Zoe heißt Leben - Zoe Katharina - E-Book

Zoe heißt Leben E-Book

Zoe Katharina

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Beschreibung

Nach dem Abitur und während einer Ausbildung als Bootsbauerin meldet sich die 20-Jährige Zoe bei der Organisation "Jugend rettet", um auf einem Schiff im Mittelmeer Geflüchteten das Leben zu retten. Ihr Einsatz auf der Iuventa wird zu einer existenziellen Grenzerfahrung, auf die Zoe nicht vorbereitet ist: Konfrontiert mit Panik, Krankheit und Tod von Flüchtlingen hat sie vor allem mit ihrer eigenen Wut und Hilflosigkeit angesichts dieser Tragödie im Mittelmeer zu kämpfen. Erst recht, als gegen sie und weitere Crew-Mitglieder wegen Beihilfe zur illegalen Einreise ermittelt wird. Die ergreifende und hochaktuelle Geschichte einer jungen Frau, die für Gerechtigkeit und Menschlichkeit kämpft – auch wenn sie sich dabei in Gefahr begibt. >> erster ausführlicher Erfahrungsbericht zur Seenotrettung im Mittelmeer >> eine junge Frau kämpft für die Menschlichkeit >> packend erzählt

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Zoe Katharina

Zoe heißt Leben

Ich riskierte 20 Jahre Haft, weil ich Hunderte von Menschen in Seenot rettete. Und ich würde es wieder tun.

Zusammenarbeit mit Elena Pirin

Patmos Verlag

Inhalt

Der Anruf

Sonnenaufgang auf der Iuventa

Papas Boot

Ein Tag wie jeder andere

Einsatz für Lilly

Couscous und Gummibärchen

Der Duft von heißem Kakao

Die Türme von Tripolis

Salz und Benzin

Die See macht frei, die See macht krank

Im Auge des Sturms

Das schwimmende Schaf

Das Floß der Trauer

Die Stimmen Afrikas

Bullerbü im Breisgau

Überall nur Boote

Lilly, zurück zur Iuventa!

Wir Träumer von der Iuventa

Mali auf Malta

Die Zöpfe meiner Oma

Anruf aus Bella Italia

Selbst ist die Frau

Nachts am Nordkap

Kennst du die Iuventa?

Über die Autorin

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Für alle, die mit Hoffnung auf ein Leben in Würde und Sicherheit auf dem Weg sind.

Und für alle, die nicht wegschauen, sondern handeln.

Der Anruf

Es gibt nichts Friedlicheres als die Stille an einem schwedischen See im Juli. Sogar die Mücken werden träge, und auch Ylvy, meine muntere vierbeinige Reisebegleiterin, verkriecht sich vor der Sonne ins Businnere. Ein leichter Wind bewegt die geblümten Gardinen und ich spüre, wie mir mein Buch aus den Händen gleitet. Erst seit einer Woche bin ich hier im Norden unterwegs und habe mich schon an diese verschlafenen Nachmittage gewöhnt. Endlich Ruhe und Zeit, die Anspannung der vergangenen zwei Jahre abzuschütteln.

Umso lauter das Klingeln meines Handys. Anruf aus Deutschland, es ist meine Mutter, normalerweise ruft sie nie von der Arbeit aus an. Ihre Stimme ist aufgewühlt. Nein, keine schlimmen Nachrichten vom italienischen Anwalt, auch zu Hause alles gesund. Ein Verlag hat angerufen, wegen der Iuventa. Sie wollen meine Geschichte veröffentlichen.

Meine Geschichte? Sofort bin ich hellwach. Auch Ylvy spürt, dass etwas los ist. Sie springt aus ihrem Körbchen und hebt ihre zierliche Schnauze fragend zu mir. Es hilft nichts, vorbei ist der Mittagsschlaf.

»Komm, Ylvy, lass uns eine Runde drehen«, sage ich zu meiner kleinen, grauweiß gescheckten Hündin, die mich mit ihren großen, kastanienbraunen Augen beobachtet.

Wie froh bin ich, dass ich einen Grund habe, mit Ylvy jetzt um den See laufen zu können. Denn es tut gut, sich die Beine zu vertreten, wenn man Entscheidungen treffen muss.

