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Beschreibung

Die Zeitschrift für Medienwissenschaft steht für eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft, die Untersuchungen zu Einzelmedien aufgreift und durchquert, um nach politischen Kräften und epistemischen Konstellationen zu fragen. Sie stellt Verbindungen zu internationaler Forschung ebenso her wie zu verschiedenen Disziplinen und bringt unterschiedliche Schreibweisen und Textformate, Bilder und Gespräche zusammen, um der Vielfalt, mit der geschrieben, nachgedacht und experimentiert werden kann, Raum zu geben. Heft 29 fragt, wie sich Medien und Tests wechselseitig konstituieren. Besondere Aufmerksamkeit erfahren dabei Politiken des Testens. Die Beiträger*innen schlagen vor, Tests als offene Situationen zu verstehen, in denen mit teils etablierten, teils sich erst während des Testens etablierenden Maßstäben soziotechnische Bewertungen erfolgen und Entscheidungen getroffen werden. Für einen medienkulturwissenschaftlichen Begriff des Tests gilt: In den Mikroentscheidungen des verteilten und verteilenden Testens steht das Soziale selbst auf der Probe. Die versammelten Beiträge verdeutlichen: kein Test ohne Medien - kein Medium ohne Test.

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Seitenzahl: 360

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2/2023

GESELLSCHAFT FÜR MEDIENWISSENSCHAFT (HG.)

 

 

 

 

 

 

 

EDITORIAL

Medienwissenschaft zu betreiben bedeutet immer auch, sich zu fragen, was die Voraussetzungen und Bedingungen der eigenen Forschung sind. Die Medialität von Dingen und Ereignissen wird häufig erst in der Beschäftigung mit ihrer Theorie und Geschichte, ihrer Technik und Ästhetik freigelegt. In diesem Sinne betreibt die ZfM eine kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft, die Untersuchungen zu Einzelmedien aufgreift und durchquert, um nach politischen Kräften und epistemischen Konstellationen zu fragen.

Unter dieser Prämisse sind Verbindungen zu internationaler Forschung ebenso wichtig wie die Präsenz von Wissenschaftler*innen verschiedener disziplinärer Herkunft. Die ZfM bringt zudem verschiedene Schreibstile und Textformate, Bilder und Gespräche zusammen, um der Vielfalt, mit der geschrieben, nachgedacht und experimentiert werden kann, Raum zu geben.

Jedes Heft eröffnet mit einem SCHWERPUNKTTHEMA , das von einer Gastredaktion konzipiert wird. Unter EXTRA erscheinen aktuelle Aufsätze, die nicht auf das Schwerpunktthema bezogen sind. DEBATTE bietet Platz für theoretische und/oder (wissenschafts-)politische Stellungnahmen. Die Kolumne WERKZEUGE reflektiert die Soft- und Hardware, die Tools und Apps, die an unserem Forschen und Lehren mitarbeiten. In den BESPRECHUNGEN werden aktuelle Veröffentlichungen thematisch in Sammelrezensionen diskutiert. Die LABORGESPRÄCHE setzen sich mit wissenschaftlichen oder künstlerischen Forschungslaboratorien und Praxisfeldern auseinander. Von Gebrauch, Ort und Struktur visueller Archive handelt die BILDSTRECKE. Aus gegebenen Anlässen konzipiert die Redaktion ein INSERT.

Getragen wird die ZfM von den Mitgliedern der Gesellschaft für Medienwissenschaft, aus der sich auch die Redaktion (immer wieder neu) zusammensetzt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich an der ZfM zu beteiligen: (1) die Entwicklung und redaktionelle Betreuung eines Schwerpunktthemas, (2) die Einreichung von Aufsätzen und Reviewessays für das Heft und (3) von Buchrezensionen und Tagungsberichten für die Website. Alle Beiträge sind im Open Access verfügbar. Auf www.zfmedienwissenschaft.de befinden sich das Heftarchiv, aktuelle Besprechungen und Web-Extras, Blog-Beiträge sowie genauere Hinweise zu Einreichungen.

