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Beschreibung

Die Zeitschrift für Medienwissenschaft steht für eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft, die Untersuchungen zu Einzelmedien aufgreift und durchquert, um nach politischen Kräften und epistemischen Konstellationen zu fragen. Sie stellt Verbindungen zu internationaler Forschung ebenso her wie zu verschiedenen Disziplinen und bringt unterschiedliche Schreibweisen und Textformate, Bilder und Gespräche zusammen, um der Vielfalt, mit der geschrieben, nachgedacht und experimentiert werden kann, Raum zu geben. In Heft 24 geht es um »Medien der Sorge«: um Praktiken und Techniken des Kümmerns und der Besorgnis, aber auch um Politiken von Affekten, Formen der Regierung und deren Verschränkungen. Gouvernementale und ökonomische Aspekte von Medien- und Affektkulturen der Sorge, Effekten der Regulierung sowie Kontrolle stehen ebenso zur Diskussion wie Praktiken des Schutzes, der Pflege und der Verwerfung. In Verbindung mit dekolonialen und queer/feministischen Ansätzen ermöglicht die medienkulturwissenschaftliche Perspektive auf Praktiken und Medien der Sorge, ihre politische Dimension in historischen, technischen und ästhetischen Konstellationen je neu zu bestimmen und zu problematisieren.

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1/2021

GESELLSCHAFT FÜR MEDIENWISSENSCHAFT (HG.)

 

 

 

EDITORIAL

Medienwissenschaft zu betreiben bedeutet immer auch, sich zu fragen, was die Voraussetzungen und Bedingungen der eigenen Forschung sind. Die Medialität von Dingen und Ereignissen wird häufig erst in der Beschäftigung mit ihrer Theorie und Geschichte, ihrer Technik und Ästhetik freigelegt. In diesem Sinne betreibt die ZfM eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft, die Untersuchungen zu Einzelmedien aufgreift und durchquert, um nach politischen Kräften und epistemischen Konstellationen zu fragen.

Unter dieser Prämisse sind Verbindungen zu internationaler Forschung ebenso wichtig wie die Präsenz von Wissenschaftler_innen verschiedener disziplinärer Herkunft. Die ZfM bringt zudem verschiedene Schreibweisen und Textformate, Bilder und Gespräche zusammen, um der Vielfalt, mit der geschrieben, nachgedacht und experimentiert werden kann, Raum zu geben.

Jedes Heft eröffnet mit einem SCHWERPUNKTTHEMA , das von einer Gastredaktion konzipiert wird. Unter EXTRA erscheinen aktuelle Aufsätze, die nicht auf das Schwerpunktthema bezogen sind. DEBATTE bietet Platz für theoretische und / oder (wissenschafts-)politische Stellungnahmen. Die Kolumne WERKZEUGE reflektiert die Soft- und Hardware, die Tools und Apps, die an unserem Forschen und Lehren mitarbeiten. In den BESPRECHUNGEN werden aktuelle Veröffentlichungen thematisch in Sammelrezensionen diskutiert. Die LABORGESPRÄCHE setzen sich mit wissenschaftlichen oder künstlerischen Forschungslaboratorien und Praxisfeldern auseinander. Von Gebrauch, Ort und Struktur visueller Archive handelt die BILDSTRECKE. Aus gegebenen Anlässen konzipiert die Redaktion ein INSERT.

Getragen wird die ZfM von den Mitgliedern der Gesellschaft für Medienwissenschaft, aus der sich auch die Redaktion (immer wieder neu) zusammensetzt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich an der ZfM zu beteiligen: (1) die Entwicklung und redaktionelle Betreuung eines Schwerpunktthemas, (2) die Einreichung von Aufsätzen und Reviewessays für das Heft und (3) von Buchrezensionen und Tagungsberichten für die Website. Die Veröffentlichung der Aufsätze erfolgt nach einem Peer-Review-Verfahren. Alle Beiträge sind im Open Access verfügbar. Auf www.zfmedienwissenschaft.de befinden sich das Heftarchiv, aktuelle Besprechungen und Beiträge in den Web-Extras, der Gender-und der Open-Media-Studies-Blog sowie genauere Hinweise zu Einreichungen.

MAJA FIGGE, MAREN HAFFKE, TILL A.HEILMANN, ELISA LINSEISEN, JANA MANGOLD, FLORIAN SPRENGER, STEPHAN TRINKAUS, THOMAS WAITZ, BRIGITTE WEINGART, SERJOSCHA WIEMER

INHALT

Editorial

 

MEDIEN DER SORGE

JASMIN DEGELING / MAREN HAFFKE

Medien der Sorge Einleitung in den Schwerpunkt

 

VERA MADER

A Redistribution of Violence Modulationen der Sorge in Carolyn Lazards «A Recipe for Disaster»

 

STEFAN SCHWEIGLER

«A Politics of Care» Dispositive crip-queerer Zeitlichkeit und Verantwortlichkeit

 

LISA STUCKEY

PATIENT PATIENTS Architektur als Medium der Fürsorge und Fürsprache in Investigationen von Forensic Architecture

 

CECILIA VALENTI

Trauer medial denken Die Sorge um den Anderen im militanten Dokumentarfilm der 1970er Jahre

 

KATRIN M. KÄMPF

Bits & Pieces versorgen Ein Plädoyer

 

NAOMIE GRAMLICH

Mediengeologisches Sorgen Mit Otobong Nkanga gegen Ökolonialität

 

KATRIN KÖPPERT

Agropoetics of the Black Atlantic

 

BILDSTRECKE

NAVILD ACOSTA und FANNIE SOSA

vorgestellt von ELENA MEILICKE

Black Power Naps

 

LABORGESPRÄCH

ELEONORA HERDER und TIM SCHUSTER im Gespräch mit INGA BENDUKAT / PHRIES KÜNSTLER und JANA MANGOLD

Widersprüche der Kantine Über alternative Formen der Bühne und Versammlung

 

DEBATTE

Corona und Care

GABRIELE DIETZE / ENCARNACIÓN GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ / LEANDER SCHOLZ und VANESSA E. THOMPSON im Gespräch mit MAJA FIGGE / JANA MANGOLD / STEPHAN TRINKAUS und BRIGITTE WEINGART

Zum Verhältnis von Sichtbarkeit, Sorge und Ungleichheit in der Pandemie

 

WERKZEUGE

MAJA FIGGE

«Doing Yoga» Zwischen neoliberaler und transformativer Selbstsorge

 

FELIX RACZKOWSKI

Cycle of Life Campus-Management-Systeme

 

JANA HERWIG

SEO in Academia? Autor-/ Leser_innenschaft im Kontext algorithmischer Praktiken

 

BESPRECHUNGEN

FELIX HÜTTEMANN Anthropos? Menschheit? Menschenzeit?

