Zirkel und Zeichenkunst - Sonja Ulrike Klug - E-Book

Zirkel und Zeichenkunst E-Book

Sonja Ulrike Klug

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Beschreibung

Bauen im Mittelalter - ohne Plan, aber nicht planlos Die Architekturgeschichte des Mittelalters steckt voller Überraschungen. Schwer vorstellbar ist für uns heute, dass für die beeindruckenden Kirchen und Kathedralen der Romanik und Gotik kaum Baupläne existierten. Zirkel jedoch hat es zahlreiche gegeben. Wozu und wie wurden die Zirkel eingesetzt, wenn die Baumeister so gut wie keine Pläne anfertigten? Und wie hat man komplexe Gebäude im Mittelalter ohne Architekturzeichnungen entworfen und geplant? Die Autorin nimmt die Leser auf eine spannende kulturgeschichtliche Zeitreise mit. Sie befasst sich mit der Verbreitung von Papyrus, Pergament und Papier. Außerdem verfolgt sie die Schreib- und Rechenfähigkeit in Europa. Nicht zuletzt zeigt sie, welche Zirkeltypen es gab und wie sie von der Antike bis zur Renaissance verwendet wurden. Die Einblicke in die Bau-, Kunst- und Kulturgeschichte führen zu unvermuteten Erkenntnissen. Die Architekten des Mittelalters dachten und planten ganz anders, als wir es uns heute vorstellen. Zahlreiche Abbildungen veranschaulichen den Inhalt.

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Sonja Ulrike Klug

Zirkel und Zeichenkunst

Wie romanische und gotische Kathedralen entworfen und geplant wurden

 

Kluges Verlag

 

Fokus Mittelalter

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Copyright © Kluges Verlag, Dr. Sonja Ulrike Klug,

Menzenberger Str. 22, 53604 Bad Honnef (Deutschland)

[email protected]

 

2022

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Das Werk einschließlich aller seiner Texte und Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne ausdrückliche Zustimmung und schriftliche Genehmigung des Verlags unzulässig und strafbar.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Einbandgestaltung: Aurélie Girod unter Verwendung des Klosterplans St. Gallen (Wikipedia)

 

Inhalt

Inhalt

1. Sind mittelalterliche Baupläne in großer Zahl verloren gegangen?

Worum es geht

Die fehlenden Baupläne

2. Beschreibstoffe und Alphabetisierung im Mittelalter

Papyrus sichert die Schriftlichkeit in Europa

Pergament ist eine Notlösung

Das starke Wachstum schriftlicher Unterlagen

3. Das Papier kommt nach Europa

Der Beschreibstoff der „Ungläubigen“

Massenherstellung und Export des Papiers

Die ersten „Mustersammlungen“ von Bauplänen

4. Distanztreue, eindeutige und maßstabsgerechte Werkrisse

Grund- und Aufrisse

Zentralperspektive und Orthogonalprojektion

Erste Empfehlungen einer Gesamtplanung

5. Nicht berechnet, sondern konstruktiv geometrisch gezeichnet

Die langsame Entwicklung der Fähigkeit zu rechnen

Die Ursache für den Mangel an Gesamtplänen

6. Der Zirkel, das unterschätzte Zeicheninstrument

Der Einhandzirkel

Bodenzirkel und Stechzirkel

Der Schnurzirkel

Der Reduktions- oder Proportionalzirkel

Freihändiges Zeichnen punktuell markierter Linien

7. Resümee

8. Chronik: Kulturhistorische Zeittafel

9. Anhang

Anmerkungen

Literatur

Bildnachweise

Über die Autorin

Weitere Bücher der Autorin:

 

 

 

 

Abb. 1: Ausschnitt aus einem um 1220 entstandenen Glasfenster der Kathedrale von Chartres. Zu sehen sind verschiedene Steinmetzwerkzeuge, aber kein Bauplan

 

1. Sind mittelalterliche Baupläne in großer Zahl verloren gegangen?

Worum es geht

In der Bau- und Kunstgeschichte geht man seit Jahrzehnten davon aus, dass die Mehrzahl der Werkrisse der romanischen und gotischen Kirchen „verschollen“ sei. Häufig wird behauptet, sie seien entweder absichtlich vernichtet worden oder durch Katastrophen, wie z.B. Brände, untergegangen.

Auch wenn etliche Pläne erhalten sind, so häuft sich ihre Anzahl doch erst ab Mitte des 14. Jahrhunderts deutlich. Die gefundenen Pläne sind großenteils Aufrisszeichnungen, während insbesondere Grundrisse und Gesamtpläne, die dem kompletten Entwurf von Gebäuden dienten, zu fehlen scheinen.

In diesem Buch werden unterschiedliche kulturgeschichtliche Entwicklungsstränge vom frühen Mittelalter bis in die Renaissance verfolgt. So wird die Verfügbarkeit von Beschreibstoffen wie Papyrus, Pergament und Papier geprüft, der Entwicklung der Rechenfähigkeit und dem perspektivischen Zeichnen nachgespürt sowie die Entwicklung des Zirkels betrachtet. Vieles deutet darauf hin, dass die vermeintlich „fehlenden“ Pläne gar nicht existiert haben.

Die fehlenden Baupläne

„Der Mangel an Zeichnungen von Bauwerken von der Römerzeit bis in das 13. Jahrhundert möchte … durch Verlust erklärt werden. … In diesen Jahrhunderten meinte man …, dass das in Stein Gebaute ewigen Bestand habe, und schloss daraus, dass sich die Aufbewahrung einer Bauzeichnung nach Fertigstellung eines Baues erübrige.“ 1

Aussagen wie diese finden sich in ähnlicher Form in vielen Werken, die sich mit mittelalterlicher Baukunst befassen.2 Dabei wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die mittelalterlichen Baumeister genauso dachten, planten und konstruierten, wie es üblicherweise heute geschieht.