MAJA FIGGE, MAREN HAFFKE, TILL A. HEILMANN, KATRIN KÖPPERT, FLORIAN KRAUTKRÄMER, ELISA LINSEISEN, JANA MANGOLD, GLORIA MEYNEN, MAJA-LISA MÜLLER, BIRGIT SCHNEIDER, STEPHAN TRINKAUS, THOMAS WAITZ

INHALT

Editorial

 

TEST

 

SEBASTIAN GIEßMANN / CAROLIN GERLITZ Test Einleitung in den Schwerpunkt

DAVID BUCHELI

Bilder geben Eine Objektgeschichte des Rorschachtests

GABRIELE SCHABACHER / SOPHIE SPALLINGER

Tests als Medien der Gewöhnung Pilotversuche am Bahnhof

STEFAN RIEGER

Virtuelles Testen

DANIELA HOLZER

«Survival engineering» Die Survival-Show «7 vs. Wild» als exemplarische Testsituation einer bedrohlichen Gegenwart

CHRISTOPH BORBACH

Medien- als Testgeschichte Radarentwicklung in den Bell Labs und bei Western Electric

Ein Gespräch zwischenNOORTJE MARRES und PHILIPPE SORMANI

KI testen «Do we have a situation?»

 

BILDSTRECKE

DAPHNÉ NAN LE SERGENT vorgestellt von NOAM GRAMLICH

Das extraktive Bild

 

LABORGESPRÄCH

SUSANNE NIKOLTCHEV und MARTIN KANZLER im Gespräch mit JUDITH KEILBACH und FLORIAN KRAUTKRÄMER

Simple Zahlen und neutrale Informationen Produktionsforschung durch Studien des European Audiovisual Observatory

 

EXTRA

CHRISTOPHER A. NIXON

«Working to Transform the Image» Postkoloniale Bildkritik, Bildpolitik und die zeitgenössische Queer-of-Color-Fotografie

 

DEBATTE

Medienwissenschaft und Bildung

HARUN MAYE Ist Medienkompetenz Bullshit?

Medienpraxis und Lehre

JOHANNES PAßMANN / FLORIAN SPRENGER

Gepflegte Medienpraxis

PAUL HEINICKER / ARMIN BEVERUNGEN / PAUL HOFFSTIEPEL / MACE OJALA / ANTONIA WULFF

Medienpraxislehre in der Medienwissenschaft. Empirie und Exploration

 

WERKZEUGE

WINFRIED GERLING / SEBASTIAN MÖRING

Bildschirmbilder. Screenshots als Werkzeuge der Wissenschaft

 

BESPRECHUNGEN

NOAM GRAMLICH Mechanical Bro, HotMessAge und MsUnderstand Media. «Weiße» Flecken der Medienwissenschaft

FEDORA HARTMANN / CAROLYN AMANN

« Cutting together-apart?» Feministische Doppelspaltexperimente, trans- baradianische Apparate und gouvernementale Materialitäten

 

AUTOR*INNEN

BILDNACHWEISE

IMPRESSUM

TEST

Teststation in Rüttenscheid (Essen), Oliver Heise: symptom, Folkwang Universität der Künste, September 2022

DAVID BUCHELI

BILDER GEBEN

Eine Objektgeschichte des Rorschachtests

Testaufnahme

Auf zehn Tafeln kommen Bilder von Tintenklecksen, erschienen 1921 im Verlag Ernst Bircher in Bern. «Die Herstellung solcher Zufallsformen ist sehr einfach».1 Das Verfahren, der Algorithmus, ist ein Kinderspiel.

«These are pictures of inkblots. Actually, the kind you probably made yourself when you were a child. Just blots of ink in the paper folded over.» Der Filmpsychiater nimmt den Stapel mit den Tafeln beiläufig aus der Schublade und legt ihn vor sich auf den Schreibtisch.

«What’s it for?», will die Frau auf dem Divan im Schein der Schreibtischlampe wissen.

«It’s another way of examining personality. I’m going to hand them to you one by one. And all you have to do is telling me what you see there.»2

