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Warum ausgerechnet Zwergziegen? Diese Frage bekommt Maria Anna Leenen immer wieder zu hören. Mitten in einer hochtechnisierten Agrarlandschaft lebt sie als Einsiedlerin mit einer Herde Zwergziegen. Die Frage nach dem Warum brachte Maria Anna Leenen dazu, ihre "nutzlosen" vierbeinigen Weggefährten intensiv zu studieren. Und dabei wurde ihr Blick auf die Schöpfung enorm erweitert. Nicht nur die überschäumende Lebensfreude ihrer "Zwerge" wurde zu einem geistlichen Impuls. Auch das soziale Leben in der Herde und die positive Wirkung der Tiere bei Besuchen in Kindergärten und Seniorenheim machen spürbar: Unsere Mitgeschöpfe tun uns gut und helfen dabei, das Leben intensiver zu begreifen. Einige Themen aus dem Buch: · Zwergziegen: Meister der Work-Life-Balance · Ruminatio: Die Kunst des Wiederkäuens · Meckern vor Glück: Lebensfreude, die ansteckt · Von wegen "zickig": Ein Plädoyer für mehr Ziegen in der Schafherde
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Seitenzahl: 187
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Für meine älteste Nichte Pauline mit herzlichem Dank für ihre wichtigen Impulse
Offenkundig falsch ist die Meinung derer, die sagen, im Hinblick auf die Wahrheit des Glaubens sei es völlig gleichgültig, was einer über die Geschöpfe denke, wenn er nur von Gott die rechte Meinung habe. Denn ein Irrtum über die Geschöpfe hat Rückwirkungen auf die Auffassung über Gott. Indem eine solche irrtümliche Auffassung die Geschöpfe irgendwelchen anderen Ursachen unterwirft, zieht sie des Menschen Geist von Gott weg, auf den sich doch der Glaube ausrichten soll.
Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, Buch II, Kap. 3
Inhalt
Vorwort
Kapitel 1:Hamster, Pferde, Wasserbüffel und die ersten Ziegen
Kapitel 2:Eine Ziegenklause im norddeutschen Flachland
Kapitel 3:Die fünf Freiheiten
Kapitel 4:Eine Frage, die wir neu stellen müssen
Kapitel 5:Spiegelfechten oder das Verschieben einer Grenze
Kapitel 6:Kein Resümee, sondern eher eine Schöpfungsmeditation
Danksagung
Über die Autorin
Über die Illustratorin
Empfohlene Literatur zum Thema
Quellenhinweise
Vorwort
Wenn ich mich daran erinnere, mit welchen Tieren ich in meinem Leben unterwegs war und bin, wird mir sehr warm ums Herz. Ohne den Dackel Strolchi und die Schildkröte Sir Harry ist meine Kindheit nicht denkbar, der Kater Richelieu hat mich im Studium begleitet und die beiden Poitou-Esel Freddy und Fridolin sind meine wichtigsten Kollegen im Bereich der tiergestützten Pädagogik.
Selbstverständlich tragen sie einen Namen, denn es handelt sich um großartige Persönlichkeiten. Den Tieren einen Namen zu geben ist die zweite Aufgabe von Adam im Garten Eden, nachdem er von Gott als dessen Hüter und Bewahrer eingesetzt wurde (vgl. Genesis/1. Mose 2,15 ff.)
Für den heiligen Thomas von Aquin bedeutet dies, dass der Mensch ein Erfahrungswissen über die Natur der Tiere erlangen muss, um tatsächlich Mensch zu werden: eine Kenntnis der eigenen tierlich-tierischen Innenwelt. So entsteht ein tiefes Vertrauensverhältnis, das um unsere Verwandtschaft mit allen anderen Geschöpfen weiß. Eine Verwandtschaft, die Gott als Ursprung hat.
Von diesem Verhältnis erzählt die Autorin in wunderbarer Weise und vergisst dabei nicht die Abermillionen Nutztiere, die namenlos ihr Schicksal in den Tierfabriken und Schlachthöfen fristen müssen.
