Zeugnisse - Emily Paul - E-Book

Zeugnisse E-Book

Emily Paul

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Beschreibung

Diese Geschichte ist nicht nur als Erinnerung und gegen das Vergessen geschrieben, sondern soll ein Plädoyer sein für eine humane Schule, gegen Indoktrination, von welcher Seite auch immer, seien es religiöser, politischer oder moralischer Art. Sie soll ein Plädoyer sein für alle Lehrer/innen, die ihren Beruf lieben und sich mehr engagieren, als es der Lehrplan verlangt. Die Verfasserin dieser Zeilen weiß, wovon sie spricht. Sie war 12 Jahre Elternbeirat, davon 4 Jahre Vorsitzende eines Bayerischen Gymnasiums.

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Als Zeitzeugin beschreibt die Autorin an Hand ihres Zeugnisheftes die turbulenten Jahre zwischen 1939 und 1949. In dieser Zeit besuchte sie neun Schulen an unterschiedlichen Orten. Sie beschreibt mit einfachen Worten wie Jugendliche in dieser schrecklichen Zeit mit sämtlichen Problemen, die das Erwachsenwerden mit sich bringt, alleine fertig werden mussten.

Die Kunde, als Wort aus der Zeit gefallen, ist keine Mär.

Sie kündet von einer Zeit fast 80 Jahre her.

Die Frage ist nur, was bleibt als Erinnerung, die lange verschollen?

Sie kam beim Sehen der aktuellen Kriegsbilder

wie eine Apokalypse hervorgequollen.

Das Schreien der Menschen beim Bombardement,

der Verlust des Zuhauses, der Hunger danach.

Zu denken, Geschichte wiederholt sich nicht, ist ein Irrtum,

sie tut es, doch gemach, gemach.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Nachwort

Kapitel 1

Es war an einem wunderschönen Vormittag im August 1942. Im Hof des Kinderheims in Kaiserswerth bei Düsseldorf, das von Diakonissen geleitet wurde, spielten die Kinder wie schon oft Verstecken. Sie kreischten, lachten und freuten sich diebisch, wenn ihr Versteck nicht gleich erraten wurde. Einige schaukelten und wiederum andere hingen an den Turnstangen und versuchten artistische Überschläge, was allerdings streng verboten war. Wahrscheinlich weil die Kleidchen oder Röckchen den Blick auf die Unterhöschen frei gab. Darauf einen Blick von außen zu erhaschen, war nahezu unmöglich, denn den Spielplatz sowie das Haus umgab eine hohe Mauer, die auch noch zur allgemeinen Abschreckung mit zerschlagenen Glasscherben bestückt war, deren scharfe Spitzen beim Überklettern blutige Wunden hinterlassen hätten. Das Gebäude selbst war nur im Sommer schön anzusehen, wenn es mit wildem Wein bedeckt war, der das Haus wie mit einem grünen Pelz einhüllte. Ab Herbst, wenn die bunten Blätter fielen, kam der hässliche Backsteinbau zum Vorschein und selbst die Vögel, die im Sommer dort genistet hatten, flohen und suchten sich eine andere Bleibe.

Ruth und Rosemarie waren Freundinnen geworden, denn gleich am ersten Tag als Ruth vor einem Jahr in dieses Heim kam, hatte Rosemarie ihr vieles erzählt, was verboten, oder auch streng verboten war und welche Strafen man zu erwarten hatte, wenn man nicht folgsam war. Die beiden Mädchen verstanden sich von Anfang an gut, obwohl sie verschiedener nicht sein konnten. Rose hatte dunkle, brünette Haare, braune Augen und einen leicht goldbräunlichen Teint. Ruth dagegen war blond, hatte grau-grüne Augen, war ziemlich blass und kniff sich oft in die Wangen, um überhaupt etwas Farbe in ihr Gesicht zu bekommen.

