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Beschreibung

Die Zeitschrift für Medienwissenschaft steht für eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft, die Untersuchungen zu Einzelmedien aufgreift und durchquert, um nach politischen Kräften und epistemischen Konstellationen zu fragen. Sie stellt Verbindungen zu internationaler Forschung ebenso her wie zu verschiedenen Disziplinen und bringt unterschiedliche Schreibweisen und Textformate, Bilder und Gespräche zusammen, um der Vielfalt, mit der geschrieben, nachgedacht und experimentiert werden kann, Raum zu geben. In Heft 27 fragen die Beiträger*innen nach dem Reparaturwissen der DDR. Reparaturwissen stellt behelfsmäßige Verknüpfungen zwischen Überkommenem und zukünftigem Handeln her. Es setzt auf Veränderlichkeit im Bewahren und zeigt sich an den »Rändern«: zwischen Produktion und Provisorium, zwischen Poetischem und Pragmatischem, zwischen Improvisation und Institution. Wie lassen sich die besonderen Praktiken des Instandsetzens, Bewahrens und Wiederherstellens für die Medienwissenschaft methodisch wenden und weiterdenken?

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Seitenzahl: 339

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2/2022

GESELLSCHAFT FÜR MEDIENWISSENSCHAFT (HG.)

 

 

 

 

 

 

 

EDITORIAL

Medienwissenschaft zu betreiben bedeutet immer auch, sich zu fragen, was die Voraussetzungen und Bedingungen der eigenen Forschung sind. Die Medialität von Dingen und Ereignissen wird häufig erst in der Beschäftigung mit ihrer Theorie und Geschichte, ihrer Technik und Ästhetik freigelegt. In diesem Sinne betreibt die ZfM eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft, die Untersuchungen zu Einzelmedien aufgreift und durchquert, um nach politischen Kräften und epistemischen Konstellationen zu fragen.

Unter dieser Prämisse sind Verbindungen zu internationaler Forschung ebenso wichtig wie die Präsenz von Wissenschaftler_innen verschiedener disziplinärer Herkunft. Die ZfM bringt zudem verschiedene Schreibweisen und Textformate, Bilder und Gespräche zusammen, um der Vielfalt, mit der geschrieben, nachgedacht und experimentiert werden kann, Raum zu geben.

Jedes Heft eröffnet mit einem SCHWERPUNKTTHEMA, das von einer Gastredaktion konzipiert wird. Unter EXTRA erscheinen aktuelle Aufsätze, die nicht auf das Schwerpunktthema bezogen sind. DEBATTE bietet Platz für theoretische und / oder (wissenschafts-)politische Stellungnahmen. Die Kolumne WERKZEUGE reflektiert die Soft- und Hardware, die Tools und Apps, die an unserem Forschen und Lehren mitarbeiten. In den BESPRECHUNGEN werden aktuelle Veröffentlichungen thematisch in Sammelrezensionen diskutiert. Die LABORGESPRÄCHE setzen sich mit wissenschaftlichen oder künstlerischen Forschungslaboratorien und Praxisfeldern auseinander. Von Gebrauch, Ort und Struktur visueller Archive handelt die BILDSTRECKE. Aus gegebenen Anlässen konzipiert die Redaktion ein INSERT.

Getragen wird die ZfM von den Mitgliedern der Gesellschaft für Medienwissenschaft, aus der sich auch die Redaktion (immer wieder neu) zusammensetzt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich an der ZfM zu beteiligen: (1) die Entwicklung und redaktionelle Betreuung eines Schwerpunktthemas, (2) die Einreichung von Aufsätzen und Reviewessays für das Heft und (3) von Buchrezensionen und Tagungsberichten für die Website. Alle Beiträge sind im Open Access verfügbar. Auf www.zfmedienwissenschaft.de befinden sich das Heftarchiv, aktuelle Besprechungen und Web-Extras, der Gender- und der Open-Media-Studies-Blog sowie genauere Hinweise zu Einreichungen.

MAJA FIGGE, MAREN HAFFKE, TILL A. HEILMANN, ELISA LINSEISEN, JANA MANGOLD, BIRGIT SCHNEIDER, FLORIAN SPRENGER, STEPHAN TRINKAUS, THOMAS WAITZ, BRIGITTE WEINGART

INHALT

Editorial

 

REPARATURWISSEN: DDR

ULRIKE HANSTEIN / MANUELA KLAUT / JANA MANGOLD

Reparaturwissen: DDR Einleitung in den Schwerpunkt

ULRICH RICHTMEYER

Zen und die Kunst jeden Mangel zu reparieren

JOHANNA KÄSMANN

Reparierend(es) Schreiben «Der Heizer» von Wolfgang Hilbig

ALEXANDER WAGNER

Der Heikodysseus ‹Reparieren› als Prozessor sozialistischer Bildung

FRANCIS HUNGER

Sozialistische Co-Innovation Wie in der DDR die relationale Datenbank DABA-1600 entwickelt wurde

FRANZISKA KLEMSTEIN

Rechentechnische Reparaturkompetenz Vom staatlich verordneten technischen Fortschritt zur Entwicklung der Digital Humanities

 

BILDSTRECKE

LAURA HORELLI vorgestellt von ANNETT JAHN

«Namibia Today», 2017/18

 

EXTRA

REY CHOW

Nachdenken über «race» mit Foucault

CHRISTINE VON OERTZEN / LOTTE SCHÜßLER

Für, mit und auf Papier Papiertechnologien und ihre Versorgungsketten

 

DEBATTE

Transformationen des Wissenschaftssystems: 1989 ff.

