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Beschreibung

Die Zeitschrift für Medienwissenschaft steht für eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft, die Untersuchungen zu Einzelmedien aufgreift und durchquert, um nach politischen Kräften und epistemischen Konstellationen zu fragen. Sie stellt Verbindungen zu internationaler Forschung ebenso her wie zu verschiedenen Disziplinen und bringt unterschiedliche Schreibweisen und Textformate, Bilder und Gespräche zusammen, um der Vielfalt, mit der geschrieben, nachgedacht und experimentiert werden kann, Raum zu geben. Heft 26 »X | Kein Lagebericht« fordert die Auseinandersetzung mit Rassismus in der Medienwissenschaft auch außerhalb von Forschungsberichten. Dass in einer sich als dekonstruierend verstehenden Wissenschaft kritische Diversität zu kurz kommt, wird als Widerspruch aufgefasst und als »Symptom« in den Blick genommen.

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Seitenzahl: 394

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1/2022

GESELLSCHAFT FÜR MEDIENWISSENSCHAFT (HG.)

 

EDITORIAL

Medienwissenschaft zu betreiben bedeutet immer auch, sich zu fragen, was die Voraussetzungen und Bedingungen der eigenen Forschung sind. Die Medialität von Dingen und Ereignissen wird häufig erst in der Beschäftigung mit ihrer Theorie und Geschichte, ihrer Technik und Ästhetik freigelegt. In diesem Sinne betreibt die ZfM eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft, die Untersuchungen zu Einzelmedien aufgreift und durchquert, um nach politischen Kräften und epistemischen Konstellationen zu fragen.

Unter dieser Prämisse sind Verbindungen zu internationaler Forschung ebenso wichtig wie die Präsenz von Wissenschaftler_innen verschiedener disziplinärer Herkunft. Die ZfM bringt zudem verschiedene Schreibweisen und Textformate, Bilder und Gespräche zusammen, um der Vielfalt, mit der geschrieben, nachgedacht und experimentiert werden kann, Raum zu geben.

Jedes Heft eröffnet mit einem SCHWERPUNKTTHEMA, das von einer Gastredaktion konzipiert wird; in regulären Ausgaben besteht der hintere Heftteil aus den Rubriken EXTRA, DEBATTE, WERKZEUGE, LABORGESPRÄCH und BESPRECHUNGEN. Ausgabe 26 weicht von diesem Schema ab: Die ZfM-Redaktion hat ‹das Heft aus der Hand gegeben› und dem Forum Antirassismus Medienwissenschaft (FAM) zur Verfügung gestellt. Aus dem Forum ist auch die Gastredaktion des Schwerpunkts hervorgegangen. Zum Selbstverständnis der Zeitschrift gehört, für in der Medienwissenschaft emergierende Tendenzen zeitnah einen Resonanzraum zu schaffen – erst recht, wenn die gesellschaftliche Relevanz so überdeutlich ist wie beim Thema Rassismus. Das beinhaltete für diese Ausgabe, mit der inhaltlichen Bespielung auch die Ausgestaltung der Formate und Verfahren der Gastredaktion und den Autor_innen zu überlassen (die z. B. dem Double-Blind-Peer-Review einen offenen Begutachtungsprozess vorgezogen haben).

Getragen wird die ZfM von den Mitgliedern der Gesellschaft für Medienwissenschaft, aus der sich auch die Redaktion (immer wieder neu) zusammensetzt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich an der ZfM zu beteiligen: (1) die Entwicklung und redaktionelle Betreuung eines Schwerpunktthemas, (2) die Einreichung von Aufsätzen und Reviewessays für das Heft und (3) von Buchrezensionen und Tagungsberichten für die Website. Alle Beiträge sind im Open Access verfügbar. Auf www.zfmedienwissenschaft.de befinden sich das Heftarchiv, aktuelle Besprechungen und Web-Extras, der Gender- und der Open-Media-Studies-Blog sowie genauere Hinweise zu Einreichungen.

MAJA FIGGE, MAREN HAFFKE, TILL A. HEILMANN, ELISA LINSEISEN, JANA MANGOLD, BIRGIT SCHNEIDER, FLORIAN SPRENGER, STEPHAN TRINKAUS, THOMAS WAITZ, BRIGITTE WEINGART

INHALT

Editorial

 

X | KEIN LAGEBERICHT

ÖMER ALKIN / JIRÉ EMINE GÖZEN / NELLY Y. PINKRAH

X | Kein Lagebericht Einleitung in den Schwerpunkt

 

CHRISTINE GOUTRIÉ

Rassismus- und herrschaftskritische Faktographie

 

JIRÉ EMINE GÖZEN

Ein Weiterdenken im Anschluss an Christine Goutriés «Rassismus- und herrschaftskritische Faktographie»

 

ESRA CANPALAT

In den Arkaden der Übersetzung Gedanken zu Autoethnografie, kultureller Identität und Authentizität

 

MARY SHNAYIEN

Sichere Räume, reparative Kritik Überlegungen zum Arbeiten mit verletzendem Material

 

LOUIS BREITSOHL / ELISABETH MOHR

The West and the Rest Antirassistische Arbeit als kontinuierliche Praxis des Befragens, Zuhörens und Ansprechens (in) der Filmwissenschaft

 

TILL KADRITZKE

Singuläre Filme und Gefühle «Agency panic», das weiße New Hollywood und das Begehren nach dem Affekt

 

JENS SCHRÖTER

Zum Eurozentrismus im Begriff des Bildes

 

SARA MORAIS DOS SANTOS BRUSS

«A New Science?» Zum antirassistischen Potenzial materialistischer Medienwissenschaften

 

W. J. T. MITCHELL im Gespräch mit ÖMER ALKIN

«Seeing Through Race» & Versuche, durch die Medien (-wissenschaft) zu sehen

 

SARAH SHARMA im Gespräch mit JOHANNES BRUDER und NELLY Y. PINKRAH

McLuhan unter Palmen Über Orte des Denkens, Sprechens und Handelns

 

BILDSTRECKE

 

MIGRANTENSTADL / TALYA FELDMAN / SHARONDA QUAINOO / OFFENER PROZESS / INITIATIVE OURY JALLOH vorgestellt von JIRÉ EMINE GÖZEN

Empathie || losigkeit

 

EINE GRUPPE AUS DEM FAM

Rassismuskritische Arbeit an/in der Medienwissenschaft: Das Forum Antirassismus Medienwissenschaft (FAM)

 

ARBEITSKREIS KANONKRITIK

Welcher Kanon, wessen Kanon? Eine Einladung zur Diskussion

 

MARIE ELOUNDOU / LISA KARST / DULGUUN SHIRCHINBAL

Dear white professors, warum sind alle «Klassiker» ‹weiß›?

 

Protokolliert und arrangiert von JENNIFER EICKELMANN / SOPHIE G. EINWÄCHTER / FELIX T. GREGOR / ULRIKE HANSTEIN und SANDRA KERO

Kamera an, Kamera aus? Ein Gespräch über Sichtbarkeiten in der Videostream-basierten Lehre

 

ARBEITSKREIS UMFRAGE DES FAM

«Wie ‹weiß› ist die deutschsprachige Medienwissenschaft?» Hintergründe, Ergebnisse und Reflexionen zur Umfrage der GfM und des Forum Antirassismus Medienwissenschaft

AUTOR_INNEN

BILDNACHWEISE

IMPRESSUM

X | KEIN LAGEBERICHT

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X | KEIN LAGEBERICHT

Einleitung in den Schwerpunkt

Die Lage: Rassismus und Medienwissenschaft, Rassismus in der Medienwissenschaft

Vor acht Monaten formulierten wir für den Call for Papers dieser Ausgabe: «Medienwissenschaft muss antirassistische Praxis werden und darf sich nicht auf Forschungs- oder Lageberichte beschränken.» Der Lagebericht markiert für uns einen wichtigen Punkt, von dem aus ein solches Projekt in Gang gesetzt werden kann – ein Projekt, von dem wir hoffen, dass es die vielfältigen auf Rassismus bezogenen Aktivitäten außerhalb und die zunehmenden Aktivitäten innerhalb der Medienwissenschaft zu verbinden weiß. Über den Bericht hinaus besteht ein Wunsch nach Verhandlung, Vorstellungskraft und Veränderung. Der Lagebericht hängt dabei maßgeblich mit diesem noch anstehenden Prozess zusammen – wobei Zusammenhang das zentrale Wort ist. Ließe sich eine Erkenntnis (post-)pandemischen Lebens inmitten einer globalen Klimakatastrophe, bestimmt von neoliberalen Ausbeutungsdynamiken sowie mörderischen, nekropolitischen (Kriegs-)Zuständen, destillieren, dann bestünde das Destillat in der Einsicht, dass sie alle miteinander in Verbindung (zu setzen) sind und daher einen Kraftakt des Widerstands, aber auch der Analyse und der Resilienz erfordern. Die zu beschreibende Lage konstituiert sich innerhalb eines schwer fassbaren Zusammenhangs, einer Gewordenheit der Welt. Mit einigen Fragen, die in diesem Heft gestellt werden, möchten wir einen Teil des Zusammenhangs erschließen, den wir in seiner Gesamtheit als zu wenig adressiert erachten. Wir wissen jedoch um sein Wirken.

