'Zeki is King': Wie die mediale Darstellung von Lehrkräften die Legitimationskrise der Schule verstärkt - Alessa Reuter - E-Book

'Zeki is King': Wie die mediale Darstellung von Lehrkräften die Legitimationskrise der Schule verstärkt E-Book

Alessa Reuter

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Beschreibung

„Ihr steht alle auf Eins, jeder, der mir auf die Eier geht, bekommt ‘ne Note Abzug. Habt ihr das kapiert?“ Mit seinem Wortwitz und unkonventionellen Methoden wird die Figur Zeki Müller aus dem Film Fack Ju Göhte nicht nur für die anvertraute Klasse 10B im Film, sondern auch für die Kinozuschauer der drei Filme zum gleichsam umstrittensten und beliebtesten Lehrer Deutschlands. Gerade seine Differenz zur herkömmlichen, korrekten Lehrerrolle macht ihn scheinbar so erfolgreich. Die Aussage: Schule muss neu gedacht werden, um wieder zu gesellschaftlicher Achtung zu finden. Genau diese öffentliche Wahrnehmung der Lehrerrolle wird in dem vorliegenden Buch hinterfragt. Ausgehend von der Erörterung der gesellschaftlichen Funktion von Lehrkräften in der modernen Gesellschaft auf Grundlage strukturtheoretischer Ansätze im Theorieteil der Arbeit werden Lehrerinnen und Lehrer als Figuren populärer Medien betrachtet. In einer literaturwissenschaftlichen Analyse untersucht Alessa Reuter die Protagonisten des Films Fack Ju Göhte und des Romans Der Hals der Giraffe von Judith Schalansky. Welche Ideal- und Schreckensbilder von Lehrkräften sind in der medialen Auseinandersetzung mit dem Lehrerberuf zu erkennen? Inwiefern sind die hier erkennbaren Erwartungen an Lehrkräfte überhaupt mit ihrer gesellschaftlichen Funktion vereinbar? Letztendlich nähert sich die Autorin so der Frage nach Konsequenzen der öffentlichen Diskussion über Art und Inhalt schulischer Bildung: Was bedeutet die mediale Auseinandersetzung mit dem Lehrerberuf für die Institution Schule und ihre Akteure? Alessa Reuter bietet einen umfassenden Einblick in die Grundlagen strukturtheoretischer Betrachtungen der Lehrerrolle und verknüpft diese mit der Analyse fiktionaler Lehrerhandlungen der Figuren der untersuchten Werke. Mit ihrem Buch legt sie eine verständliche Einführung vor in die theoretische Verortung der Institution Schule im gesellschaftlichen Kontext und legt ihr Konfliktpotential im Schulalltag dar.

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Seitenzahl: 184

Veröffentlichungsjahr: 2018

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ibidem-Verlag, Stuttgart

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

Teil I

2. Die Funktion von Schule in der modernen Gesellschaft

2.1. Reproduktionsfunktionen des Schulsystems

2.2. Die Institution Schule als Teil des Sozialisationsprozesses

2.2.1. Verhaltensmuster in Schule und Familie

2.2.2. Normen (an-)erkennen

2.2.2.1. Diffuse und spezifische Sozialsysteme

2.2.2.2. Schule als Modell spezifischer Sozialbeziehungen

2.3. Die Rolle der Lehrkraft

2.3.1. Leidenschaft für das eigene Fach?

2.3.2. Autorität

2.3.3. Balance zwischen Nähe und Distanz: Zur Persönlichkeit der Lehrkraft

2.3.4. Der Lehrkörper: Zur Fremdwahrnehmung der Lehrkraft

2.4. Zusammenfassung

Teil II

3. Darstellung von Lehrerinnen und Lehrern in Film und Literatur

3.1. Methode

3.2. Fack Ju Göhte

3.2.1. Inhalt

3.2.2. Analyse

3.2.2.1. Charakterisierung der Figuren

3.2.2.2. Autoritätsanerkennung und Wahrnehmung der Funktion

3.2.2.3. Transformation der Figuren

3.2.3. Ergebnis

3.3. Der Hals der Giraffe

3.3.1. Inhalt

3.3.2. Analyse

3.3.2.1. Wahrnehmung der eigenen Aufgabe

3.3.2.2. Körper oder Geist?

3.3.2.3. Wertvorstellungen

3.3.2.4. Wandel der Wertvorstellungen? Der Fall Erika

3.3.3. Ergebnis

4. Fazit: Die Darstellung von Lehrerinnen und Lehrern in Roman und Film

5. Literaturverzeichnis

Impressum

1. Einleitung

 

Inhalt dieser Arbeit ist die Frage nach der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Lehrerinnen und Lehrern im Vergleich zu ihrer Funktion innerhalb der modernen Gesellschaft.