DOROTHEA DORNHOF / PEER PASTERNACK / GERD ZIMMERMANN im Gespräch mit MANUELA KLAUT und JANA MANGOLD «Eine eindeutig vermachtete Situation». Über den Umbruch in der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft seit 1989 und die Folgen bis heute

 

WERKZEUGE

HANNAH WIEMER

West-Berliner Leselandschaft Die Bibliothek als logistisches Denkwerkzeug

 

BESPRECHUNGEN

BENEDIKT MERKLE Writing (about) Code Der Ort der Arbeit an der Abstraktion in historischen Studien

CHRISTOPH EGGERSGLÜSS Plattenkritik und Typenschau Kleinteiliges und Naheliegendes zum (Gesellschafts-)Umbau

 

AUTOR_INNEN

BILDNACHWEISE

IMPRESSUM

REPARATURWISSEN: DDR

Cover der DDR-Heimwerkerzeitschrift practic, 1986

REPARATURWISSEN: DDR

Einleitung in den Schwerpunkt

Mit dem Hammer

Durch die Fensterscheibe eines fahrenden Zuges sind weitläufige alte Industrieanlagen zu sehen. Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen Brikettfabriken im Meuselwitz-Altenburger Braunkohlerevier. Für ihren Dokumentarfilm Winter adé ist die Regisseurin Helke Misselwitz mit einer kleinen Crew durch die DDR gefahren.1 Sie hat an unterschiedlichen Orten Frauen und Mädchen interviewt. In Meuselwitz führt uns der Film direkt in die lärmende Brikettfabrik: Eine Halbtotale zeigt die Hilfsarbeiterin Christine mit einem Schutzhelm und dunkler Arbeitskleidung. Dann folgt die Kamera Christine auf ihrer Runde. Sie läuft durch große Hallen mit jahrzehntealten Anlagen zum Trocknen und Pressen der Braunkohle. Mit einem Vorschlaghammer klopft Christine routiniert gegen große Rohre, damit sich darin kein Kohlestaub festsetzen kann. Durch ihre körperlich anstrengende Arbeit verringert sie das Risiko einer Kohlestaubexplosion. Sie hält die in die Jahre gekommenen Anlagen am Laufen und verlangsamt den Zusammenbruch des maroden Betriebs. Etwas Neues ist nicht in Sicht in Meuselwitz.

Es fällt Christine schwer, der Filmemacherin ihre Arbeit zu erklären. Es geht um das Tun. Für das Über-sich-Sprechen – so wird im Weiteren klar – fehlen Christine in ihrem Alltag die Zeit und ein Gegenüber. Auf die Aufnahmen aus dem Betrieb folgen ruhige Naheinstellungen von Christine in ihrer Küche. Angeregt durch Fragen der Regisseurin aus dem Off erzählt sie ihr Leben: als Kind den Eltern bei der Landwirtschaft geholfen, Schulabschluss nach der siebten Klasse, Teilausbildung zur Gärtnerin, Urlaub übern Betrieb an der Ostsee, Mann kennengelernt, mit 18 nach Gera gezogen zum Mann, mit 20 das erste Kind und Hochzeit, mit 21 Scheidung eingereicht, wieder zusammengefunden, zweites Kind, dann doch die Scheidung, wegen der Eltern zurück nach Meuselwitz, jetzt allein, ein Sohn und eine be_hinderte Tochter und Schichtarbeit in der Brikettfabrik. Christine spricht darüber, dass sie für die Erziehung ihrer Kinder keine Anerkennung erfährt und dass sie und ihre be_hinderte Tochter von anderen ausgegrenzt werden. So wie im Betrieb arbeitet Christine auch zuhause auf sich allein gestellt. Auch zuhause versucht sie, das Nichtfunktionierende durch eigene Kraft dennoch am Laufen zu halten.

Winter adé ist eine nüchterne und naherückende Bestandsaufnahme des Alltags von Frauen in der DDR. Die DDR im Jahr 1988 – das sind in Misselwitz’ Film selbstbestimmte Lebensformen und unerfüllte Wünsche, einengende Geschlechterrollen und liebevoll verbundene Paare, vergleichbare Lebensstandards unter den Berufstätigen und differenzierte soziale Milieus. Christine, die Arbeiterin, die mit dem Vorschlaghammer die marode Brikettfabrik am Laufen hält, ist ein prägnantes Bild für die in den 1980er Jahren nicht mehr zu rettende Wirtschaft der DDR. Arbeit erscheint in Meuselwitz als ein notdürftiges Ausbessern des unrettbar Veralteten und nicht als Aufbau einer besseren Zukunft. Weit entfernt von der ideologischen Heroisierung der Werktätigen (mit Hammer und Zirkel und Ährenkranz) verkörpert Christine eine unermüdliche Reparaturarbeit, die den beruflichen und privaten Alltag in der DDR auszeichnete. Als Umgang mit Verschleiß und Mangel – das wird an der alleinerziehenden Protagonistin Christine deutlich – war Reparaturarbeit zwar allgegenwärtig, doch ungleich verteilt.2

In Winter adé enden die Zugfahrten in einer kleinen Bildergalerie mit Porträts berühmter Frauen, die in einem Zugfenster aufgestellt sind, und im Schnitt auf abbrechende Gleise an einem Fähranleger an der Ostsee. Das letzte Bild entlässt den Blick auf das offene, tosende Meer. Als der Film 1988 in die Kinos kommt, beträgt der Anteil von Frauen an allen Erwerbstätigen in der DDR48,9 Prozent.3

Reparaturwissen: DDR

Reparaturarbeiten fanden in der DDR ‹an allen Ecken und Enden› statt. In Bezug auf Alltagskultur, Arbeitswelten und medientechnische Verfahren stellt der Schwerpunkt dieses Heftes Verhandlungen, Modelle und Überlieferungen von Reparaturwissen vor. Dieses Wissen entspringt aus der Arbeit des Instandhaltens und dem findigen Umgang mit Mangel, Auflösung und Zerfall.4 Etwas zu reparieren heißt, Material, Gestalt, mitunter auch die Gebrauchsmöglichkeiten von Gegenständen zu verändern und neue Arrangements zuzulassen. Reparaturen rücken Verfügbares in zweckdienliche neue Nachbarschaften. Sie verbinden Ungleiches miteinander, das sich als Zusammengefügtes nicht gegenseitig bestreitet, sondern stabilisiert. Reparaturwissen stellt behelfsmäßige Verknüpfungen zwischen Überkommenem und zukünftigem Handeln her; es setzt auf Veränderlichkeit und Improvisation im Bewahren.