Ist es richtig, meine Erlebnisse und Erinnerungen an meine Zeit auf dem Seenotrettungsschiff wieder hervorzuholen? Alles auszubreiten? Und dann die oft gehässigen und ekelhaften Kommentare auf Facebook und Co! Will ich mir das antun? Und wie viel haben wir, die Seenotretterinnen1, im Vergleich mit den geflüchteten Menschen zu erzählen? Und nun soll ich mich ins Licht der Öffentlichkeit stellen … Habe ich überhaupt etwas zu sagen?

»Na, Ylvy, was soll ich tun?«

Ylvy weiß, was zu tun ist. Sie hechelt mich lächelnd an, wedelt mit dem Schwanz und stürzt sich auf das Stöckchen, das ich ihr ins Gras werfe.

Als ich zwei Jahre zuvor den Anruf erhielt, dass in einer Woche mein erster Einsatz losgeht, gab es Ylvy noch nicht. Ob es an jenem Tag sonnig war, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur, dass ich abends in den Himmel über dem Bodensee starrte und mich fragte, wie hell wohl die Sterne über dem libyschen Küstengewässer leuchten werden.

Letztendlich ist man mit sich und seinem Gewissen allein, wenn man Entscheidungen trifft.

Sonnenaufgang auf der Iuventa

Bis heute schrecke ich manchmal im Schlaf auf, wenn irgendwo in der Nähe ein Motor aufheult. Das erinnert mich an meine erste Nacht auf der Iuventa: Das laute Dröhnen der Schiffsmotoren ließ mich lange nicht einschlafen. Nach Mitternacht wurde das Geräusch leiser, wir fuhren langsamer. Unsere Überfahrt von Malta näherte sich also allmählich dem Ziel: der Such- und Rettungszone vor Libyen. Dabei schossen mir ein paar Worte durch den Kopf, die ich bei der Schiffsübergabe aufgeschnappt hatte. »Man weiß nie, wer nachts vor der libyschen Küste unterwegs ist.« Mir war theoretisch klar, dass Libyen ein Bürgerkriegsland ist, in dem alles möglich ist. Aber was genau passieren könnte, versuchte ich aus meinem Kopf auszublenden. Bei der Einweisung durch die vorherige Crew gab es keine Zeit für ausführliche Erklärungen über die Verhältnisse im zentralen Mittelmeer – nur, dass die Milizen skrupellos seien. Falls sie die Iuventa entern würden, sollte sich die Crew im Maschinenraum verschanzen, haben wir gleich zu Beginn der Einweisung erklärt bekommen.

Irgendwann wurden die Motoren lauter und ich dachte im Halbschlaf: »Jetzt dringen wir in die Such- und Rettungszone vor. Bald ist es so weit.« Und tatsächlich: Gegen 4 Uhr ging der Alarm los – ich war sofort hellwach. Lena, die direkt in der Koje neben mir schlief, ebenfalls. Ich machte das Licht an, wir wechselten einen kurzen Blick und kletterten, ohne etwas zu sagen, aus den schmalen Betten. Schweigend zogen wir uns an, denn wir wussten beide, was dieses Geheul hieß: Da draußen, mitten auf dem Meer, irgendwo in unserer Nähe, trieb ein Boot, voll mit Menschen, die vielleicht genau in diesem Moment vom Bootsrand rutschten und ertranken oder von der Masse der anderen Bootsinsassen zu Boden gedrückt wurden. Menschen, die gerade vielleicht ihren letzten Atemzug taten. Menschen, deren einzige Hoffnung auf Rettung wir, die Crew der Iuventa, waren.

Solche Bilder kannte ich nur aus dem Fernsehen und aus dem Internet, aber jetzt würde ich mit meinen eigenen Händen Rettungswesten und Schwimmhilfen verteilen. Ich war seltsam ruhig und konzentriert. Das Einzige, wovor ich an diesem frühen Morgen Angst hatte, war, zu spät beim Flüchtlingsboot anzukommen …

Lena und ich kletterten die Leiter hoch und kamen bei der Tür an, durch die man aufs Hauptdeck gelangt. Dort machte sich schon die Besatzung der Motorboote fürs Ausrücken bereit. Stiefel an, Jacke über, Helm auf. Lena, die nicht zum Motorbootteam gehörte, eilte zur Unterstützung aufs Deck, wo mittlerweile das erste Motorboot mit dem Kran zu Wasser gelassen wurde.