Rose hatte Ruth damals gleich eingeweiht und gesagt:

„Du darfst nur reden, wenn du gefragt wirst, musst einen Knicks machen, wenn du antwortest und das Schlimmste ist, gib nur keine Widerworte, dann kannst du gleich stundenlang in der Ecke stehen.“

„Ich werde mir das merken, glaube aber nicht, dass es viel nützen wird.“

So fing ihre Freundschaft an. Heute jedoch meinte Ruth:

„Lass uns noch ein wenig spielen, viel Zeit bis zum Mittagessen haben wir nicht mehr. Außerdem müssen wir uns vorher noch die die Hände waschen.“

Auf einmal gellte ein Ruf durch den Hof:

„Ruth, du sollst sofort zur Schwester Oberin kommen, aber bitte ein bisschen plötzlich.“

Ruth setzte sich in Bewegung. Von plötzlich konnte keine Rede sein. Sie musste erst überlegen, was hatte sie diesmal angestellt? Wieder eine kleine Puppenstube im Fach aufgestellt, streng verboten, das Bett nicht richtig gemacht oder, oder, oder. Ja, dieses Fach, jedes Kind hatte eins in dem großen Wandschrank, diente zur Aufbewahrung von Wäsche und Pullovern. Die Schwestern sahen es nicht gerne, wenn die Kinder vor der Wäsche eine kleine Puppenstube oder andere Szenarien aufbauten. Sie hatten dann Mühe, Ordnung zu halten. Deshalb wurde alles rigoros entfernt. Ruth fiel nichts ein, was Anlass für eine Rüge hätte sein können und beeilte sich dann doch, in das Ordinationszimmer der Schwester Oberin zu kommen. Sie klopfte an die Tür. Dann hörte sie auch die Stimme:

„Komm herein! Tritt näher, mein Kind, setz dich!“

Das waren ja ganz neue Töne, dachte Ruth. Normalerweise verschanzte sich die Schwester Oberin hinter ihrem Schreibtisch, wenn man gerufen wurde. Sie blätterte meist in irgendwelchen Unterlagen und ließ die kleinen Sünder erst eine Zeit lang warten, bis sie noch mehr Angst hatten als üblich. Dann kam sie zur Sache. Diese Schwester war die Strenge in Person, wahrscheinlich auch mit den anderen Schwestern, deren Vorgesetzte sie war. Heute war die Stimmung allerdings freundlich und die Worte, die sie sprach, waren teilnahmsvoll:

„Ich habe vorhin ein Telegramm bekommen. Es ist von deiner Mutter. Du möchtest heute noch nach Hause kommen. Dein Großvater ist gestorben. Deine Mutter kann dich leider nicht abholen. Du musst also alleine fahren. Mit fast neun Jahren bist du ja kein kleines Kind mehr und den Weg kennst du ja. Schwester Anna wird deine Sachen zusammenpacken und sich um alles kümmern. Du kannst noch mit uns zu Mittag essen, und nun geh!“

Wie in Trance ging Ruth in Richtung Speisesaal. Als wenn sie jetzt noch einen Bissen hinunter bekäme. Sie schluchzte nur leise in sich hinein, als Schwester Anna sie abfing in die Arme nahm und tröstete.

„Komm, versuch eine Kleinigkeit zu essen. Dann packen wir deine Sachen und ich bringe dich zur Straßenbahn.“

Auf dem Weg dorthin schluchzte sie, Schwester Anna putzte ihr öfters die Nase und die Tränen ab. Die Bahn kam. Es war eine Schnellbahn, die zwischen Kaiserswerth bei Düsseldorf und Duisburg nur an jeder zweiten Haltestelle hielt:

„Mach‘s gut Ruth. Der Schaffner wird dir beim Umsteigen in die nächste Bahn helfen. Pass gut auf dich auf.“

Sie schob das Kind in die Bahn, instruierte den Schaffner, winkte noch ein paar Mal, dann war Ruth alleine. Die Fahrt bis Duisburg dauerte etwas mehr als eine Stunde. Beim Umsteigen in die Bahn nach Mülheim Ruhr half ihr der Schaffner. Er sagte auch seinem Kollegen Bescheid, dass er der allein Reisenden in Mülheim die Haltestelle für die Anschlussbahn nach Essen zeigen solle. Von Mülheim bis zur Haltestelle Wickenburg dauerte es nur noch ca. vierzig Minuten. Nun noch einmal umsteigen bis zur Breslauer Straße und sie hatte es geschafft. Von dort aus war es nur noch ein Fußweg von zehn Minuten, bis sie vor der Haustür Trierer Straße 10 stand.