Medienwissenschaftliche Perspektiven zwischen Skalen, Relationen und inhumanen (Erd-)Geschichten

 

CHRISTIANE KÖNIG Plädoyer für radikale politische Ontologien des Pluriversalen

 

AUTOR_INNEN

BILDNACHWEISE

IMPRESSUM

MEDIEN DER SORGE

Emily Pope: Yellow Annotated Positive Poster, 2020 (Orig. in Farbe)

MEDIEN DER SORGE

Einleitung in den Schwerpunkt

Krisen und Konzepte ‹radikaler Sorge›

Konzepte der Sorge haben jüngst eine starke Politisierung erfahren. Dies erfolgte nicht nur vor dem Hintergrund der sogenannten Coronakrise und der durch sie offenbarten Fürsorge-, Vorsorge- und Versorgungskrise mit ihrer sozialpolitisch bislang konsequenzlosen Debatte um Reproduktions- und Pflegearbeit.1 Schon knapp vor der global pandemischen Lage im März 2020 dokumentierten die Debattenbeiträge der US-amerikanischen Zeitschrift Social Text zum Schwerpunkt ‹Radical Care›2 eine Politisierung von Sorge- bzw. Care-Konzepten als Kritik fortgesetzter Prekarisierungen. Auch der Ende 2020 erschienene Schwerpunkt der Zeitschrift Behemoth zu ‹Ambivalenzen sorgender Sicherheit›3 adressierte anhand des Sorge-Begriffs Widersprüche post- / wohlfahrtsstaatlicher Gesellschaften zwischen Fürsorge und Kontrolle.4 So werden die unterschiedlichen Effekte der gegenwärtigen Sorgekrise für Lohnarbeiter*innen, Migrant*innen, queere Personen, be_hinderte Personen und Marginalisierte durch die Coronakrise zugleich offengelegt und radikalisiert.

Ansätze wie ‹Radical Care› adressieren die ambivalenten und differenten Dimensionen von Sorge aus der Perspektive intersektionaler, queer / feministischer und antirassistischer Anerkennungskämpfe in Gesellschaften, die Schutz und Pflege ungleich verteilen. Anhand der Geschichte von ‹Care Communities› der AIDS-Krise thematisiert etwa Mike Laufenberg Versuche des Überlebens angesichts einer ungleichen Prekarisierung von Leben in biopolitischen Gesellschaftsformen, die spezifische ‹Immunopolitiken› um Risiko, Ansteckung und Einhegung unterhalten.5 Zeitgenössische «Ambivalenzen sorgender Sicherheit» in Post- / Wohlfahrtsstaaten verweisen auf Schutz- und Sicherheitsdispositive, die gefährdete und gefährliche Körper und Risikogruppen unterscheiden. Diese Dispositive werden ebenso als Anlass für notwendige Revisionen und Repolitisierungen von Sicherheitsbegriffen identifiziert wie als Ausgangspunkt für Spekulation auf alternative soziale und politische Formen von Sorge, Solidarität und Schutz.

Damit nimmt die neue Debatte um Sorge bzw. Care Ambivalenzen auf, die den Worten etymologisch eingeschrieben sind, und bettet sie in eine Diagnose kontemporärer bio- / politischer Verhältnisse: Meint ‹Sorge› zunächst Kümmern und Fürsorge, hängt sie zugleich mit (historischen) Formen der Regierung und der Verbesserung des Wohlergehens zusammen. Ebenso adressiert sie ‹Besorgnis›, also unangenehme Affekte der Unruhe und Gefahr. Ähnlich hierzu rufen die englische Formulierung ‹to (not) care for› und die französischen Semantiken um ‹souci› die Frage des Kümmerns und Sorgetragens auf. Auch ‹care› verweist in einer alten Bedeutungsdimension auf negative Gefühle wie Leiden, Kummer und Trauer. Damit kennzeichnet die verschiedenen Etymologien und Semantiken der ‹Sorge› ein Schillern zwischen Aspekten der Pflege, des Kümmerns, auch der Fortsetzung bzw. Reproduktion und solchen des Affekts.

Für die Medienwissenschaft werfen diese aktuellen Diskussionen nicht zuletzt die Frage nach den Medien der Sorge – ihrer Ästhetiken wie ihrer Politiken – auf. Denn im Unterschied zur neoliberalen Geschichte der Selbstsorge, deren intrinsische Verwicklung in moderne Biopolitiken von Autor_innen wie Beate Ochsner, Andrea Seier, Gerrit Fröhlich und Thomas Waitz auch im Hinblick auf ihre Techniken thematisiert wurde,6 weisen Konzepte ‹radikaler› Sorge moderne westliche Individualisierungen zurück. Sie fordern damit Per-spektiven ein, die (1) Sorge umweltlicher, situierter und in spezifische Techno-, Wissens- und Materialpolitiken verwickelt entwerfen; und versuchen (2) anhand von Sorge-Konzepten eine fundamentale Relationalität dieser Politiken erst beschreibbar zu machen – als Netze von Abhängigkeit und Verantwortung. Aus der Perspektive feministischer Materialismen entwirft etwa María Puig de la Bellacasa eine spekulative Ethik der Sorge, die Politiken der Verantwortung mit einer posthumanistischen Sensibilität für ‹more than human worlds› engführt.7

Anschlussfähigkeit und Produktivität dieser Ansätze für die Medienwissenschaft erproben verschiedene Beiträge des vorliegenden Schwerpunktes. Sie setzen damit unter anderem die Fragestellungen der in den Science and Technology Studies (STS) situierten feministischen Materialismen in Relation zu medienwissenschaftlichen Diskursen über Daten, Infrastrukturen, Ökologien, Zeitlichkeiten und Materialitäten. Damit werden Desiderate hinsichtlich der je veranschlagten spezifischen Verhältnisse von Wissenspolitiken und Technologien adressiert und zugleich neue Felder für Medientheorien der Sorge erschlossen. So plädiert KATRIN M. KÄMPF in ihrem zwischen Medienwissenschaft, feministischer STS und Surveillance Studies situierten Beitrag dafür, Daten selbst Sorge zukommen zu lassen: Nicht erst die Digitalisierung von Daten und Datenderivaten im Spannungsfeld verkörperter Subjekte und ihrer Datenspuren mache eine körper- und subjektivierungspolitische Intervention dringend. Schon der Anschlag der niederländischen Widerstandsorganisation PBC auf das Zentrale Einwohner_innenmeldeamt Amsterdams 1943 bilde die Vorgeschichte zu aktuellen migrationspolitischen Forderungen nach einer Löschung biometrischer Daten aus EU-Datenbanken und mache deutlich, dass die Unterscheidbarkeit zwischen Subjekten und Daten zu einer Frage des Überlebens werden kann. Das Verhältnis von Medien und Sorge müsse daher, so Kämpfs Vorschlag, ‹technökologisch› gedacht werden.

Anhand der gegen-forensischen Arbeit der Agentur Forensic Architecture untersucht LISA STUCKEY medienökologische Komplexe um technische Zeug_innenschaft und materiell-sensorisches Empfinden als Verfahren der Rechtspflege, der reparativen Gerechtigkeit und der Fürsprache. Damit antworten die Interventionen von Forensic Architecture laut Stuckey auf das wohlfahrtsstaatliche Versprechen, Verbrechen aufzuklären. Stuckey identifiziert die Architektursimulationen zugleich als Mittel eines Affektentzugs und als Verlagerung der Verletzlichkeit und des Empfindens von Körpern auf Räumlichkeiten in einer Ästhetik, die eigene Pathosformeln ausbilde.