Ich schlüpfte in meine lange, graue Bordhose, stieg in meine Stiefel, zog meine Schwimmweste an und stülpte den roten Helm über. Dann stopfte ich meine Jacke in meinen wasserdichten Packsack, in dem ich schon am Abend davor eine Handvoll Müsliriegel, drei Liter Wasser, ein Taschenmesser, eine Taschenlampe und zwei Signalraketen verstaut hatte. Beim Rausgehen schnappte ich mir ein Funkgerät und schaute, ob die Batterie geladen ist. Draußen wartete schon Mateo auf mich, mein Bootspartner, und nickte mir zu. Wir wussten beide, dass Eile angesagt war. Seit der Auslösung der Sirene waren schon ein paar Minuten vergangen, vielleicht ein paar Minuten zu viel.

An Deck herrschte hektisches Treiben. Einige Crew-Mitglieder, die nicht zur Besatzung der Motorboote gehörten, hatten schon angefangen, das große Rettungsboot, die »Iuventa Rescue«, meist einfach nur »das Rhib« genannt, mit dem Kran zu Wasser zu lassen. Den Umgang mit dem Kran hatten sie am Tag zuvor zwar oft geübt, aber jetzt, unter Stress, war es schwieriger, und sie mussten sich als Team erst einspielen. Das kleine Motorboot, unsere »Lilly«, für das Mateo und ich zuständig waren, lag dagegen noch in seiner Ecke auf dem Deck. Wo war das Flüchtlingsboot, für das wir alarmiert wurden?

Ich atmete tief durch. Die Luft war warm und feucht, man roch, wie südlich wir uns befanden. Das Meer lag ruhig vor uns, schimmernd in den Tönen Hellgrau bis Hellblau, mit sich leicht kräuselnden, kleinen Wellen. Ein wunderschöner Anblick! Ich kniff die Augen zusammen in der Hoffnung, den Sonnenaufgang sehen zu können, dafür war es aber zu diesig. Als ich zum Horizont blickte, entdeckte ich die Silhouette eines Holzbootes, schwarz zeichnete es sich vor dem grauen Hintergrund ab. Und es kam erstaunlich schnell näher.

Das Holzboot war nicht groß und in einem Zustand, von dem ich als Bootsbauerin wusste: Ich wäre damit niemals freiwillig aufs offene Meer hinausgefahren. Denn seetauglich war es nicht. Von den Farben her sah es wie eine kleine Kopie der Iuventa aus. Der Rumpf in einem satten Blau, noch satter als das tiefe Blau der Iuventa, die Linie des Wasserpasses schlängelte sich aber unprofessionell quer durch, und die rotbraune Farbe seines Unterwasserschiffs war abgeblättert. Entschlossen fuhr es auf uns zu – offenbar wollte es unbedingt neben uns anlegen. Aber unser Rhib war immer noch nicht im Wasser!

Ich starrte ungläubig nach unten: Dieses einfache, offene Holzboot war definitiv nicht für die Hochsee gebaut. Der überfüllte Holzkahn würde in ernste Schwierigkeiten geraten, sollte der Wind stärker werden. Die Wellen würden hereinbrechen und er würde mit hoher Wahrscheinlichkeit schnell kentern. Außerdem hatte er viel zu viele Menschen geladen. Darauf saßen mindestens dreißig Leute. Auch ohne Seegang würde dieses Boot kentern, sollte sich sein Schwerpunkt verlagern. Ich hoffte, dass diese Menschen nicht unüberlegt zu einer Seite des Bootes drängten …

Noch wusste ich nicht, dass wir an diesem ersten Tag an die 500 Bootsflüchtlinge retten würden. Und zwar aus noch viel volleren Booten!

Beim Anblick dieses Bootes, das frontal und unkontrolliert auf die Backbordseite der Iuventa zufuhr, war mir schnell klar: Derjenige, der an der Pinne saß, hatte keine Ahnung davon, was er tat. Wir würden das Flüchtlingsboot nicht mehr rechtzeitig abdrängen können, auch wenn das Rhib jetzt ins Wasser gelassen würde. Die Kollision war unvermeidlich. Warum waren wir so langsam und ungeübt, warum hatten wir unser Rhib noch nicht im Wasser? Alle verzweifelten »Stoppt-euren-Motor!«-Rufe und »Wir versuchen euch zu helfen!« waren erfolglos.

