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Mit seiner Kometenschrift formuliert der Philosophieprofessor und Schriftsteller Pierre Bayle 1683 ein erstes überzeugendes Plädoyer für die französische Aufklärung. Darin sagt er am Beispiel der Kometensichtung Aberglauben und Vorurteilen den Kampf an und betont den Wert wissenschaftlicher Naturbeobachtung, insbesondere der Astronomie. Infolgedessen fordert Bayle die tradierte Gesellschaftsordnung heraus und plädiert für einen zivilen Staat und religiöse Toleranz. Schließlich müsse ein Atheist nicht sittenloser sein als ein Gläubiger. Bayles Buch markiert den Beginn der französischen Frühaufklärung damit eher als die "Querelle des Anciens et des Modernes", die 1687 begann. Friedrich W. Stumm argumentiert hier überzeugend für eine Vordatierung in der Philosophiegeschichte.
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Seitenzahl: 281
Friedrich W. Stumm
Zu den Anfängen der französischen Aufklärung - Pierre Bayles Kometenschrift von 1683
© Tectum Verlag Marburg, 2010
Zugl.: Univ. Diss. Mannheim, 2009
ISBN 978-3-8288-5653-0
Bildnachweis Cover: Pierre Bayle by Pierre Savart (Engraving, 1774) - Kometenflugblatt von 1687 „Wahre und eigentliche Abbildung eines Entsetzlichen Wunderzeichens“, Quelle: Wikipedia
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter der ISBN 978-3- 8288-2332-7 im Tectum Verlag erschienen.)
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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Danksagung
Mein ganz besonderer Dank gilt Herren Prof. Dr. Lothar Kreimendahl, der mich mit dem Werk Pierre Bayles bekannt gemacht und diese Arbeit angeregt hat. Er hat sie vom ersten Entwurf an mit Wohlwollen und stets hilfreicher und konstruktiver Kritik begleitet. Herzlich gedankt sei auch Frau Prof. Dr. Ursula Wolf für die Erstellung des Zweitgutachtens.
Inhaltsverzeichnis
0. Einleitung
1. Pierre Bayle, die Zeit in der er lebte und seine Kometenschrift
1.1. Pierre Bayle
1.2. Zeitumstände
1.3. Bayles Werke, insbesondere seine Kometenschrift
1.3.1. Die Kometenschrift, Bibliographie und Editionsgeschichte
2. Der Komet von 1680
2.1. Entdeckung und Beschreibung des Kometen
2.2. Bayles Kenntnisse über Kometen
2.3. Zeitgenössische Reaktionen zum Kometen von 1680
3. Aufbau und Struktur der Kometenschrift
3.1. Gliederung der Kometenschrift
3.1.1. Formale Gliederung der Kometenschrift
3.1.1.1. Einteilung nach Briefen
3.1.1.2. Einteilung nach Paragraphen
3.1.2. Sachliche Einteilung nach Gründen
3.1.2.1. Die „Sieben Gründe“ in der Kometenschrift
4. Aufklärung und Kampfideen bei Bayle
4.1. Hinskes Schema der Kampfideen
4.2. Bayles Kampfideen in den Pensées Diverses
4.2.1. Der Kampf gegen Aberglauben
4.2.1.1. Abgrenzung des Begriffs
4.2.1.2. Besondere Formen des Aberglaubens
4.2.1.2.1. Ereignisse am Himmel
4.2.1.2.1.1. Sonnenfinsternisse
4.2.1.2.1.2. Mondfinsternisse
4.2.1.2.2. Aberglauben in Bezug auf besondere Tage
4.2.1.2.2.1. Unglückstage
4.2.1.2.2.2. Glückstage
4.2.1.2.3. Aberglauben in Bezug auf Namen
4.2.1.3. Zusammenfassung von Bayles Auseinandersetzung mit dem Aberglauben
4.2.2. Der Kampf gegen Vorurteile