Idee ist es, Lehrerinnen und Lehrer als Figuren in populären Filmen und Romanen zu analysieren und damit Rückschlüsse auf gesellschaftliche Ideal- und Schreckensbilder dieser Berufsgruppe zu ziehen. Obwohl es sich bei den fiktiven Figuren oft um überspitzte Darstellungen oder Karikaturen handelt, können mit ihnen Erwartungen und Abneigungen gegenüber Lehrerinnen und Lehrern nachgezeichnet werden. Welche Charakterisierungen führen zu einer positiven, welche zu einer negativen Wahrnehmung der Figur? Und was sagt das über die Wahrnehmung der Funktion von Lehrerinnen und Lehrern aus?

Fraglich ist insbesondere, inwiefern die Erwartungen an Lehrkräfte1 überhaupt mit ihrer gesellschaftlichen Funktion vereinbar sind. Grundlage für diesen Vergleich stellt eine Beschäftigung mit strukturtheoretischen Texten zur Funktion der Schule in der modernen Gesellschaft dar. Die Arbeit gliedert sich also in einen theoretischen, erziehungswissenschaftlichen Teil, in welchem die Funktion der Schule in der modernen Gesellschaft herausgearbeitet wird, und eine Figurenanalyse, für die literaturwissenschaftliche Methoden genutzt werden. Grundlage für die Analyse der Rollenförmigkeit der Figuren stellen die pattern variables nach Parsons dar. Die in den Werken dargestellten Lehrertypen sollen dann vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Funktion von Schule bewertet werden. Als Werke wurden der Roman Der Hals der Giraffe von Judith Schalansky und der Film FACK JU GÖHTE ausgewählt. Aufgrund ihrer Popularität (es ist gerade der dritte Teil von FACK JU GÖHTE erschienen, Schalanskys Roman wurde mit dem Preis der Stiftung Buchkunst ausgezeichnet und wurde von Helen Danner u. a. am Schauspielhaus Hannover erfolgreich inszeniert) erscheinen die Werke für die Analyse im Sinne der Repräsentanz für die öffentliche Wahrnehmung geeignet.

Ziel dieser Arbeit ist es also nicht, herauszuarbeiten, was eine ‚gute‘ oder ‚schlechte‘ Lehrkraft ausmacht, und damit Lehrerfiguren aus zeitgenössischen Filmen und Romanen zu bewerten, sondern das genaue Gegenteil: Was zeichnet die dargestellten Biographien als Erfolgs- oder Misserfolgsgeschichten aus und was bedeutet dies für die Erwartungen an Lehrkräfte der heutigen Gesellschaft? Können diese Erwartungen unter den institutionellen Gegebenheiten der Schule überhaupt befriedigt werden?

 

 

 

 

Teil I

 

Theorie

 

Zur gesellschaftlichen Funktion von Schule

2. Die Funktion von Schule in der modernen Gesellschaft

Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann 'ne Gedichtanalyse schreiben. In 4 Sprachen. — Naina (@nainablabla) 10. Januar 20152

Dies twittert die 17-jährige Schülerin Naina aus Köln Anfang 2015 und löst damit vielfältige Reaktionen aus. Ihr Beitrag wird innerhalb kürzester Zeit 20.000-mal geteilt und stößt eine Debatte über das deutsche Schulsystem an. Sogar die Bundesbildungsministerin äußert sich zu der Diskussion.

Die Kommentare zu Nainas Beitrag zeigen, was die Schule nach Meinung der Diskussionsteilnehmer leisten soll – und diese sind sich keinesfalls einig. Während Naina oft Zuspruch ausgesprochen wird, wird sich auch kritisch geäußert. Die Schule bereite nicht direkt auf das Erwachsenenleben vor, sondern indirekt, indem das Lernen lernen beigebracht würde, heißt es auf der einen Seite. Es wird darauf verwiesen, dass Eltern, Geschwister und ältere Freunde in der Pflicht wären, diese Inhalte zu vermitteln. Andere lehnen diese Delegation an Familie und Freunde ab. Die Schule befähige dazu, sich diese Alltagskompetenzen selbst anzueignen, sagen die Nächsten.