Unverkennbar und in der Aufmachung schon paratextuell wie parasensuell vorweggenommen ist, dass Rassismus in seiner Varianz und Komplexität im Zentrum dieses Heftes steht:

Rassismus kann als eine Infrastruktur, als ein vielschichtiges System verstanden werden. Er gewinnt seine Stabilität aus einem komplexen Ineinandergreifen intersubjektiver Wahrnehmungen und Handlungen (soziale Praxis), instituierter Ungleichheiten (soziale Strukturen) und der Produktion von Bildern hierarchisierter Differenz (symbolische Ordnung). Rassismus ist nicht umkehrbar. Soziale Experimente (z. B. ‹Dunkles, rätselhaftes Österreich›), die die dominante Herstellung von Differenz umdrehen, sind aufschlussreich, um die Mechanismen von rassistischer Markierung nachzuvollziehen. Sie setzen sich aber nicht als rassistisches Wissen durch, da ihnen instituierte Strukturen fehlen.1

Um Rassismus soll es nicht im Allgemeinen, sondern im Spezifischen gehen – und zwar spezifisch hinsichtlich der deutschsprachigen Medienwissenschaft. Als Wissenschaftskultur ist sie nicht minder herrschaftsmächtig und rassistisch mit den entstandenen Strukturen verbunden.

Die Medienwissenschaft schreibt Geschichte, und es lohnt, immer wieder ihre grundlegende Prämisse zu betonen, dass auch sie Produkt historischer Bedingtheiten ist. Kulturwissenschaftlich versteht sie sich selbst als Meta-Wissenschaft, die umfassend philosophisch dekonstruiert, so weit sogar, dass sie ontologische, epistemologische und zugleich komplexe Verwicklungen im Sinne einer Onto-Epistemologie vorschlägt. Nicht von ungefähr gehören die jungen Science and Technology Studies zu ihren nächsten Nachbarn: Disziplinen, die also Wissenschaftskultur selbst als ihren Forschungsgegenstand adressieren.

War sich die Medienwissenschaft ihrer eigenen Medialität immer bewusst, so gilt es nun, sie selbst auf ihre institutionellen und wissenschaftssystemischen Bereiche rassismuskritisch zu befragen. Eine ‹Störung› des Feldes – durch verschiedenförmige Um-, Ver- und Be-Lagerungen – kann die Medialität ausweisen und sie produktiv machen. In mehrfacher Hinsicht ist das hier aufgerufene Feld kein unbespieltes. So ließe sich an die gesamte Historie der kulturwissenschaftlichen Medienwissenschaft anknüpfen, zu der die feministische Filmtheorie genauso gehört wie die zuletzt verstetigten Verbindungen zur postkolonialen Theorie.2

Das ‹X› im Titel dieses Heftes steht also für ein Durchkreuzen und Durchdenken rassistischer und diskriminierender Mechanismen und Denkweisen. Es geht uns aber auch darum, das Verbindungsmoment, den Kreuzungspunkt im ‹X›, zu erkennen und die bestehenden produktiven Rahmen zu erweitern. Zugleich verleiht ‹X› der Leere eine Form und tritt an die Stelle der Namen und Perspektiven, die uns nicht allen bekannt sind. Es symbolisiert Multiplikation, die vielfältige Formen annehmen kann und polyphon ist. ‹X› adressiert zuletzt das Dazwischen, den Defekt und die Dysfunktionalität, die Ver-, Über- und Quer-Lagerungen sowie die affektiven Schwierigkeiten des Redens und Schreibens über. Letzteres – ein Reden über das Thema in einem Reden mit- und übereinander – hat die Arbeit am Schwerpunkt dieses Hefts ‹mehrlagig› informiert. Es existiert ein Unbehagen an der Unmöglichkeit eines bestimmten Redens miteinander und ebenso die Erkenntnis, Brüche produktiv machen zu müssen. All die erwähnten Lagen können hier (noch) gar nicht erfasst sein. Sie werden im Laufe des Schwerpunkts aber aufblitzen und das ihre tun.

In Black Skin, White Masks entwirft Frantz Fanon eine Dialektik des körperlichen und des epidermalen Schemas.3 Ersteres erlaubt dem Körper, einen Platz in der Welt zu haben, während Letzteres diesen Körper von außen neu zusammensetzt. Innerhalb dieser Spannung, einer Diskrepanz zwischen Körper und Bewusstsein, lässt sich auch für uns erzählen, was irgendwie in Worte gefasst werden muss. Mit dem Heftumschlag suchen wir eine Entsprechung für die Widersprüche zu finden, die die Welt im Allgemeinen und damit auch das Entstehen dieses Schwerpunkts im Konkreten, seinen Einsatz und seine Notwendigkeit, seine Ideen, seine Ermöglichungen, aber auch Versäumnisse und Unzulänglichkeiten durchziehen. Weiß auf Weiß erweist sich demnach als die ‹buchhäutliche› Wiederholung all jener Ambivalenzen, denen auch zwischen dem Umschlag zu begegnen sein wird. Zugleich impliziert weiß ein Spektrum des Weißen, das sich nicht auf eine ontologische Qualität reduzieren lässt: Weißer geht immer und die Nuancen der Farbe sind unendlich. Weniger das Farbspektrum als vielmehr die optische Haptik 4 motiviert jedoch die Idee für den Umschlag des Heftes. Das involviert die Griffigkeit, die Materialität des Heftes, das Angefasstsein und Angefasstwerden sowie das Sich-angreifbar-Machen. All das ist auch verbunden durch eine Verletzlichkeit oder vorsätzliche Verletzung, deren Entstehungsbedingung hier auf den Umschlag – die Spannung zwischen Körperlichkeit und Epidermalem – zurückgeht. Wie lange ein Exemplar wohl jeweils unbefleckt bleiben wird? Ein ‹Heft of color› sollte es gerade deshalb aber nicht werden.

Es wird die Perspektive sein, die die Antwort auf diese Frage bestimmt. Je nach Blickwinkel – auf das Cover und auf jeden Text – und je nach Standort zeigt sich etwas oder lässt sich erkennen, und doch bleibt vieles verborgen. Was Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit in einem solchen Projekt bedeuten, hoffen wir anhand konkreter Fragen und Praktiken zu verdeutlichen. Weil beide mit dem körperlichen und dem epidermalen Schema zusammenhängen, sprechen wir zugleich von Nicht-Wissen oder Unwissen, denn (bestimmtes) Wissen ist verkörpert und ergibt sich erst aus der Spannung zwischen diesen beiden. Verkörpertes Wissen und die involvierte Erfahrung sind es, die wir in einem Heft zu antirassistischer Praxis nur hervorheben können. Wir sind deshalb interessiert an den Dimensionen verschiedener Erfahrungen und ihren Verschränkungen.

(K)eine Einleitung

Ende 2020 formierte sich innerhalb der deutschsprachigen Medienwissenschaft mit dem Forum Antirassismus Medienwissenschaft (FAM) ein Netzwerk, das die durch die Pandemie erzwungene Trennung und Vereinzelung im digitalen Raum aufzuheben und eine gemeinsame solidarische Praxis einzuüben suchte. Diese sollte sich nicht auf eine reflexive Geste der Epistemologie des Fachs reduzieren, sondern eine breit angelegte kritisch-reflexive Befragung des eigenen Denkens, Lehrens, Forschens, Einordnens und Werdens und damit ihrer Kultur bedeuten: also in antirassistische Praxis münden und darüber auch in die Gesellschaft hineinwirken. Diese Bewegung trat bereits im ersten Treffen des FAM als gemeinsames Begehren in Erscheinung. Denn als Beschäftigungs- und Handlungsfeld ist die Medienwissenschaft in ebenjene Strukturen und Kontinuitäten eingebettet, welche rassialisierende Ausschlüsse produzieren.