Zunächst beginnt sie mit ihren Erfahrungen aus Kindheit und Jugend, die zeigen, dass Tiere zwar „Freunde“ waren, auf ihre artgerechte Haltung oder ein Verständnis für das, was sie brauchen, aber nicht eingegangen wurde. Im Folgenden erzählt sie aus ihrer Zeit in Südamerika, wo ihr die ersten Ziegen Freude bereiteten, erinnert sich aber auch an Szenen, in denen mit Tieren nicht gut oder auch richtig übel umgegangen wurde. In einem weiten Bogen beschreibt die Autorin einen Erkenntnisprozess ausgehend von der Zeit, in der sie die ersten Zwergziegen kaufte, die ersten Erfahrungen mit ihnen machte und die ersten wichtigen Impulse kamen, bis hin zu neuen wissenschaftlichen Studien, die soziales Handeln von Tieren und ihre Intelligenz beweisen.
In immer weiter und tiefer führenden Kreisen erzählt Maria Anna Leenen, wie intensiv das Leben mit ihren Zwergziegen das eigene geistliche Leben inspirierte und wie das dadurch wachsende Bewusstsein vom innersten Zusammenhang der ganzen Schöpfung ihr Leben und ihre Sicht veränderte. Auch die Erfahrungen, die andere Menschen mit ihren Ziegen hatten und haben, kommen zur Sprache: Besucher, die das Beobachten zur Ruhe und zum Lösen von Spannungen bringt, die Parallelen sehen zwischen sich und den Ziegen, Besuche in Kindergärten und Seniorenheimen, wo die jüngste Zwergziege Dotty Menschen zum Strahlen bringt, die schon seit Jahren nicht mehr gelächelt haben.
Tiere sind unsere Mitgeschöpfe. Sie sind wie Gefährten auf dem Weg durch das Leben, deren Würde und Geschöpflichkeit wir achten müssen. Und sie sind noch mehr: Sie helfen uns, die Liebe zu lernen, was wohl die wichtigste Aufgabe eines Christen ist.
Das Buch von Maria Anna Leenen erzählt sehr persönlich von der Geschichte, wie ihre Tiere mithalfen, zu einem neuen Erfahrungswissen zu kommen. Eine Geschichte, die die Leserin und den Leser anregen kann, sich Gedanken über das eigene Verhältnis zwischen Mensch und Tier zu machen.
November 2018
Dr. Rainer Hagencord
Gründer und Leiter des Instituts für Theologische Zoologie, Münster
Kapitel 1:Hamster, Pferde, Wasserbüffel und die ersten Ziegen
Tiere haben mich immer mächtig angezogen. Natürlich – auf Kinder üben sie in der Regel eine sehr große Faszination aus: Es macht einfach Freude, Tiere zu beobachten, man kann mit ihnen wunderbar spielen und herumtoben, sie streicheln, knuddeln und mit ihnen schmusen. Mir ging es da nicht anders.
Unsere Familie wohnte die ersten zehn Jahre meines Lebens in der Stadt. Wie in vielen Zentren von Großstädten waren die Häuser in großen Karrees gebaut. Die Rückseiten umschlossen eine mehr oder weniger ansprechende Grünfläche mit regelmäßig und ordentlich gemähtem Rasen, Ziersträuchern und ein paar Bäumen. Mehr war da meistens nicht. Aber es war grün, wenigstens etwas grün. Wir wohnten im vierten Stock mit einem langen Balkon nach hinten hinaus. Im Sommer ein begehrter Platz zum Wäschetrocknen und Luftschnappen für die Familie, die zwei Goldhamster und die beiden Wellensittiche. Das waren die ersten Haustiere, die wir, mein Bruder und ich, geschenkt bekommen hatten. Später kamen Aquarien und Terrarien dazu und nach dem Umzug aufs Land ein Hund: Vox, unser heiß geliebter Dobermann, leider damals noch mit vom Züchter kupierten Ohren und abgeschnittenem Schwanz.
Es hat mich, zumindest meiner Erinnerung nach, nicht besonders gestört, dass die Beziehungen zu unseren Haustieren selten ohne Komplikationen waren. Goldhamster können sehr schmerzhaft zubeißen, aber ich hatte sowieso meistens irgendwo eine kleine Verletzung, die in meinen Kinder- und Jugendjahren eine Folge der verschiedenen Sportarten waren. Heute sieht es ähnlich aus, nur rühren die Verletzungen jetzt eher vom Holzhacken oder Futterschneiden mit Sichel und Sense her. Als einer der beißkräftigen Hamster starb und der andere über die Balkonbrüstung in die Tiefe stürzte, gab es nach einer Weile neue Tiere.