Es war ihr, als käme sie zum ersten Mal hierhin. Alles schien ihr seltsam verändert. Am Messingknauf der Haustür hing ein schwarzer Trauerflor und auch am Namensschild war ein schwarzes Band befestigt. Sie schaute sich um und stellte fest, dass sich sonst nichts verändert hatte. Diese Straße mit den Häusern aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, alle fast im gleichen Stil erbaut, dreistöckig mit Dachgeschoss, viel Kohlenstaub auf den Fensterbänken, in den man je nach Veranlagung „du bist doof“, oder „alte Sau“ hineinschreiben konnte. Sie schaute auch auf den schräg gegenüberliegenden Hof, in dem ein Kohlenhändler sein Geschäft hatte. Sie sah förmlich den dicken, fetten Truthahn, dem der Kohlenhändler die Stalltür aufmachte, damit er die Kinder, die auf dem Hof spielten, vertreiben konnte, wenn es ihm mit dem Geschrei zu viel wurde. Ja, alles sah aus wie immer, doch es war nicht mehr wie einst. Endlich hatte sie den Mut und klingelte. Ihre Mutter kam die Treppe herunter und empfing sie mit offenen Armen:

„Mein großes Mädchen, ich bin stolz auf dich, dass du diese Fahrt alleine geschafft hast. Wir gehen jetzt gemeinsam hoch. Du darfst dich nicht erschrecken. Angst zu haben brauchst du auch nicht. Es ist alles ganz natürlich.“

Die Warnung der Mutter war schon berechtigt. Als sie im zweiten Stock angelangt waren, sah sie auch warum. Ihr geliebter Großvater war in dem großen mittleren Zimmer aufgebahrt. Man hatte die Tür zum Hausflur offengelassen, so dass noch ein geringer Teil des Sarges in den Hausflur ragte. Rechts und links am Kopfende standen Lorbeerbäumchen.

„Siehst du, es ist alles ganz friedlich. Dein Opa schläft einen langen Schlaf. Er wird nie mehr mit dir spielen können, du kannst ihn nur in deiner Erinnerung bewahren.“

Nun schaute sie erst richtig hin. Er lag wirklich friedlich da, so als würde er schlafen, mit einem Kruzifix in den gefalteten Händen. Man hatte ihm seinen schwarzen Sonntagsanzug angezogen. Auf der weißen Zudecke lagen Blumen, die die Hausbewohner als letzten Gruß dort abgelegt hatten. Die Mutter nahm sie an der Hand und sie gingen gemeinsam zur Oma. Eine abgeschlossene Wohnung, womöglich mit einem kleinen Flur, war in diesen Arbeiterwohnungen nicht üblich. Die Mutter öffnete die Tür und schon standen beide in der Küche. Dort saß sie dann, Ruths Oma Johanna, von allen Hannchen genannt, wie immer leicht gebückt, eine kleine, rundliche Frau mit weißem Haar und einem Zopf, der am Hinterkopf zu einer Schnecke hochgesteckt war. Sie schaute seltsam ins Leere, als wenn sie die Umgebung nicht wahrnehmen würde. Erst als Ruth leise „Oma“ rief, kam Leben in die gebeugte Gestalt:

„Mein Gott Kind, bist du aber groß geworden. Ich habe dich ja so lange nicht gesehen. Komm, lass dich umarmen.“

Sie erhob sich mühsam, küsste sie und fragte gleich danach:

„Du hast doch sicher Hunger nach der langen Fahrt?“

Und dann war es so, wie es immer schon gewesen war. Großmutter, Mutter und Kind saßen in der Küche an dem mit Wachstuch bedeckten Tisch. Ruth bekam, was sie so gerne aß, Brot mit Butter und Rübenkraut, mit dem man sich so herrlich den Mund verschmieren konnte. Heute machte das alles aber keinen richtigen Spaß. Ruths Mutter bekam von den Wurstbroten nur ein paar Bissen herunter und Hannchen schob die Reste in den Eisschrank.