Robert Siodmaks The Dark Mirror von 1946 ist ein Noir-Melodrama im Verleih von Universal Pictures und gilt gemeinhin als erster Film, in dem der Rorschachtest zu sehen ist.3 Die Szene, in der die – des Mordes verdächtigte – Terry Collins (Olivia de Havilland) von dem Psychologen Dr. Elliot (Lew Ayres) getestet wird, hält sich akkurat an die Standards aus der Fachliteratur. Der Versuchsleiter und die Versuchsperson befinden sich in einem ruhigen Zimmer, die zehn Testtafeln liegen verdeckt auf einem Stapel vor dem Versuchsleiter. Durch «einige einleitende Sätze, die genau abgewogen sein und der ganzen Situation entsprechen müssen, die aber nicht schematisch sein dürfen», wird die Versuchsperson vorbereitet.4 «Misstrauischen Versuchspersonen muss man gelegentlich die Art der Herstellung derartiger Bilder ad oculus demonstrieren. Im ganzen wird aber das Experiment sogar von misstrauischen und gesperrten Geisteskranken nur relativ selten abgelehnt.»5 Hatte Walter Benjamin in seinem «Kunstwerk»-Aufsatz schon auf die strukturelle Ähnlichkeit von Testsituationen und der Aufnahmesituation im Filmstudio hingewiesen, wird hier das Testdispositiv vollends kenntlich als filmische mise-en-scène.6 Sogar die Ausleuchtung der Szene orientiert sich an einschlägigen Regularien: «Wichtig ist die Beleuchtung. Das Licht soll von links oder schräg hinten auf die in der Hand gehaltene Tafel fallen.»7 Es ist auf mittlere, gleichbleibende Lichtbedingungen zu achten. Die «Hauptsache» sei – schreibt Hermann Rorschach 1921 in seiner Hauptpublikation Psychodiagnostik –, «dass das Experiment möglichst frei von allem Zwange durchgeführt werde.»8

Sind die materiellen und psychologischen Vorbedingungen erfüllt, kann das Testen beginnen. Die Tintenkleckse kommen mit einer Frage, die eigentlich eine Sehanweisung ist. Die Versuchsperson ist aufgefordert, sich ein Bild zu machen.

Abb. 1/2The Dark Mirror (Regie: Robert Siodmak, USA1946), Screenshots

Die Versuchsperson erhält eine Tafel um die andere in die Hand und wird gefragt: «Was könnte dies sein?» Sie darf die Tafel nach Belieben drehen und wenden. Auch die Entfernung der Tafeln von den Augen ist dem Belieben der Versuchsperson überlassen, nur sollten die Bilder nicht aus der Ferne betrachtet werden. […]

Es wird nach Möglichkeit, aber selbstverständlich unter Vermeidung aller suggestiven Momente, darauf gedrängt, dass zu jeder Tafel wenigstens eine Antwort gegeben wird. Im übrigen wird solange weiterprotokolliert, als eben die Antworten fliessen.9

Wir haben es mit einer streng geregelten Prozedur zu tun. Ein Spiel des Zeigens und Verbergens, des Beschreibens und Beschriebenwerdens. Durch ebenjenen Akt, in dem Terry die Tafeln beschreibt, wird zugleich sie selbst beschrieben und klassifiziert. Wie sie die Tafeln in den Händen zu halten und zu betrachten hat, folgt präzisen Instruktionen. Denn nur unter rigoroser Einhaltung der Testbedingungen bringen die Tafeln ein ‹verräterisches Sprechen› hervor.10 Zur Sprache gebracht wird ein prozedurales Subjekt, das in der Exposition der Tafeln eingefangen und psychometrisch erfassbar wird. Die sogenannten ‹Zufallsformen› sind mehr als Unfälle an der Grenze zur Figuration. Sie sind Testbilder im medientechnischen Sinn: ein standardisiertes Set visueller Information, das von einem Medium (hier: Terry) prozessiert wird und dabei einem normierenden Blick, einer qualifizierenden, klassifizierenden und sanktionierenden Überwachung ausgesetzt ist. Der Blick auf die Tafeln lässt nichts sehen, was nicht auf besondere Weise auch die Sehende selbst sichtbar werden lässt. Was Versuchspersonen aus den Bildern machen, ihre Interpretation und Beschreibung, reflektiert in den Worten des Versuchsleiters im Film «the true secret patterns of their own minds and personalities».11 Später, als Terry das Sprechzimmer verlassen hat, werden die qualitativen Antworten ausgewertet, in numerische Daten übersetzt und zum sogenannten Psychogramm verrechnet. Die Anzahl der Antworten, ihre Determination durch Form, Farben und Bewegungsempfindungen, die Lokalisation der Antworten auf den Tafeln und ihre Originalität stellen bei den Berechnungen entscheidende Faktoren dar. Das Ergebnis ist Persönlichkeitsdiagnose, psychopathologische Klassifikation und Intelligenzprüfung in einem. Und es indiziert schließlich, was im Film Noir unvermeidlich ist: Terry erweist sich als Femme fatale, «very clever, very intelligent, but insane», und ist wegen dringenden Mordverdachts zu verhaften.12