Auch die Molche, die aus dem Terrarium meines Bruders entwischt waren und erst nach langer Zeit mumifiziert unter dem Schrank gefunden wurden, taten meiner Tierliebe keinen Abbruch. Ich dachte kaum darüber nach, denn auch hier ging es bald weiter mit neuen Haustieren: Wir kauften vom Taschengeld schnell ein paar neue Tiere oder bekamen sie zum Geburtstag geschenkt. Haustiere waren Spielzeuge, die laufen und eben manchmal auch zubeißen konnten. Und die Matratze, die Vox an einem unbeaufsichtigten Nachmittag zerfetzt und fein zerkaut in meinem Zimmer verteilt hatte, regte damals sowieso nur unsere Eltern auf. Ich fand es witzig. Für Vox hatte es kaum Konsequenzen. Hätte ich als Kind den bitterbösen Song über „Rolf und die Hamster“ von Sarah Hakenberg gehört, hätte ich ihn verstanden?1 Sicher nicht.
Von meiner Seite aus waren die Beziehungen zu den Tieren ungetrübt. Tote Hamster, mumifizierte Molche, ein Hund mit blutdurchtränkten Verbänden an Ohren und Schwanz, wir haben es hingenommen, vielleicht darüber getrauert oder es nur eine Weile bedauert, aber mehr wohl nicht. Wir Kinder hatten auch kaum eine wirkliche Verantwortung für sie. Unsere Mutter kontrollierte alles im Nachhinein und nur der Kampf nach dem Mittagessen, wer trocknet ab und wer geht mit dem Hund raus, brachte Spannungen.
Die Spaziergänge mit Vox passten gut zu meiner Abenteuerlust. Durch den Wald mit ihm zu streunen, irgendwo im Dickicht zu liegen und völlig versunken an seine warme Seite gelehnt in einem Abenteuerbuch zu lesen war wunderbar. Manchmal ließ ich ihn mein Fahrrad ziehen und kam so ohne Anstrengung nach Hause. Ich glaubte, ihm gefiele es genauso sehr wie mir. Selbst als er meine Weihnachtsplätzchen klaute und mich ins Handgelenk biss, als ich versuchte, sie mir wiederzuholen, änderte sich meine Sicht auf ihn nicht – Vox war mein Freund. Aber keiner in unserer Familie machte sich große Gedanken, ob er auch artgerecht gehalten wurde. Seine „Ausflüge“ von Zeit zu Zeit, wenn mein Bruder oder ich mal wieder nicht aufgepasst hatten, brachten zwar Ärger – vor allem, wenn er bei einem Bauern in der Nähe eines der freilaufenden Hühner geschnappt hatte. Aber dass es zur Natur eines Hundes gehört zu jagen, haben wir, glaube ich, gar nicht im Blick gehabt.
Manchmal tat er mir leid. Wenn er nachts in den Keller gesperrt wurde, klang sein Heulen bis in mein Zimmer. Aber unsere Eltern fanden es richtig, also war es für mich auch in Ordnung. Als ich 12 oder 13 Jahre alt war, kam der Pferdevirus dazu. Alles, was irgendwie als Reittier zu taugen schien, wurde ausprobiert. Kühe, Schweine, Esel und jedes Pony, jedes Pferd, das in meine Nähe kam. Die Fernsehserie Bonanza, von der ich jede Folge sehnsüchtig erwartete, hat sicher viel zu dieser typischen Pferdeverrücktheit eines heranwachsenden Mädchens beigetragen – vor allem als zur Bewunderung seines Palominos eine verliebte Schwärmerei für „Little Joe“ Michael Landon dazu kam. Kein Absturz, kein Muskelkater, kein Huftritt, keine schmerzende Rückseite konnten mich davon abbringen, mich in einen Sattel oder einfach so auf den Pferderücken zu schwingen.
Da wir unser Haus in einem sehr ländlichen Bereich gebaut hatten, waren etliche Bauernhöfe in unmittelbarer Nähe. Ein besonderes Vergnügen war es darum für mich, im Sommer ab und zu eine trächtige Stute zu bewegen. Langsam auf einem unglaublich dicken Pferd durchgeschaukelt zu werden, so hoch oben unterwegs zu sein auf schattigen Feldwegen und über blühende Wiesen: Herrlich! Meine Leidenschaft für diese samtmäuligen und sanftäugigen, wunderbaren Tiere hält sich bis heute. In einem kleinen Reitstall bei uns in der Nähe konnte ich außerdem manchmal, wenn mein Taschengeld gereicht hat, ein paar Unterrichtsstunden nehmen.