„Komm, es ist Zeit für dich, ins Bett zu gehen. Morgen wird ein anstrengender Tag. Außerdem müssen wir zeitig aufstehen.“

„Mama, lass bitte die Tür offen, damit es nicht so dunkel ist.“

„Ja, aber schlaf gut, gute Nacht.“

Sie hörte die Erwachsenen noch in der Küche leise miteinander reden, schlafen jedoch konnte sie nicht.

Alles ging ihr durch den Kopf, vom ersten Tag an, als sie nach der Scheidung der Eltern von den Großeltern wie selbstverständlich aufgenommen worden waren. Sie hatten von der Dreizimmerwohnung bereitwillig das größte Zimmer für Luise und ihre Ruth abgetreten, da dieses Zimmer eine Tür zum Treppenhaus hatte. Dadurch blieb eine gewisse Selbstständigkeit für beide Parteien gewahrt. Den Tag über verbrachte Ruth bei den Großeltern, da Luise arbeiten musste. Sie dachte an die ersten Tage im neuen Zuhause, an die unbeleuchtete Toilette eine Treppe tiefer, in der man sich gruselte und die ihr dermaßen unheimlich war, dass sie vor Angst weder „groß“ noch „klein“ herausbrachte. Es war jedes Mal das gleiche Theater, bis sich Opa erbarmte und vor der Tür Wache stand. Er ließ die Tür auch einen kleinen Spalt offen, so dass sich der gewünschte Erfolg einstellen konnte. Überhaupt waren die beiden ein Herz und eine Seele, vor allem wenn es darum ging, ein Geheimnis zu bewahren. Sie gingen nämlich sehr oft zum Kinderspielplatz am Gervinus Platz. Dort trafen sich für gewöhnlich die Rentner, um über Gott und die Welt zu fachsimpeln. Ganz in der Nähe befand sich das Spirituosengeschäft Redmann. Opa hatte immer einen „Flachmann“ einstecken, den er sich für gewöhnlich mit Korn auffüllen ließ. Hannchen durfte davon natürlich nichts wissen, und Ruth hat ihren Opa nie verraten.

Sie dachte auch an die vielen Besuche auf dem Fronhausener Wochenmarkt. Dort hatte Opa viele Bekannte, die er herzlich begrüßte. Zu diesem Marktreiben kamen viele Händler und Bauern mit Pferd und Wagen, um ihre Erzeugnisse anzubieten. Die Pferde standen abseits der Marktstände und scharrten mit einem Huf bitte, bitte. Sie wussten genau, jetzt gibt es etwas, denn Opa hatte immer trockenes Brot und manchmal auch eine Möhre oder einen angebissenen Apfel dabei.

Dann dachte sie, was wird nur Weihnachten sein, ohne Opa? Es war für sie einfach nicht vorstellbar. Sie hatte doch immer einen kleinen Weihnachtsbaum schon zur Adventszeit bekommen, damit ihr das Warten nicht so schwer fiel. Dieses Bäumchen hatte Opa in mühevoller Bastelarbeit hergestellt und sogar mit kleinen Kerzen bestückt. Und Opas Lieblingsweihnachtslied:

„Seid nun fröhlich, jubilieret, Jesus der Messias, der die ganze Welt regieret wird ein Sohn Marias.“

Sie würde es nie wieder hören. Wer würde nun das Messing am Handtuchhalter, die Petroleumlampe, den Knauf an der Haustür und das Klingelschild putzen, bis es wie Gold glänzte? Lange dachte sie an die schöne Zeit und merkte nicht, dass ihr Kopfkissen von ihren Tränen feucht geworden war. Doch dann schlief sie endlich ein.