Deutlich wird, dass man sich über die Funktion der Schule unschlüssig ist. Bereitet sie auf das eigenständige, selbstbestimmte Leben vor? Muss sie dafür Verbraucherrecht und das Steuersystem zum Inhalt machen? Qualifiziert die Schule für den späteren Beruf?

 

Was ist die gesellschaftliche Funktion der Schule?

Dieses Kapitel soll genau dieser Frage nachgehen. Deutlich wird dabei, dass die Antwort vielschichtig ist. Zunächst wird in 2.1 deutlich, dass der Schule drei Reproduktionsfunktionen zukommen. Hierzu wird die struktur-funktionale Theorie Fends knapp zusammen gefasst. Ausgehend von Fend wird dann in 2.2 ausführlich Dreebens Theorie der Schule als sozialisierende gesellschaftliche Institution erläutert und um Argumente Parsons und Wernets ergänzt. In 2.3 wird sich dann letztendlich den Lehrkräften als funktionalem Bestandteil der schulischen Sozialisationsfunktion gewidmet. Hierfür werden einige der in der Fachliteratur diskutierten Aspekte des Lehrberufs thematisiert. Diese sind: Interesse am Fach, Autorität, Nähe und Distanz sowie die Fremdwahrnehmung von Lehrkräften.

2.1. Reproduktionsfunktionen des Schulsystems

 

Tatsächlich zählt die Qualifikationsfunktion nach dem struktur-funktionalen Ansatz Fends zu einer von drei zentralen Funktionen der Schule in der modernen Gesellschaft. Diese lauten

1. Qualifikation

Die Schule bereitet durch funktionale und extrafunktionale Qualifikation auf das Berufs- und Beschäftigungssystem vor.3 Funktionale Qualifikationen stellen hierbei fachliche Kenntnisse und technische Fertigkeiten wie rechnen und schreiben dar, während extrafunktionale Fertigkeiten allgemeine Tugenden der Arbeitswelt umfassen (Pünktlichkeit, Leistungsbereitschaft, Ehrgeiz, …).4

 

2. Selektion und Allokation

Der Schule kommt die Funktion zu, die Sozialstruktur der Gesellschaft zu reproduzieren.5 Der soziale Status hängt von erbachten Leistungen ab: Über die Verteilung auf mit mehr oder weniger hohem Ansehen und finanziellem Wohlstand verbundene Arbeitsplätze (Allokation) entscheiden die schulischen Erfolge (Selektion).6 Hierbei wird zweifach selektiert: Zunächst durch die Zuweisung zu einer der drei weiterführenden Schulformen und dann durch die Leistungen innerhalb dieser.7

 

3. Integration und Legitimation

Die Schule sichert das politische System, indem sie Werte und Normen der Gesellschaft vermittelt.8 Die Inhalte des Unterrichts, insbesondere in den Gesellschaftswissenschaften, spiegeln hierbei politische Orientierungen des Staates.9 Indem Verfassungsnormen, gesellschaftliche Funktionsweisen und Herrschaftsverhältnisse im Unterricht diskutiert werden, werden sie gleichzeitig einer Legitimation unterzogen.10 Doch auch ohne die direkte inhaltliche Auseinandersetzung werden Werte und Normen der Gesellschaft gefestigt.Dieser Aspekt wird insbesondere von Dreeben thematisiert und in 2.2 detailliert erläutert.

 

Die folgende Abbildung zeigt die soeben genannten Einflüsse des Schulsystems auf schulexterne Bereiche:

Abbildung 1: Reproduktionsfunktionen des Schulsystems nach Fend11

Hinsichtlich der eingangs angeführten Bildungsdebatte um den Tweet der 17-jährigen Naina wird an dieser Stelle deutlich, dass dort die Qualifikationsfunktion der Schule in Frage gestellt wird. Zum Ausdruck kommt die Forderung, die Schule solle inhaltlich auf Verpflichtungen und Aufgaben des Erwachsenendaseins vorbereiten und nicht nur die Kompetenz vermitteln, sich das dafür nötige Wissen selbst anzueignen. Übersehen wird dabei die implizite Vorbereitung insbesondere durch extrafunktionale Kompetenzen, die u. a. dadurch erworben werden, dass die Schülerrolle mit einer Berufsrolle vergleichbar ist: Man muss pünktlich erscheinen, delegierte Aufgaben ausführen, Fremdbestimmung akzeptieren, themengebunden arbeiten, Leistungen erbringen und diese als Bedingung für Anerkennung verstehen. Ohne dieses Etablieren einer allgemeinen Arbeitshaltung wäre der Eintritt in die Arbeitswelt und das Erwachsenendasein kaum denkbar. Die Vorstellung, nach der die Vermittlung lebenspraktischer Inhalte im Fokus schulischer Bildung stehen solle, erscheint darüber hinaus im Sinne der Selektionsfunktion der Schule nicht tragbar. Es ergibt keinen Sinn für die Sozialstruktur einer Gesellschaft, berufliche Positionen danach zu vergeben, wie gut das Verständnis der alltäglichen Anforderungen des Lebens ist. Allokation allein nach Alltagskompetenzen ist für das Produktionssystem nicht nützlich. Die Beiträge zur Bildungsdebatte 2015 zeigen darüber hinaus, dass die Integrations- und Legitimationsfunktion der Schule weitestgehend unerkannt bleibt; dabei scheint gerade diese den Kern der schulischen Sozialisation und damit der Vorbereitung auf das Erwachsenendasein auszumachen: Die Schule lehrt Werte, Normen und Funktionsprinzipien der Gesellschaft – und das überwiegend ohne diese explizit zu thematisieren. Sie fungiert dabei als „Sozialisationsagentur“12.

2.2. Die Institution Schule als Teil des Sozialisationsprozesses

 

Robert Dreebens bildungssoziologische Arbeit Was wir in der Schule lernen zeigt ebenso wie Fends Überlegungen einen funktionalistischen Ansatz: Ein politisches System im weitesten Sinne, d. h. ein wirtschaftliches System, eine Partei, eine Schule oder auch eine Familie, benötigt zur dauerhaften Aufrechterhaltung seiner Funktionstüchtigkeit eine bestimmte Grundhaltung seiner Mitglieder.13 Diese Grundhaltung wird nach Dreeben durch Erziehung und Bildung hergestellt.14 Er bezieht sich damit also insbesondere auf die von Fend formulierte Integrations- und Legitimationsfunktion.

Die Schulbildung eines Individuums muss nach Dreeben allein aus Gründen ihrer Dauer und zeitlichen Rahmung als Teil des Sozialisationsprozesses wirksam werden: Sie beginnt damit, das Individuum im jungen Alter seinem einzigen bisher bekannten sozialen System, der Familie, zu einem Großteil der Woche zu entziehen und in ein alternatives soziales System, die Schule, einzuführen. Zum Abschluss der Schullaufbahn tritt das Individuum dann als Erwachsener hervor, welcher die Grundhaltung eines Mitglieds der Gesellschaft erlernt und verinnerlicht hat.15 Dreeben führt diesen Lernprozess auf Struktur und Organisation der Schule als Institution zurück.16 Mit der Charakterisierung der Schule als Institution wird ihre Bedeutung im gesellschaftlichen Kontext hervorgehoben: Eine Institution im Sinne der Soziologie beschreibt

jegliche Form bewusst gestalteter oder ungeplant entstandener stabiler, dauerhafter Muster menschlicher Beziehungen, die in einer Gesellschaft erzwungen oder durch die allseits als legitim geltenden Ordnungsvorstellungen getragen und tatsächlich ‚gelebt‘ werden.17

Ziel der Schule ist die Formung eines im Sinne der Gesellschaft konstruktiven Habitus, so Dreeben. Er beobachtet folgende Merkmale der Institution Schule:18

Schule und Industrie seien eng verknüpft: Obwohl Erziehung in allen Gesellschaften in dem Sinne auftrete, dass Kinder in ihrer Entwicklung zu Erwachsenen unterstützt werden, sei nur in Industriegesellschaften und industriellen Gebieten die Trennung von Familie und Schule als Ort eigener, von aus familiären Verhältnissen bekannter Organisation abweichender, sozialer Interaktion gegeben.