Kurz vor dem Aufprall riss die Person, die das Boot steuerte, das Ruder noch herum. Fährt man mit einem Boot um die Kurve, fällt der Wenderadius größer aus, als wenn man mit dem Auto fährt – der weiche Holzrumpf krachte also mit einem enormen Schlag gegen die Außenhaut der Iuventa. Man hörte das Holz zerbersten.

Nun plumpste endlich das große Rhib ins Wasser und nahm direkt Kurs auf das Holzboot. Auch Lilly konnte endlich zu Wasser gelassen werden, da wir nun genug Crew-Mitglieder waren, um sie zusammen über die Bordwand der Iuventa zu hieven.

Mein erster Einsatz begann!

Papas Boot

Papas Boot war eine limettengrüne Jolle für zwei Personen. Er hatte die alte Schiffsdame von einem Freund geschenkt bekommen, und sie war tatsächlich nicht mehr die Jüngste. Ihre weiße Außenhaut hatte schon kleine Haarrisse, und vieles quietschte und klemmte. Auch das Segel hatte schon bessere Zeiten gesehen, aber trotzdem fuhren wir immer mit ihr raus auf den Schluchsee, denn eins konnte sie noch: übers Wasser gleiten.

Dort wurde selbst dieses gebrechliche und behäbige Boot beinahe schwerelos. Es glitt über den See, und das Wasser sprudelte durch den Schwertkasten und surrte. Die kleinen Wellen brachen am Bug, und man konnte die hellen Blubberblasen auf der dunklen Wasseroberfläche an sich vorbeirauschen sehen.

An diese ersten Segelerfahrungen denke ich zurück, wenn man mich fragt, wie ich denn dazu komme, mit einem Motorboot aufs offene Mittelmeer hinauszufahren, um Flüchtlinge und Migrantinnen vor dem Ertrinken zu retten. Ich habe das Element Wasser sehr früh lieben und auch fürchten gelernt. Meine Eltern erzählen, dass ich mich mit drei Jahren das erste Mal auf unser Segelboot gewagt habe, vorne sitzend und schützend umschlossen vom Rumpf. Ich war eingepackt in eine riesige, knall­orange Schwimmweste, aus der mein runder Kopf, bedeckt von einem großen Sonnenhut, herausschaute. Meine blauen Augen lugten vorsichtig zwischen Rettungswestenkragen und Sonnenhutkrempe hervor und beobachteten den schmalen, schwarzen Streifen Wasser, unten begrenzt durch das limettengrüne Deck und oben durch die dunkelgrünen Tannen des Schwarzwaldes.

Meistens fühlte ich mich auf unserer Jolle sicher, weil ich wusste, dass Papa das Boot im Griff hatte. Und dennoch: Mein Vater durfte das Boot nicht zu hoch am Wind fahren, damit der Rumpf nicht zu arg krängte und sich der schmale Streifen Seewasser nicht vergrößerte und zu einem pechschwarzen, alles Licht verschluckenden breiten Band wurde. Ich war mir wirklich nicht sicher, ob ich es auf diesem gleitenden kleinen Boot, ausgeliefert und angetrieben durch die Kraft der Natur, toll oder tollkühn fand.

Auf dem frisch betankten Motorboot der Iuventa, das allen technischen Standards entsprach, fühlte ich mich sicher. Aber ich würde nicht gerne in der Haut der Flüchtenden stecken, die auf der Umrandung eines überfüllten Schlauchbootes saßen und sich damit auf dem Meer in Lebensgefahr begaben. Würde ich selbst eine solche Gefahr in Kauf nehmen, um vor schrecklichen Lebensumständen zu fliehen? Hatten sie überhaupt eine Chance, sich das zu überlegen? Hatten sie überhaupt eine Alternative?

Wäre ich meinem Schicksal auf einem Flüchtlingsboot ausgeliefert, würde ich dankbar und überglücklich sein, gerettet zu werden.