Direkt auf Puig de la Bellacasa beziehen sich die Beiträge von NAOMIE GRAMLICH und KATRIN KÖPPERT in ihren unterschiedlichen Vorschlägen, Medienwissenschaft zu dekolonialisieren: Gramlich verknüpft den Entwurf eines Materialismus der Sorge mit der Mediengeologie und der medienwissenschaftlichen Infrastrukturforschung anhand der Kupfermine Tsumeb in Namibia und tritt für eine epistemische Verschiebung hin zu post_kolonialen und de_kolonialen Mediengenealogien ein. Diese Arbeit an den eigenen Narrativen identifiziert Gramlich selbst als Form der Sorge. Während die Gewalt von Rassismus und ‹Ökolonialität› bestehende Netzwerke in Namibia ‹irreparabel› aufgetrennt habe, müsse die Medienwissenschaft sich der Herausforderung stellen, die post_kolonialen Bedingungen medialer Infrastrukturen mitzubedenken.

Auch Köpperts Text befragt vor dem Hintergrund der post_kolonialen und de_kolonialen Medien- und Materialgeschichte des Black Atlantic die eigene Wissenspolitik als Frage von Verantwortung. Anhand der Arbeit Chorus of Soil der Künstlerin Binta Diaw stellt sie afro-futuristische Spekulationen auf offene Zukünfte und mögliche Intaktheit vor. Sämlinge aktualisieren laut Köppert in Diaws Arbeit die Erde selbst als relationale Infrastruktur der Sorge und des Lebens. Dabei weist Köppert darauf hin, dass der posthumanistische Gestus eines nicht mehr nur anthropozentrisch gedachten Konzeptes von Sorge durchaus spannungsreich auf afro-futuristische Konzepte trifft, die den historischen Ausschluss Schwarzer Subjektpositionen aus der Kategorie Mensch thematisieren.

Genealogien der Sorge – Subjektivierung und Gouvernementalität

Nicht nur hinsichtlich der Frage nach dem Status der Subjektkritik sind aus medienwissenschaftlicher Perspektive seit der von Michel Foucault unternommenen Arbeit an einer Genealogie der Sorge einige Potenziale und Anschlussmöglichkeiten offen. Denn Foucault versteht die Sorge dezidiert als Technik. Damit taucht die Frage nach der Sorge gerade nicht, wie schon Friedrich Balke bemerkt hat,8 als ‹ethische Wende› oder ‹Wende zum Subjekt› auf, sondern Foucault fasst seine Theorie der Machtbeziehungen in ihrer späten Fassung im Rahmen einer ‹Genealogie des Subjekts›,9 indem er die Modalitäten der Beziehungen von Subjekt und Macht unter dem Begriff der Sorge und der Selbsttechnologien analytisch in den Fokus stellt. Das gouvernementalitätskritische Projekt selbst wird so als Geschichte der Modi von Selbst- / Führung, Selbst- / Regierung und Selbst- / Übung perspektiviert. Sorge ist bei Foucault dezidiert praktisch: Am Beispiel etwa antiker Selbstdokumentationstechniken wie der «hypomnemata»10 arbeitet Foucault die operative Dimension von Sorge heraus und bestimmt diese so als Technik.11

‹Epimeleia heautou›, die antike ‹Sorge um sich›, bezeichnet Übungen (‹melete›), auch Meditationstechniken, die historisch etwa die christliche Askese und die Pastoralmacht schulen.12 Aus Foucaults gouvernementalitätskritischer Perspektive werden diese Sorgepraktiken als praktische, performative und medialisierte Übungen beschreibbar: Die «Übung seiner selbst durch sich selbst»,13 wie Foucault Sorgepraktiken situiert, ist eine an Medien wie Tagebücher, an Beichten und ästhetische Übungen, an mediale Meditationen und Therapeutiken gebundene performative Technik der Subjektivierung. Sorge ist in dieser – einer machtkritischen Genealogie des Subjekts verpflichteten – Perspektive immer schon eine Praxis der Übung und also auch des Rhythmus und der Zeitlichkeit. Digitalmediale Selbstdokumentationspraktiken sowie gegenwärtige Medien der Selbstbearbeitung, der Modulation von Stimmung und Aufmerksamkeit, der Beruhigung, Sammlung und Erregung können aus dieser Perspektive in den Blick genommen werden.14

Auch Isabell Loreys affirmativer Einsatz für eine Politik des Prekären schließt an Michel Foucaults Kritik der Gouvernementalität an. In der Verknüpfung Foucault’scher Machtkritik mit feministischer Theorie entwirft Lorey eine Politik der Sorge, die sich an einer an Judith Butler geschulten Kritik des Prekärseins ausrichtet, das nicht allein in neoliberaler Prekarisierung aufgeht. Biopolitische Gouvernementalität bezeichne das liberale Paradigma der «Gleichzeitigkeit von Unterwerfung und Freiheit, von Regulierung und Ermächtigung», das die Regierbarkeit sowie Selbstregierbarkeit souveräner, bürgerlicher, ergo weißer, männlicher Subjekte bestimme.15 Damit werde eine moderne Subjektivierungspolitik der Individualisierung eingesetzt, in der das Prekärsein der Körper und des Lebens nicht nur als regierbar, kontrollierbar, normalisierbar bestimmt wird, sondern die Vergesellschaftung gouvernementaler Prekarisierung zur Voraussetzung jeder Form der Selbst- / Regierung werden lässt. Gouvernementalität setze so eine Dynamik zwischen sozialer Sicherung und Risiko in Gang, die mittels ständiger Gefährdungen und Bedrohungen Normalisierungen und Regulierungen produziere, welche entlang der Achsen hegemonial weißer, männlicher Autonomievorstellungen verlaufe.16

Sorge und ihre Krise post- / wohlfahrtsstaatlicher, neoliberaler Vergesellschaftung rücken bei Lorey in Anschluss an die feministische und situationistische Praxis der vom aktivistischen Kollektiv Precarias a la deriva17 entworfenen ‹Sorgegemeinschaften› (‹cuidadanía›18) in den Blick. So fordern die Precarias nach Lorey

einen Sorgestreik, der die festgefahrene Ordnung aus Bedrohung, Vorsorge, Für- und Selbstsorge aufbrechen soll, um sie neu zu ordnen. Wenn das neoliberale Dispositiv der Sorge – als Verschränkung von affektiver und kognitiver Arbeit, Privatisierung von Prävention, aktualisierter Angst vor dem Prekärsein sowie serviler Selbstsorge […] kapitalisierbar und gouvernemental wird, was kann dann ein Sorgestreik sein? Lässt sich die Relationalität des Lebens, die Verbundenheit mit anderen bestreiken?19

Prekärsein würde so – im Anschluss an Gilles Deleuze – zur «Fluchtlinie» aus dem neoliberalen Sorgedispositiv,20 die Krise der Sorge zum affirmativen Ausgangspunkt für eine Politik radikaler Differenz.21

Dass die Geschichte politischer Anerkennungskämpfe wesentliche Bezugspunkte für Politiken und Medien der Sorge bildet, rückt auch in CECILIA VALENTIS Beitrag zur Geschichte politischer Militanz und der Arbeitskämpfe, die sie anhand des italienischen militanten Dokumentarfilms der 1970er Jahre beleuchtet, in den Fokus: Sorge wird hier als Praxis der Trauer, der Erfahrung von Interdependenz und Verwundbarkeit und im Rekurs auf historische feministische Sorge-Konzepte noch einmal mit der Psychoanalyse und Dekonstruktion als Praxis der Alterität gefasst. Valenti adressiert die Medialität der Trauer im Film I giorni di Brescia anhand einer Überschreitung filmischer Verfahren in die Alterität der Medien Fotografie und Fernsehen, die das Kino als Medium der Sorge aktualisiere.