In Anlehnung an Ekaterina Gerasimova und Sof’ia Chuikina lässt sich die DDR als ‹Reparaturgesellschaft› verstehen.5 Die beiden Soziologinnen führen diesen Begriff für die Sowjetunion ein. Sie weisen damit auf die unermüdliche Nachbesserung planwirtschaftlicher Produktionsprozesse und auf die Rolle von Reparaturen in sozialen und tauschwirtschaftlichen Beziehungen hin. Die nicht durch den Markt regulierte Planwirtschaft war demnach «the object of constant improvement, experiment, and mandatory anticrisis campaigns implemented by the authorities, meaning that it was perpetually under repair».6 Die vom Staat angewiesenen ‹Reparatur-Projekte› lenkten die Sowjet-Bürger_innen in ihrem öffentlichen Tun und in ihren privaten Haushalten,

in terms […] of officially sanctioned social activism (consumer movements, the fight against substandard products, letters of complaint to the newspapers) and of the everyday economy, in which case [citizens] adapted the system for their own comfort (by pulling strings, visiting flea markets, using homemade goods, pilfering products from factories, informally reallocating goods, etc.).7

Im Rückgriff auf Studien zur sowjetischen Konsumkultur und auf der Grundlage eines Korpus von Erinnerungsinterviews dokumentieren Gerasimova und Chuikina eine handwerkliche Reparaturpraxis. Diese war notwendig, um industriell produzierte Güter erst brauchbar zu machen, über lange Zeiträume funktionsfähig zu halten, nachzurüsten oder im Aussehen (‹westlichen›) Moden und Lebensstilen anzupassen.8

In ihren theoretischen Überlegungen behandeln Gerasimova und Chuikina das Reparieren im Wesentlichen als vorindustrielle Praxis. Sie legen somit eine Verspätung der sozialistischen Konsumgüterproduktion gegenüber Westeuropa nahe. Statt diese kontrastierende Erzählung vom rückständigen Osten und fortschrittlichen Westen weiterzuführen, legt Yulia Karpova in ihrer Studie Comradely Objects eine differenzierte Betrachtung vor.9 Karpova weist in ihrer Auseinandersetzung mit der Geschichte der Gestaltung und mit der materiellen Kultur der Sowjetunion auf die widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Industrieproduktion und Reparatur, Umweltzerstörung und Abfallwirtschaft, Ressourcenverschwendung und Wiederverwertung hin. Diese ökonomische, konsumkulturelle und ökologische Gemengelage wurde in Konzepten der nachhaltigen Gestaltung in der Sowjetunion ebenso wie in Westeuropa seit den 1970er Jahren neu verhandelt.10 Auch Stefan Krebs, Gabriele Schabacher und Heike Weber sprechen in ihrem Band Kulturen des Reparierens von «multiple[n] Konjunkturen» des Reparierens statt von einer Ablösung vorindustrieller durch industrielle Verhältnisse.11

Dass industrielle Produktion nicht ohne die händischen Eingriffe des Reparierens und des Ausbesserns auskommt, zeigen die Bilder von Christine aus der Brikettfabrik in Meuselwitz. Auch industrielle Großanlagen funktionieren nur dank der steten Arbeit der Instandhaltung.12 Die meist linear und reibungslos vorgestellten Prozesse des Outputs oder Wachstums sind von zyklischen, der Abnutzung geschuldeten Abläufen durchsetzt,13 die eine stärkere Aufmerksamkeit verdienen.

Von Auffassungen linearer Entwicklungsdynamiken oder von diskreten Ereignissen der technischen Erfindung rückt Reparaturwissen als Konzept eines medienhistoriografischen Arbeitens ab.14 Entscheidend ist stattdessen das Interesse an anhaltenden Wandlungsprozessen – von Dingen, Materialien, Relationen, Zuständen oder auch Problemen –, das die gegenwärtigen Untersuchungen des Phänomens antreibt.15 Da das Reparieren als ein stets vorhandenes Merkmal der soziomateriellen Welt16 zum Argument für und zur Provokation von neuen und andersartigen Forschungen wird, wie Steven J. Jackson es für die Science and Technology Studies und Technikgeschichte behauptet, kann die Auseinandersetzung mit dem Reparaturwissen der DDR auch kritische Anstöße für die Medienwissenschaft liefern. Über die aktuellen Studien zur Kultur(-technik) des Reparierens hinaus bietet es andere Aspekte und Kontextualisierungen des Instandsetzens und Ausbesserns, des ‹Ummodelns› und Erneuerns.

Generell zeichnen sich Reparaturarbeiten durch eine ambige Zeitlichkeit aus. Sie sind einerseits konservativ und rückwärtsgewandt im Versuch, defekte Dinge in einen vorgängigen (funktionsfähigen) Zustand zurückzuversetzen, andererseits vorwärtsgewandt und progressiv in der Umarbeitung einer ererbten Situation bis hin zur Projektion für die Zukunft.17 Für den Kontext der DDR wäre zu untersuchen, ob andere Zeit- und Projektionsverhältnisse zu veranschlagen sind. So scheinen zukunftsgerichtete Hoffnungen18 oder ein bündnisbildender Aktivismus für eine bessere Zukunft19 – wie sie in den programmatischen Texten der Repair-Bewegungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts beschworen werden – als Motor für die alltäglichen Vorkehrungen der Erhaltung, Verschönerung und Verbesserung in der späten DDR eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Die ständigen Reparaturarbeiten treten vielmehr als eine Bewegung im Stillstand auf, die sich zwar auf ein Vorher bezieht, aber nicht in eine veränderte oder veränderbare Zukunft weist. Stattdessen verharren die Akteur_innen mit der Reparatur im Jetzt, die sich mal als Zeitvertreib, mal als gemeinschaftsstiftend, mal als Herausforderung der eigenen Kennerschaft, als Weiterbildungsmoment oder einfach als zwingende pragmatische Problemlösung aufdrängt.20 Die Hinwendung zum Reparieren kann der Technik- und Mediengeschichte ein Wissen über Technologien und ihre materiellen und sozialen Ordnungen beibringen. Das ‹Reparaturwissen DDR› fügt diesen Auseinandersetzungen eine eigene Dimension hinzu, die über die existierenden Manifeste, Studien und Abhandlungen zum Reparieren hinausgeht.