Wie kam ich dazu, mich bei einem Seenotrettungsschiff zu bewerben? Im Frühsommer 2015, noch bevor die vielen fliehenden Menschen infolge des Syrienkriegs auch meine Heimatstadt Freiburg erreichten, engagierte ich mich in einem Helferkreis, zusammen mit meiner Mutter. Eine Zeitlang half ich nachmittags in der Flüchtlingsbetreuung. Meine Erfahrungen, die ich auf dem Kinderbauernhof, im Segelverein und anderen Sportvereinen gesammelt hatte, kamen mir hier zugute. Außerdem konnte ich Fußball spielen, und so verbrachte ich viele Nachmittage auf der nahe gelegenen Wiese und kickte zusammen mit Kindern aus Afrika, dem arabischen Raum und anderen Ecken der Welt.

Als sich im Jahresverlauf die Nachrichten von sinkenden Flüchtlingsbooten im Mittelmeer häuften, ließen mich die Bilder nicht mehr los. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wer alles von den fußballbegeisterten Kindern in einem solchen Boot gesessen hatte …

2016 hörte ich von einer Jugendorganisation, die mit dem Ziel gegründet wurde, Bootsflüchtlinge im zentralen Mittelmeer vor dem Ertrinken zu retten. Während ich für mein Abitur lernte und nach einem Ausbildungsplatz suchte, hatten sich also diese jungen Leute, die etwa so alt waren wie ich, zusammengetan und Spenden gesammelt. Das Crowdfunding von »Jugend Rettet« war so erfolgreich, dass sie einen alten Fischkutter kaufen und renovieren konnten, und so wurde im Sommer 2016 die »Iuventa« auf ihren ersten Such- und Rettungseinsatz vor der libyschen Küste geschickt. Übersetzt hieß das Schiff »Jugend«, ein schöner Name, wie ich fand. Es brauchte allerdings immer wieder neue Besatzungen.

Also schickte ich irgendwann eine Mailanfrage an »Jugend Rettet«.

Ein Tag wie jeder andere

Der Tag meiner Abreise war ein gewöhnlicher Sommertag. Von 7 bis 16 Uhr würde ich in der Werft mein Tagespensum verrichten, danach meinen Arbeitsplatz aufräumen, so gut es ging, damit mein Ausbilder in den Wochen meiner Abwesenheit nichts weiter zu bemängeln hatte. Dann würde ich zu meiner Wohnung zurückradeln, Gepäck überprüfen, meine Checkliste durchgehen und dann den Nachtbus nehmen, denn der Flieger nach Malta flog von München ab. Es war fast wie in den Urlaub fahren, nur dass mich kein Strand unter Palmen erwartete, sondern mein erster Einsatz auf einem Such- und Rettungsschiff vor der libyschen Küste.

Es war zwar ein Tag wie jeder andere, und dennoch kann ich mich an vieles erinnern. Morgens radelte ich in meinem alten T-Shirt und meiner mit Farbflecken übersäten kurzen Arbeitshose den Berg hinunter zur Bootswerft und versuchte, den kalten Fahrtwind zu genießen, denn ich wusste: Heute werde ich noch genug bei der Arbeit schwitzen. Meine Füße steckten in viel zu klobigen, mit Stahlkappen versehenen Arbeitsschuhen, die die Pedale komplett bedeckten. Mein gutes, altes Fahrrad! Man konnte die Farbe des Rahmens nur noch an den vereinzelten Lackspuren erkennen, trotzdem hatte es mir bis heute treue Dienste geleistet!

Meine Arbeitshose, blau wie das Meer, das ich bald sehen würde, hatte offene, riesengroße Taschen, in denen jede Menge Krimskrams steckte, wie mein Bleistift und ein Meterstab. Jedes Mal, wenn sich beim Treten die Knie nach oben bewegten, musste ich aufpassen, dass nichts aus den Seitentaschen rutschte.

