 56–68; Sigmund Freud: Psychoanalytic Notes Upon an Autobiographical Account of a Case of Paranoia (Dementia Paranoides), in: ders.: The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, Bd. 12, London 2001 [1911], 3–82; Michel Foucault: Madness and Civilization: A History of Insanity in the Age of Reason, New York 1995; Elias Canetti: The Conscience of Words, London 1986; Walter Benjamin: Books by the Mentally Ill: From My Collection, in: ders.: Selected Writings, hg. v. Marcus Bullock, Michael William Jennings, Cambridge 2004.

4 Vgl. Gregory Bateson: Toward a Theory of Schizophrenia, in: Behavior Science, Vol. 1, Nr. 4, 1956, 251–254; Ronald D. Laing: The Divided Self: An Existential Study in Sanity and Madness, New York 1960; Amit Pinchevski: Bartleby’s Autism: Wandering along Incommunicability, in: Cultural Critique, Vol. 78, Spring 2011, 27–59; Amit Pinchevski, John Durham Peters: Autism and New Media: Disability Between Technology and Society, in: New Media & Society, Vol. 18, Nr. 11, 2016, 2507–2523.

5 Vgl. Richard Hoftstadter: The Paranoid Style in American Politics, in: Harper’s Magazine, November 1964.

6 Vgl. Hadley Cantril: The Invasion from Mars: A Study in the Psychology of Panic, New York 1966.

7 Vgl. Jefferson Pooley, Michael J. Socolow: The Myth of the ‹War of the Worlds› Panic, in: Slate, 28.10.2013.

8 Carl Huffman: Philolaus, in: Edward N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2016 Edition), 4. Abschnitt, plato.stanford.edu/archives/sum2016/entries/philolaus/, gesehen am 11.5.2018.

9 Vgl. Immanuel Kant: Prolegomena to Any Future Metaphysics, Indianapolis 1977, 32.

10 Vgl. David Szakonyi: Renting Elected Office: Why Businesspeople Become Politicians in Russia, Dissertation, Columbia University, 2016, 5.

11 Vgl. Cicilia Kang: Fake News Onslaught Targets Pizzeria as Nest of Child-Trafficking, in: New York Times, 21.11.2016, online unter nytimes.com/2016/11/21/technology/fact-check-this-pizzeria-is-not-a-child-trafficking-site.html, gesehen am 5.11.2018.

12 Hoftstadter: The Paranoid Style, 1.

13 Jesse Walker: The United States of Paranoia: A Conspiracy Theory, New York 2013, 14.

14 Vgl. Wendy Hui Kyong Chun: Queering Homophily: Muster der Netzwerkanalyse, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Nr. 18, 2018, 131–148.

15 Vgl. Karl Popper: The Philosophy of Karl Popper, La Salle 1974.

16 Vgl. Paul Feyerabend: Against Method: Outline of an Anarchist Theory of Knowledge, New York 1975.

17 Vgl. Josiah Royce: The Problem of Christianity, Washington, 2001.

ASTRID DEUBER-MANKOWSKY

DIE WAHRHEIT DES RELATIVEN IN DER KRISE DER FAKE NEWS

Denken mit Alexandra Juhasz’ «#100hardtruths #fakenews: A primer on digital media literacy»

Eine Ökologie der Praktiken

In ihren «Introductory Notes on an Ecology of Practices» geht Isabelle Stengers von Brian Massumis Vorschlag aus, dass «eine politische Ökologie eine soziale Technologie des Dazugehörens sei und dabei Koexistenz und Co-Becoming als das Habitat von Praktiken betrachte.»1 Mit dieser Formulierung hatte Massumi im August 2003 zu einem Symposium ans Humanities Research Centre der Australian National University eingeladen. Stengers nimmt den Vorschlag auf, gibt ihm aber eine neue Wendung. Anders als Massumi legt sie die Ökologie der Praxis nicht als soziale Technologie, sondern als ein Werkzeug des Denkens aus. Eine Ökologie der Praxis wäre nach Stengers ein Werkzeug, das uns hilft, Gewohnheiten des Denkens zu ändern und über diese Änderung von Denkgewohnheiten den Praktiken zugleich ein neues Habitat bereitzustellen. «Ich verstehe», so definiert sie ihre Position, «unter einer Ökologie der Praxis ein Werkzeug, um gründlich durchzudenken, was aktuell geschieht, und ein Werkzeug ist niemals neutral».2

Stengers legt die Ökologie der Praxis als ein Problem des Denkens und damit verbunden als ein methodologisches Problem aus. Allerdings geht es ihr weder um Objektivität noch um Verallgemeinerbarkeit oder universale Wahrheit. Als Wissenschaftsphilosophin, die sich mit Fragen der Geschichtlichkeit von wissenschaftlichen Erkenntnissen beschäftigt, geht es ihr stattdessen um die Frage, wie Habitate von Praktiken sich verändern und wie Habitate verändert werden können.