In diesem Sinne beschränkt sich dieses Heft nicht auf eine ‹inhaltistische› Beschäftigung mit dem Zusammenhang zwischen Medien und Rassismus. Analysen zu rassistischen Repräsentationen und Dynamiken, die medienwissenschaftlich reflektiert werden, konnten nicht unser Anliegen sein: Systemische Reflexion bedingt, die Struktur der eigenen Produktion (die Situation innerhalb der Medienwissenschaft sowie die medienwissenschaftliche Tätigkeit) eben nicht von der Struktur der aus dieser Produktion entstehenden Erkenntnisse zu entkoppeln. Zusätzlich zu theoretischer Begriffsarbeit erfordert diese Aufgabenstellung, Vielstimmigkeit herzustellen, die verschiedenen Perspektiven Raum gibt und deren Situiertheit anerkennt und mitreflektiert. Sie ist eine der Bedingungen kultureller Enthierarchisierung. Das Zulassen, das Fördern und die Reflexion einer solchen Vielstimmigkeit, die offen füreinander (und für ein Anderes) ist, verstehen wir als Grundbedingung antirassistischer Praxis. Damit sind nicht nur unterschiedliche Standpunkte und Positionalitäten gemeint, sondern auch das weitere Aufarbeiten von kolonialen, aber auch präkolonialen Kontinuitäten, die sich durch die (medien-)wissenschaftliche Theorie- und Kanonbildung sowie Geschichtsschreibung ziehen. Dabei gilt es im Blick zu behalten, dass koloniale Kontinuitäten sich nicht auf Theoriebildung und Wissenschaft beschränken, sondern Kolonialismus für viele Menschen weiterhin eine Realität ist.

Eine der Schwierigkeiten rassismuskritischer Arbeit liegt in der Gefahr, den Unterschied zwischen Perspektiven von denen, die von Rassismus betroffen sind, und denen, die davon nicht betroffen sind, zu nivellieren. Im FAM war man sich einig, dass ein Team, zusammengesetzt aus sich als nicht-weiß verstehenden Medienwissenschaftler_innen, diese Ausgabe verantworten sollte, weil ihre rassialisierten Subjektivitäten als Medium der Perspektivierung dienen können. Diese aus einer von vielfältigen Unsicherheiten geprägten Suchbewegung hervorgegangene Arbeitsteilung zielte nicht nur darauf ab, marginalisierte Perspektiven, Positionen und Namen zu repräsentieren. Sie entstand aus dem Begehren, einen Prozess anzustoßen, in dem reflektiert werden kann, was die Positionsabhängigkeit des jeweiligen Denkens, Sprechens, Tuns und Wahrnehmens bedeutet und welche Unterschiede sicht- und adressierbar werden.

Vielfach wird einer solch ‹positiv diskriminierenden› Perspektive, die für die Notwendigkeit der Inklusion eines ‹strategisch-essentialistischen›5 Erfahrungswissens argumentiert, identitätspolitisches Kalkül unterstellt. Braucht es die Rassialisierten, um Rassismus überhaupt angemessen verhandeln zu können? Das nicht. Allerdings stellt Sozialisation selbst eine komplexe (oftmals nicht intendierte) Recherche-, eher noch Habitualisierungsform dar, die nicht anderweitig erreicht werden kann. Die Frage ist also nicht, ob es die Rassialisierten braucht, um Rassismus angemessen beschreiben, analysieren und verstehen zu können, sondern ob nicht jene Perspektive der Rassialisierten selbst für die Kultur der Beschreibbarkeit, der Analyse und der Deutung gerade deswegen erforderlich ist, weil sie aufgrund des Rassismus ausgeschlossen geblieben ist. Wenn der Medienwissenschaft also Perspektiven von Subjekten in der Subjektivierungsform der_des Rassialisierten fehlen, ist dies ein substanzieller Teil der Betroffenenkultur, der nicht Teil der Auseinandersetzung ist. Dieses Defizit scheint uns fatal. Wir haben der Medialisierung in Form unserer Subjektivitäten zugestimmt, dabei ist Rassialisierung nicht der einzige, aber ein sehr spezifischer Teil dieser Subjektivität.

Andersherum wäre die Frage: Dürfen Weiße über Themen sprechen, die sich ihrer Betroffenheitssphäre entziehen? Das darin enthaltene essentialisierende Moment tritt schnell zutage, insofern Inhalte oder Themen natürlich frei von der identitätslogischen Beschaffenheit des Aussagesubjekts bleiben können. Es muss kein intrinsisches Bündnis zwischen Aussagesubjekt und Inhalt geben. Das bedeutet aber nicht, dass die Handlung des Aussagens jemals unter gleich(berechtigt)en Bedingungen möglich sein kann. Anders gesprochen: Wir können unsere Welt nicht von ihrem Werden entkoppeln oder den Inhalt vom Kontext. Tun wir das, so verkennen wir die «intraaktive»6 Verschränkung, die zwischen Tun und Ergebnis besteht. Das produktive Aufbrechen der Dichotomie von Inhalt und Form – jener Dichotomie, die von der Medientheorie und mehr noch in der Philosophie in schier unendlichen Kombinationen dekonstruiert wurde – durchzieht als Muster und Raster nahezu alle Beiträge des Schwerpunktteils dieser Ausgabe der ZfM.

Es scheint bezeichnend, dass in der Medienwissenschaft die Reflexion des Offensichtlichsten, dieses dualen pattern, dort logisch aussetzt, wo die rassialisierenden Dynamiken am wirkmächtigsten sind. ‹Form› steht hier für die medienwissenschaftlich-kulturelle Matrix, ihren Beschäftigungsapparat, ihre Umwelt, ihr System bzw. ihr Medium; und ‹Inhalt› steht für die Theorien, Methoden und Erkenntnisse der Medienwissenschaft, die sie als (zumeist) textuellen Sinn erzeugt.7

Das Spektrum zwischen Konvention und Systementhebelung: Überlegungen zum Umgang mit Rassismus in der Medienwissenschaft

Teil 1 – Die Konvention des Schreibstils beherrschen/unterminieren können

Wenn sich aus dieser Einleitung unterschiedliche Stimmen heraushören lassen, so ist das dem Umstand geschuldet, dass wir sie nur teilweise einer homogenisierenden Orchestrierung unterzogen haben. Zur Konvention wissenschaftlicher Textproduktion gehört sicher auch die Einheitlichkeit im Stil. Die Einleitung widersetzt sich dieser Konvention in mehrfachem Sinne: als Intervention, um das hegemoniale Moment, das die Konvention aus historischer Beständigkeit machtvoll entlehnt, zu irritieren; denn antirassistische Praxis besteht nicht nur in der Hinterfragung des Status quo, sondern auch in seiner Provokation, Irritation, Dekonstruktion. In diesem Anliegen, die Ordnung der Dinge zu destabilisieren, ähnelt antirassistische Praxis künstlerischer Arbeit, bezieht sich aber – wie die meisten marginalisierten Interventionsformen – nicht in willkürlichem Maße auf das System (Pataphysik), innerhalb dessen es durchkreuzende Rupturen im Sinnhaften zu hinterlassen sucht. Antirassistische Praxis bezieht sich dezidiert auf solche Kritik, die die Ordnung der Dinge vor allem im Rassistischen berührt.

Wenn hier also durch die Nichtauflösung unterschiedlicher Schreibstile einer Polyphonie der Stimmen Raum gegeben wurde, so könnte dies in einer vornehmlich rassialisierten Lesart als Unfähigkeit gedeutet werden, Einheitlichkeit im Schreiben herzustellen. Oder aber die Entscheidung und Gestaltung wird in dieser Doppelfunktion, als Repräsentation der Vielfältigkeit der Stimmen sowie als performativ-bewusste Intervention wahrgenommen und damit in einen Raum übertragen, in dem die kulturelle Konstruiertheit der Herausgeber_innenschaft nicht durch das Medium race deformiert wird. In der zweiten Lesart ginge es um das Moment einer Bindung, die den Rassismus hinter sich zu lassen sucht, während die erste Lesart eine Paranoia freisetzt, die in der Ordnung der Dinge und damit im Ausschluss des Anderen ihr Eigenstes stabilisiert wissen will.

Wichtiger als die Entweder-oder-Logik der Frage, ob die Bändigung der multiplen Schreibstile Unfähigkeit oder Absicht ist, ist der selbstbefragende rhetorische Modus, den das Bedenken solcher rassialisierten Deutungsmöglichkeiten des Außen permanent hervorbringt.

Zur Notwendigkeit einer Ontologie des Rassismus, die es ermöglicht, gegen Rassismus zu argumentieren

Insbesondere die Geistes- und Kulturwissenschaften kennzeichnet, dass die von ihnen produzierten Textkulturen undurchdringlich erscheinen. Die Auseinandersetzung mit dieser komplexen und sehr oft unzugänglichen Textkultur führt angesichts der Unsicherheiten von meist mehrsprachig aufwachsenden Migrant_innen oder PoC wiederum dazu, dass die Kämpfe des Bestehens und Überlebens im Studium besonders viel Unsicherheit hervorrufen: Es entstehen Gefühle der Unzulänglichkeit.8 Solche Gefühle gehören wie in vielen anderen Arbeitsbereichen dazu; doch das Gefühl auf Seiten von Migrant_innen ist strukturell um ein Vielfaches öfter anzunehmen, insofern Mehrsprachigkeit schon auf systemischer Ebene beispielsweise in der Schule rassistisch kategorisiert und eingeordnet ist und sich eine solche Kategorisierung an der Hochschule anders gelagert fortführt.