Auf meinem Rücken trug ich meinen Rucksack, mit etwas Holzstaub bedeckt. Darin klapperten wie immer meine Wasserflasche aus Edelstahl und meine zwei Tupperdosen aus Glas. Die kleinere Dose war mit Müsli gefüllt, die größere mit dem Mittagessen, das ich mir meistens am Vorabend kochte, damit ich morgens pünktlich zur Arbeit kam. Mein »Vogelfutter«, wie es wegen der vielen Körner und Nüsse von einigen Kollegen betitelt wurde, wurde gern belächelt. Offenbar hatte eine angehende Bootsbauerin vorwiegend »Fleischkäs-Weckle« zu essen! Ob man auf der Iuventa überhaupt Frühstückspausen haben würde? Vorsichtshalber hatte ich schon eine Packung »Bircher Müsli« in meinen Seesack gesteckt. Hoffentlich gab es auf dem Schiff ein paar Veganer oder mindestens Vegetarier, denn ich nahm meinen Kaffee und mein Müsli mit Hafer- oder Reismilch, was von den Kollegen kritisch beäugt wurde. Am Tag meiner Abreise ahnte ich nicht, dass mein Chef mich ein Jahr später fragen würde: »Zoe, darf ich etwas von deiner Hafermilch in meinen Kaffee tun?«

Die letzte Kurve vor der Werft war immer die heikelste, weil sie viel zu eng war und voller kleiner Steinchen, auf denen man leicht ausrutschen konnte. An dem »Fahrradfahrer-bitte-absteigen!«-Schild fuhr ich meistens so schnell vorbei, dass ich es gar nicht lesen konnte – vor allem weil es anscheinend nicht an mich gerichtet war: Denn ich war eine Fahrradfahrerin und kein Fahrradfahrer. Genauso wenig war die Bezeichnung »Landesberufsschule für Bootsbauer« in Lübeck-Travemünde auf mich als Frau zugeschnitten, was mich nicht davon abhielt, diese knochenharte Ausbildung auf mich zu nehmen und diese Berufsschule zu besuchen.

Ich fuhr weiter auf einem geteerten Weg, im Winter umsäumt von Schiffen, jetzt im Sommer umgeben von Wiesen mit einzelnen Bootstrailern darauf. Der Weg endete vor den blaugrauen Toren der Werft und des Winterlagers. Unter dem Dach sah man die Fenster mit ihren zersprungenen Scheiben, die notdürftig mit Folie zugeklebt waren. Der Lack der Hallen platzte ab, und in den Rissen des Asphalts kämpfte sich das eine oder andere Blümchen in Richtung Himmel. Ja, die Gebäude waren definitiv in die Jahre gekommen, aber hatten dadurch einen besonderen Charme. Vor allem weil man wusste, dass sich dahinter die wunderschönsten Boote befanden.

Ich stellte mein Fahrrad vor dem Büro ab und öffnete mit einem starken Ruck die alte Holztür zur Halle. Sofort strömte einem der heimelige Geruch nach Holz und Leim entgegen, der aber auch nach Arbeit, Kreativität und »etwas mit den eigenen Händen erschaffen« roch. Wie es wohl auf der Iuventa, einem ehemaligen Fischkutter, riechen würde?

Schnell lief ich weiter zur großen Stempeluhr vor dem Pausenraum und drückte den Hebel nach unten. Das laute Klacken durchbrach die Stille in der Arbeitshalle: Ich war wie immer pünktlich. Ich stellte meinen Rucksack in meinen Spind ab und lief zu meiner Baustelle, also dem Schiff, an dem ich gerade arbeitete. Der Chef war noch nicht da, also konnte ich es etwas ruhiger angehen.