Diversitäten sorgevollen Lebens

Ebenfalls an die von Foucault vorgestellten Sorge-Konzepte schließen Bernard Stieglers Arbeiten zur Logik der Sorge an.22 Sie bestimmen eine psychotechnische Formierung kritischer Aufmerksamkeit durch schriftbasierte Bildung sowohl als mediales Apriori der historischen Aufklärung wie auch als Bedingung (und Ideal) kritischer Öffentlichkeit und politischer Mündigkeit in der Gegenwart. Stieglers Bezug auf Foucault ist kulturpessimistisch: Die ‹Programmindustrien› der Massenmedien und insbesondere das Fernsehen identifiziert er als Mittel einer ‹Zerstörung› der Aufmerksamkeit und des Begehrens im Dienste des neoliberalen Kapitalismus, dessen Konsumimperative und Einübungen passiver Rezeptionsweisen an die Stelle der traditionellen Lebenskunst treten. Die so erreichte psychotechnologische Entstellung des Bewusstseins und der Körper verunmöglicht aus Stieglers Sicht den demokratischen Prozess und führt in letzter Konsequenz zu Populismus.

Während Stieglers Anknüpfungen an die Foucault’schen Konzepte und Begriffe zur Beschreibung immer schon vermittelter Subjektivierungsprozesse sich für gegenwärtige medienwissenschaftliche Debatten um Sorge als anschlussfähig erweisen – so vermeidet Stieglers Entwurf Gegenüberstellungen von Mediendeterminismus und Subjektautonomie –, sind die kulturpessimistischen und normativen Aspekte seiner Arbeit weniger produktiv: Kritisch hinzuweisen ist auf Stieglers starke Fokussierung auf ein direkt an die Schriftkultur gekoppeltes Konzept von ‹Intelligenz›, bestimmt als Bedingung kritischer Urteilskraft und politischer Mündigkeit, das er als Ideal gegen vermeintlich medieninduzierte Abweichungen setzt. So identifiziert Stiegler etwa die Aufmerksamkeitsdefizitstörung als «ruinös[en]»23 Effekt des Fernsehens, den es durch medienpolitische Interventionen zu beheben gelte. Im Unterschied dazu politisieren aktuelle Ansätze aus der Nähe der Neurodiversity und Dis / Ability Movements Differenzen der Wahrnehmung, der Aufmerksamkeit und der Stimmung als Teil eines Spektrums körperlicher und neuronaler Diversität, das auf unterschiedliche Bedürfnisse nach Unterstützung und Sorge anspielt, sich in spezifische Temporalitäten einträgt sowie Fragen nach Zugängen und Barrieren aufwirft.

In dieser Perspektive steht STEFAN SCHWEIGLERS Beitrag, der anhand von drei medialen Produktionen be_hinderter Künstler_innen Intersektionen von Queer- und Dis / Ability-Anliegen untersucht und dabei auf durchaus konfligierende Konzepte von Sorge und unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen verweist. Schweigler bestimmt Sorge als konviviale Verantwortlichkeit und betont anhand des Konzepts der crip time insbesondere die Prozesshaftigkeit jeder Sorge sowie die offenen Zukünfte und die verschiedenen zeitlichen Taktungen des Lebens mit Be_hinderung und chronischer Krankheit. Gegen eine spätkapitalistische Stigmatisierung von Krankheit, die vermeintliche Abweichungen von einer normalisierten ‹Gesundheit› zugleich als temporär erfinde, während darauf gewettet werde, dass nicht alle überleben können, sowie gegen paternalistische Sorgeimpulse setzen die von Schweigler vorgestellten Filme, Videos und Fotoarbeiten Sorge als Praxis des Widerstands – nicht als Bitte um Schutz, sondern als Bitte um Gerechtigkeit.

Auch VERA MADERS Analyse von Carolyn Lazards A Recipe for Disaster schließt an Konzepte von crip time an: Lazards Videoarbeit macht mittels der Technik der Audiodeskription für hör- und seh-be_hindertes Publikum die Anleitung einer Omelettezubereitung der Fernsehköchin Julia Childs als emblematische Szene weißer Reproduktionsarbeit darstellbar. Die ungesicherte Annahme einer nicht weißen, sondern Schwarzen Stimme auf der Ebene der Kommentarspur wird analytisch zu einer Latenz, die die Kohärenz der Reproduktion weißer Sichtbarkeit zunehmend verunsichert. Nachträgliche Barrierefreiheit wird so methodisch als Analytik einander verstellender Rezeptionsebenen und medialer Modulationsverhältnisse des Ausschlusses beschrieben: ‹Modulationen der Sorge› bezeichnen bei Mader Redundanzen und Überlagerungen, Verluste und Überschüsse, (mediale) Differenzverhältnisse also, die die verunsichtbarte Bedingung weißer, nationaler Normalisierung eines ‹guten Lebens› bilden.

Medien der Sorge

Ausgehend von einem Begriffsverständnis, das der Medialität des ‹Sorgens› Rechnung trägt, fragt dieser Schwerpunkt nach Praktiken und Techniken der Sorge, nach Politiken von Affekten sowie nach Formen der Regierung in ihren spezifischen Verschränkungen. Die sieben Beiträge verschreiben sich Queer- und Crip-Politiken und Ästhetiken von Sorge (Mader, Schweigler), gegendokumentarischen Praktiken und (medialen) Widerstandsgeschichten der Sorge (Stuckey, Valenti, Kämpf) sowie einer radikal de_kolonialen Medienwissenschaft, die Sorge trägt für die Möglichkeiten anderer politischer wie fachlicher Zukünfte (Gramlich, Köppert).

Im Rahmen ihres Vorgehens beanspruchen die Beiträge ein situiertes, relationales Denken der Sorge, das je verstrickt ist in Netze der Abhängigkeit von Verantwortung sowie in spezifische Medien-, Wissens- und Materialpolitiken. Sie dokumentieren so den methodologischen Anspruch von ‹Medien der Sorge› als Herausforderung eines radikalen Denkens von Ästhetik und Medialität, das sich in Modulationen, Zeitlichkeiten, Relationalitäten, Distributionen und Materialitäten aktualisiert.

In historischer Perspektive zeigen sich Medien der Sorge eingeschrieben in die Geschichte neo- / liberaler und post- / wohlfahrtsstaatlicher Vergesellschaftung und ihren fortgesetzten Krisenmodus.24 Dessen Verstrickung in die Geschichte von Kapitalismus und Kolonialismus erweist sich als dringende Frage medien- / kulturwissenschaftlicher Analyse und Kritik. Denn eine radikale Infragestellung der Voraussetzungen jener liberalen Konzepte von Selbst- / Sorge, Für- und Vorsorge und Versorgung samt der Debatte um moderne Arbeitsteilung, bürgerliches Eigentumsrecht, Subjektautonomie und Reproduktions- bzw. Fürsorgearbeit, wie sie post- / wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaftsformen und ihrer fortgesetzten Produktion von Prekarität immanent sind, ist auf queer / feministische, de_koloniale, rassismuskritische und be_hinderungssensible Perspektiven und Analysen angewiesen.