Am anderen Morgen begann ein geschäftiges Treiben. Hannchen und Luise waren bereits angezogen, als sie Ruth weckten. Sie saßen noch am Frühstückstisch, als es klingelte. Vor der Haustür stand ein schwarzer Wagen, davor zwei Pferde und vier schwarz gekleidete Männer. Sie kamen die Treppen hoch, wo sie schon von Hannchen und Luise begrüßt wurden. Die Männer schlossen den Sarg, hoben ihn auf, trugen ihn die Treppe hinab und schoben ihn in den schwarzen Wagen. Ebenso die beiden Lorbeerbäumchen. Aus sämtlichen Fenstern schauten die Nachbarn der Zeremonie zu, ein letztes Winken, vorsichtig zogen die Pferde an, als wüssten sie, dass sie eine traurige Last zu ziehen hätten. Großmutter, Mutter und Enkelin schauten dem Wagen nach, bis er an der Ecke in die Kölner Straße einbog, um den Weg zum Terrassenfriedhof einzuschlagen.

Nun war es mit der besinnlichen Ruhe vorbei. Es klingelte erneut und Hannchens jüngste Tochter Lina kam die Treppe herauf. Wie stets, war sie mit Auto und Chauffeur gekommen und übernahm kurzer Hand das ganze Geschehen. Von den zehn Kindern, die Hannchen geboren hatte, war Lina dasjenige, das es am Weitesten in der Familie gebracht hatte, wenn man den wirtschaftlichen Erfolg zu Grunde legt. Sie war Geschäftsführerin einer Großhandelsfirma für Herrenstoffe und Schneidereibedarf. Die Firma gehörte einer Familie Goldmann, bei der Lina nicht nur die Kenntnisse über schöne Stoffe, sondern auch das kaufmännische Wissen erlernt hatte. Goldmanns war es noch kurz vor der Reichskristallnacht gelungen, über Belgien nach Amerika zu entkommen.

Lina begann gleich in der ihr eigenen bestimmenden Art:

„Ruth, du gehst jetzt erst mal zu Max ins Auto. Sag ihm, er soll eine kleine Rundfahrt mit dir machen. Ich habe Verschiedenes mit deiner Mutter zu besprechen.“

Ruth dachte nur, immer wenn es spannend wird, schicken sie die Kinder vor die Tür.

„Nu mach` schon, trödel nicht so rum“, hörte sie Tante Lina sagen, bevor sie langsam zur Tür ging, diese schloss, dann aber lauschte und Lina sagen hörte:

„Ich habe mir Mühe gegeben, alle Familienmitglieder zu benachrichtigen. Wer weiß, ob wir uns jemals wiedersehen werden. Die Bombenangriffe haben zugenommen und werden bestimmt noch grausamer. Du kannst mir glauben, das alles nimmt ein schreckliches Ende und wir werden teuer dafür bezahlen müssen. Dieser Hitler wird uns alle ins Verderben reißen. Erst gegen Sozis, Kommunisten, Juden, dann gegen den Westen und nun auch noch gegen Russland. Der Mann ist doch nicht ganz bei Trost. Das ist jedenfalls der Anfang vom Ende.“

„Lina ich glaube, du bist auch nicht ganz bei Trost. Du redest dich mit deinen Ansichten um Kopf und Kragen. Du weißt doch, was mit denen geschieht, die nicht an den Endsieg glauben“,

hörte Ruth ihre Mutter sagen.

„Natürlich werde ich es nicht jedem auf die Nase binden, vor allem nicht unserer lieben Schwester Sophie, die immer noch fleißig für das Winterhilfswerk sammelt und nicht weiß, wofür das Geld in Wahrheit verwendet wird. Genug jetzt, ich habe in der Wirtschaft nahe dem Terrassenfriedhof Kaffee und Kuchen bestellt, damit wir uns dort nach der Beerdigung treffen können. Es war nicht so einfach, denn ich hatte nicht genug Lebensmittelmarken. Die Wirtin ließ sich erst dann überreden, als ich den Kaffee selber stellte und ihr auch noch ein halbes Pfund zum Tausch gab. Ich werde nach dem Mittagessen kommen und euch abholen.“

Ruth wurde es langsam unheimlich auf ihrem Lauschposten. Sie schlich so schnell sie konnte die Treppen hinunter, ging zu dem vor der Haustür stehenden Auto und Max machte mit ihr eine kleine Spritztour. Ruth genoss die Fahrt sehr. Ihr Ansehen bei den Spielkameraden war gestiegen, denn so ein Auto, ein Mercedes, in dieser Straße war schon etwas Besonderes. Sie waren gerade wieder vor der Haustür angekommen, als Lina aus dem Haus kam und heimfahren musste.