Obwohl linguistische Studien nachweisen, dass mehrsprachiges Aufwachsen und Leben die betreffenden Subjekte und ihre Umwelt grundsätzlich kulturell bereichert, wird in früherzieherischen und schulischen Kontexten häufig eine Zwei-Standard-Praxis umgesetzt, die zwischen wertvollen und wertlosen Mehrsprachigkeiten unterscheidet.9 Während sogenannte ‹Prestigesprachen› wie etwa Französisch als nicht-benachteiligend empfunden werden, wird das Sprechen der arabischen, türkischen sowie vieler weiterer nicht-westeuropäischer Sprachen (sogenannte low-culture-Sprachen) als Benachteiligung für die Bildungssozialisation betrachtet. Diese ungeförderte und grundsätzlich auch unterdrückte Mehrsprachigkeit erlaubt es den betroffenen Generationen nicht, eine hohe Sprachsouveränität zu erlangen. Im Kontext eines besonders sprachsensiblen und sprachkomplexen Studienumfelds wie den Kultur- und Geisteswissenschaften reproduzieren sich so die schon in der früheren Bildungssozialisation angelegten Benachteiligungen und Verunsicherungen. Oder auch anders und für das Fach gewendet: Produktivität innerhalb der Medienwissenschaft verlangt immense Sprach- und Denksouveränität. Das mit medienwissenschaftlichem Tun verbundene Anforderungsprofil ließe sich nicht nur auf die Kompetenz der Sprachfähigkeit beziehen, sondern unentwegt fortspinnen. Insofern das Kompetenzprofil bestimmte Milieus und Kulturen favorisiert und andere benachteiligt, ist es rassistisch strukturiert und diese rassistische Reproduktion setzt sich permanent fort.

Wie gehen wir als Gastherausgeber_innenteam des Schwerpunkts nun mit dieser double-bind-Struktur der Rassialisierung um? Ein double bind ist sie deswegen, weil jede hier für die Ausgabe getroffene Entscheidung eine Mentalisierung auf Seiten ihrer Leser_innenschaft voraussetzen muss, deren Gestaltetheit nur zwischen den Polen von ‹rassialisiert› oder ‹nicht-rassialisiert› möglich erscheint. Insoweit wir hier also eine Ausgabe zu Rassismus avisieren, die antirassistische Möglichkeiten für die Medienwissenschaft produktiv zu verhandeln sucht, stellt das Konzept des Rassismus und so auch die Annahme der Existenz rassistischer Dispositionen, die sich in Institutionen niedergeschlagen haben und die eine als weiß angenommene Medienwissenschaftskultur voraussetzt, ein essentialistisches Bezugsfeld dar.

Wir sind uns also der Ontologien im Heft bewusst. Wir benötigen sie, um Argumente im Sinne einer diskursiven Verhandlungsstruktur artikulieren zu können. Anhand der Erörterung von Strategien des Peer-Review-Verfahrens sollen nun exemplarisch zwei Wege antirassistischer Wissenschaftsarbeit verhandelt werden.

Teil 2 – Die Konvention der Beitragsinklusion beherrschen/unterminieren können

Die Abfassung medien- und kulturwissenschaftlicher Texte ist geprägt von einer Reihe von Konventionen. Dazu zählt, dass spezifische Techniken und (Wissens-)Kompetenzen beherrscht und ausgebildet werden, etwa die Herstellung eines Theorieüberhangs, der die Infragestellung von Parametern wie Objektivität mit sich bringt; die Meisterung erkenntnistheoretischer Grundannahmen; die Einübung anti-essentialistischen Denkens von Konzepten wie Natur, Kultur, Sprache, Bild sowie die Vermeidung einer Reduktion des Medienbegriffs auf technische Medien (TV, Computer, Radio usw.).

Als erfolgreiche Texte unserer Disziplin gelten meist solche, die oben Genanntes erfüllen und diskurshistorisch kompetent und systematisch die von ihnen avisierte medientheoretische Reflexion darbieten. Angesichts der epistemologischen Voraussetzungen aktueller herrschaftskritischer Diskurse (Postkolonialismus, Antirassismus, Anti-Eurozentrismus) können jedoch den Maßstäben der Medienwissenschaft entsprechende Texte den Techniken und Wissenskompetenzen der Themen, die auch das vorliegende Heft motivieren, zuwiderlaufen, können sie doch in ihrem Habitus postkoloniale, rassistische und eurozentrische Dynamiken reproduzieren – selbst dann, wenn sie gegen die genannten Herrschaftskräfte anzuschreiben glauben. Herrschaftskritik verkümmert in solchen Texten zur performativen Geste, die mehr einem Trend folgt, als einer Infragestellung der eigenen Verstrickungen in Herrschaftsprozesse und -systeme.

Der Ein- oder Ausschluss von Beiträgen, auch für den Heftschwerpunkt, folgt nicht etwa einer allgemeingültigen Gebrauchsanweisung, sondern steht in einer Wechselwirkung mit geltenden Normierungen dessen, was als angemessener Schreib- und Denkstil und was als inklusionswürdige Position (etwa Status, aber auch Identität, beide hängen voneinander ab) angesehen wird.

Während Texte, die im medienkulturwissenschaftlichen Kontext erfolgreich sind und funktionieren, den einen Pol repräsentieren, stellen andere Texte den entgegengesetzten Pol innerhalb des Spektrums zwischen der Beherrschung der Schreib- und Forschungskonventionen des Faches und ihres Aufbrechens dar. Texte können handwerkliche Mängel und Nicht-Beherrschungen von Kompetenzen aufweisen, die eine umfassende Überarbeitung notwendig machen, aber dafür den medienkulturwissenschaftlichen Diskurs vorantreiben. Dennoch würde ein solcher Text durch die üblichen Raster, wie etwa ein Double-Blind-Peer-Review-Verfahren, fallen. Wissens- und wissenschaftskritische Beiträge sowie einzelne, teilweise assoziativ-kreative Ideen verpuffen, weil die Erfüllung normativer Prinzipien (die nicht nur wissenschaftlicher Art sind) die Grundlage für Inklusion bildet. Welcher Text also aufgrund welcher Qualitäten oder Unzulänglichkeiten wann und warum aufgenommen oder ausgeschlossen wird, betrifft auch in ganz besonderem Maße die Frage danach, welche Autor_innen und welche Qualitäten oder Unzulänglichkeiten wann als schützenswert erachtet werden.

Solch eine Figuration von Entscheidungen im Zusammenhang von Inklusion und Exklusion unserer Schriften macht die wertekulturelle Situation deutlich, in der die Beherrschung der notwendigen Minimalkonventionen des Faches vor andere Werte wie Originalität, Experimentalität oder Innovation gestellt werden: Werte, die in einem Text stark ausgeprägt sein können, ohne dass damit seine Aufnahme in das System der ‹funktionierenden Texte› gesichert wäre. Doch die Beschreibung arbeitstechnischer oder textkultureller Gründe stellt nur eine Facette einer mächtigen strukturellen Dynamik dar, die Konventionen vor anderen, systemdestabilisierenden Werten favorisiert.

Die (unbewussten) Mechanismen bei der Einordnung der Arbeit von als PoC angenommenen Wissenschaftler_innen stehen oftmals unter mehrfachem Vorbehalt, der als rassistisch zu verstehen ist. Insofern der Rassismus darin besteht, PoC tendenziell weniger wissenschaftsintellektuelle Befähigung zuzusprechen, kann diese Dynamik für die vorliegende Ausgabe nicht ausgeschlossen werden. Nehmen wir also an, wir hätten unkonventionelleren Texten den Vorzug gegeben sowie unkonventionelle Textwerte vor konventionelle gestellt, wäre nicht auszuschließen gewesen, dass unsere aktive Entscheidung, systemfreundliche Werte dieses Mal nicht zu favorisieren, als Unfähigkeit ausgelegt worden wäre, solche konstitutiven Konventionen des Systems zu bestimmen.

Derartige Konjunktive internalisieren sich auf Seiten Rassialisierter, bei denen ein enormer Beweisdruck entsteht bzw. auch soziopsychisch angeeignet wird. Selbstverständlich sind auch weiße Nachwuchswissenschaftler_innen von solchen Psychodynamiken nicht ausgenommen; aber rassistische Dispositionen erzeugen eine größere Wahrscheinlichkeit dafür, dass Lesarten des wissenschaftlichen Handelns von PoC sich mit rassistischen Dynamiken verschränken.