In diesem Sinn zielt der Anspruch der Analyse von ‹Medien der Sorge› nicht so sehr bzw. nicht normativ auf eine Ethik der Sorge, umso mehr aber auf eine differenzkritische Medienwissenschaft, die ihrem Anspruch nach selbst Sorge trägt für ihre Gegenstände und Wissenspolitiken. Perspektiven durchaus kritisch zu begegnen, die Konzepte der Sorge romantisieren und an Idealisierungen knüpfen, die selbst Befreiungen oder Verwerfungen versprechen, die ein Pathos der Verletzbarkeit oder eine verdeckte Ontologisierung von Sorge vorantreiben, wird nicht zuletzt mit Blick auf jene aktuellen Entwicklungen und Phänomene dringend, die wir vorläufig mit ‹Dark Care› zu bezeichnen vorschlagen: Gerade unter digitalmedialen Bedingungen wird deutlich, dass rechte, faschistische, rassistische, misogyne Medienpraktiken ebenfalls Symptome sind, deren Kritik eine Analyse unter der Perspektive von Medien und Sorge ermöglicht.

So lässt sich derzeit im Kontext rechter Heilsregimes eine Politisierung negativer Gefühle und Strategien von Affektpolitiken beobachten, für welche das Umfeld des Chicago Feel Tank25 und die Affect Studies26 eine Diskussion angestrengt haben, die ihrer eigenen Geschichte nach insbesondere auf queere und feministische Kontexte zielte. Programme der Selbsthilfe, Community-Building um Theorien der Heilung tauchen aber auch im Kontext neokonservativer Diskurse (z. B. Jordan Petersons 12 Rules for Life27) und in den Entwürfen der ‹Neuen Rechten› auf, ebenso wie in den Online-Communitys der sogenannten ‹Incels› oder in den Graswurzel-Communities ‹besorgter Bürger_innen› des Corona-Protest-Milieus auf Plattformen wie Telegram. Sie weisen eigene Kontinuitäten zur Geschichte faschistischer Heilsregimes auf. Die Analyse solcher und ähnlicher Phänomene bleibt vorläufig ein Desiderat.28

JASMIN DEGELING, MAREN HAFFKE

1  Breit rezipiert wurde etwa die Forderung nach einer «Care Revolution», vgl. Gabriele Winker: Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft, Bielefeld 2015; vgl. Cassie Thornton: The Hologram. Feminist, Peer-to-Peer Health for a Post-Pandemic Future, London 2020; vgl. Andreas Chatzidakis u. a.: The Care Manifesto: The Politics of Interdependence, London, New York 2020; Eva von Redecker, Es lebe die Reproduktion!, in: Philosophie Magazin, Nr. 6, 2020, 60 – 62.

2  Hi’ilei Hobart, Tamara Kneese: Radical Care, in: Social Text, Bd. 38, Nr. 142, 2020, doi.org/10.1215/01642472-7971067.

3  Andreas Folkers, Andreas Langenohl, Editorial: Was ist sorgende Sicherheit?, in: Behemoth, A Journal on Civilisation, Bd. 13 Nr. 2, 2020, doi.org/10.6094/behe moth.2020.13.2.1043.

4  Mike Laufenberg: Radical Care und die Zukunft des Wohlfahrtsstaats. Konturen einer paradoxen Politik der Sorge, in: Behemoth. A Journal on Civilization, Bd. 13 Nr. 2, 2020, doi.org/10.6094/behemoth.2020.13.2.1048.

5  Mike Laufenberg: Sexualität und Biomacht. Vom Sicherheitsdispositiv zur Politik der Sorge, Bielefeld 2014.

6  Beate Ochsner: Oikos und Oikonomia oder: Selbstsorge-Apps als Technologien der Haushaltung, in: Michael Mayer, Dieter Mersch (Hg.): Jahrbuch für Medienphilosophie, Bd. 4, 2018, 123 – 145; Gerrit Fröhlich: Medienbasierte Selbsttechnologien 1800, 1900, 2000. Vom narrativen Tagebuch zur digitalen Selbstvermessung, Bielefeld 2018; Thomas Waitz: Lifehacking. Medien und Selbsttechnologien, in: Andreas R. Becker u. a. (Hg.): Medien – Diskurse – Deutungen, Marburg 2007, 221 – 228; Andrea Seier, Hannah Surma: Schnitt-Stellen – Mediale Subjektivierungsprozesse in «The Swan», in: Paula-Irene Villa (Hg.): schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst, Bielefeld 2008, 173 – 198, doi.org/10.14361/9783839408896-008.

7  María Puig de la Bellacasa: Matters of Care. Speculative Ethics in More Than Human Worlds, Minne-apolis, London 2017.

8  Friedrich Balke: Selbstsorge / Selbsttechnologie, in: Clemens Kammler, Rolf Parr, Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2008, 286 – 291.

9  Michel Foucault: Subjekt und Macht, in: ders.: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt / M. 2007, 81 – 104.

10  Michel Foucault: Technologien des Selbst, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band IV, 1980 – 1988, Frankfurt / M. 2005, 966 – 998.

11  Christoph Menke: Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz, in: Axel Honneth (Hg.): Michel Foucault: Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt / M. 2003, 283 – 299.

12  Vgl. Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France (1981 / 82), Frankfurt / M. 2004.

13  Michel Foucault: Über sich selbst schreiben, in: ders.: Schriften in vier Bänden, 503 – 521, hier 505.

14  Paul Roquet: Ambient Media. Japanese Atmospheres of Self, Minneapolis, London 2016.

15  Isabell Lorey: Die Regierung der Prekären, Wien, Berlin 2012, 50.

16  Ebd., 56.

17  Precarias a la deriva: Was ist dein Streik? Militante Streifzüge durch die Kreisläufe der Prekarität, übers. v. Birgit Mennel, Stefan Nowotny, Wien 2014; vgl. auch Tobias Bärtsch u. a.: Ökologien der Sorge, Wien 2017.

18  Vgl. Lorey: Die Regierung der Prekären, 121.

19  Ebd., 123.

20  Vgl. ebd., 127.

21  Vgl. ebd., 117, 128.

22  Bernard Stiegler: Von der Biopolitik zur Psychomacht. Logik der Sorge I.2, Frankfurt / M. 2009.

23  Ebd., 90.

24  Eine Möglichkeit, Sorge im Rahmen einer anderen, nicht modernen Zeitlichkeit und Relationalität zu analysieren und die Gegenwart vor dem Hintergrund antiker Konstellationen zu befragen, entwirft Sebastian Kirsch im An-schluss an Foucaults Sorge- und Deleuze’ und Guattaris Immanenzkonzepte und unternimmt hier-für ebenfalls eine umfassende Kritik des Sorge-Begriffs Heideggers, Sebastian Kirsch: Chor-Denken. Sorge, Wahrheit, Technik, Paderborn 2020.

25  Siehe dessen Webseite: feeltankchicago.net (20.1.2020).

26  Vgl. z. B. Ann Cvetkovich: Depression. A Public Feeling, Durham 2012; dies.: An Archive of Feelings. Trauma, Sexuality, and Lesbian Public Cultures, Durham 2003; Lauren Gail Berlant: Cruel optimism, Durham 2011; Käthe von Bose u. a.: I is for Impasse. Affektive Queerverbindungen in Theorie, Aktivismus, Kunst, Berlin 2015.