Da wir uns die Entstehung eines komplexen Bauwerkes ohne Bau- und Konstruktionszeichnungen heute nicht mehr vorstellen können, liegt es zwar nahe anzunehmen, im Mittelalter sei es ebenso gewesen, doch zutreffen muss dies keineswegs.

Bau- und Kunsthistoriker können irren, wenn sie behaupten, die mittelalterlichen (Gesamt-)Baupläne seien verschollen, durch Feuer oder Wasser untergangen – oder, wie Paul Booz meint, beim Übergang vom romanischen zum gotischen Baustil vernichtet worden, weil sie nicht mehr verwendbar gewesen seien.3 Die Einteilung in verschiedene Stilepochen wie Romanik und Gotik erfolgte erst Jahrhunderte später, und zu Beginn der Gotik konnte niemand die weitere baugeschichtliche oder -technische Entwicklung voraussehen.

Die Ursachen dafür, dass bis Mitte des 14. Jahrhunderts nur relativ wenige Pläne vorhanden sind, liegen meiner Ansicht nach weniger in der Bau- und Kunstgeschichte selbst als im kulturhistorischen Kontext des europäischen Mittelalters.

Abb. 2: Notker Balbulus (Notker, der „Stammler“) an seinem Schreibpult – typische Darstellung eines Autors mit Schreibfeder und Radiermesser für die Korrektur des auf Pergament Geschriebenen (11. Jahrhundert)

 

2. Beschreibstoffe und Alphabetisierung im Mittelalter

Papyrus sichert die Schriftlichkeit in Europa

Für heutige Verhältnisse kaum mehr vorstellbar ist der Mangel an Beschreibstoffen bzw. Schriftträgern, der in Europa etwa ab der Mitte des 8. Jahrhunderts eintrat. Zuvor hatte es seit ca. 800 v. Chr. eine verlässliche Belieferung mit Papyrus gegeben, der ausschließlich in Ägypten hergestellt und über Handelsstädte am östlichen Mittelmeer nach Europa transportiert wurde. Doch zwischen 650 und 790 versiegte diese sprudelnde Quelle. Die Ursachen dafür sind nicht genau bekannt.

Vermutlich haben sie mit politischen Verwerfungen in Ägypten infolge der Machtübernahme durch islamische Herrscher zu tun, möglicherweise auch mit einem Rückgang der Papyrusproduktion aufgrund der Ausdehnung der Landwirtschaft am Nil. Belegt ist jedenfalls, dass die letzten Papyrus-Schriftstücke in Mitteleuropa aus der Merowinger-Dynastie des 8. Jahrhunderts stammen.4 Ohne Papyrus fehlte es in Europa an beschreibbaren Stoffen, und die vorher noch florierende Verbreitung und Vervielfältigung von Schriften versiegte weitgehend.

Papyrus war der erste transportable, bewegliche und flexible Beschreibstoff in der menschlichen Geschichte, wenn man einmal von chinesischem Bambus und indischen Palmblättern absieht, die jedoch die islamische und die europäische Welt niemals erreichten. Vor der Verwendung von Papyrus wurde Schrift auf harten Materialien wie Stein, Holz oder Ton aufgebracht, genauer gesagt: eingeritzt.

Das englische Wort für „schreiben“ – „write“ – ist mit dem Wort „ritzen“ sprachgeschichtlich verwandt. In der Zeit, als es nur harte, schwere und wenig bewegliche Schriftträger gab, waren die Texte extrem kurz, denn das Einritzen von Schrift war mühselig und aufwändig. Erst mit der Verbreitung des Papyrus in Europa, der etwa im 8. vorchristlichen Jahrhundert Griechenland erreichte, wurden auch längere Texte wie philosophische Abhandlungen, Tragödien und andere Werke schriftlich festgehalten; zuvor gab es nur eine mündlich weitergegebene Tradition.

Kein Zufall ist es meiner Ansicht nach, dass der Verlust von Papyrus als Beschreibstoff in Europa einherging mit dem fast zeitgleichen Niedergang der Fähigkeit zu schreiben bzw. schriftlich zu kommunizieren, der sogenannten Literalität. Die Schreibfähigkeit ging in Europa nach dem 8. Jahrhundert langsam zurück, wobei ab Mitte des 9. Jahrhunderts ein regelrechter Bruch eingetreten zu sein scheint, der bis zum späten 15. Jahrhundert anhielt.

Belegt ist die mangelnde Schreibfähigkeit beispielsweise von etlichen Herrschern, die nicht mehr in der Lage waren, Urkunden zu unterschreiben, geschweige denn längere Texte zu verfassen. So war Pippin (714–768), der Vater Karls des Großen, ebenso schreibunkundig wie seine Söhne und die nachfolgenden Könige und Kaiser. Erst seit Maximilian I. (1459–1519) konnten alle deutschen Kaiser wieder durchgehend schreiben. Das Gleiche trifft auch auf viele Kleriker zu: Von etlichen Äbten und Prälaten, zum Teil sogar von Erzbischöfen wie Friedrich II. von Salzburg (1270–1284) ist überliefert, dass sie schreibunkundig bzw. illiterat waren.5 Selbst im Kloster St. Gallen, von dessen ausgeprägter Literalität wir unter anderem durch den um 825 auf der Insel Reichenau entstandenen Klosterplan sicher wissen (vgl. Abb. 25), waren 1291 der Abt, der Propst und neun Mönche nicht fähig, eine Verleihungsurkunde zu unterschreiben.6