The Dark Mirror markiert in der Geschichte des Rorschachtests jenen Moment, in dem der Tintenklecks vom spezialisierten psychodiagnostischen Instrument zu einer populären Chiffre für das Ambige und Verborgene der Persönlichkeit wird. ‹Persönlichkeit› meint in diesem Zusammenhang jene «affective or nonintellectual aspects of behavior», die ab den 1930er Jahren von Psycholog*innen zunehmend durch projektive Testverfahren untersucht werden.13 Der Rorschachtest kann als früher Vertreter solcher Persönlichkeitstests gelten. Doch entfaltet er seine Wirkung nicht unmittelbar nach seiner Publikation 1921 durch den Schweizer Psychiater Hermann Rorschach, sondern erst nachdem er ab 1930 im Gepäck deutscher Emigrant*innen an US-amerikanischen Universitäten Einzug hielt.

Ein psychologischer Test ist, gemäß einer klassisch gewordenen Definition von Anne Anastasi, «essentially an objective and standardized measure of a sample of behavior».14 Rorschachs Testbegriff unterscheidet sich signifikant von dieser Begriffsbestimmung. ‹Test› bezeichnet für ihn kein Verfahren, sondern ein Objekt. Als die Psychodiagnostik im Verlag Ernst Bircher in Bern erscheint, umfasst die Publikation zwei sehr verschiedene Teile: einerseits einen Textband, andererseits einen «zugehörigen Test, bestehend aus zehn teils farbigen Tafeln».15 Mit ‹Test›, ‹Tests› oder auch ‹Testapparat› bezeichnet Rorschach die Tafeln selbst als tangible Bildträger und Instrumente der Wissensproduktion. Test meint hier zunächst keine Prozedur des Examinierens und Bewertens, sondern schlicht die Hardware des Testens.

Ich möchte diesen Hinweis auf die materielle Verfasstheit des Rorschachtests aufnehmen und im Folgenden aufzeigen, wie Bilder von Tintenklecksen zu technischen Objekten im Sinne Hans-Jörg Rheinbergers werden16 – und damit zur materiellen Grundlage einer klassifizierenden Testanordnung, die von der explorativen Struktur des Experiments in den empirischen Wissenschaften abgegrenzt werden kann. Die Überführung der Klecksbilder von Kontingenz in Normativität wird als medientechnisches Problem verhandelt, das die filmische Inszenierung mit Rücksicht auf (Un-)Darstellbarkeit zu ihrem eigentlichen Thema macht.

Kontrollierte Sichtbarkeit

Als The Dark Mirror im Oktober 1946 in die US-Kinos kommt, dürfen die Studioverantwortlichen den inkblot test beim Publikum als bekannt voraussetzen. «By the midforties practically every American had a son, brother, or other loved one who had been given psychological testing in the draft; an increasing number had taken such tests themselves.»17 Wer dem Test nicht selbst beim Militär, bei der Stellensuche, beim Behördengang oder in der Klinik begegnet ist, kann wenige Wochen vor dem Filmstart in der Illustrierten Life nachlesen, wie Tintenkleckse für Persönlichkeitstests genutzt werden. Wie im Film wird auch in der Illustrierten auf ein spielförmiges Wissen referiert, das das bürgerliche Subjekt schon als Kind für sich entdeckt hat:

Children play a fascinating game with paper and ink. They fold the paper over a drop of ink and try to see shapes like witches and bats and castles in the blot. Thirty-five years ago a Swiss psychiatrist named Herman [sic] Rorschach got the idea that the different things people see in ink blots might be a good index to their various personalities. Since then the Rorschach test has been increasingly used by psychologists, educators and even employers to help determine the structure of personalities.18