27  Jordan B. Peterson: 12 Rules for Life. An Antidote to Chaos, Toronto 2018.

28  Erste Arbeiten liegen vor, vgl. z. B.: Simon Strick: Alt-Right-Affekte. Provokationen und Online-Taktiken, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, Bd. 10, Nr. 19: Klasse, 2018, 113 – 125, doi.org/10.25969/mediarep/1369; ders.: Reflexiver Neofaschismus: gouvernementale Affekt- und Körperpolitiken in der ‹Alternativen Rechten›, in: Body Politics, Bd. 7, Nr. 11, 2019, 199 – 229; ders.: The Alternative Right, Masculinities, and Ordinary Affect, in: Gabriele Dietze, Julia Roth (Hg.): Right-Wing Populism and Gender. European Perspectives and Beyond, Bielefeld 2020, 207 – 230, doi.org/10.14361/9783839449806-012; Jessica Johnson: Affective radicalization and white masculinity, in: Feminist Media Studies, Bd. 19, Nr. 2, 2019, 297 – 299, doi.org/10.1080/14680777.2019.1573533.

A Recipe for Disaster von Carolyn Lazard, HD-Video, USA2018, 27 min (Orig. in Farbe)

VERA MADER

A REDISTRIBUTION OF VIOLENCE

Modulationen der Sorge in Carolyn Lazards«A Recipe for Disaster»

Eine weiße Frau bereitet ein Omelett zu und erklärt dabei, wie sie das Omelett zubereitet. In dem Video A Recipe for Disaster (2018)1 legt die US-amerikanische Künstler_in Carolyn Lazard Audiodeskriptionen und Untertitel über die geübten Handgriffe und genuschelten Anweisungen Julia Childs, Star der US-Kochshow The French Chef (1963 – 1973). Lazards Übersetzungsarbeit ermöglicht einem seh- oder hörbehinderten Publikum nachträgliche Teilhabe an der 1972 ausgestrahlten The Omelette Show; Untertitel stellte der US-amerikanische Public Broadcasting Service (PBS) erst ab 1988 über Teletext zur Verfügung. Zugleich zieht Lazards Bearbeitung neue Barrieren in Form von sich einander überlagernden und gegenseitig verstellenden Rezeptionsebenen ein. Indem nicht-seh- oder -hörbehinderte Rezipierende dazu angehalten sind, Ton und Bild des Videos fortwährend ineinander rückzuübersetzen, verlagert A Recipe for Disaster Erfahrungsräume sozialen Ausschlusses. Mit Julia Child ist eine ikonische Figur nationaler Fernsehkultur aufgerufen, die ein spezifisches Bild weißer Weiblichkeit und Unternehmer_innenschaft verkörpert. Ausgehend von der Inszenierung weißer Reproduktionsarbeit in The French Chef verhandelt das Video und mit dem Video dieser Text die Frage, wen die Nation in der Sorge um sich ein- oder ausschließt, als ein Modulationsverhältnis medialer Ebenen.

«Image and sound that cannot be disentangled»2

Lazards Bearbeitung geht einen Schritt weiter: Von Zeit zu Zeit rollt eine dottergelbe, per Voice-over eingesprochene Textsequenz von unten nach oben über den Bildschirm, die Untertitel und die Audiodeskription zu Momenten des Nicht-Verstehens verschaltet. Das Voice-over ist das Sprechen einer bestimmten, ruhig modulierenden Stimme, die sich über das hektische Treiben unablässiger Omelettzubereitung legt und in meditativer Kontemplation auf einer leicht entrückten Kommentarebene Skepsis gegenüber dem Geschehen zum Ausdruck bringt. Mit jeder Wiederkehr verstetigt sich mein vager auditiver Eindruck, den ich kaum als Varietät des Englischen benennen kann und hier auch gar nicht will: Ob es eine Schwarze Stimme ist, frage ich mich, zuhörend – eine weiße Rezipierende, die US-amerikanische Populärkultur aus geografischer Entfernung konsumiert –, die Stimme einer Schwarzen Frau oder vielleicht Lazards Stimme selbst, die mit der extrem weißen Anordnung dieses Sichtbaren bricht? Was im Folgenden mein analytischer Drehpunkt sein soll, bleibt daher eine ungesicherte – und zugleich problematische – Annahme.3 Ohne mich auf belastbare Evidenz (etwa die einer sichtbaren Schwarzen Sprecherin) zu berufen, vermute ich, Lazards Video führt eine Schwarze Präsenz mit Ansichten eines weißen Haushalts eng.

A Recipe for Disaster verweist auf die Latenz einer imaginierten und unterrepräsentierten Fernsehöffentlichkeit,4 die weniger auf dem Bildschirm, jedoch nicht minder konstitutiv für das ‹gute Leben›5 der US-amerikanischen Mittelklassehäuslichkeit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist. Wie Toni Morrison anhand kanonischer Texte der US-amerikanischen Literatur gezeigt hat, findet Schwarzsein darin kaum Beachtung, obwohl Schwarzes Leben maßgeblich die Entstehung des politischen Systems und die gesamte Kulturgeschichte der Vereinigten Staaten geprägt hat.6 Dazu gehören die historische Kontinuität des Traumas ökonomisch kalkulierten Schwarzen Lebenlassens und Sterbens ebenso wie Kulturen des Widerstands und der Heilung. Morrison insistiert darauf, dass sich eine Schwarze Präsenz bzw. Schwarzsein als disqualifizierendes soziales Ordnungsprinzip implizit oder explizit sehr wohl in der geteilten (literarischen) Imagination und Sprache sowie in textimmanenten narrativen Logiken abzeichne und dass sie von den unscharfen Rändern ins Zentrum der Analyse gerückt werden müsse.7

Der Entzug einer Schwarzen Präsenz erweist sich hier ebenso als programmatisch – nicht nur hinsichtlich der Selbstpräsentation der Künstler_in,8 sondern auch insofern er das Fernsehen als Medium nationaler Normalisierung ausstellt. Vor dem historischen Hintergrund nationaler ‹Uneinigkeit› angesichts des Civil Rights Movement, der feministischen Bewegung der späten 1960er Jahre und des Disability Rights Movement ab den 1970er Jahren verdeutlicht Julia Childs televisuelle Proklamation des «making french food accessible to the masses»9 unter Rückgriff auf die französische Hochkultur einen normalisierenden Impetus nationaler Identität gegenüber den Mitspracheforderungen sich zunehmend ausdifferenzierender gesellschaftlicher Gruppen. Während Lazards Arbeit diesen Moment US-amerikanischer Fernsehkultur in die digitale Umgebung ihrer Website versetzt, legen zusätzliche auditive und textliche Einschreibungsebenen Ränder und Lücken dieses Archivs frei: Zentral scheint also weniger, wen dieses Versprechen hochkultivierter Bedürfnislinderung einschließt, als vielmehr, wie das Video die Aushandlung sozialer Normen mittels der Einschreibung und Auslassung, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit marginalisierter Positionen als Inkommensurables moduliert.

Die Verschränkung medialer Ebenen unterläuft das Vorhaben der Inklusion in die Nation, welche sowohl Zu- und Hinwendung als auch Bevormundung, normative Passung, gewaltvolle Unterdrückung bedeutet. Der sozialen Norm der Inklusion entgegnet Lazards Video mit einer Technik der Modulation: Sofern A Recipe for Disaster die fortdauernde Einübung in diese Gewaltgefüge temporär umwidmet, unterwandert es auch das Projekt des nation-building.