Dabei schlägt die Bezugnahme auf das Reparaturwissen der DDR weder einen Bogen in eine Vergangenheit, in die (oder: zu deren vermeintlich unversehrten Zuständen) man zurückkehren möchte, noch in die Zukunft (wobei der Selbstbau von Flugobjekten und U-Booten21 durchaus auf eine veränderte Zukunft weist und so etwas wie Hoffnung einspannt). In einer differenzierten Betrachtung des Reparierens in der DDR geht es weder um eine Romantisierung von Verfall noch darum, die politische Neuordnung 1989 / 90 als Reparatur eines Kaputten oder als Zerstörung eines vormals Besseren zu beschreiben. Vielmehr erlaubt der hier vorgeschlagene Zugang zum ‹Reparaturwissen DDR›, Überlieferungen zwischen einem ‹Vorher› und einem uneinheitlichen ‹Jetzt› in ihrer Vielschichtigkeit und Spezifität zu beschreiben. Denn Reparaturen hinterlassen wahrnehmbare Spuren. Das Arbeiten an den Dingen und die anhängliche tätige Verbundenheit mit ihnen tragen sich oft als wahrnehmbare materielle Markierungen ein. Die auffälligen Eigenarten von geflickten, geklebten, gelöteten, gestopften, verschraubten, genähten, stellenweise neu lackierten, verknoteten, geschweißten, verformten oder zusammengesteckten Objekten weisen auf vorhergehende Brüche, Bearbeitungen und Neuinterpretationen des Vorgefundenen hin. Materielle Ablagerungen eines handlungsbezogenen Wissens geben Auskunft über alltägliche Praktiken mit geringer Reichweite, Dauer und Sichtbarkeit, die eigensinnig die großen Erzählungen durchkreuzen. In einer solchen Betrachtung des Partikularen wird deutlich, dass sich die unterschiedlichen Bestimmungen des Reparierens, von der kraft-, zeit- und ressourcenraubenden Notwendigkeit bis zum kreativen und distinguierenden Selbstausdruck, keineswegs ausschließen: Auch eine Reparatur, die vorgenommen wird, weil etwas zur Sicherung der Existenz notwendig ist und nicht durch neu Produziertes ersetzt werden kann, steht einer individuellen Gestaltung (vielleicht gar der Virtuosität im Verbindungen-Schaffen) offen.22

Konzeptuell bedeutet die Auseinandersetzung mit Reparaturen, sich auf ein fallweise bestimmbares Wissen einzulassen, das z. B. in materiell-konkreten Assemblagen,23 in anekdotischen Selbstberichten,24 in dokumentarischen Aufnahmen von Arbeitsstätten und Privaträumen,25 im modularen Design von Gebrauchsartikeln26 oder in informellen Tipps kenntlich wird.27 Solche oft lokal, provisorisch und zufällig überlieferten Hinweise auf ein spezifisches Handlungswissens lassen sich kulturwissenschaftlich und medienhistoriografisch bearbeiten, wie die Beiträge des Schwerpunkts zeigen.

So nimmt ULRICH RICHTMEYER Reparaturszenen in den Blick, die eher beiläufig als planvoll in einem DEFA-Dokumentarfilm vorkommen und Anhaltspunkte liefern, um die historische Spezifik des Reparierens in der DDR befragen zu können. Ob Bandbus oder Lockenwickler, Fahrrad oder Motorrad – Reparaturwissen ist auf spezifische Produktions- und Konsumptionsformen bezogen. Zugleich überschreitet es diese Bedingungen, indem es handgreiflich und konzeptuell technische Weltverhältnisse erkundet und neue Möglichkeiten des Handelns gewinnt: problemlösend und kontemplativ, materialbezogen und ästhetisch.

Einen innigen Zusammenhang zwischen Arbeitsstätte und Reparaturkompetenz, betrieblichen Ritualen und rastlosen Fantasien ihrer Störung zeichnet JOHANNA KÄSMANN in ihrer Lektüre von Wolfgang Hilbigs Erzählung Der Heizer nach. In einem Betrieb in der Tagebau-Landschaft nahe der Stadt M. (Meuselwitz) schaufelt Hilbigs Protagonist mit «schon stark erschöpfte[m], brüchige[m] Körper» Kohle in Kesselanlagen und schreibt in heimlichen Pausen.28 Hilbig hat viele Jahre als Werkzeugmacher, Montage-Arbeiter, Heizer und Lyriker in Meuselwitz gelebt. Käsmann legt an seiner Erzählung ein reparierendes Schreiben offen, das sich einem zugewiesenen «Sprechtext»29 entzieht. In ruhelosen, bedrängenden Brechungen der Perspektive setzt Der Heizer die literarische Konstitution und Defiguration von Wirklichkeit als eine wahrhaft physische Schufterei an der Sprache in Szene.

ALEXANDER WAGNER untersucht die Zeitschrift practic. Magazin für Selbstbautechnik als Forum für informelle Tipps. Die Beteiligung der Leser_innen schlägt sich hier in einem Layout nieder, das die Authentizität des Amateurhaften ausstellt und affirmiert. In Wagners Aufsatz erhält das ‹Reparaturwissen DDR› eine Konturierung als Bildungsprojekt, das einen spezifischen Typus hervorgebracht hat: den Heikodysseus. Dieses Bildungssubjekt ist zu unterscheiden vom Odysseus als Archetyp der humanistisch-bürgerlichen Bildung. Denn nicht die Entsagung gegenüber einer Fülle bringt das selbstbestimmte Subjekt hervor, sondern eine Lebens- und Warenwelt, die vom Mangel gekennzeichnet ist. Die practic bietet Hinweise auf die Eigenschaften, das Habitat und die Ästhetik des Heikodysseus, ebenso wie das veränderte Erscheinungsbild der Hefte nach 1989 Rückschlüsse auf den Ausgang dieses Bildungsprojekts zulässt.

Wie der Bedarf an automatisierter Datenverarbeitung in Industrie und Produktion der DDR zu spezifischen, kooperativen und findigen Formen der Softwareentwicklung führte, zeigt der Text von FRANCIS HUNGER. Für die Entwicklung der relationalen Datenbank DABA-1600 gingen in den frühen 1980er Jahren Wissenschaft (Informatiker_innen der TU Dresden) und Volkseigener Betrieb (VEB Robotron Projekt Dresden) eine Zusammenarbeit ein. Sie fällt in die Zeit des Übergangs vom zentralen Großrechner zum Kleincomputer mit direktem Nutzer_innen-Zugriff. Der medienhistoriografische Blick auf die enge Verflechtung von akademischer Forschung und industrieller Anwendung, von DDR-eigenen Entwicklungen und Nacherfindungen internationaler programmiertechnischer Neuerungen legt die Unterschiede, aber auch überraschende Korrespondenzen zwischen planwirtschaftlichen und marktwirtschaftlichen Settings der Innovation offen.