Langsam trödelten auch die anderen Azubis ein, aber wo blieb Hannah, meine Lieblingskollegin und sehr gute Freundin? Wir waren drei Mädels von insgesamt sieben Auszubildenden. Das war relativ viel für eine deutsche Werft – in der Berufsschule hatten wir dagegen eine Frauenquote von nur 11 Prozent. Hannah war die Einzige aus dem Team, die seit Monaten in meine Pläne eingeweiht war und mitfieberte, ob und wann mein Rettungseinsatz losgehen würde. Und ob ich überhaupt drei Wochen am Stück freibekam. Hoffentlich war Hannah nicht krank geworden, ich wollte mich doch gerne von ihr verabschieden. Zwar wussten mittlerweile auch die anderen Kollegen und der Chef, wo ich meinen »Urlaub« verbringen würde, aber ich war zurückhaltend bei diesem Thema. Meine Intuition warnte mich, nicht zu großzügig von der bevorstehenden Mission zu erzählen. Ich hatte in den letzten Wochen den einen oder anderen skeptischen Kommentar mitbekommen müssen und wollte mir im letzten Moment nicht den Wind aus den Segeln nehmen lassen. Sogar meinen Großeltern, zu denen ich einen engen Kontakt habe, hatte ich verschwiegen, wohin meine Reise ging. Ich hoffte, dass meine Eltern und mein Bruder sich nicht verplapperten, denn ich wollte Oma und Opa nicht unnötig beunruhigen. Schließlich mussten sie zum Ende des Zweiten Weltkriegs selbst fliehen und waren schnell aufgewühlt von allem, was das Thema »Flucht« betraf. Aber tief in mir wusste ich, dass sie es gutheißen würden, wenn ich ihnen später davon erzählen würde.

Das Schiff, an dem ich arbeitete, stand rechts hinten am Fenster, aufgebockt auf einem Metallgestell und umrundet von einem Gerüst aus hohen Böcken mit daran befestigten Brettern. Auf diesen Brettern stand ich oft, während ich am Boot arbeitete. Das war ein Projekt, mit dem ich immer wieder zu tun hatte: Gerade half ich dem Meister, ein Teakdeck zu legen. Es war ein bisschen wie ein Puzzle: Man musste die Teakstäbe so aneinanderlegen, dass alle Fugen gleich breit wurden. Eingerahmt wurde es innen durch die Leibhölzer und außen durch das Schandeck, beides aus lackiertem Mahagoni. Die einzelnen Stäbe liefen vorne am Bug zusammen, in einem sogenannten »Fisch«, auch aus Mahagoni – das Ganze ähnelte im weitesten Sinne einem Fischskelett. Für mich als Veganerin sah der Fisch eher wie ein Tannenbaum aus. Egal ob Fisch oder Tannenbaum: Man brauchte viel Präzision und Geduld, um ein gleichmäßiges Bild hinzubekommen.

Nein, diese Ausbildung war beileibe kein Zuckerschlecken, trotzdem spürte ich einen Stich im Herzen bei der Vorstellung, drei Wochen lang diese Boote nicht zu sehen, nicht zu erleben, welche Verwandlung sie durchmachten. Denn jeder Arbeitsschritt ist etwas Besonderes, jeder Fortschritt ist wichtig für ein schönes, seetaugliches Boot.

Ich trug gerade eine Leimschicht auf, als jemand von unten an das Gerüst klopfte. Es war Hannah.

»Hi! Ich habe dir etwas zum Abschied mitgebracht. Kriegst du in der Pause.« Ihre frechen, kräuseligen Haare sahen von oben noch wilder aus als sonst, und obwohl sie spät dran war, wirkte sie zufrieden. Jetzt war ich neugierig, was sie mir gebastelt hatte, aber vor allem war ich froh, dass ich während meiner letzten Frühstückspause eine vertraute Person an meiner Seite haben würde. Denn wer weiß, was für Kommentare vom Chef oder von den anderen noch kommen würden.

Mein Ausbilder hielt sich zum Glück mit schlauen Sprüchen zurück. »Was du in deiner freien Zeit machst, soll mir egal sein. Hauptsache, du erholst dich dabei!«, sagte er nur beim Abschied.

Dafür gab mir Marten, mit dem ich mich ansonsten ganz gut verstand, etwas mit auf dem Weg. Nach dem Kaffeetrinken nachmittags, als wir unsere Becher abspülten, flüsterte er mir zu: »Äh, Zoe, dir ist schon bewusst, dass du dort Leichen sehen könntest?«

»Ja, ich habe schon mal davon gehört!«, versuchte ich witzig zu sein.

Innerlich kochte ich jedoch. Wieso dachten einige Menschen, dass man sich völlig ahnungslos und aus lauter Abenteuerlust auf eine Rettungsmission begibt? Und dass auf uns freiwillige Seenotretter die lukrativsten Geschäfte mit den fiesesten Menschenschleppern warten?