„Tschüss“, sagte sie nur zu Ruth, „ich werde euch nach dem Essen abholen“. Damit stieg sie in den Wagen, winkte noch kurz und war verschwunden.

Als Ruth wieder zurück in die Wohnung kam, sagte ihre Mutter anerkennend:

„Es ist erstaunlich, was deine Tante immer wieder zu Stande bringt. Für sie scheint es auch in diesen Kriegszeiten keinerlei Schwierigkeiten zu geben“.

Wie sie es versprochen hatte, kam Lina um ihre Mutter, Schwester und Nichte abzuholen. Sie fuhren zu der Friedhofskapelle, wo die Aussegnungsfeier stattfinden sollte. Und wirklich, Lina hatte es geschafft. Aus der Familie waren alle gekommen, Hannchens älteste Tochter Sophie, sie war bereits Witwe, mit ihren erwachsenen Kindern, Tochter Mary mit Mann und Kindern, Tochter Trautchen mit Mann, Sohn August mit Frau und aus der zweiten Linie Cousin Johann Mölders mit Frau.

Viele Nachbarn waren gekommen, ebenso die ehemaligen Arbeitskollegen. Es wurde eine bewegende Trauerfeier, denn zum Abschluss sang noch ein Quartett aus dem Männergesangverein, dem Opa Jahre lang angehört hatte: „Ich hat einen Kameraden.“ Wer bis jetzt seine Fassung bewahrt hatte, konnte nun die Tränen nicht mehr zurückhalten. Dann wurde der Sarg mit den sterblichen Überresten von Jakob Frett, von Freunden Köbes genannt, langsam in die ausgehobene Grube heruntergelassen. Hannchen ertrug das alles mit einer stoischen Ruhe, als wenn sie gar nicht dazu gehören würde. Sie warf ein paar Schaufeln Erde und eine Blume dem Sarg hinterher und nahm ebenso stoisch die Beileidsbekundungen der Anwesenden entgegen.

Die Familiensippe, die nach der Zeremonie in der Gastwirtshaft bei Kaffee und Kuchen beisammen saß, war krampfhaft um unverfänglichen Gesprächsstoff bemüht. Ruth verstand das alles nicht. Sie fühlte sich kreuz unglücklich unter den Erwachsenen, die sie ja auch lange nicht gesehen hatte. Es kam ihr vor, als läge irgendetwas Unerklärliches in der Luft. Sie konnte es nicht einordnen, aber es war einfach da. Sie ging hinaus in den Garten der Wirtschaft und dann sah sie Tante Sophie, die alleine, wie verfemt an einem Tisch saß und weinte.

„Was hast du denn?“ fragte sie.

„Ach Kind, das verstehst du noch nicht. Ich kann es dir nicht erzählen, dafür bist du noch zu klein.“

„Nein, seit gestern bin ich groß. Du kannst mir alles erzählen. Ich kann Geheimnisse für mich behalten.“

„Das mag ja sein, es geht aber wirklich nicht. Ich erzähle es dir ein anderes Mal, wenn du erwachsen bist.“

Obwohl Ruth bettelte, um doch etwas zu erfahren, sagte Tante Sophie nichts. Was es mit dem Geheimnis auf sich hatte, erfuhr Ruth erst sechzig Jahre später, kurz bevor die letzte Überlebende, die über die Geschichte Bescheid wusste, starb.