Im Beitrag von FRANZISKA KLEMSTEIN schließlich werden die Anwendungen relationaler Datenbanken in den Universitäts-Rechenzentren der DDR vorgestellt. Am Beispiel der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar wird eine Wissensgeschichte elektronischer Datenverarbeitung an ostdeutschen Universitäten beschreibbar, deren konkrete Praktiken und lokale Eigenheiten in eine besondere Ökonomie der Nachnutzbarkeit mündeten, die ein rechentechnisches Reparaturwissen förderte. Grundlage des Beitrags sind Überlieferungen der Infrastrukturen und Organisationsformen von Wissen im Universitätsarchiv. Eine eigensinnige Verknüpfung von Forschung und relationaler Datenbank ‹vor› dem Konzept der ‹Forschungsdatenbank› kündigt sich in dieser Auseinandersetzung mit dem Material an.

Die Beiträge zum Schwerpunkt verdeutlichen, dass das Reparaturwissen in der DDR zugleich auch spezifisches Wissen von der DDR ist, das immer noch lesbar ist, wenn man die Aufmerksamkeit auf die praktischen Anpassungen an unterschiedliche Voraussetzungen für den Umgang mit Dingen und Strukturen richtet. Diese Umgangsweisen sind vielfältig und nur verstreut überliefert. Die anachronistischen Artefakte und eigensinnigen materiellen Zusammenfügungen der Reparaturarbeit fordern Ordnungen der Archivierung, Aufbewahrung und Dokumentation heraus.

Auf Montage

Nehmen wir noch mal den Zug. Von Meuselwitz aus dauert die Fahrt drei Stunden. Auch dieser Zug ist das Verkehrsmittel einer dokumentarischen Bildersuche – ein Phantom Ride zwischen Herkunft und Gegenwart. In Thomas Heises Dokumentarfilm Heimat ist ein Raum aus Zeit birgt das Arbeiten in und mit Archiven etwas Vergangenes in einer die Gegenwart einholenden Bewegung.30 Das Erschließen und Zusammenführen überlieferter Dokumente kommt der kombinatorischen Arbeit des Reparierens nahe. Die Auswahl und Verknüpfung von Archivmaterial durch die Montage geben den Berichten aus der Vergangenheit einen Ort und eine Dauer in der dicht gefügten, filmischen Zeit. Der Film bahnt in seinem linearen Zeitlauf Seh- und Hör- und Lesebewegungen durch Familienfotografien, Dokumente, Akten, Überwachungsprotokolle, Aufsätze, Weisungen, Gesuche, Entwürfe von Lebensläufen, Tagebucheinträge und persönliche Briefe.

11. März. Heute am Sonntag haben wir einen freien Nachmittag. Ich werde schlafen und lesen, die Handschuhe nähen und die Stiefel putzen. Hoffentlich kommen keine Appelle. […] Da gerade Sperrstunde ist, können wir nicht einmal den OKW-Bericht hören. Ich warte. Wir sehen ja das Fließen der Geschichte nicht.31

Derjenige, der hier vom Reparieren der Handschuhe, vom vorsorgenden Instandhalten der Stiefel und vom Warten auf Neuigkeiten in unübersichtlicher Zeit schreibt, ist Wolfgang Heise, der Vater von Thomas Heise. Der Brief des 19-Jährigen an seine Eltern stammt aus dem Jahr 1945. Wolfgang Heise ist zu diesem Zeitpunkt mit seinem Bruder als Zwangsarbeiter in einem Lager auf dem Militärflugplatz Zerbst interniert. Seine Briefe an die Eltern werden Jahrzehnte später seinem Sohn, Thomas Heise, zu Nachrichten, die posthum eine Verbindung zum Leben des Vaters herstellen.

Heimat ist ein Raum aus Zeit beginnt mit einem Schulaufsatz des Großvaters Wilhelm von 1912 und erzählt die österreichisch-bürgerlich-jüdisch-deutsch-kommunistische Ostberliner Familiengeschichte der Heises bis ins Jahr 2014, dem Jahr, in dem Rosemarie, die Mutter des Filmemachers, stirbt. Der Dokumentarfilm montiert einen in seinen geografischen Bezugspunkten beweglichen und in seinen Grenzen durchlässigen ‹Raum aus Zeit›. Das Material sind Tonaufzeichnungen von Thomas Heise, der die persönlichen Schreiben und bürokratischen Bescheide aus dem Familiennachlass vorliest, dazu gegenwärtige Aufnahmen von den Orten des vergangenen Geschehens und von Zügen, die unbeeindruckt ihren Weg nehmen. Zu den sorgfältigen Beschreibungen der eigenen Zeit treten Kamerafahrten und Halbtotalen von gerichteten, doch nicht ankommenden Bewegungen. Mit den heutigen Zügen, die an verschiedenen Stationen koppeln, abkoppeln und zum Stehen kommen, erscheint ein Gegen-Entwurf zu einer bebilderten, chronologischen Geschichtsschreibung. Wir sehen Gleise ohne Züge, Waggons, die das ganze Bild verdecken, Züge aus der Ferne, Züge in die Ferne und Kameraeinstellungen mit dem Ohr auf den Gleisen, die Rollen beobachtend, Züge, die durch die Nacht fahren, Straßenbahnen mit verregneten Fenstern im Alsergrund und das betriebsame Warten am Ostkreuz.