Teil 3 – Die Konvention des Peer-Review-Verfahrens beherrschen/unterminieren können

Wir haben für diesen Schwerpunkt das Peer-Review-Verfahren geöffnet, um einerseits die meist unsichtbar bleibende Arbeit des Begutachtungsverfahrens sichtbar zu machen. Andererseits sollte ein gemeinsames Denken an Texten und Themen dazu beitragen, den in dieser Ausgabe geführten Diskurs zu stärken und weiterzutragen. Die in die jeweiligen Texte integrierten Zitate aus den Gutachten dokumentieren diesen Prozess. Warum war es uns wichtig, diese Arbeit sichtbar zu machen? Unsere Annahme ist, dass die bestehenden Strukturen Lebensweisen und Existenzmodi begünstigen, die auf dem Ausschluss rassialisierter Positionen beruhen.

Beim Double-Blind-Peer-Review-Verfahren, das als oberstes Kriterium das Qualitätsprinzip behauptet, soll Gerechtigkeit durch ‹Blindheit› hergestellt werden. Ein Open-Peer-Review-Verfahren scheint dem Qualitätsprinzip nicht in dem Maße zu widersprechen, als dass der mit dem ‹blinden› Verfahren einhergehende mögliche Qualitätsgewinn mehr wert wäre, als die Prinzipien Solidarität, Umsicht, Fairness und Vertrauen. Eine Zeitschriftenausgabe, die sich antirassistischer Praxis widmet, kann nicht zwischen den Polen einer positiven Diskriminierung und einer Vorstellung, dass das Verfahren nicht-rassistisch sein könne, da es (rassismus-)blind ist, stecken bleiben. Sie muss insofern jenseits dieser Prämisse der Gerechtigkeit durch Blindheit liegen, als sie einem Prinzip der Minimalschädigung folgt. Der Ausgangspunkt antirassistischer Arbeit besteht stets darin, die mögliche Verletzlichkeit des_der Anderen durch die Schaffung von Strukturen zu minimieren. Unverletzlichkeit kann es nicht geben, schon gar nicht dort, wo Produktion in ein kapitalistisch funktionierendes System eingebettet ist. Dort, wo es möglich ist, menschliches Leben durch die Verweigerung der Anerkennung einer irgendwie geleisteten Arbeit zu schädigen, kann es keinen Antirassismus geben – gemeint sind solche Strukturen also, die Schädigung und Gewalt fortschreiben. Dort, wo Qualitätssicherung die Maximalpredigt ist, kann die Anerkennung der menschlichen Fragilität keine Maximalprämisse sein.

Zur Logotektonik des Schwerpunktteils

Antirassistische Arbeit setzt an unterschiedlichen Bereichen an. Die Logotektonik des Heftschwerpunkts adressiert demgemäß konkrete Praxisbereiche wie Forschung, Lehre, wissenschaftliches Schreiben; sie sucht darin auch im Hinblick auf Theorie(-bildung) produktive Momente für die medienwissenschaftliche Forschung zu finden.

Die Beiträge zu diesem Heftschwerpunkt zeigen ein Spektrum an antirassistischen Interventionsmöglichkeiten, das von inklusiven Epistemologien (Schröter), die auch ein Potenzial materialistischer, d. h. situierter Medienwissenschaft darstellen (Morais Dos Santos Bruss), bis zu exzessiven Selbstreflexionen (Goutrié) reicht. Es umfasst strategisch (ent-)essentialisierende Subjektivierungstaktiken, die als Überlebens- und Widerstandsstrategien gegen Rassialisierung eingesetzt werden (Canpalat), ebenso wie affektive kritische Strategien im Umgang mit verletzendem Material, die reparativ statt paranoid verfahren (Shnayien). Teil dieses Spektrums sind überdies dekonstruktive Ansätze, diskurshistorisch-kritische Selbstbefragungen theoretischer Trends und ihre Rückbindung an Überlegungen aus der Kritischen Weißseinsforschung (Kadritzke) oder der postkolonialen Theorie (Breitsohl und Mohr).

Angesichts dieses Spektrums wird deutlich, dass die vorgestellten Interventionsvorschläge Ideen und Konzepte aufgreifen, die zum Repertoire der Medienwissenschaft gehören. Der Kluft zwischen der ‹inhaltistischen› Produktion (vielfältiger Formen medienwissenschaftlichen Wissens) und der kulturellen Matrix, die die Produktionsbedingungen der Medienwissenschaft involviert, ließe sich auch mit grundsätzlich medienwissenschaftlichen Parametern begegnen: Form, Inhalt, Prozess sind getrennt voneinander nicht angemessen zu erfassen.

Zu den Beiträgen

CHRISTINE GOUTRIÉ geht anhand der Verfahrensweisen und Methoden der in den 1920er Jahren in der Sowjetunion entwickelten Faktographie möglichen Kreuzungspunkten von Hochschullehre und antirassistischer Praxis nach. Anschließend an Donna Haraways Konzept des situierten Wissens sowie an critical whiteness erörtert sie, mit welchen Methoden und Praktiken es im künstlerisch-gestalterischen Lehren der Grundlagen digitaler Medien möglich werden kann, das eigene Denken und Wissen auf Rassismen und Eurozentrismen hin zu befragen und in einen Dialog mit den eigenen Privilegien einzutreten. JIRÉ EMINE GÖZEN reflektiert hier ‹weiterdenkend› die Notwendigkeit, die Verteilungslast jener rassismus- und machtkritischen Interventionen zu differenzieren: Die strukturellen Dimensionen von weiß (im Sinne einer normativen Unsichtbarkeit) sowie nicht-weiß reglementieren nach wie vor, welche Positionen sich davon ausnehmen können, ob sie jene Interventionen denken und vor allem performieren müssen.

Die Verletzlichkeit in der Selbstoffenbarung und -positionierung zwecks Widerstands gegen Rassismus zeigt sich am vehementesten in ESRA CANPALATS Beitrag. In ihrem Text geht sie Fragen nach der Verflechtung der eigenen Forschungsarbeit und ethnischer Subjektivität nach. Ausgehend von der Erfahrung, dass sowohl innerhalb der weiß und eurozentristisch geprägten Akademie als auch in deutsch-türkischen und türkischen Kontexten Authentizität zugesprochen, in Frage gestellt oder auch abgesprochen wird, reflektiert sie, welche Formen der Übersetzung des Denkens, Schreibens, Forschens und In-der-Welt-Stehens aus einer kulturell hybriden Zwischenposition möglich sind.

Dem Thema der Verletzlichkeit widmet sich aus einer anderen Perspektive auch der Beitrag von MARY SHNAYIEN, indem er untersucht, in welchem Verhältnis wir Forschende zu uns affizierendem Material stehen und welche mitunter paranoiden Reaktionen und Umgangsweisen dadurch hervorgerufen werden. Ausgehend von Eve Kosofsky Sedgwicks Modell des paranoid and affective reading und der Reflexion darüber, was Sicherheit innerhalb dieses abgesteckten Rahmens bedeuten soll und kann, wirft der Beitrag eine zentrale Frage auf: «Wie ist eine Kritik an verletzendem Material möglich, ohne die Affektkulturen des analysierten Materials […] strukturell [zu] wiederholen?» Wie setzen wir also gemeinsam antirassistische Praxis um?

Der Beitrag von LOUIS BREITSOHL und ELISABETH MOHR adressiert explizit kommunikative Modi, wobei die Form des Textes performativ seiner eigenen Diagnose folgt: Ein Weg zu antirassistischer Praxis könnte im Auffinden und Erlernen anderer Formen wissenschaftlichen Schreibens liegen. Zweigeteilt und dennoch kollaborativ geschrieben erzeugt der Beitrag ein Spannungsverhältnis, welches sich zwischen Vehemenz und Vorsicht, zwischen Forderung und Befragung, zwischen Ausbruch und Einsicht erhält. Zunächst überlegt Louis Breitsohl, wie antirassistische Arbeit in der Akademie aussehen kann. Im Anschluss geht Elisabeth Mohr anhand der Suche nach einer eigenen Positionierung der Frage nach, wie es aus dem Kontext der westlichen Wissensproduktion möglich wird, sich an die Seite von marginalisierten Positionen zu stellen.