Zwar entferne sich das Kind während seiner Beschulung temporär lokal wie sozial von seiner Familie, doch bliebe es nach wie vor Mitglied in diesem System. Es finde keine Entfremdung statt. Im Gegenteil, es werde sogar das soziale System der Familie reproduziert, indem mit Übergang ins Erwachsenenalter, in der Regel nach Abschluss der Schulausbildung, eine eigene Familie gegründet werde. Hierzu verlasse die oder der junge Erwachsene ihre bzw. seine Herkunftsfamilie und nehme eine Berufstätigkeit auf. Der durch diese Prozesse markierte „Erwachsenenstatus“19 werde erst nach Abschluss der Schulausbildung erreicht. Somit könne die Phase der Schullaufbahn als Durchgangsphase aufgefasst werden.

Neben den sozialen Systemen der Familie und der Schule gebe es vielfältige andere soziale Institutionen (Gleichaltrige, Gruppierungen gemeinsamer Interessen oder Ideale, …). Die Schule vermittle zwischen privaten und öffentlichen Institutionen und ermögliche so den Zugang zuzahlreichensozialen Systemen.

Die Schule stellt also ein System dar, dessen Ausgangs- und Endpunkt deutlich markiert sind: Sie setzt bei der Herkunftsfamilie an, indem sie diesem bisher einzig bekannten System ein alternatives entgegen setzt, um letztendlich ein Individuum zu entlassen, das im Sinne der industrialisierten Gesellschaft handelt und diese am Leben erhält, indem es eine eigene Familie gründet. Sie ist damit voll und ganz der Aufrechterhaltung einer gesellschaftlichen Ordnung verpflichtet.

Die Schule ist die organisatorische Verkörperung einer wichtigen sozialen Institution, deren Hauptfunktion es ist, entwicklungsmäßige Veränderungen bei Individuen hervorzubringen. Sie ist eine Sozialisationsagentur, die die Aufgabe hat, psychologische Veränderungen zu bewirken, die den Menschen den Übergang in andere Institutionen ermöglichen; das heißt, jene Fähigkeiten zu entwickeln, die notwendige Voraussetzungen eines angemessenen Verhaltens in sozialen Situationen sind, welche an die Betreffenden verschiedenartige Anforderungen stellen und ihnen verschieden geartete Chancen bieten.20

Bevor ein Kind in die Schule kommt, kennt es hauptsächlich soziale Situationen aus dem familialen Kontext. In der Schule wird es dann mit anderen sozialen Situationen konfrontiert, welche wiederum auf soziale Situationen des öffentlichen Lebens eines Erwachsenen vorbereiten, so Dreeben. Hierbei unterscheiden sich die sozialen Situationen in Schule und Familie strukturell: Ein offensichtlicher Unterschied sozialer Situationen der Schule zu denen der Familie liegt bereits in der Größe und Heterogenität bezüglich der sozialen Herkunft bzw. Homogenität bezüglich des Alters der Mitglieder der kleinsten Einheit, stellt Dreeben heraus.21 Eine Klassengemeinschaft ist in der Regel deutlich größer als die Einheit der Kernfamilie, die Schulgemeinschaft größer als die der weiteren Herkunftsfamilie mit (Ur-) Großeltern, Tanten, Cousinen etc. Auch unterscheide sich die Dauer der Beziehung der Schülerinnen und Schüler zu ihren Lehrerinnen und Lehrern (welche durch die Versetzung oder den sequentiellen Lehrkraftwechsel nach kurzer Zeit unterbrochen oder beendet wird) von der Dauer der Beziehung zwischen Kind und Eltern, welche in der Regel ein Leben lang hält. Es gibt aber auch strukturelle Ähnlichkeiten, wie die Autorität des Erwachsenen in Schule und Familie.22 In jeder sozialen Situation habe das Individuum die Möglichkeit, auf verschiedene Arten zu agieren. Die Möglichkeiten sind jedoch durch die Situation vorgegeben und beschränkt, bemerkt Dreeben. In der Schule kann das Individuum verschiedene Handlungsalternativen in öffentlichen sozialen Situationen erproben und daraus – wenn auch nicht zwingend bewusst – auf deren Nutzbarkeit in der jeweiligen sozialen Situation schließen und über die Funktionsweise akzeptierter Handlungsweisen Rückschlüsse ziehen.23

 

2.2.1. Verhaltensmuster in Schule und Familie

Aber wie wichtig die strukturellen Eigenschaften von Familie und Schule für die Formung der Erfahrungen von Kindern sein mögen, so ist doch das Verhalten der an jeder der beiden Situationen beteiligten Kinder und Erwachsenen gleich wichtig.24