Die Züge sind Transferräume in der vorwärtsdrängenden Zeit. Auf den Schienen scheint alles einen immer schon geplanten Weg zu nehmen. Doch der Film konstruiert durch seine Bild-Ton-Montagen mehrgleisige Zeitverläufe der Erinnerung und Erwartung aus den jeweiligen Gegenwarten heraus. In Zerbst, wo Wolfgang Heise als Zwangsarbeiter interniert war, steht heute ein verfallenes Gebäude, zugewachsen von Pflanzen und umgeben von neu gebauten Windrädern. Die Reise des Filmemachers an den Ort und die gegenwärtigen schwarz-weißen Aufnahmen des Geländes erinnern nicht nur an das Geschehene. Im Intervall zwischen dem Schreiben und Lesen des Briefs, zwischen dem Erlebten und dem aktuellen Bild wird auch die Nachgeschichte und das Vergessen miterzählt. Die Stimme von Thomas Heise auf der Tonspur macht uns im Wiederlesen der Briefe zu Empfänger_innen von durch die Zeit gesandten Nachrichten. Die Berichte erreichen uns als Zuschauer_innen auch dort, wo die Bilder des Films am Nichtsichtbaren oder Vergessen-Gemachten eine Grenze finden, wo die Spuren historischer Ereignisse längst getilgt sind, wo Einstellungen nicht das erzählen könnten, was die eigene Vorstellungskraft dem Wortlaut der persönlichen Zeugnisse hinzufügen kann.

Reparaturwissen – das Wissen um Nicht-Ersetzbares und die Vertrautheit mit Brüchen, Schnitten und Nähten – zeigt sich in der audiovisuellen Montage des verstreuten, überlieferten Materials. Dieser explorierende, auseinandernehmende und neu zusammenfügende Zugriff verschiebt die Fragen und Ausgangspunkte in der historiografischen Arbeit. Die bewahrende und zukunftsoffene Bearbeitung des Familienarchivs findet im Wissen um die Un / Lesbarkeit, die materiellen Abbauprozesse, die kontingente Überlieferung und die Unvollständigkeit von Dokumenten ein Verhältnis zur Vergangenheit, das uns als Zuschauer_innen die Gegenwart als fremd und in ihrer Gemachtheit noch unverstanden wahrnehmen lässt. Thomas Heise ‹auf Montage› zuzusehen bedeutet, die audiovisuelle Form des Films als Insistieren auf den Diffraktionen zwischen Bild und Ton, Schauplatz und Stimme, Anwesenheit und Geschichte wahrzunehmen.

Die persönlichen Aufzeichnungen und amtlichen Schriftstücke aus dem Besitz der Eltern, der Romanistin Rosemarie Heise und des Philosophen Wolfgang Heise, differenzieren das Bild vom Leben in der DDR. Die in den Texten verdichteten Ideen, die zeitgenössischen Erfahrungsberichte, die nachträglich notierten Kindheitserinnerungen, die Freundschaften mit literarischen und philosophischen Texten und die intensive Fernbeziehung zwischen Rosemarie und Udo in Mainz weisen immer wieder über die räumlichen und zeitlichen Grenzen der DDR hinaus. Der Film versammelt abgebrochene Schreibversuche, Ausschnitte von Briefen, unfertig Erzähltes, keine ganzen Geschichten. Die Montage hält die schreibend behüteten Innenansichten aus dem Leben der Eltern in einer gewissen Distanz zu den kontemplativen Blicken auf den Außenraum. Was wird aus den Orten, wenn die Ereignisse vorüber sind, wenn niemand mehr verändernd eingreift und trotzdem noch etwas passiert? Die Gleise am Leipziger Bahnhof oder der leere Hörsaal an der Humboldt-Universität (Abb. 1, 2) – sind diese präzise kadrierten Aufnahmen eines Stillstands ein Supplement oder ein Off in Relation zu anderen Repräsentationen der Geschichte? Und sind die Bilder der überlaufenen Bahnsteige am Ostkreuz und die Aufmerksamkeit der Kamera auf beliebige Personen (Abb. 3, 4) Ansätze einer Materialorganisation, die Heises Film gegenüber örtlichen Festschreibungen auf Ost oder West löst? Heimat ist ein Raum aus Zeit erzählt eine gesamtdeutsche Geschichte aus einer ostdeutschen Perspektive und setzt einer strukturellen Unaufmerksamkeit gegenüber der ‹vergangenen Gegenwart› der DDR ein Verfahren vorwärtslaufender und verzögernder Mikrogeschichten entgegen.32

Abb. 1–2Heimat ist ein Raum aus Zeit, Buch und Regie: Thomas Heise, DE/AT2019, Screenshots

Wissenschaft Ost

Im letzten Kapitel von Heimat ist ein Raum aus Zeit sind in Detailaufnahmen einige Kontaktabzüge zu sehen, die ein Gespräch zwischen Wolfgang Heise und Heiner Müller belegen. In einem Text zur Geschichte der Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin beziehen sich Holger Brohm und Sebastian Gießmann auf dieses Zusammentreffen:

Es gibt ein spätes, faszinierendes geschichtsphilosophisches Gespräch zwischen Heiner Müller und dem Philosophen Wolfgang Heise. Datiert auf den 16. November 1986, mag es innerhalb der Konjunkturen des Vergessens für die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der kaum noch erinnerten Wissenskultur der DDR in den 1980er Jahren einstehen.33

Abb. 3–4Heimat ist ein Raum aus Zeit, Buch und Regie: Thomas Heise, DE/AT2019, Screenshots

Aber von welchen ‹Konjunkturen des Vergessens› ist hier die Rede? Und warum wird die Wissenskultur der DDR kaum erinnert? Es ist nicht nur Wolfgang Heise, der nach dem Fall der Mauer «in der aktuellen Inszenierung des Vergessens verschwindet».34

Das Gespräch zwischen Heise und Müller erscheint als Tondokument in Heimat ist ein Raum aus Zeit. In diesem Austausch über Texte von Bertolt Brecht wird ein Verfahren der Heise-Filme deutlich, das einem Reparieren mit verfügbaren oder eigens produzierten Versatzstücken gleichkommt – nämlich Zeiten, Wörter und Bilder zu mischen, so dass sie keiner rein chronologischen Erzählform nachgehen, sondern eine ständige Gegenwart der Geschichte herstellen bzw. die Gegenwart als ständigen Kommentar der Geschichte erscheinen lassen.