Dann löste sich die Trauergemeinde langsam auf. Alle wollten möglichst noch vor Beginn der Dunkelheit zu Hause sein, denn danach brannten kaum Straßenlaternen und die Fenster mussten verdunkelt werden. Es sollte kein Lichtstrahl auf die Straßen fallen, um den Flugzeugen das Abwerfen ihrer Bombenlast nicht zu erleichtern. Essen, die Ruhrmetropole, genoss schon seit dem ersten Weltkrieg den zweifelhaften Ruf, die Waffenschmiede des Reichs zu sein. Wie teuer die Stadt für diesen Ruf bezahlen musste, konnte man 1945 bei Ende des Krieges erkennen, als sich die Stadt in eine riesige Trümmerwüste verwandelt hatte. Trotz vieler Bombenangriffe war das Haus in der Trierer Straße bisher verschont geblieben.

Lina hatte es sich nicht nehmen lassen, Mutter, Schwester und Nichte heim zu fahren. Als sie endlich alleine waren, brach Hannchen in ein hemmungsloses Weinen aus. Sie zitterte am ganzen Körper. Luise versuchte ihre Mutter zu beruhigen Sie umarmte sie sacht, streichelte sie und massierte sanft ihren Rücken. Und wirklich, nach einer Weile wurde sie still und sagte nur:

„Es ist vorbei.“ Ruth hatte alles ängstlich verfolgt, war aber froh, als Oma wieder mit normaler Stimme sprach:

“Es war ein anstrengender Tag für uns alle. Ich hoffe nur, es gibt keinen Bombenalarm. Wir werden noch eine Kleinigkeit essen, die Zimmer verdunkeln und dann zu Bett gehen.“

Am anderen Morgen kehrte für alle Beteiligten der normale Alltag zurück. Lina führte die Firma mit Unterstützung ihres Mannes trotz mancher Schwierigkeiten weiter, für Mary und ihren Mann Josef lief auch die Tanzschule „Prinz“ auf der Huyssen-Allee weiter. Ja, das gab es tatsächlich. In diesen Kriegsjahren gingen junge Menschen zur Tanzschule, um langsamen Walzer, Foxtrott, Tango und Wiener Walzer zu erlernen! Trautchens Mann Max ging seiner Tätigkeit in einem Großhandel nach, August fuhr als Bergmann wieder auf Zeche Hagenbeck ein. Sophie ging allein nach Hause in die Breslauer Straße, denn ihre erwachsenen Kinder hatten bereits eigene Wohnungen und Johann Mölders arbeitete als Kranführer weiter in den Hüttenwerken Duisburg-Huckingen.

Alle versuchten, diesen unsicheren Zeiten noch einen Hauch von Normalität abzugewinnen, als suchten sie darin Halt im täglichen Kampf ums Überleben. Wer wagte es denn, an den Parolen zu zweifeln, die an Plakaten, Häusern und Litfaßsäulen prangten „Räder müssen rollen für den Sieg“, „Achtung: Feind hört mit“, „der Führer ist stark, er macht uns autark“. Die Wehrmacht hatte doch bis jetzt einen Sieg nach dem anderen errungen. Es wird schon alles gut gehen, denn alle hatten bisher Glück gehabt, ihre Wohnungen waren nicht ausgebombt. Diese Zuversicht zerstob jedoch schnell, sobald die Sirenen schrillten und die Menschen im Luftschutzkeller sich vor Angst die Ohren zu hielten, wenn die Bomben einschlugen. Und diese Angst, dieses Unbehagen hatte auch das einst so gute Verhältnis zwischen den Geschwistern nachhaltig beeinträchtigt.

Am Wochenende brachte Luise ihre Tochter zu den Diakonissen zurück. Als sie an der Volksschule an der Berliner Straße vorbeikamen, in die Ruth eingeschult worden war, fragte sie unvermittelt:

„Mama, warum musste ich eigentlich nach Kaiserswerth in dieses Kinderheim?“

„Meine Liebe, das ist eine lange Geschichte, die du noch nicht verstehen wirst. Wenn du älter bist, können wir in Ruhe darüber sprechen.“

Wie sollte sie auch dem Kind das Scheitern ihrer Ehe begreiflich machen. Sie lernte ihren Erich im Krisenjahr 1923 kennen, während französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzten. Luise arbeitete zu dieser Zeit als Telefonistin in der