Abweichende Verhaltensmuster in Schule und Familie können sich insbesondere im Zusammenhang mit folgenden Tätigkeiten zeigen:25

Liebe zeigen

Innerhalb einer Familie verbindet die Mitglieder die gegenseitige Liebe, so Dreeben. Der Umgang miteinander sei in der Regel von Zuneigung, Mitgefühl und gegenseitiger Anerkennung geprägt. Liebe wird innerhalb der Familie auf verschiedene Arten physisch oder verbal ausgedrückt und hält üblicherweise ein Leben lang.26

In der Schule hingegen herrsche keine emotionale, sondern eine funktionale Beziehung zwischen den Lehrkräften und den Schülerinnen und Schülern vor. Auch die Schülerinnen und Schüler untereinander haben eine zweckmäßige Bindung; sie wurden nicht aufgrund emotionaler, sondern funktioneller Kriterien wie Alter und Leistung gruppiert, so Dreeben.27 Zwar entstehen innerhalb einer Klasse Freundschaften und auch Liebesbeziehungen, jedoch stellen diese nicht die Grundlage der Gemeinschaft dar. Von der Klassengemeinschaft wie von den Lehrkräften werden ein freundlicher Umgang und gegenseitige Unterstützung gefordert, Liebe hingegen darf nicht Grundlage einer innerschulischen Beziehung sein.

 

Aufgaben verteilen und ausführen

Auch wenn in unserer heutigen Gesellschaft keine strikten Rollenverteilungen zwischen Mann und Frau gegeben sind, gibt es innerhalb einer Familie eine gewisse Aufgabenverteilung. Diese muss nicht vom Geschlecht ausgehen, sondern kann individuellen Neigungen oder organisatorischen Gegebenheiten entstammen. Parsons geht in seiner Basic Role-Structure of the Nuclear Family jedoch davon aus, dass bei der Rollenverteilung in der Kernfamilie nicht nur ein Machtgefälle zwischen Eltern und Kindern besteht, sondern auch eine Unterscheidung durch das soziale Geschlecht gegeben ist: Während Vater/Ehemann und Sohn/Bruder sich eher mit Aufgaben instrumenteller Art befassen, führen Mutter/Ehefrau und Tochter/Schwester eher expressive Aufgaben aus.28 Festzuhalten sei hierbei die Allianz zwischen den Elternteilen und den Kindern untereinander. Bei mehreren Kindern bestehe darüber hinaus eine Statusdifferenz in Abhängigkeit der Geburtenfolge. Jedes Familienmitglied habe außerdem Doppelrollen inne. Diese sind in der Gründungsfamilie (Vater/Ehemann, Sohn/Bruder usw.) aber auch hinsichtlich der Herkunftsfamilie vorhanden (jeder Vater ist zugleich auch Sohn seiner Herkunftsfamilie), so Parsons.29 Beide Elternteile, sofern vorhanden, haben laut Dreeben die Aufgabe, ihre Kinder zu erziehen, d. h. sie bei ihrer Entwicklung zum Erwachsenendasein, wie es bereits weiter oben charakterisiert wurde, zu unterstützen. Die Erziehung erfolgt durch vielfältige Aktivitäten, wie die Erläuterung beobachteter Sachverhalte, sanktionieren, tadeln oder die Artikulation eigener Urteile und Gefühle in Bezug auf familiäre und außerfamiliäre Gegebenheiten.30 Kinder bekommen von ihren Eltern Aufgaben zugeteilt, welche überwiegend das Zusammenleben innerhalb des gemeinsamen Haushalts betreffen (z.B. Unterstützung beim Kochen, Übernahme der Gartenarbeit, Tischdecken …).31

Auch in der Schule werden Aufgaben von den erwachsenen Lehrkräften an die Schülerinnen und Schüler verteilt. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass die Ausführung bzw. das Ergebnis der ausgeführten Aufgabe hinsichtlich ihrer Qualität bewertet werden, bemerkt Dreeben. Hinzu kommt, dass die Leistungen der Schülerinnen und Schüler untereinander verglichen werden.32 Anders als in der Familie müssen die Aufgaben nicht zwingend zu einem inhaltlichen Ziel führen, sondern können auch lediglich zum Zwecke ihrer Bewertung gestellt werden und somit ausschließlich dem formalen Sinn der Selektion dienen.33