1986 in Ostberlin geht es Wolfgang Heise und Heiner Müller im Gespräch um Brechts Literatur und Zeitgenossenschaft. Müller versteht die Figur des Galilei als Brechts Sprachrohr, wenn sie sagt, der Mensch sei «nicht brüchig genug».35 Und Müller fügt hinzu, dass sich schlimme Zustände konservieren, weil der Mensch zu viel aushalte. Drei Jahre später geht es in Ostberlin um Aufbrüche, um Zusammenbrechendes und um oft übersehene Formen des Beharrens. Die ‹Wende›, die Währungsreform und die Wiedervereinigung wurden als mobilisierende und erduldete, angleichende und deklassierende, Brüche moderierende und verstärkende Ereignisse beschrieben. Steffen Mau hat in seinen Studien zur gesellschaftlichen Transformation in Ostdeutschland darauf hingewiesen, dass die Auffassung der ‹Wende› als «Moment der Diskontinuität» die Zusammenhänge verdecke, die «Menschen und ihre Biografien, Mentalitäten und soziale Praktiken» herstellen.36 Die Geschichte der Vereinigung ist somit nicht als abgeschlossener oder einfach abzuschließender Übergang zwischen getrennten Zuständen zu verstehen, sondern als «andauernde Restrukturierung und Veränderung».37 Maus Interesse gilt den Einbruchstellen und den Verwerfungen in Sozialstrukturen und in Erlebnisweisen eines gesellschaftlichen Zusammenhangs in Ostdeutschland. Er analysiert das Leben in der DDR, nach der DDR, mit der DDR.

Die DDR hat Bedeutung als ein Erfahrungsgehalt, der über Generationen hinweg das Selbst- und Politikverständnis von Personen entscheidend prägt.38 Und gerade das ‹Reparaturwissen DDR› bahnt einen Weg in diese Gegenwärtigkeit. Denn Reparaturerfahrungen sind als eine (auch die Erinnerungen an) die DDR und die ‹Wendezeit› prägende Anpassungsarbeit zwischen Personen, Dingen, sozialen und ökonomischen Handlungsräumen ebenso explorierbar wie die praktisch-technischen posthumanen Gefüge der aktuellen Repair-Studies-Konjunktur. Eine solche Untersuchung kehrt nicht nur unsichtbare Arbeiten in Technikabläufen, Infrastrukturen und medialen Konstellationen hervor, sondern erfasst die verunsichtbarte – oder mit Mau: verdeckte – diskontinuierliche Geschichte der DDR und ihrer ostdeutschen Nachfolge.

Medienwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem ‹Reparaturwissen DDR› könnten Jacksons Diktum von den verschiedenen Weisen, in denen wir in der und mit der materiellen Welt sind,39 bestätigen, indem sie zur weiteren Analyse einer «frakturierten»,40 mit Diskontinuitäten vertrauten Gesellschaft beitragen. Denn die anhaltende gesellschaftliche ‹Restrukturierung› lässt sich wie das Reparieren als Wandlungsprozess verstehen, der Diskontinuität und Dauer neu konfiguriert, ohne diese Spannung aufzulösen. In den 30 Jahren seit der ‹Wende› zeigen sich (neoliberale) Verwerfungen der persönlichen Zukunft, Prekarisierung, Irritationen von Lebensmodellen, gebremste Wohlstandsgewinne und neue polarisierende soziale Bewegungen klarerweise nicht nur im Osten, sondern auch im ‹ehemaligen Westen›.41

Nach der ‹Wende› ereignete sich an Universitäten und Hochschulen im Osten der stärkste institutionelle Bruch in den Sozial- und Geisteswissenschaften.42 Der Hochschulforscher Peer Pasternack beschreibt die

Schwierigkeiten, die der Transformationsmodus den jüngeren und mittleren ostdeutschen Wissenschaftlergenerationen bei der Integration in den neu organisierten akademischen Betrieb bescherte. Deren Angehörige hatten noch in der DDR ihre ersten Schritte in der Wissenschaft absolviert und dann mit dem Umbruch ihre akademischen Lehrer und Netzwerke verloren. Aus beiden Generationen gelang es nur wenigen, sich gegen das in den ersten Jahren wirksame Stigma, in der DDR wissenschaftlich sozialisiert worden zu sein, in die neuen Strukturen zu integrieren. Es mangelte den jüngeren Wissenschaftlern sowohl an der Einbindung in die nun relevanten Netzwerke als auch an habitueller Passfähigkeit. Sie stießen daher an eine gläserne Decke.43

Pasternack stellt klar, dass der weitgehende Ausschluss der in der DDR sozialisierten jüngeren Wissenschaftler_innen ohne größere Probleme möglich war, weil für Stellenbesetzungen an den ostdeutschen Hochschulen ausreichend qualifiziertes Personal aus Westdeutschland zur Verfügung stand. Die wissenschaftliche und soziokulturelle Entwertung der ostdeutschen Akademiker_innen und der Elitentransfer von West nach Ost blieben nicht auf einen kurzen Zeitraum des Übergangs beschränkt.44 Es gab keine die Benachteiligungen bei den Stellenbesetzungen im Osten ausgleichenden Karrieremöglichkeiten für ostdeutsche Wissenschaftler_innen an westdeutschen Hochschulen. Die «zahlenmäßige westdeutsche Dominanz im akademischen Personal in Ostdeutschland [wäre] nur dann völlig unproblematisch gewesen», erklärt Pasternack, «wenn sich alsbald auch eine dem ostdeutschen Bevölkerungsanteil entsprechende Veröstlichung des wissenschaftlichen Personals an den westdeutschen Hochschulen ergeben hätte. Dies war nicht der Fall.»45

Dies ist immer noch nicht der Fall. In der überwiegend westdeutsch sozialisierten Gesellschaft für Medienwissenschaft über die DDR zu sprechen, birgt das Risiko von Zuschreibungen des Putzigen, der Nostalgie oder des Ressentiments. Aufgrund unserer Theorieinteressen, unserer Biografien und unserer durch die ‹Wende› verkomplizierten, doch auch ermöglichten Bildungsgeschichten sind uns solche Haltungen zur DDR fremd. Um den Trabant, Halloren-Kugeln oder das Erleben von Zurücksetzung soll es nicht gehen. Wir fragen uns und wir fragen jetzt Sie: Warum sind die Medien (-geschichten), Wissenskulturen und Archive der DDR in der Forschung und Lehre kein Thema?

Wir möchten der Redaktion der ZfM für die umsichtige organisatorische Unterstützung und den engagierten Austausch über das Schwerpunkt-Thema sehr herzlich danken. Ein großer Dank gilt auch allen Gutachtenden des Peer-Review-Verfahrens für die im Verborgenen geleistete, intensive Auseinandersetzung mit den Texten. Wir danken allen Gutachter_innen für die großzügig geteilten Überlegungen und die erfindungsreichen Reparatur-Empfehlungen!