Mein Lieblingspferd war Gospodin, ein heller Fuchs mit einem weißen Stern auf der Stirn und einem riesengroßen weißen Flecken auf der Kruppe, der Fläche oben über den beiden Hinterbeinen. Die Stelle sah aus, als hätte jemand einen dicken Klecks Sahne darauf fallen lassen. Gospodin war wohl eher ein Schecke als ein heller Fuchs, aber ich hatte damals keine Ahnung von Fellfarben, war einfach nur verliebt in dieses wunderschöne und sehr geduldige Pferd.
Gospodin war ein Schulpferd, ein Pferd also, das alle und jeden auf seinem Rücken zu dulden hatte. Der Reitstall lag in unserem näheren Stadtrandbereich und war mehr oder weniger umgeben von Häusern. Eine Weide gab es nicht. Ein paar kleine Boxen für die wenigen Pferde, eine Futterkammer, Halterungen für Sattel und Zaumzeug plus diverser Putzutensilien im Stallgang, eine Miniwohnung für den Besitzer und eine Sandbahn. Das war alles. Einen kleineren Reitstall hat es wohl nur selten gegeben.
Reitausflüge waren für mich immer ein großes Vergnügen. Endlich einmal lange Strecken galoppieren zu können oder Berg rauf und Berg runter mit dem Pferd zu wandern, anstatt immer nur in einer Sandbahn im Kreis zu reiten, das war pure Lebenslust für mich. Auch später noch bin ich oft einfach für zwei Tage irgendwohin gefahren, wo es die Möglichkeit gab, ein Pferd zu mieten.
Habe ich mir damals Gedanken gemacht über diese Pferde und ihre Bedürfnisse? Sicher – sie wurden gut behandelt und auch ich bemühte mich, sie nicht zu überanstrengen, sie sanft zu lenken und mit Möhren und Zuckerstückchen zu verwöhnen. Heute denke ich, dass diese Pferde es genossen hätten, wenn sie wenigstens ab und zu eine Pause gehabt und ohne Sattel auf einer großen, grünen Weide hätten galoppieren dürfen, anstatt Tag für Tag wechselnde und oft nervende Reiterinnen und Reiter geduldig Minute für Minute durch eine Reithalle zu tragen. Ich hätte es ihnen von Herzen gegönnt. Aber im Rückblick weiß ich sehr genau: Auch wenn ich sie gernhatte und versuchte, sie so gut wie möglich zu behandeln, es waren Objekte, es waren „Dinge“, für deren Nutzung ich bezahlt hatte.
Ich glaube, Tiere waren trotz allem immer schützenswerte Wesen für mich, auch wenn ich mir zum Beispiel über den Fleischkonsum in unserer Familie nie Gedanken gemacht habe. Wie viele Tiere habe ich als Kind gerettet: Mäuse vor einer Katze, einen halb erfrorenen Dackel aus dem Schnee, Frösche aus der Mülltonne vor den Nachbarsjungen, die mit Steinen Zielwürfe auf sie veranstalteten.
An eine besonders dramatische Situation erinnere ich mich noch wie heute. Wir waren auf Klassenfahrt, ich muss so ungefähr 14 Jahre alt gewesen sein. In einer Jugendherberge in der Nähe des Worpsweder Teufelsmoores untergebracht, machten wir von dort aus lange Wanderungen in die Umgebung. Bewegung an der frischen Luft verbunden mit ein bisschen Biologie und Geografie und natürlich viel Blödsinn, wie es auf einer Klassenfahrt in dem Alter üblich ist. Vor jeder Wanderung bekamen wir eindringlich Verhaltensweisen bezüglich der Moorgräben eingebläut, an die wir uns brav hielten. Zum Haus gehörte ein großer, gemütlicher und sehr anhänglicher Bernhardiner, der oft mit uns ein paar Hundert Meter mitlief, wenn wir zum nächsten Ausflug aufbrachen. Auf eine der Wanderungen kam er weiter mit als normal, was vor allem wir Mädchen toll fanden. Wir tobten und spielten mit ihm, warfen Stöckchen und kraulten ihm gehörig durch sein dickes Fell. Plötzlich sprang er über einen Graben, rutschte ab und versank blitzschnell darin. Nur der Kopf blieb – mit ängstlich aufgerissenen Augen – oberhalb der Moorbrühe. Wir wussten inzwischen nur zu gut: Moor ist kein Wasser, in dem man schwimmen kann. Moor zieht unweigerlich und schnell nach unten, man kann nichts dagegen tun.