Was Terry im Film einmal als «kindergarten games» bezeichnet,19 hat sich in den Vereinigten Staaten der Nachkriegszeit zu einem weit verbreiteten Testinstrument in der militärischen, industriellen und klinischen Persönlichkeitsprüfung entwickelt. Die Hollywood-Inszenierung ist instruktiv. Sie folgt dem psychodiagnostischen Testverfahren in all seinen akribisch recherchierten Details. Warum Dr. Elliot vor Versuchsbeginn das Ticken seiner Uhr kontrolliert und sie unauffällig vor sich auf dem Schreibtisch platziert, wird im Film nicht kommentiert. Tatsächlich stellt die Reaktionszeit einen zentralen Versuchsfaktor dar und muss neben allen Antworten oder Ausflüchten protokolliert werden, «ohne dass die Vp. [Versuchsperson] dies wahrnimmt».20 Dass Terry während der Befragung auf einer Couch liegt – dem psychoanalytischen Möbel schlechthin –, ist eher ungewöhnlich, aber durchaus vereinbar mit den Handbuchinstruktionen. Nach Walter Morgenthalers Einführung in die Technik von Rorschachs Psychodiagnostik von 1940 sitzt der Versuchsleiter «entweder im rechten Winkel zu ihr mit dem Rücken gegen das Licht, oder aber rechts oder links neben ihr, etwas zurück, jedenfalls so, dass er in unauffälliger Weise sowohl Mimik und Motorik der Vp. wie die in der Hand gehaltene Tafel überblickt, ohne dass die Vp. seine Aufzeichnungen selber kontrollieren kann».21 Die Inszenierung in The Dark Mirror befolgt so pedantisch jeden Standard des Rorschachverfahrens, dass eine zentrale Unstimmigkeit fast übersehen werden könnte: Die Bilder, die Terry nacheinander studiert und interpretiert, sehen nur auf den ersten Blick nach Rorschach aus. Hat das erste Testbild, abgesehen von einigen Klecksen um die Mittelachse, noch täuschende Ähnlichkeit mit Tafel III der originalen Rorschachserie, ist die zweite Tafel bereits offensichtlich frei erfunden. Auch die verkleinerten Abbildungen auf Dr. Elliots Verrechnungsschema haben höchstens entfernte Ähnlichkeit mit Rorschachs Klecksbildern. Und selbst Life, diese Bilddatenbank US-amerikanischer Lebensart schlechthin, verzichtet in ihrer Ausgabe vom 7. Oktober 1946 auf die Wiedergabe der Originalserie und setzt stattdessen eigens angefertigte Kleckse ein: «Because much of the effectiveness of the standard Rorschach blots depends upon their novelty, special new blots were used in this LIFE test.»22

Abb. 3The Dark Mirror (Regie: Robert Siodmak, USA1946), Screenshot

Film und Illustrierte müssen sich also mit Platzhaltern anstelle von Testbildern behelfen. Das ist zunächst einmal nicht überraschend: Testbilder stehen immer schon anstelle anderer Bilder. Als proxies repräsentieren sie nichts, sondern stehen für Bildlichkeit an sich.23 «[D]eprived of any semantic dimension», proben sie die Bedingungen ihrer eigenen Übertragung, Prozessierung, Darstellung oder Speicherung.24 Im Falle des Rorschachtests geht es um die Beobachtung von individuellen Wahrnehmungsmustern, die mit den Koordinaten einer psychogrammatischen Landkarte korrespondieren: Nicht nur, was die Versuchsperson in den Tafeln sieht, sondern auch wie sie die angeblichen Zufallsbilder zu sinnvollen (d. h. bei Rorschach: konkret-figürlichen) Strukturen zusammenfasst, wie plausibel sie dabei Formen und Farben integriert und wie lange sie dafür benötigt, fließt in die Berechnungen ein, die sie am Ende als normal, neurotisch, pedantisch, depressiv, schwachsinnig, schizophren, melancholisch, dement, imbezil, weltfremd oder Künstler*in klassifizieren werden.

Zu den Vorbedingungen des Versuchs gehört, dass die Bilder das Testregime nicht verlassen dürfen. Rorschachs Methode beruht darauf, dass die Versuchsperson ebenso unvermittelt wie unvoreingenommen auf die – bis zu diesem Zeitpunkt unbekannten – Tafeln blickt. Daher dürfen die Tafeln auch nicht außerhalb der standardisierten Prozedur gezeigt werden. Selbst bei flüchtiger Vorkenntnis der Kleckse «verfälschen bewusste und unbewusste Gedächtnisleistungen das Resultat».25 Die Zirkulation der Testbilder unterliegt also einer strengen Kontrolle. Die Tafeln können nur von ausgebildetem Fachpersonal bezogen werden, ihre unrechtmäßige Reproduktion und Verbreitung wird vom Rechteinhaber mit allen Rechtsmitteln bekämpft. Dieses faktische Bilderverbot erlangt 2009 besondere mediale Aufmerksamkeit, als die Tafeln gegen den Protest praktizierender Psychodiagnostiker*innen als JPG-Dateien in den Wikipedia-Artikel zum Rorschachtest eingepflegt werden. Die Hogrefe-Verlagsgruppe, die mittlerweile die Rechte an der Psychodiagnostik verwaltet und Rorschach als eingetragenes Warenzeichen konsequent mit ® schreibt, prüft in dieser Sache rechtliche Schritte gegen Wikimedia.26 Tatsächlich ist die kontrollierte Sichtbarmachung der Tafeln schon in Rorschachs Text angelegt. Nicht nur sollen die Tafeln die Testanordnung nicht verlassen, auch die Maximaldistanz, aus der sie während des Versuchs betrachtet werden dürfen, ist vorgegeben:

Abb. 4Gobolinks or Shadow-Pictures for Young and Old, 1896, Umschlagrückseite (Orig. i. Farbe)

Die Versuchsperson soll die Tafel in der Hand behalten und die Länge des ausgestreckten Armes soll die höchstzulässige Entfernung sein. Es ist darauf zu achten, dass die Versuchspersonen die Tafeln nicht vorzeitig aus der Ferne erblicken, da dies die Vorbedingungen des Versuchs verfälscht. Tafel I z. B. wird aus einigen Metern Entfernung oft als «Fuchskopf» gedeutet, aus der Nähe so gut wie nie. Hat aber eine Versuchsperson einmal aus der Ferne den «Fuchskopf» erblickt, so wird es ihr auch aus der Nähe schwer, in dem Bilde etwas anderes als eben diesen Fuchskopf zu sehen.27

Die Tafeln stellen eine Serie dar. Ihre Abfolge ist genau festgelegt, denn die «Reihenfolge der Bilder innerhalb der Serie ruht auf empirischen Ergebnissen».28 Für Rorschach kann jede unsachgemäße Anwendung und jeder unautorisierte Blick auf die Bilder ihre Wirkungsmacht als Wahrheitstechnologie gefährden. Die zehn Originaltafeln, möglicherweise die meistinterpretierten Bilder des 20. Jahrhunderts,29 sind zugleich unter Verschluss und weltberühmt. Die Kleckse zirkulieren als Abwandlungen und Nachahmungen, als Klischee und Ornament. Wer sie zu kennen glaubt, hat vielleicht nie etwas anderes als Annäherungen gesehen. Auch zu Filmstoff und Freizeitlektüre werden sie nur als verfremdeter Abklatsch, als strategisch entstelltes Zitat. Ihre Herstellung soll ‹sehr einfach› sein, ihre Form zufällig. Und trotzdem dürfen die zehn Bilder auf Rorschachs Tafeln – wie manche religiösen Ikonen oder kultische Artefakte – nur unter ganz bestimmten Bedingungen sichtbar werden.

Es ist darum wichtig, die abgewandelten Tafeln in Film und Zeitschrift nicht für einen Fehler zu halten. Sie probieren Varianten von Invarianz aus und reflektieren den normativen Status einer Wahrheitstechnologie als Ergebnis von Aushandlungsprozessen, die immer auch anders aussehen könnten. Beide medialen Iterationen schaffen Bilder herbei, wo keine sein können, und gehen Wetten auf neue Konfigurationen ein. Die Frage, die Film und Illustrierte stellen, liegt auf der Hand: Warum sollen wir uns nicht eigene Kleckse ins Heft machen?

Kinderspiele

«Drop a little ink on a sheet of paper. Fold the sheet in the center and press the ink-spots together with the fingers. All of the pictures in this book were made in this manner – none of them having been touched with pen or brush.»30 Bereits 1896 beflügeln Kleckse in den USA die Fantasie von Heranwachsenden. Ein populäres Bilderbuch von Ruth McEnery Stuart und Albert Bigelow Paine macht Leser*innen erstmals mit dem «Gobolink» bekannt; jenem «veritable goblin of the ink-bottle»,31 dessen Beschwörung ganz analog zur Herstellung von Rorschachs ‹Zufallsformen› funktioniert: «Einige grosse Kleckse werden auf ein Blatt Papier geworfen, dieses wird einmal gefaltet und der Klecks zwischen den Blättern verstrichen.»32 Ohne den Einsatz von Stift oder Pinsel lassen sich so die eigentümlichsten Erscheinungen heraufbeschwören: fantastische Tiere, Gesichter oder ganze Landschaften. «In fact the most unexpected and startling results will often occur – results grotesquely and strangely beautiful, well worthy of preservation.»33 Auf 100 Seiten versammelt