Umso mehr freute ich mich über die Musik, die mir Hannah auf einen USB-Stick kopiert hatte und die ich schon während des Radelns nach Hause zu hören begann. Es hatte sie bestimmt Stunden gekostet, die ganzen Songs daraufzuziehen, vielleicht war sie deswegen heute zu spät zur Arbeit gekommen. Der USB-Stick selbst war umhüllt von einem gefilzten roten Etui. Hannah wusste, dass ich Rot mag! Ich hatte offenbar hier auf der Werft eine echte Freundin gewonnen. Was ich wohl für neue Menschen auf der Iuventa kennenlernen würde? An meine sehr wahrscheinlich bevorstehende Begegnung mit dem Tod versuchte ich lieber nicht zu denken.

Einsatz für Lilly

Um »Lilly« zu Wasser zu lassen, brauchte man mehrere starke Hände, aber jetzt, wo sie unten im Meer schaukelte, wirkte sie recht klein. Da war es, unser Festrumpf-Schlauchboot – auch ein Rhib, aber kleiner als das große Iuventa-Rettungsboot, höchstens zweieinhalb Meter lang –, das ich in den nächsten Wochen steuern würde. Möge es uns gut durch das Mittelmeer führen!

Mein Bootspartner Mateo sprang als Erster darauf. Ich blieb auf dem tiefen Austritt der Iuventa kurz stehen und beobachtete, wie der Wasserspalt zwischen unserer Lilly und dem Schiff mal kleiner, mal größer wurde und wie das zierliche Boot an die Außenhaut der großen Iuventa klatschte – ein Spiel der Wellen.

»Brauchst du Hilfe?«, rief Mateo mit seinem weichen portugiesischen Akzent. Er dachte wahrscheinlich, dass ich Angst habe. Instinktiv streckte er die Hand aus, um mir zu helfen, zog sie aber schnell zurück. Schließlich war ich die Bootsführerin, auch wenn ich die Jüngste an Bord des Rettungsschiffes war.

»Passt schon!«, rief ich und sprang flink auf die Lilly.

Wir hatten bisher keine Zeit gehabt, groß miteinander zu reden. Er konnte nicht wissen, dass ich jahrelang Regatta gesegelt und wie ein Äffchen an den Masten gehangen habe. Mateo hob den Tank an, dieser war, wie erhofft, voll befüllt. Von nun an würde es seine Aufgabe sein, nach dem Benzin zu schauen. Und für gute Laune zu sorgen – auch inmitten der größten Anspannung!

Bei der Rettung des Holzbootes wurden wir kaum benötigt, aber nun kamen per Funk die Anweisungen für den nächsten Rettungseinsatz. Also durfte ich endlich Gas geben.

»Hilfe!«, rief Mateo und hielt sich demonstrativ und zugleich schmunzelnd mit beiden Händen am Bug fest. Er wusste offenbar, wie viel Power selbst so ein kleines Rhib hat. Obwohl ich ein derart kleines, aber schnittiges Motorboot zum ersten Mal steuerte, glitt ich ohne Scheu übers Wasser. Lilly hob und senkte den Bug wie ein verspieltes Pferd, das seinen neuen Reiter herausfordert. Wir bekamen von unserem Einsatzleiter auf der Brücke der Iuventa per Funk die Anweisung, die sogenannten Centifloats, zwei lange orange Schwimmkörper, die in etwa so lang wie ein großes Flüchtlingsschlauchboot waren, an die Lilly anzuhängen. Ich fuhr im Halbkreis zurück zur Iuventa und wartete ab, bis Lena mit Hilfe von ein paar anderen Crew-Mitgliedern die Centifloats von der Reling löste und ins Wasser warf. Dann fuhr ich zu den nun im Wasser schwimmenden Schläuchen und hängte sie mit Hilfe eines Karabiners in das Abschleppseil der Lilly. Mateo funkte der Brücke der Iuventa zu, dass wir nun zum Ziel unterwegs seien. Er sprach ein wirklich gutes Englisch, viel besser als meins. Er rief mir die Position unseres Ziels zu – und mittlerweile sah man tatsächlich einen kleinen Punkt am Horizont.

Auf diesen Punkt bewegte sich auch das große Rhib der Iuventa zu, das die roten Säcke, die sogenannten Bags, mit den Schwimmwesten transportierte, die gleich verteilt werden mussten, so schnell wie möglich.