Blitzartig warf ich mich auf den Boden und robbte so weit wie möglich vor, um den Kopf des Hundes hochzuhalten. Auf die andere Seite war – heldenhaft – meine Freundin gesprungen und hielt von dort aus den Hund fest. Schnell legten sich jeweils zwei andere auf meine und ihre Beine, um zu verhindern, dass wir ebenfalls in den Moorgraben hineinrutschten. Der Rest der Klasse suchte auf Anweisung unserer Lehrerin hin alles Mögliche, was unter den Hund geschoben werden konnte. Ich erinnere mich an Steine, dicke Stöcke, einen alten Eimer und sogar, aus einem niedrigen Gebüsch gezerrt, an die Reste eines Fahrradrahmens.
Es dauerte trotzdem eine gefühlte Ewigkeit, bis der Hund irgendwo gegentreten konnte und wir ihn mit vereinten Kräften aus dem Moor hieven konnten. Er schüttelte sich ausgiebig, was auch die letzten trockenen Klamotten mit Moorbrühe tränkte, und lief Richtung Jugendherberge. Wir Jugendlichen saßen nach dieser Aktion allesamt auf dem Boden, die meisten heulten vor Erleichterung, und am Abend bekamen alle eine doppelte Portion Sonnenbrandsalbe.
***
Meine Pferdeliebe konnte ich später zum Teil sogar beruflich einsetzen. Durch Freunde erfuhr ich vom Therapeutischen Reiten, dessen leidenschaftlicher Vertreter und Wegbereiter in Deutschland Gottfried von Dietze (1921–2012) war.
Seine Geschichte, wie er als passionierter Reiter zum therapeutischen Reiten gekommen war, hat mich damals sofort aufhorchen lassen. Im Zweiten Weltkrieg hatte sich der evangelische Pfarrer eine schwere Beinverletzung zugezogen und musste im Bett liegen. Der Hubertustag, der 3. November, war nahe, und es war ein Muss für jeden Reiter, an diesem Tag an dem überall stattfindenden Hubertusausritt teilzunehmen. Kameraden aus der Kompanie halfen ihm und hievten ihn in den Sattel, gegen den Rat der Ärzte. Trotz vieler Schmerzen spürte von Dietze, wie gut ihm die Bewegung des Pferdes tat. Das war der Beginn seiner Leidenschaft, auch Menschen mit Behinderungen das Reiten zu ermöglichen und die heilsame Bewegung dieser Tiere bei Menschen mit Handicap einzusetzen.
Aber nicht nur die Persönlichkeit dieses Mannes und seine Geschichte haben mich fasziniert. Seine überaus einfühlsame und ganz auf das jeweilige Pferd ausgerichtete Arbeit mit den Tieren war imponierend. Manchmal schien es, als könne er auf eine intuitive Art mit den Pferden wirklich kommunizieren. Er lehrte sie – man kann es fast nicht anders formulieren – mitzuhelfen, Menschen Hilfe, Lebensfreude und Heilung zu schenken. Es schien fast so etwas wie eine Art von Einsicht bei den Pferden zu entstehen. Das konnte nicht das Ergebnis des „normalen“ Trainings oder einer Erziehung sein, welche auf der Basis von Leistung und Belohnung dem Tier ein bestimmtes Verhalten antrainiert oder ändert.
Bei einem Kurs in seinem Reitstall durfte ich zum Beispiel miterleben, wie eine junge Frau ohne Beine auf einem seiner Pferde, einem speziell ausgebildeten Haflingermix, Dressur ritt. Die junge Frau kam mit einem Golfwägelchen bis unter den Bauch des Tieres gefahren, wobei der bildhübsche kupferfarbene Wallach wie aus Bronze gegossen still stand. Er rührte sich nicht, zuckte nicht einmal mit den Ohren und zwar so lange, bis sie sich in den Sattel gezogen hatte. Und dann ritt diese junge Frau ohne Beine, nur mit leichter Gerte, Gewichtsverlagerungen und freundlicher, ja liebevoller Stimme Dressur, übrigens besser als ich. Es war überaus beeindruckend! Und es war für mich der erste bewusst wahrgenommene Impuls einer anderen Sicht auf Tiere.