 

sanktionieren

Die Förderung erwünschter und die Unterdrückung unerwünschter Verhaltensweisen erfolgt laut Dreeben in der Familie wie in der Schule über Belohnung und Bestrafung. Beides setzt eine Überwachung des von den Kindern dargelegten Verhaltens voraus. Grundlage für die durch Belohnung und Bestrafung ausgeführte Formung des Verhaltens der Kinder sei in der Familie die existentielle Abhängigkeit der Kinder von ihren Eltern. Gerahmt werden Belohnungs- und Bestrafungsaktivitäten durch dauerhafte Unterstützung und Zuneigung, welche die Familiengemeinschaft bedeutet.34 Auch bei einer Bestrafung werde dieses auf Liebe beruhende Verhältnis aufrecht erhalten. Es ist laut Dreeben die Grundlage dafür, dass sich das Kind dem System von Bestrafungs- und Belohnungsaktivitäten unterwirft.

In der Schule liegt eine solch starke positive emotionale Bindung zwischen sanktionierendem Erwachsenen und Schülerinnen und Schülern nicht vor. Die Grundlage für die Akzeptanz von Bestrafungsmaßnahmen muss also an anderer Stelle liegen. Darüber hinaus kann eine Lehrkraft aufgrund der Menge der zu erziehenden Individuen nicht das Verhalten jedes einzelnen Kindes kontrollieren und dementsprechend mit Bestrafungen oder Belohnungen belegen, so Dreeben.

Sanktionen werden in der Schule neben der Aussprache von Kritik und Lob auf symbolische Art und Weise durch die Vergabe von Noten erteilt.35 Die Notenvergabe erfüllt dabei drei Funktionen: Die Noten geben den Schülerinnen und Schülern (und ihren Eltern) eine Rückmeldung zu den erbrachten Leistungen. Sie stellen somit eine Beratung über den Umfang einer möglichen Verbesserung dar und sind gleichzeitig transparentes Vergleichswerkzeug.36 Darüber hinaus erfüllen Noten die pädagogische Funktion, zu besseren Leistungen zu motivieren. Drittens selektieren sie die Schülerinnen und Schüler nach Leistung und bereiten so eine Verteilung auf gesellschaftliche Funktionen vor.37

Das formale System der Notenvergabe kann aber das emotionale System der Familie als Grundlage für die Akzeptanz von Sanktionen nicht ersetzen. So müssen die Schülerinnen und Schüler in der Grundschule erst einmal lernen, dass Noten Bestrafungen und Belohnungen bedeuten.38 Auch in der weiterführenden Schule kann nicht davon ausgegangen werden, dass jede einzelne Schülerin oder jeder einzelne Schüler Sanktionen über sich ergehen lässt. Die Autorität der Lehrkraft ist daher beschränkt. Die Lehrerin bzw. der Lehrer muss sich über die Notenvergabe hinaus die Achtung der Schülerinnen und Schüler beschaffen. Dies kann wiederum nicht nur auf Grundlage formaler Kriterien geschehen, sondern bedarf auch emotionaler Einflussnahme. Dreeben geht davon aus, dass insbesondere aufgrund der Vergleichbarkeit der eigenen Leistungen mit denen der Mitschülerinnen und Mitschüler eine enge Verknüpfung zwischen schulischen Leistungen und der allgemeinen Selbstachtung besteht.

Ich bin überzeugt, daß die in der Schule angesprochenen Emotionen aus Vorgängen resultieren, bei denen die Selbstachtung des Schülers entweder gestützt oder bedroht wird, und daß die Schulklasse, indem sie die öffentliche Darstellung und Beurteilung von Leistungen an einem vernünftig festgelegten Bezugsrahmen (altersgemäße Aufgaben) ermöglicht, in der Weise organisiert ist, daß des Schülers Gefühl persönlicher Zulänglichkeit, oder seine Selbstachtung, Ansatzpunkt der Sanktionierung ist.39

Auch im schulischen Kontext stellt die Grundlage für die Akzeptanz von Sanktionierungsmaßnahmen also eine emotionale Komponente dar. Die Emotionen betreffen allerdings weniger eine zwischenmenschliche Beziehung als die Wahrnehmung des eigenen Handelns. Das so entworfene Selbstbild entscheidet über die Haltung gegenüber der Institution Schule. Das Verhalten der Lehrkraft, sei es direkte Reaktion auf Handlungen der Schülerinnen und Schüler (Notenvergabe, Tadel, Lob usw.) oder allgemeiner Art (Freundlichkeit, Gehässigkeit, Desinteresse usw.), beeinflusst diese Haltung gegenüber der Schule und damit die Bereitschaft zur Akzeptanz ihrer Normen.40