ULRIKE HANSTEIN, MANUELA KLAUT, JANA MANGOLD

ULRICH RICHTMEYER

ZEN UND DIE KUNST JEDEN MANGEL ZU REPARIEREN

I. Aluminium

Irgendwann am Ende der 1980er Jahre habe ich mir für die Reparatur meines Fahrrads eine Unterlegscheibe durch das Durchbohren eines ‹Aluchips› hergestellt, wie die als relativ wertlos angesehenen DDR-Münzen manchmal genannt wurden. Dass der Metallbohrer hierzu das aufgeprägte Herrschaftssymbol aus Hammer und Zirkel durchfraß, hatte für mich, soweit ich mich erinnern kann, keine gesellschaftskritische Bedeutung. Wahrscheinlich fand ich es aber trotzdem ganz cool, das Geldstück, das Teil und Ausdruck einer statischen Erwachsenenwelt wie einer beklemmenden Gesellschaftsordnung war, durch meine spontane Handlung zu dem zu machen, was es genau in diesem Moment für mich bedeutete: eine verfügbare Metallscheibe in einer mechanischen Reparatur.

Dass dieses Tun auch eine zeitlose, philosophische Qualität haben könnte, war mir damals ebenso wenig bekannt wie Robert M. Pirsigs Buch Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten (1974). Darin empfiehlt der US-amerikanische Autor einem Freund, für die Reparatur seines Motorrads eine «alte Bierdose» zu verwenden, die sei «das beste Unterlegmaterial, das du dir denken kannst».1

Die vorgeschlagene Improvisation ist wesentlich durch die Materialeigenschaften des Metalls motiviert: «Ich muß noch dazu sagen, daß Bierdosen-Aluminium weich und schmiegsam ist, wie Metall es nur sein kann. Für den Zweck ideal.»2 Der Reparaturvorschlag wird aber trotzdem abgelehnt, weil sowohl die frühere Funktion als auch die mittlerweile eingetretene Nutzlosigkeit der Blechdose als symbolische oder ideelle Entwertungen des Motorrads missverstanden werden können und somit für den Freund inakzeptabel sind: «Ich hatte ihm zugemutet, seine neue Achtzehnhundert-Dollar-BMW, den Stolz eines halben Jahrhunderts deutscher Mechanikerkunst, mit einem Stück Blech von einer alten Bierdose zu reparieren! Du meine Güte!»3

Für die Ablehnung der vorgeschlagenen Reparatur ist der gesellschaftliche Status des Materials also wichtiger als dessen technische Funktion. Dass er das für einen Fehler hält, unterstreicht Pirsig mit der erzählerischen Erfindung einer nobleren Herkunft der Blechdose:

Ich hätte unbemerkt an die Werkbank gehen, ein Unterlegstück aus der Bierdose schneiden, den Aufdruck entfernen und dann zurückkommen und ihm sagen sollen, wir hätten Glück, das sei das letzte Stück, das ich noch hätte, eigens aus Deutschland importiert. Das hätte gewirkt. Ein Spezial-Unterlegstück aus dem Privatbesitz von Baron Alfried Krupp, der es weit unter Selbstkostenpreis habe verkaufen müssen. Dann hätte er sich darum gerissen.4

Mit dieser erfundenen Herkunft betreibt Pirsig nicht nur eine ironische Aufwertung des umstrittenen Materials. Er relativiert auch den kultur- und zeitgeschichtlichen Einfluss, der das Reparieren ermöglicht oder verhindert und der die soziale Bewertung dieses Tuns betrifft. Er wehrt sich dagegen, dass allgemeine Wertzuschreibungen seiner Zeitgenoss_innen auf die besondere Situation der Reparatur übertragen werden. Denn er will umgekehrt von einer philosophischen Qualität des Reparierens ausgehen, die darin besteht, dass dieses Tun Neubewertungen ermöglicht: «Bei der Motorradwartung muß man neu entdecken, was man tut. Starre Wertvorstellungen machen das unmöglich.»5

Der Vergleich beider Anekdoten führt zu der Frage, wie wichtig der historische Kontext überhaupt ist, um verstehen zu können, was das Reparieren an einzelnen Orten und zu besonderen Zeiten bedeutet. Spezifisch im Sinne einer historischen Relativität des Reparierens ist im Falle der ersten Anekdote eine kulturelle Epoche, in der der Materialwert einer Landeswährung für bedeutender befunden werden kann als ihr Geldwert. Und die zweite Anekdote verweist auf eine kulturelle Epoche, in der industriell hergestellte metallische Hohlkörper als Einwegverpackungen für Getränke dienen und deshalb wenig gelten. In der DDR wiederum hätte man Bierdosen nicht zerschnitten, weil sie seltener waren als die Aluminiummünzen und manchmal sogar wie Trophäen gesammelt wurden. An solchen Beschreibungen lassen sich also historische Unterschiede ablesen. Aber reichen sie auch aus, um sagen zu können, in welcher Weise das Reparieren eine US-amerikanische oder eine ostdeutsche Spezifik hatte und ob in den 1970er Jahren anders repariert wurde als in den 1980er Jahren? Übersieht der Blick auf die historischen Bedingungen nicht den eigentlichen Sinn des beschriebenen Tuns? Seine Anlässe, seine Motive und Konsequenzen? Und wenn ein Stück Aluminium zweckentfremdet wird, um in einer mechanischen Montage als Unterlegscheibe zu dienen, dann spielt es für diese Improvisation eigentlich keine Rolle, ob dafür das Metall einer Münze oder einer Bierdose verwendet wird. Sind die Gemeinsamkeiten zwischen den Fallbeispielen des Reparierens also vielleicht sogar stärker als die Unterschiede?

II. Neolithikum

Jenseits historischer Bedingungen und sozialer Bewertungen scheint das Reparieren eine Spielart jener zeitlosen Universalkompetenz des Bastelns zu sein, die Claude Lévi-Strauss 1962, also zwölf Jahre bevor Pirsigs Buch erschien, in seiner «Wissenschaft vom Konkreten» als eine seit dem Neolithikum bestehende menschliche Wissenspraxis beschrieben hatte.6 Es handelt sich um eine komplementäre Art «wissenschaftlicher Erkenntnis»,7