Sind mit Postkolonialität und Eurozentrismus zentrale Konzepte aufgerufen, die eine hegemoniekritische Reflexion der wissenschaftskulturellen Situation der (Medien-)Wissenschaften besonders effektiv zu leisten imstande sind, erlaubt noch ein dritter, besonders ambivalenter Begriff, die Situation der Medienwissenschaft produktiv zu reflektieren: ‹Weißsein›. TILL KADRITZKE demonstriert, wie die Hinterfragung eines medienwissenschaftlich präferierten Theoriefeldes, namentlich der Affekttheorie in Bezug auf die Filmgeschichte, über die Kategorie des Weißseins rassismusanalytisch fruchtbar gemacht werden kann. In seinem Beitrag analysiert er die gegenkulturelle Filmbewegung des New Hollywood und zeigt, inwiefern der wissenschaftliche Rekurs auf die Affekttheorie eine Vernachlässigung der politisch notwendigen Sinndimension mit sich bringt. Die Entkopplung von Repräsentation und Affekt erscheint nämlich gerade dort möglich, wo Weißsein eine aus der eigenen soziokulturellen Matrix entstrickte, entkontextualisierte Philosophie voranzutreiben vermag, welche die Affekttheorie ermöglicht.

Neben dem Konzept der Sprache ist es sicher auch das Konzept des ‹Bildes›, das als universales mediales Prinzip jene epistemologisch universalisierenden Tendenzen des Westens in philosophischer Hinsicht deutlich macht. Es ist der Beitrag von JENS SCHRÖTER, der mit dem Wunsch nach einer global-additiven Epistemologie die Eurozentrismen des westlichen Bilddiskurses kritisch reflektiert.

Bedeutet diese epistemologische Additivität, die Schröter einfordert, nach einem regional dem Eigenen Fernliegenden (global-enthierarchisiertes Wissen) zu suchen, geht der Beitrag von SARA MORAIS DOS SANTOS BRUSS wieder in die ureigenen Gefilde medienwissenschaftlicher Theoriebildung zurück: Antirassistisches Potenzial liegt nicht (nur) in denjenigen Subjekten, die Medienwissenschaft betreiben, sondern auch in deren paradigmatischem Theorierepertoire. Die Autorin konkretisiert diese Behauptung in ihrer Kritik an einer spezifischen Genealogie von Friedrich Kittlers ‹medialem Apriori› und indem sie einen Anschluss an Arbeiten Sylvia Wynters herstellt. Sie zeigt, in welcher Weise race und Medientechnik miteinander konstitutiv wirken und wie dies durch eine materielle, d. h. entschiedener situierte Medienwissenschaft mitgedacht werden muss.

Die Interviews

Im Interviewsegment des Schwerpunkts finden sich zwei Beiträge, die in ihrer Stoßrichtung und ihrer Verhandlung von rassistischen Dynamiken jeweils zwei Pole aufspannen. Die vielfachen Wechselwirkungen von Übersetzung und dem, was damit einhergeht, sind Thema des ersten Interviews von ÖMER ALKIN mit W. J. T. MITCHELL. Der Fokus des Interviews richtet sich auf Mitchells Buch Seeing Through Race, dessen medientheoretische Prämissen und Relevanzen Alkin im Gespräch adressiert.10 Mitchell versteht das Problem von race als ein medienpädagogisches und macht entsprechend die Prämisse seines Buchs stark: Wären wir alle medienkompetenter und rationaler im Umgang mit race, könnten wir angemessener mit unserer Paranoia umgehen.

Im Gespräch von JOHANNES BRUDER und NELLY Y. PINKRAH mit SARAH SHARMA geht es um Marshall McLuhans Erbe, den Umgang mit seinem Werk sowie mit der Institution. Wenngleich McLuhan über race, Geschlecht und Klasse nicht per se und jenseits der etablierten männlichen und weißen Position nachdenkt, ist in seinen Konzepten die Anerkennung des Umstands angelegt, dass diese Kategorien technologisch produziert werden. Sharma stellt den Fokus rekursiv in Bezug zur eigenen Positionalität und zeigt so Möglichkeiten auf, die singulären Narrative des Theoretikers zu ergänzen und aufzubrechen. Der eigene praxeologische Modus, so entsteht der Eindruck, korrespondiert auch mit Sharmas Existenzmodus – sie entwickelt ihre Inhalte aus ihren Praktiken und auch darin findet sich ein selbstbezügliches Moment.

Unsagbarkeit und Zukunft

Wie viele Ebenen der Reflexion, der Abstraktion, des Metadiskurses lassen sich überhaupt öffnen, um etwas zu erzählen, was zwar erzählbar, aber nicht sagbar ist? Die unausgesprochenen Konventionen dafür, was eben nicht sagbar ist, verändern sich je nach Situation und Kontext, je nach Involviertheit und Bezug, je nach Taktik oder Strategie. Nach dem Produktionsprozess dieser Ausgabe ist klar, was wir alle bereits wussten: Keine Institution ist frei von Mechanismen, die gesellschaftliche Unterdrückungssysteme produzieren, Erstere sind jedoch vielfältig und flexibel.

Es macht strategisch keinen Sinn, alles transparent zu machen, jedes falsche Wort abzutippen, jede Stimmung zu beschreiben, alles auszubuchstabieren und verhandeln zu wollen. Dennoch gilt es einen Umgang zu finden mit all dem, was nicht transparent gemacht werden soll oder darf.

Die Medienwissenschaft kann nur dann ihren eigenen Prämissen von Machtkritik, der Horizontalisierung von Handlungsmacht, der ent-ontologisierenden Essentialismuskritik und vielem mehr genügen, wenn sie diese als Kultur auch selbst lebt. Zwischen den theoretischen Ambitionen der Medienwissenschaft und ihrem eingeschränkten Willen, ihre eigene kulturelle Matrix für Rassialisierte und andere Andere zu öffnen, besteht ein konkretes Band, dessen Kritik in etwa der Kritik von postkolonialen Theoretiker_innen über die Diskursohnmacht/Unhörbarkeit von Subalternen entspricht.11 Dieses Argument ist nicht neu und muss trotzdem von einer Medienwissenschaft, die sich mit diesen Themen auseinandersetzt, in die eigene wissenschaftskulturelle Praxis übersetzt werden, um nicht in einer leeren Geste zu erstarren.

Wie wollen wir weitermachen: die Bedingungen unseres eigenen Arbeitens nach außen abschotten – vielleicht auch in Richtung anderer Disziplinen und Aktivitäten außerhalb der Wissenschaft als permanente Legitimation gegenüber den Natur- und Sozialwissenschaften –, indem wir unsere Expert_innenkultur ins Exorbitante einer Produktivität führen und dazu das rassistische System weiter nutzbar halten und weiter nutzen; oder indem wir auch bei der eigenen Wissenschaftskultur und im eigenen wissenschaftskulturellen Handeln jenen herrschaftskritischen Annahmen treu bleiben, die unser Fach im Tiefsten berühren – und dabei trotzdem weiter überleben. Es ließe sich das alles auch verkürzen – und wir meinen das weniger medial-gouvernemental,12 als es klingt: Die Zukunft der Medienwissenschaft liegt in Ihren Händen. Was werden Sie damit machen?

ÖMER ALKIN, JIRÉ EMINE GÖZEN, NELLY Y. PINKRAH

1  Maisha-Maureen Auma: Rassismus, in: Bundeszentrale für politische Bildung. Dossier Migration, 30.11.2017, bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration/223738/rassismus (16.1.2022).

2  Die Breite des Spektrums der Ansätze und Überlegungen, die hierzu in den letzten Jahren entstanden sind, zeigt sich insbesondere in der Buchreihe Post_koloniale Medienwissenschaft, die seit 2013 von Ulrike Bergermann im transcript-Verlag herausgegeben wird.

3  Vgl. Frantz Fanon: Black Skin, White Masks, New York 1952.

4  Vgl. Laura U. Marks: The Skin of the Film. Intercultural Cinema, Embodiment, and the Senses, Durham, London 2000.

5  Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, übers. v. Alexander Joskowicz, Stefan Nowotny, Wien 2007.

6  Vgl. Karen Barad: Agentieller Realismus, Berlin 2012.

7  Dies sei hier bewusst so formuliert, ohne den materiellen Anteil dieser Texte zu vergessen, ganz im Sinne von Haraways «materiell-semiotischem Knoten», vgl. u. a. Donna Haraway: Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, in: Feminist Studies, Bd. 14, Nr. 3, 1988, 575–599, hier 595.

8  Vgl. hierzu auch den Text «Dear white Professors» in diesem Heft, 172–179.

9  Vgl. Brigitta Busch: Mehrsprachigkeit, Wien 2013, insb. Kap. 2 und 3.

10  W. J. T. Mitchell: Seeing Through Race, Cambridge (MA) u. a. 2012.

11  Spivak: Can the Subaltern Speak?

12  Vgl. Timo Skrandies: Mediale Gouvernementalität, in: Vittoria Borsò (Hg.): Wissen und Leben – Wissen für das Leben. Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik, Bielefeld 2014, 281–304.