«If you can’t share. Then no one gets any»

Im Browserfenster ist Julia Child zu sehen, die an der Schnittstelle des Fernsehbildschirms für das leibliche Wohlergehen der gesamten Nation sorgte. Ihre Küche ist seit 2001 im Smithsonian National Museum of American History in Washington, D.C.,ausgestellt; denn diese weiße, verschrobene Frau hat Amerika beigebracht, ein Omelett zu wenden.

Inmitten dieser friedlichen weißenUS-amerikanischen Mittelstandsdomestik richtet Julia Child Zerstörung und Unordnung an. Sie wirft Utensilien durch den Raum und zerschlägt ein Ei nach dem anderen. Morrison benennt die vermeintliche Leerstelle einer Schwarzen Präsenz, indem sie auf deren Rolle als «mediating force»oder hervorbringende Kraft und somit als ermöglichende Bedingung eines US-amerikanischen Selbstverständnisses hinweist, wodurch Schwarzes Leben als implizite Bezugnahme eingefasst und zugleich verunmöglicht wird. Schwarzsein wirkt sinnstiftend für eine nationale Kultur, gerade weil es sich ‹im Dunkeln› abspielt.

Die sich darbietende Zerstörung ernst zu nehmen kann bedeuten, The Omelette Show als Wertschöpfung weißer Repräsentationskultur auszulesen, der ebenso die Geschichte kolonialer Gewalt wie ein entlang der Differenzachsen von race, class, dis_ability ausgetragener Diskurs «neoeugenischer» Auslese eingeschrieben ist.10Das Sprichwort ‹You can’t make an omelette without breaking eggs›11 lässt sich hier als allegorische Paraphrasierung bemühen: Die Unterscheidung, wer im Schutz der Nation heranwächst und wer zum Wohl der Allgemeinheit als entbehrlich gilt, geht in einem Verhältnis von Produktivität und Zerstörung auf. Ideelle und materielle Ausbeutung fallen zusammen, wenn die Sklaverei und ihre Nachwirkungen einerseits systemisch die Lebensgrundlage derer verknappen, auf deren (Reproduktions-)Arbeit sie angewiesen ist,12 und eine unterschwellige Schwarze Präsenz andererseits die Imagination eines rassifizierten Anderen US-amerikanischer Identität bereitstellt, welche die kreativen Möglichkeiten einer nationalen Kultur bereichert.13

Mit Morrison möchte ich nachgehen, wie meine Unsicherheit ins Feld des Wahrnehmbaren befördert wird, wenn sich das vermeintlich unmarkierte Weißsein dieser televisuellen Anordnung erst mit der vermuteten Schwarzen Präsenz absetzt. In der unregelmäßigen Wiederholung der Sprechsequenz tritt auch das Weißsein als ein Verhältnis von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit in Erscheinung, bleibt solange im Sichtbaren verborgen, bis mich die Audiodeskription darauf stößt. Statt einer unterschwelligen Schwarzen Präsenz, die ein Weißsein als Norm bestätigt, spielt A Recipe for Disaster vielmehr die Dynamiken dieser Relation aus.

«A redundancy for some. A clarity for others»14

Julia Child führt mit Nachdruck vor, was ein gutes Omelett ist – «it’s flat and it’s French and it’s very lovely and tender and soft».15 Die Fernsehkamera registriert leicht bebend die softness ihrer Eierspeise, die zwischen den (immer gleichen) Pfannen und Tellern hin und her wandernd die (immer gleiche) Formvollendung findet. Französische Omeletts sind von fragiler Beschaffenheit und ihre Herstellung bedarf großer Sorgfalt.

Julia Child spricht direkt zu ihrem Publikum, sorgt sich um das intakte Fortdauern einer imaginierten sozialen Umwelt und das Wohlbefinden aller darin Schutzbefohlenen, eine gestärkte Schwiegermutter,16 wunschlos glückliche Gäste. Sie übt ein Ideal mittelständischer Häuslichkeit ein, das sowohl in der Anleitung des Publikums zu einer proteinreichen Ernährungsweise als auch in der spielerischen Abrichtung der Hausfrau und Mutter besteht. Das Tun und Erklären, Wiedertun und Wiedererklären ist dabei nicht nur im Sinne einer praktischen Übung notwendig,17 sondern stellt in der ständigen Iteration auch die Norm ihrer Ausführung her. Julia Childs Omeletts sind weniger Selbstverständlichkeit als das Produkt aufeinander abgestimmter, am Anspruch weißer europäischer Universalismen geschulter Arbeitsschritte.

Für meinen weißen Blick setzt The French Chef an der Oberfläche die ‹Normalität› einer racelessness durch, welche mit Morrison selbst einen Akt des rassifizierenden Ausschlusses darstellt.18 Julia Child verschwindet beinahe in der homogenen, erbsengelbstichigen Farbgebung ihrer Küche. Das im Sichtbaren verborgene Weißsein ist machtvoll, gerade weil es verborgen bleibt. Untertitel und Audiodeskription markieren das Weißsein der repräsentativen Anordnung und arbeiten die Fragilität dieser Norm in die anheimelnde Mikroansicht der Nation ein.

Indem diese Übersetzungsarbeit nachträglich den Zugang zum Moment nationaler Sinnstiftung justiert, erweitert sie auch das Einzugsgebiet dieser geordneten Verhältnisse. Zur Dynamik weißer Vorherrschaft gehört auch die Anmaßung einer fürsorglichen, belehrenden Haltung gegenüber nicht-weißen, armen oder ‹unproduktiven› Bevölkerungsteilen. A Recipe for Disaster stellt sich auf partielle, situierte Lesarten ein und versucht, den Konstituent_innen eines ausdifferenzierten, allerdings nicht eindeutig identifizierbaren Publikums gerecht zu werden. Der fragwürdige Mehrwert minutiöser Wissensaneignung über die Zubereitung von Omeletts ist in die fragile Konstruktion weißer Normativität eingebunden, die sich nur von ihren Rändern her bestimmen und mit der Bestimmung ihrer Ränder sichern lässt.19 Schließlich ist kaum zu unterscheiden, ob die auf Dauer gestellte Verschränkung medialer Vermittlungsebenen eine notwendige oder vielmehr redundante Wiederholung dessen ist, was ohnehin offensichtlich ist – eine weiße Frau macht ein Omelett. Im Versuch, mithilfe der Übersetzung medialer Modalitäten in- und durcheinander nachträglich einen barrierefreien Zugang zu den televisuellen Bildern zu schaffen, setzt A Recipe for Disaster die Ansprüche eines Weißseins um und verweist zugleich auf den prekären Status dieser Norm: Die Inklusion von Differenz steht unter der Bedingung eines Einvernehmens über einen nicht gegebenen, sondern ständig eingeübten Ist-Zustand. Indem die erweiterten Schrift- und Tonebenen in A Recipe for Disaster Julia Childs Weißsein benennen, brechen sie mit dieser Selbstverständlichkeit und werfen die Frage auf, welchen Platz verkörperte Differenz im Gefüge der Nation einnimmt. A Recipe for Disaster stellt so die Fallstricke einer sorgenden Zuwendung aus, die vormals marginalisierte Gruppen in die Teilhabe- und Anerkennungsstrukturen der strukturell ihre Verletzlichkeit erzeugenden Nation einbindet.