Trotzdem änderte sich nicht viel an meinem Verhalten Pferden gegenüber. Geritten bin ich weiterhin oft und in verschiedenen Reitställen. In einen kleinen Wallach war ich mit 21, 22 Jahren sogar richtig verliebt. Er war ein Mischling mit ein paar Tropfen Araberblut, was an dem zierlichen Kopf und seinen wunderschönen dunklen Augen noch gut zu erkennen war. Aber er war auch ein ausgebufftes Schulpferd. Alle Tricks, die sich ein Pferd in seinem Leben aneignen kann, hatte er drauf. Wie oft bekam ich einen kräftigen Schubs, wenn ich an den Hinterbeinen die Hufe auskratzen wollte, und landete im Mist der Box. War er schlecht gelaunt, ersetzte er den Schubs durch ein Kneifen mit seinen Lippen in meine Hinterseite. Hübsche blaue Flecken waren das, die mich lange an ihn erinnerten.
Manchmal erlaubten sich die Lehrlinge des Reitstalls einen derben Scherz, und der kleine Wallach bekam vor meiner Reitstunde einen halben Eimer Hafer. Die Wirkung ist in etwa vergleichbar mit ein paar Doppelkorn für einen 15-jährigen Halbstarken. Die folgende Stunde war echtes Rodeo. Der Höhepunkt war immer dann erreicht, wenn der aufgeputschte Wallach versuchte, sich mit Wucht gegen die Bande zu werfen, um mein Bein einzuklemmen.
Meiner Zuneigung zu ihm tat das keinen Abbruch. Wir verstanden uns am besten bei den Ausritten in die Umgebung. Meistens wusste ich irgendwann nicht mehr genau, wo es langging. Dann ließ ich die Zügel locker und sagte ihm: „Geh nach Hause.“ Er änderte meist sofort die Richtung, und nach kurzer Zeit waren wir wieder auf dem richtigen Weg. Der Orientierungssinn dieses Pferdes war untrüglich.
Sanfte Riesen und meine Rückkehr zum Glauben
Das Leben eines Menschen besteht aus vielen verschiedenen Komponenten, und in jeder seiner Phasen ist dieses Leben vielen Einflüssen und Impulsen ausgesetzt. Irgendwann im Laufe des Erwachsenwerdens oder bei einschneidenden Zäsuren kann der bisherige Lebensentwurf nachhaltig gestört werden oder sogar zerbrechen.
Meine Abenteuerlust führte mich 1985 nach Südamerika. Mit Freunden in Venezuela, diesem so unglaublich schönen Land, eine Wasserbüffelfarm am Rande des Dschungels aufzubauen – das war genau das, was ich mir damals für mein ganzes Leben vorstellen konnte. Hätte ich geahnt, welcher Prozess damit angestoßen werden würde – wäre ich trotzdem über den großen Teich geflogen? Die Frage, ob dieser Weg der richtige sei, stellte sich mir damals nicht.
Zunächst gab es nur die Freude am Wagnis, die große Neugier auf diese andere Welt und vor allem die Faszination über die andersartige Schönheit dieses neuen Lebens in den Tropen. Diese explosionsartige Wuchskraft der Natur! Diese mächtigen Palmen oder die berauschende Schönheit, wenn die Jacarandabäume blühten und alles wie mit einer dicken Schicht hellrosafarbenem Schnee zudeckten: Blüten über Blüten über Blüten. Orchideen, die von den Bäumen in Fülle herunterrankten. Bananen, die kiloweise an dicken Blütenstengeln in der Küche hingen, kleine, köstlich süße Mangos, die wir eimerweise am Wegrand kauften, Maracujas, Avocados oder die riesigen Papayas, die mit ihrem dicken, orangefarbenen, saftigen, wundervollen Fruchtfleisch ein Mittagessen ersetzen konnten. Natürlich war auch die Tierwelt andersartig und zog mich gewaltig in ihren Bann. Kleine grüne Baumschlangen im Garten, ein Opossum auf dem Gartenzaun, mit verblüffend lautem Fauchen, als wir näher kamen, bunt schillernde Vögel, Schmetterlinge, Riesenkakerlaken, sprungkräftige Taranteln und Spinnen mit einem in allen Farben des Regenbogens irisierenden Bauch – so groß wie früher ein 5-DM-Stück. Nur der Bauch wohlgemerkt!