Die Schule bildet also einen Ort von der Familie abweichender organisatorischer Strukturen. Die strukturellen Unterschiede ermöglichen die Erfahrung öffentlicher sozialer Situationen und die Erprobung verschiedener Handlungsalternativen. Schülerinnen und Schüler erlernen so Handlungsprinzipen, welche das gesellschaftliche Zusammenleben regeln. Die auf diese Weise erfahrenen „Prinzipien, Prämissen oder Erwartungen, die zeigen, wie Individuen unter spezifizierbaren Umständen handeln sollten“41 definieren nach Dreeben den Begriff ‚Normen‘. Das Erlernen und Annehmen sozialer Normen stellt ein wesentliches Element der Schulausbildung dar.

 

2.2.2. Normen (an-)erkennen

Wenn die Schüler in der Schule sich an Aktivitäten beteiligen, die Erfahrungen vermitteln welche zur Übernahme von Normen führen (wenn sie also den Inhalt der Normen kennenlernen, diese für sich als bindend akzeptieren und in entsprechenden Situationen nach ihnen handeln), so bleibt doch die Frage bestehen: welche Normen?42

Bisher wurde erläutert, dass die Schule Raum für die Erprobung von Handlungsalternativen in verschiedenen öffentlichen sozialen Situationen bietet. Aus diesen Handlungsalternativen werden Normen für das gesellschaftliche Zusammenleben erkannt und idealerweise für das eigene Handeln als bindend empfunden. Welche sozialen Situationen eine solche Erprobung ermöglichen und welche Normen dabei erlernt werden, wurde noch nicht spezifiziert. Festgestellt wurde aber, dass die Schule andere soziale Situationen evoziert, als aus der Herkunftsfamilie bekannt sind. In der Schule stellt Liebe keine Handlungsgrundlage dar, das Erfüllen von Aufgaben erfolgt selbstständig und unterliegt einer Bewertung. Sanktionen werden hauptsächlich auf symbolischer Ebene ausgeführt und haben starken Einfluss auf die Selbstwahrnehmung des Individuums. Welche Normen werden also in der Schule gelernt und warum? Welche Rolle spielen die oben genannten abweichenden Verhaltensmuster hierbei?

 

2.2.2.1. Diffuse und spezifische Sozialsysteme

 

Parsons stellt in seinem Werk The Social System sogenannte pattern variables vor, welche die Klassifizierung eines jeden Handlungsaktes ermöglichen sollen. Eine Handlung ist demnach jeweils einer der folgenden kontrastierenden Möglichkeiten zuzuordnen:43

 

• Partikularismus oder Universalismus

Wird aufgrund individueller Neigungen gehandelt

oder unter Berufung auf allgemeine Kriterien?

• ascription oder achievement

Wird aufgrund eines zugeschriebenen Status

oder aufgrund eines erworbenen Status gehandelt?

• Diffusität oder Spezifität

Werden Themen und Zuständigkeiten durch eine

soziale Situation oder Beziehung bestimmt

(Spezifität) oder nicht (Diffusität)?

• Affektivität oder affektive Neutralität (Unabhängigkeit)

Beruht eine soziale Beziehung auf Gefühlen

(„unmittelbare Bedürfnisbefriedigung“44) oder

ist sie gefühlsunabhängig? („Disziplin“45)

 

Zwar verweist Parsons auf die freie Kombinationsmöglichkeit der Variablenpaare, jedoch konnte Wernet schlüssig darlegen, dass diese zu Widersprüchen führt und höchstens „als spezifische Abweichung auf der begrifflichen Folie des Idealtypus“46 zu interpretieren ist. Parsons stellt nun fest, dass mit der funktionalen Differenzierung von Familie und Gesellschaft die moderne Gesellschaft eine universalistische, affektiv-neutrale und spezifische Leistungsorientierung verlangt, während innerhalb der Institution Familie und der traditionalen Gesellschaft ein askriptiver, affektiv-diffuser Partikularismus gefordert wird.47 In Übereinstimmung mit dieser Klassifizierung formuliert Dreeben seine Überzeugung,