Ausgehend von Stengers methodologischer Bestimmung des Denkens als eine Praxis, die eine Relation zwischen Gehören-zu (belonging) und Werden (becoming) stiftet, möchte ich im Folgenden zeigen, dass und wie eine so verstandene Ökologie der Praktiken einen Ausweg aus dem Diskurs der sogenannten Fake News weisen könnte. Was dies ganz konkret, also praktisch für die Frage heißt, wie unter Bezugnahme auf diesen methodologischen Ansatz mit dem Internet gedacht werden könnte, werde ich im zweiten Teil am Beispiel des digitalen Projektes #100hardtruths-#fakenews von Alexandra Juhasz vorstellen. Ein Fokus wird dabei auf dem Verhältnis von Habitat und der Änderung von Denkgewohnheiten liegen, das heißt zugleich auf dem Prozess der Transformation zwischen Gehören-zu (belonging) und Werden (becoming). Denn Denken mit dem Internet bedeutet Habitate zu schaffen, die offen sind für neue Muster und neue Formen von Relationen.3 Sie stellen sich gegen den Strom der Bubble-Bildungen und der perfomativen Prozesse, mit denen bestehende Diskriminierungen und Segregationen, wie Wendy Hui Kyong Chun in ihrer kritischen Analyse der Netzwerkforschung so eindringlich darlegte, wiederaufgeführt und naturalisiert werden.4

Wenn Stengers die Ökologie der Praxis als ein Denkwerkzeug bezeichnet, verweist sie darauf, dass Denken eine praktische Tätigkeit ist. Das meint, dass Denken Effekte zeitigt und nicht losgelöst ist von der Situation, in der es stattfindet. Mit der Betonung, dass ein Werkzeug niemals neutral sei, wendet sie sich gegen die Vorstellung, es handle sich hier um eine Methode, in der das Denken, wie es etwa Kant beschrieben hatte, nach Art eines Richters als urteilende Vernunft auftritt, die über der Situation steht, um festzustellen, um welche Situation oder eben um welchen Fakt es sich handelt.5 Ein Werkzeug ist in die Situation involviert, in der es zur Anwendung kommt, es trägt zur Bearbeitung und damit zur Veränderung dieser Situation bei. Zwischen dem Werkzeug und der konkreten Situation besteht, wie Stengers es ausdrückt, eine Beziehung von Relevanz. Relevanz meint, dass die Werkzeuge der Situation die Macht verleihen, uns zum Denken zu bringen.6

Die Verbindung von Gewohnheit und Habitat liegt im Englischen näher als im Deutschen, da habit – das englische Wort für Gewohnheit – etymologisch mit dem lateinischen habitat verbunden ist. Allerdings leuchtet die Verbindung auch im Deutschen ein, wenn man bedenkt, dass ein Habitat auch als Wohnung oder Umfeld des Wohnens verstanden werden kann. Habit und habitation lassen sich im Anschluss an Walter Benjamin als «Wohnen und Gewohnheit» übersetzen. Eine Änderung einer Gewohnheit führt entsprechend zu einer Änderung des Habitats.