«No legibility for some. Illegibility for all»20

Hortense Spillers konzeptualisiert Domestik als gewaltgetragene Eingliederung in patriarchale und koloniale Strukturen, die ihrerseits in einem Verhältnis von Verdunkelung und Sichtbarmachung bzw. Anerkennung gründet.21 Spillers begreift Domestik in ihrem Artikel «Mama’s Baby, Papa’s Maybe: An American Grammar» zunächst als Metapher eines Gendering, das als Abweichung von der Norm von Beginn an ein Verhältnis der Unterordnung bestimmt.22 Der Einschluss in den häuslichen Raum weise Frauen in die vergeschlechtlichte Sphäre der Reproduktion ein, wobei Schwarzes Frausein innerhalb einer weißen heteropatriarchalen Ordnung undenkbar ist: Als Gegennarrativ zur weißen Domestik zieht Spillers die Schiffe im transatlantischen Sklav_innenhandel heran. Aus einer vergleichbaren Logik räumlicher Begrenzung heraus erzwinge die Atlantikpassage den Übergang in eine ‹amerikanische› Ordnung, in der die (legale) Anerkennung Schwarzer Verwandtschaft in einer Semantik ökonomischen Tauschwerts aufgehoben ist. Angesichts dieser Dehumanisierung Schwarzer als ‹Eigentum› spricht Spillers jedoch von einem «Ungendering».23 Statt der Tradierung weißer patriarchaler Strukturen einen geschützten Raum bereitzustellen, unterbindet diese Verdunkelung in Spillers Gegenerzählung der Domestik Schwarze Genealogie und Verwandtschaft.

A Recipe for Disaster lässt über den geschlossenen Bildraum von The French Chef in eine weiße kulturelle Fiktion des Häuslichen der 1970er Jahre blicken, die sich deutlich von der hochaufgelösten Bildlichkeit zeitgenössischer Screen-Umgebungen absetzt. Lazards Remediatisierung der Fernsehshow im digitalen Raum entkoppelt diese vom Fernsehgerät als sozialem Nukleus, um den sich die weiße Familie gruppiert.24A Recipe for Disaster verbindet eine Stimme, die die Reproduktion weißer Kultur verunsichert, mit der Unmöglichkeit Schwarzer Geschichte innerhalb dieser weißen Anordnung. Die Stimme entgeht selbst der expliziten Verortung. Die im Moment der Domestik / Verdunkelung eintretende Unsichtbarkeit ist ambivalent, denn sie bietet ebenso Deckung vor der Ein- und Unterordnung in das soziale Gefüge der USA. Wenn das Voice-over spricht: «No legibility for some. Illegibility for all»25, scheint das nicht nur die Erweiterung der Modalitäten einer Lesbarkeit zu betreffen, sondern ebenso eine soziale und legale Anerkennung und materielle Lebensgrundlage anzuzweifeln, die von der wohlmeinenden Sorge einer weißen Mutter / Nation ausgeht.

«A sensory failure»26

Was mit den multimodalen Übersetzungen in Lazards Videoarbeit an die sichtbare Oberfläche dringt, sind unverständliche Text-, Bild- und Ton-Verstrickungen, die das erklärte Ziel umfassender Publikumsreichweite als unmögliches Vorhaben ausweisen. Der Omelette Show sind verkörperte Erfahrungen beigegeben, die nicht in die vorliegenden Strukturen der (An-)Erkennung übersetzbar sind.

Dieser unterschwellig widerständigen Dimension möchte ich anhand der audiovisuellen Zeitlichkeit von A Recipe for Disaster nachspüren. Die Übersetzungspraktiken für seh- oder hörbehinderte Rezipient_innen durchwirken den auf Dauer gestellten Lauf der Omelettzubereitung mit der Zeitlichkeit einer «crip time».27Crip time meint mit der Dis_ability / Queer-Theoretikerin Alison Kafer einen Modus der Zeitlichkeit, in dem sich Menschen mit Behinderung oder chronischer Krankheit einer akuten Bedürfnislage entsprechend einrichten.28 Während A Recipe for Disaster also den knapp 29-minütigen one take der Omelette Show von Titelsequenz bis Abspann in voller Länge wiedergibt, führen die Übersetzungsarbeit von Audiodeskription und Untertitel und der Kommentar der Voice-over-Stimme weitere Verfahren der Wiederholung, Überlappung und Sequenzialisierung ein.

So gehorcht die Audiodeskription einer eigenen Geschwindigkeit, die zeitliche Verschiebungen verantwortet, sobald das zu sehen gegebene Geschehen – «she tosses the pan»29 – von kürzerer oder längerer Dauer ist als seine eingesprochene Beschreibung. Sie trägt dem Video eine eigene Dauer ein, die verlangsamende Effekte zeitigt, aber auch Vorwegnahmen begründet.

Das mehrfach überlagerte Zeigen und Erklären der immer gleichen Tätigkeiten taktet sowohl die Abrichtung der Zuschauenden als auch eine eigentümliche Nicht-Zeitlichkeit. Sofern die Einübung sozialer Normen sowie die von Julia Child verrichtete Sorge- und Instandhaltungsarbeit auf Wiederholung basiert,ist im Video eine der sozialen Reproduktion eigene zeitliche Struktur angelegt. Anhand der Verschiebungen, die Audiodeskription, Voice-over und Untertitel im Ablauf der Einübung vornehmen, tragen diese Praktiken der Inklusion eine von Differenz geprägte Zeitlichkeit in die verstetigte reproduktive Tätigkeit ein. Diese crip time dehnt und verkürzt, verläuft nah bei, aber schwenkt nicht auf den Zeitstrahl von Julia Childs Tätigkeit ein. Sie hält, statt das Fortschreiten der Zeit zu durchleben, viel eher dazu an, in der Zeit zu sein, in der nichts passiert, immer das Gleiche passiert, ein Omelett nach dem anderen um des reinen Selbstzwecks der Omelettherstellung willen entsteht.

Ellen Samuels beobachtet, dass die flexible Erfahrung von crip time neben und außerhalb der progressiven Zeitlichkeit der Nationalökonomie liegt.30 Julia Child bietet trotz des häuslichen Umfelds ein Bild von Produktivität, deren mechanische Abläufe A Recipe for Disaster weniger suspendiert, als dass ein zeitliches Vor- und Zurückgleiten den selbstverständlichen Fortlauf des Geschehens arretiert. Zwischen Texteinblendungen und gesprochener Wiedergabe wird diese Asynchronität deutlich: Während der Abspann von The French Chef längst zu Ende ist, spricht die Audiodeskription die Details der Produktion und die Namen der Beteiligten in den schwarzen Bildschirm. Während die visuelle Ebene das Ende der Omelette Show vorwegnimmt, hält die Audiodeskription dieses zurück. Das Projekt barrierefreier Vermittlung, das die auditiven und visuellen Ebenen kontinuierlich ineinander übersetzt, nimmt Verluste in Kauf und produziert Überschüsse. Was hier die Bedingung der Teilhabe von Sehbehinderten ist, stellt im schwarzen Bildschirm ein Defizit an Sichtbarem her und wird als zeitliches Surplus erfahrbar. Doch steht dieser Überschuss quer zur Frage der Wertschöpfung einer weißen Hegemonie: Lazards A Recipe for Disaster überdehnt die Dauer der Vorlage in eine Dunkelheit hinein, in die zum einen die Gültigkeitsansprüche weißer