CHRISTINE GOUTRIÉ

RASSISMUS- UND HERRSCHAFTSKRITISCHE FAKTOGRAPHIE

Das ‹X› im Titel dieser Ausgabe steht für das Durchkreuzen und Durchdenken rassistischer und diskriminierender Mechanismen und Denkweisen. ‹X› bedeutet weder Auslöschung, Anti-Haltung noch Antagonismus. Sondern es geht darum, das Verbindungsmoment, den Kreuzungspunkt im ‹X›, zu erkennen und immer wieder herzustellen.1

Ich habe einen Kreuzungspunkt, ein Verbindungsmoment für die künstlerisch-wissenschaftliche Lehre anzubieten: Rassismus- und Herrschaftskritik trifft auf Faktographie.

Zur faktographischen Einordnung dieses Textes: Ich bin keine Medienwissenschaftlerin, ich schreibe diesen Artikel als Prof.in Dr.in Christine Goutrié, deren Doktortitel ein Dr.-Ing. in Informatik ist, die viele Jahre als Interaction Designerin Technologien im Designkontext lehrte und die aktuell für Kunst- und Designstudierende herrschaftskritische Räume für den Erwerb von digitalen Kompetenzen in und aus der Interaktion entwickelt. Letzteres erfordert ein ständiges Übersetzen und Öffnen von Grenzen zwischen Herrschaftskritik, digitalen Konzepten, Technologien und Kunst & Design, und zwar in jede Richtung. Dort, wo dieser Text im Weiteren etwas holprig daherkommt, spiegelt er das harte Ringen um diese Übersetzungsleistung wider: das immer wieder neue Wege Suchende im Austausch zwischen mir als lehrender Person und Studierenden, das Suchende, das die künstlerisch-wissenschaftliche Lehre mit unseren persönlichen Erfahrungen verbindet. Weitere faktographische Einordnungen finden sich im Text.

Ich biete im Folgenden keine fertigen Konzepte an, aber ich finde zahlreiche solcher Kreuzungspunkte, wie der Call für das Heft «X | Kein Lagebericht» sie anfragt, in der Faktographie und ihrem interventionistischen Charakter. Wenn Herrschafts- und speziell Rassismuskritik überführt werden soll in machtsensible und antirassistische Praxis im Kontext der Lehre, dann kann Faktographie als Konzept, aber noch mehr als Arbeitsweise und konkrete Praxis ebensolche herrschafts- und rassismuskritischen Impulse für die Offenlegung von Positionen und Positionierungen in der Lehre liefern.

Als Lehrende an der weißensee kunsthochschule berlin folge ich inzwischen bell hooks’ «allow us to be whole in the classroom».2 Deshalb kann ich auf den Themenschwerpunkt auch nur als vollständige, ganze Person antworten und werde demgemäß, den body-mind split überwindend, auch in einem wissenschaftlichen Kontext meinen individuellen Erfahrungen, meinem eigenen Weg, meinen Emotionen, meinem Erfahrungswissen von Privilegierung und Diskriminierung Raum geben. Denn wie bell hooks schreibt: «Beyond the realm of critical thought, it is equally crucial that we learn to enter the classroom ‹whole› and not as ‹disembodied spirit›».3

Den Weg dahin, als Lehrende, als ganze Person vor den Studierenden stehen zu können, möchte ich aus persönlicher Perspektive beschreiben: Ich bin als weiße Person in der DDR, der Deutschen Demokratischen Republik, aufgewachsen, heute zumeist als Ost-Deutschland bezeichnet. Ich war 21 Jahre alt, als das System, in dem ich aufwuchs, einstürzte, kollabierte oder schlicht und einfach endete. Es gab eine sehr kurze Zeit des großen Optimismus in der Bürgerrechtsbewegung, etwas Neues und Eigenes aufzubauen; ich saß damals inmitten von 5000 Menschen im Magdeburger Dom auf dem Boden und war Teil dieses Aufbruchs. Ich erlebte aber auch, wie unsere Hoffnungen unter den Versprechungen des Kapitalismus und den Verheißungen des Geldes sehr schnell begraben wurden. Worauf ich mit diesen Hinweisen hinauswill, ist der dramatische Perspektivwechsel, der Systemwechsel mit all seinen gesellschaftlichen und individuellen Folgen, den das Ereignis des ‹Mauerfalls› mit sich brachte: Für Menschen, die bis dahin in der DDR gelebt hatten, stand plötzlich alles, wirklich alles auf dem Prüfstand, wobei ich erst in den letzten zehn Jahren gelernt habe, dass meine eigene Sicht auf die dramatischen Veränderungen von 1989 und 1990 eine zwar ostdeutsche, aber viel zu lange eine rein weiße war, die die sozialen Kämpfe und Positionierungen diskriminierungserfahrener Communitys 4 ausblendete.

Auf meinem Weg, als weiß positionierte Person Rassismus zu verstehen, De-Kolonialisierung und de-westernization zu lernen, eigenen Rassismus und Eurozentrismus zu verlernen, findet ein Prozess statt: Meine Gefühle ähneln denen von Überwältigung; das Gefühl, inmitten gewaltiger Umbrüche zu stehen, und auch Gefühle von ‹Alles-in-Frage-Stellen›, von ‹Nichts kann so bleiben, wie ich es gelernt habe›, von ‹Alles muss umgedreht und genau angeschaut werden›, die mich sehr an die Gefühle von 1989 und der Zeit danach erinnern: Je mehr ich daran arbeite, als desto radikaler empfinde ich den dringend nötigen Systemwechsel und die Größe der Aufgabe.

Ich habe das sehr stark gespürt beim Lesen des Artikels White Supremacy Culture von Kenneth Jones und Tema Okun 5 oder beim Hören von Maisha M. Aumas Vortrag Dekolonialität als De/Provinzialisierung der Weltauslegungen von rassistisch marginalisierten Wissenskontexten und Akteur*innen.6 Auch das waren Gelegenheiten, bei denen ich jenes Gefühl der Überwältigung ebenfalls körperlich wahrnahm.

Kenneth Jones und Tema Okun untersuchen white-supremacy-Strukturen und -Kulturen in Institutionen. Die Liste von typischen Charakteristika, die ich als zutreffend auch auf meine Arbeit innerhalb der Institution erkannte, wurde immer länger und umfasste z. B.:

•«Perfectionism: little time, energy, or money put into reflection or identifying lessons learned that can improve practice, in other words little or no learning from mistakes»

•«Sense of Urgency: reinforced by funding proposals which promise too much work for too little money and by funders who expect too much for too little»

•«Defensiveness: a lot of energy in the organization is spent trying to make sure that people’s feelings aren’t getting hurt or working around defensive people»

•«Quantity over Quality: discomfort with emotion and feelings»

•«Objectivity: impatience with any thinking that does not appear ‹logical› to those with power».7

Beim Lesen habe ich unablässig vor mich hin gesprochen: Das bin ich, das habe ich auch schon gemacht, das hatte ich überhaupt nicht im Blick. Und vor allem: White supremacy ist überall und ich konnte, musste aber bisher nicht darüber nachdenken, das muss aufhören! Das heißt, dass die Begegnung mit diesen Erfahrungen durch Lektüren und wissenschaftliche Auseinandersetzung Identifikationen mit meinen eigenen Erfahrungen hervorrief.

Schon auf ihre erste Frage «Was ist Dekolonialität?» gibt Maisha M. Auma unzählige Antworten:

Dekolonialität ist eine Kritik und eine Praxisform der konstanten Verschiebung. Dekolonialität ist eine Bewegung. DeWesternization, DeImperialization, DeModernity, Thinking Otherwise, DeLinking, Breaking the Western Code, DeCentering, ReLinking […], Polyzentrische Welten statt eines monozentrischen Weltsystems, pluriversal statt universal: statt University jetzt Pluriversity, Coloniality/Modernity/Decoloniality, Pluriversality vs. Universality.8

Ihr Vortrag war so dicht und intensiv, und ich habe Seite um Seite mitgeschrieben, bis ich erschöpft aufgehört und nur noch zugehört habe, weil ich schreibend und denkend die Gedanken nicht allein erfassen konnte, sondern diesem Gefühl von ‹Alles, was ich zu wissen glaube, gehört auf den Prüfstand› Raum lassen musste.

Ich bin überzeugt, dass es essenziell ist, solche emotionalen Momente auch in meiner Lehre mit meinen Studierenden zu teilen, weil das einerseits für mich immer auch intensive Momente waren, die mich zum Handeln und zur Veränderung veranlasst haben, und andererseits, weil ich damit auch meine eigene Begrenztheit als Subjekt sichtbar mache und Offenheit im Raum der Lehre entstehen kann.