Anders als Massumi bezieht Stengers ihre einführenden Bemerkungen zweitens auf eine bestimmte historische Wissenskonstellation, mit der sie als Philosophin und Epistemologin gut vertraut ist – lange hatte sie mit dem seinerseits unkonventionellen Physiker und Nobelpreisträger Ilya Prigogine über eine neue Interpretation des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik und über selbstorganisierende Systeme diskutiert und nachgedacht, um den physikalischen Praktiken des 20. Jahrhunderts so ein neues Habitat zu schaffen:7 auf das Verhältnis von Philosophie und Physik, oder genauer, auf das Verhältnis eines philosophischen Denkens, das sich an der Methodologie einer Ökologie der Praktiken orientiert, und einer Physik, deren Verständnis von physischer Realität, wie Stengers moniert, sich gegen die historischen Veränderungen immunisiert und immer noch auf den theologisch-politischen Forderungen des 17. Jahrhunderts und damit der Gründungs- und Entstehungszeit der Physik als moderner Wissenschaft basiert. Mit der Definition der physikalischen Realität als objektive und jenseits der menschlichen Vorstellungen bestehende Realität beanspruche die Physik, wie Stengers kritisch zu bedenken gibt, eine exklusive Position des Urteils über und gegen alle anderen Realitäten, eingeschlossen die Realitäten von anderen wissenschaftlichen Disziplinen, und damit zugleich ein exklusives Recht auf Rationalität. Vergessen wir nicht: Dieses exklusive Recht auf Rationalität weist auf den Rationalismus des 17. Jahrhunderts zurück. Dessen jubilatorischer Glaube an die unbedingte Potenz der Rationalität aber hatte seinen Grund in der Überzeugung, dass die Existenz Gottes selbst rational beweisbar sei und dass die Rationalität andererseits ihre Beweiskraft ihrem göttlichen Ursprung verdanke. Eben diese Konjunktion von Rationalität, Gott und Gottesbeweis wurde bereits von Kant als dogmatisch erkannt und führte ihn zu seiner Reformulierung der Metaphysik als einer «Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft».8

Stengers schrieb ihren Aufsatz vor dem Hintergrund der Science Wars, die 2002 noch lange nicht zu Ende waren. Der Krieg der Wissenschaften fand einen Höhepunkt in der Polemik des US-amerikanischen Physikers Alan Sokal. Sokal ist ein bekennender Vertreter des wissenschaftlichen Realismus, das heißt, er geht, ähnlich wie in jüngster Zeit die Vertreter_innen des spekulativen Realismus9 wieder, von der vorkantischen Annahme aus, dass eine erkennbare Wirklichkeit existiere, die unabhängig vom Denken und von der Geschichte sei und die wissenschaftlich beschrieben und repräsentiert werden könne. 1996 löste Sokal mit der Veröffentlichung eines Fake-Artikels in der Zeitschrift Social Text, den er später als Hoax outete, einen regelrechten Skandal aus. Sokal hatte in diesem Artikel mit dem Titel «Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity» behauptet, bei der Quantengravitation handle es sich um eine soziale und linguistische Konstruktion.10 Ein Jahr später veröffentlichte Sokal zusammen mit Jean Bricmont einen Band, in dem die beiden Physiker unter dem Titel Fashionable Nonsens. Postmodern Intellectuals’ Abuse of Science11 in Fortsetzung der Science Wars Stellen aus Texten von postmodernen Autor_innen einer kritischen Lektüre unterzogen und ihnen schlechte Wissenschaft vorwarfen.

Stengers legt diese Kriegserklärung der beiden Physiker als eine verständliche Reaktion gegen eine gefühlte Denunziation ihrer physikalischen Praxis aus. Wer wie die Vertreter_innen eines radikalen Konstruktivismus behaupte, Elektronen seien soziale Konstruktionen, greife nicht nur physikalische Glaubenssätze an, sondern denunziere auch jenes attachment, das die Physiker_innen mit den Elektronen verbindet, eben weil es sie zum Denken bringe und kreativ sein lasse.12 Sie zieht daraus den Schluss, dass es nicht darum gehen kann, dem Fake mit der Richtigstellung von Fakten zu begegnen.13 Denn damit würde man allzu leicht nur selbst auf den Rationalismus und die politisch-theologischen Begriffe des 17. Jahrhunderts mit den geschilderten Voraussetzungen zurückgreifen. Vielmehr gelte es, die Praktiken – hier die physikalische Praxis und den Umgang mit den Elektronen mitsamt dem attachment, das die Physiker_innen mit dieser Praxis verbinde – ernst zu nehmen. Die Aufgabe wäre, von diesen konkreten Praktiken auszugehen und ihnen ein neues Habitat zu geben, eines das der historischen Situation besser entspricht als die politisch-theologische Vorstellung der physikalischen Realität und Rationalität des 17. Jahrhunderts.

In, um sie selbst noch einmal zu zitieren, «gründlich durchgedachter» Weise führt uns Stengers in ihrem Text von der Beobachtung, dass sich die zeitgenössische Physik in ihrem Selbst- und Realitätsverständnis immer noch im 17