Und Ziegen gab es in dem Land: in allen Farben und Schattierungen und in allen Größen. Sie waren vor allem in den Randgebieten der Dörfer und in den winzigen Siedlungen im Dschungel allgegenwärtig.
Valerie Porter, eine britische Autorin, die mehr als 30 Bücher zu Themen der Viehhaltung in der ganzen Welt verfasst hat, beschreibt in ihrem Standardwerk „Goats of the world“ über 500 Ziegenrassen weltweit. Über die Ziegen in Venezuela schreibt sie: „In diesem Land, wo Ziegen den Schafen zahlenmäßig weit überlegen sind, waren Ziegenfleisch und Ziegenprodukte in den 60-ger Jahren sehr populär. Aber die Ziegenhalter sahen sich der außerordentlichen Schwierigkeit gegenüber, geeignetes Futter für ihre Tiere zu beschaffen ebenso wie dem Problem einer hohen Belastung der Tiere mit Parasiten und ansteckenden Krankheiten. Dieses beruhte meist auf einem Mangel an Wissen bzgl. einer artgerechten Fütterung und Haltung von Ziegen. Die Lämmersterblichkeit war sehr hoch.“ Porter schreibt weiter, dass es in Venezuela seit dem späten 15. Jahrhundert Ziegen gegeben hätte und bedingt durch die schwierigen Haltungsbedingungen in den Tropen sei dort letztendlich eine sehr robuste Criollo-Rasse entstanden. Durch neues Interesse an Ziegen sei die Population seit den 1980er-Jahren auf 1,5 Millionen Tiere angewachsen; die meisten seien im Nordwesten des Landes zu finden.2
Zunächst waren jedoch andere Tiere wesentlich präsenter in meinem Blickfeld: die Wasserbüffel. Es waren schwarze und sanfte Riesen, zumindest wenn die Büffelkühe keinen Nachwuchs hatten. Die Wildformen des Wasserbüffels (Bubalus bubalis) können eine Höhe von bis zu 1,80 Meter bis zum Widerrist erreichen, und das bei einem Gewicht von 1000 Kilogramm und einer Körperlänge von bis zu drei Metern vom Kopf bis zum Schwanz. Unsere Büffel waren etwas kleiner und leichter, aber immer noch imposant. Ihre starken und langen Hörner waren im Halbrund nach hinten oder zur Seite gebogen und einige liebten es geradezu, gestreichelt zu werden.
Ich erinnere mich noch gut an eine ältere Büffelkuh namens Manzanita, was so viel heißen kann wie Äpfelchen. Sie war ein Prachtexemplar von einem Büffel, und es war herrlich, auf ihrem Rücken durch die Lagunen zu schwimmen. Wie auf einem schwarzen Sofa mit den Beinen im Wasser und dem Kopf in der immerwährenden südamerikanischen Sonne.
Nach etlichen Monaten, die wir mit dem Bau von Zäunen verbrachten und in denen wir erste Versuche unternahmen, Käse aus Büffelmilch herzustellen, war die anfangs bescheidene kleine Herde auf über 400 Tiere angewachsen. Jedes Mal war es ein Erlebnis, oben auf einem der großen Kettenfahrzeuge zu sitzen, die für das Sumpfgebiet der Büffel gebraucht wurden, und die Herde zu beobachten. Manchmal mussten die Tiere zusammengeholt werden, die Arbeiter trieben sie von der Weidefläche – so groß wie etwa zwei Fußballfelder – vor sich her in den Corral, ein großes Gehege mit stabilen Stahlrohren. Es war ein wenig so wie die großen Viehtrecks in den alten Hollywoodwestern. Oben auf dem Dach sitzend konnten wir die Tiere herankommen sehen, eine dunkle Masse in Staub und Gebrüll gehüllt, die wenig später das Kettenfahrzeug umbrandeten wie eine schwarze Flut. Jetzt vom Dach herunterzufallen wäre fatal gewesen.