Aber wie geht das nun alles? Was mache ich in meiner Lehre, wenn …? Und was schlage ich konkret vor? Ich lehre digitale Medien als Einstieg ins Studium im gemeinsamen Grundlagenjahr der weißensee kunsthochschule berlin für alle Studierenden in den Bereichen Freie Kunst und Design. Vor einigen Jahren habe ich begonnen, das Ganze in einen feministischen digitalen Medienkurs umzuwandeln, in dem ich vor allem Frauen* vorstelle (und den Studierenden sage, dass sie die meisten Männer auf Wikipedia finden).

Ich dekonstruiere Stereotype und Vor-Urteile,

•wenn ich die sechs programmers des ersten elektronischen Computers ENIAC der 1940er Jahre vorstelle: sechs Frauen, die in den technologiehistorischen Diskursen 70 Jahre lang nicht vorkamen,9

•wenn ich von den human computers10 berichte: fast ausschließlich Frauen; viele von ihnen women of color, die per Hand und nur mit mechanischen Rechenmaschinen komplexe mathematische Berechnungen für das US-amerikanische Militär ausführten (ja, die Ursprungsgeschichte der Programmierung war von Frauen dominiert),

•wenn ich über die wenigstens teilweise durch den Film Hidden Figures11 bekannt gewordenen women of color bei der NASA der 1950er und 60er Jahre berichte,

•wenn ich auf Anteile an weiblichen Studierenden im Informatikstudium Mitte der 1980er Jahre hinweise: knapp 40 Prozent in den USA,12 um die 50 Prozent in der DDR; 13 die Zahl lag in der Bundesrepublik unter 20 Prozent und ist seither nur minimal gestiegen,14

•wenn ich BIPoC-Programmierer_innen und -Tech-Aktivist_innen vorstelle usw.

Dieser Ansatz funktioniert. Viele Studierende, die niemals dachten, dass sie sich das Programmieren zutrauen würden, glauben mir am Ende, wenn ich ihnen sage: Es ist nicht euer Fehler, dass ihr noch nicht programmiert habt. Es ist die Propaganda da draußen: Es ist Sexismus, Rassismus, Klassismus, Ableismus … Es entstehen in der Lehrsituation inklusivere Räume, in denen der Mythos der natürlichen Begabung ausgesetzt scheint (für einen Moment).

Es ist mühsam und aufwendig, dieses kritische Wissen auszugraben und verfügbar zu machen und auch ich leiste diese Arbeit konzentriert erst seit einigen Jahren. Aber was ich am Anfang ganz unbewusst neben der inhaltlichen Recherche und Lehre zusätzlich getan habe, war, über mich selbst zu reden, über meinen eigenen Lernweg, über meinen eigenen Weg der Entdeckung, über die Beschämung wegen meines eigenen Unwissens, über die Anlässe, aus denen ich neue Perspektiven entdecken konnte, die mir auch nicht beigebracht wurden, über meinen Weg des Verlernens sexistischer, rassistischer, ableistischer, klassistischer Konzepte. Manchmal ist es ein ‹Das habe ich auch erst vor zwei Jahren herausgefunden, obwohl ich seit mehr als 30 Jahren in diesem Feld arbeite und vor mehr als 35 Jahren Informatik studiert habe› oder ein ‹Darauf hat mich erst neulich eine woman of color hingewiesen und es war mir sehr unangenehm, hat mir aber sofort eingeleuchtet› oder ein ‹Das hatte ich 20 Jahre lang überhaupt nicht auf dem Schirm und ich frage mich, wie konnte ich das nicht wissen?›, das neue Räume für Gespräche und Diskussionen eröffnet. Diese Verweise auf mein eigenes Erleben und auf die Lern- und Verlern-Prozesse verschieben den Fokus von dem Anspruch decolonise the curriculum zu decolonise the teacher und auf meine Verantwortung.

Da ich mich auch im Arbeitskontext als geoutete Lesbe* und gender-nonconforming Person bewege, fällt es mir relativ leicht, Sexismus oder Homophobie zu thematisieren oder andere Formen von Diskriminierung, von denen ich selbst betroffen bin. Aber es ist viel schwieriger und ich bin viel unsicherer dabei, über meine Privilegien zu sprechen und über Diskriminierungen, bezüglich derer ich über kein Erfahrungswissen verfüge. Das ist es, was Nana Adusei-Poku «the work» nennt: «‹The work› means to start the reflection where it hurts the most – to look at our entangled Histories without losing track of the consistent intersectional power dynamics that reproduce themselves on a global scale».15Where it hurts the most: meine Privilegien!

Und hier kommt jetzt die Faktographie ins Spiel: Wir hatten ein critical-diversity-Projekt an unserer Kunsthochschule, in dem ich mit Studierenden, Lehrenden, Beschäftigten und externen Expert_innen gearbeitet habe. Wir haben Hito Steyerls Text Ästhetik des Widerstands gelesen; 16 dabei bin ich auf die Faktographie gestoßen und mein Interesse war geweckt, mich mit einer in der Sowjetunion entwickelten Medienpraxis auseinanderzusetzen. Ich vermute, dass mich mein ostdeutscher Hintergrund dazu motiviert hat, denn auch in mir wirken die zahlreichen Abwertungen des Ostens nach und ich spüre Interesse an einer Wiederaneignung verwestlichter Räume.

Faktographie wurde in den 1920er Jahren in der Sowjetunion von Künstler_innen, Schriftsteller_innen, Fotograf_innen sowie Filmemacher_innen begründet. Der Begriff Faktographie kombinierte das «Schreiben mit Licht»17 aus der Fotografie mit dem «Niederschreiben von Fakten»18 der Literatur. Faktographie versuchte, ein ‹neutrales›, wenn auch nicht objektives Bild der Welt zu präsentieren. ‹Neutral› meinte dabei, eine subjektive Sicht auf die Welt zu zeigen, aber gleichzeitig eben auch die Fakten, die zu den Ergebnissen geführt hatten: die aktive Autor_innenschaft und die manipulativen Methoden, den Apparat. Die Faktograph_innen konzentrierten sich darauf, Menschen in ihrem Alltag mit möglichst vielen verfügbaren Fakten zu zeigen, und enthüllten aber gleichzeitig auch, wie diese Fakten dokumentiert wurden. Besonders in Filmen wurde damit experimentiert, nicht nur zu zeigen, was die Kamera ‹sieht›, sondern auch, wo genau die Kamera steht, wohin sie gerichtet ist, mit welchen Einstellungen gefilmt wird. Konkret auf die Lehre bezogen heißt das für mich z. B. darauf hinzuweisen, dass meine Recherchen durch meine Sprachen Deutsch und Englisch eingeschränkt sind, dass sie durch meine eigenen Erfahrungen und Interessen gelenkt sind oder dass meine Positionierungen meine Erfahrungen begrenzen. Nicht das Ergebnis, sondern so viel als möglich über den Prozess zu enthüllen war zentral für die Faktographie. Deshalb auch standen die Faktograph_innen in existenziellem Konflikt mit dem sozialistischen Realismus (in dem sie am Ende unterlagen), der auf Held_innengeschichten und Inszenierungen setzte.

Abb. 1/2 Still ausDer Mann mit der Kamera, Regie: Dziga Vertov, Sowjetunion1929. Die Position und die Bewegung der Filmkamera werden von einer anderen Kamera aufgenommen und damit Teil des faktographischen Films.

Ich behaupte, dass wir Konzepte der Faktographie auf unsere antidiskriminatorische Arbeit übertragen können, ja müssen; dass wir offenlegen und faktographisch berichten, was unsere Lehrtätigkeit beeinflusst: unsere Annahmen, die Einflüsse auf unser Denken, unsere Positionierungen, unsere Privilegien, unsere Diskriminierungserfahrungen, unsere Wissensquellen, unsere Methoden und Werkzeuge, unsere Sackgassen, unsere scham- oder schuldbesetzten Erkenntnisse; insgesamt eine ehrliche, faktographische Beschreibung unseres eigenen Erkenntnisweges – wohl wissend, dass das immer nur begrenzt möglich ist, nicht zuletzt auch wegen der Begrenztheit ökonomischer Ressourcen. Solch eine faktographische Offenlegung unterstützt die antidiskriminatorische Arbeit nicht nur in der künstlerisch-wissenschaftlichen Lehre, sondern auch in der Interaktion mit der Institution, in meinem Fall der Kunsthochschule.

Um zu verstehen, welche Impulse die Faktographie dafür liefern kann, ist ein detaillierterer Blick in ihre Entwicklung und Geschichte hilfreich. In der 1923 von Vladimir Majakovskij und Ossip Brik gegründeten Zeitschrift LEF (ЛЕФ), die Linke Front der Künste