4.2.2.1. Genese der Vorurteile
4.2.2.2. Besondere Formen der Vorurteile
4.2.2.2.1. Vorurteil der großen Zahl
4.2.2.2.2. Vorurteile bezüglich der Astrologie
4.2.2.2.3. Vorurteil bezüglich der Antike
4.2.2.2.4. Vorurteile der Kindheit und der Erziehung
4.2.2.3. Zusammenfassung von Bayles Vorurteilskritik
4.2.3. Die Wunderkritik
4.2.3.1. Begriffsklärung
4.2.3.2. Kritische Überprüfung
4.2.3.2.1. Sprechende Wunder
4.2.3.2.2. Nicht–sprechende Wunder
4.2.4. Der Kampf gegen Intoleranz
4.2.4.1. Rechtfertigungen der Intoleranz
4.2.4.1.1. Religiöse Rechtfertigung
4.2.4.1.2. Politische Rechtfertigungen
4.2.4.1.3. Moralische Rechtfertigungen
4.2.4.2. Auswirkungen der Intoleranz
4.2.4.3. Widerlegung der Rechtfertigungen der Intoleranz
4.2.4.3.1. Widerlegung der religiösen Rechtfertigung
4.2.4.3.2. Widerlegung der politischen Rechtfertigungen
4.2.4.3.3. Widerlegung der moralischen Rechtfertigungen
4.2.4.4. Bayles Moral- und Handlungstheorie
4.2.4.4.1. Bayles Moraltheorie
4.2.4.4.2. Bayles Handlungstheorie
4.2.4.5. Jesuitische Moral- und Handlungstheorie
4.2.4.6. Das „paradoxe“ des tugendhaften Atheisten..
4.2.4.7. Zusammenfassung von Bayles Argumentation gegen Intoleranz
4.2.5. Der Einsatz für den zivilen Staat
4.2.5.1. Innenpolitik des zivilen Staates
4.2.5.2. Außenpolitik des zivilen Staates
4.2.5.3. Zusammenfassung von Bayles Argumentation für einen zivilen Staat
5. Zur Datierung der französischen Aufklärung
5.1. Die „Querelle des Anciens et des Modernes“
5.1.1. Der Beginn der „Querelle des Anciens et des Modernes“
5.1.2. Perraults Huldigungsgedicht Le sièclede Louis le Grand
5.2. Kritische Bewertung der „Querelle“
6. Bayles Kometenschrift: das Fanalder französischen Aufklärung
7. Literaturverzeichnis
7.1. Werke von Pierre Bayle
7.2. Benutzte Literatur
7.2.1. Ältere Quellen
7.2.2. Neuere Studien
0. Einleitung
In dieser Arbeit soll die erste von Pierre Bayle veröffentlichte Schrift, die Pensées diverses écrites à un Docteur de Sorbonne, à l'occasion de la comète qui parut au mois de décembre 1680, vorgestellt und auf ihren philosophischen Gehalt, besonders auf die darin vertretenen aufklärerischen Positionen hin, untersucht werden. Es wird dafür argumentiert, dass das Erscheinen dieses Werks sinnvollerweise als Auftakt der französischen Aufklärung zu bewerten ist, denn dieses Ereignis scheint besser geeignet zu sein, als Ausgangspunkt der französischen Aufklärung zu gelten, als die bisher dafür angesehene „Querelle des Anciens et des Modernes“, die ihren Anfang 1687 nahm. Zu diesem Zweck wird auch die "Qerelle" vorgestellt, insbesondere das an deren Beginn stehende Gedicht Le siècle de Louis le Grand von Charles Perrault, das am 27. Januar 1687 in der Académie Française vorgetragen wurde. Auch hierbei soll vor allem der philosophische und aufklärerische Gehalt dieses Gedichts analysiert und charakterisiert werden.
Die Untersuchung richtet sich dabei vor allem auf die aufklärerischen Grundpositionen des Kampfes gegen Aberglauben, Vorurteile und Intoleranz und hiermit eines Plädoyers für einen zivilen Staat. Daneben wird der zweite Strang der Aufklärung angesprochen, die zunehmend wissenschaftlicher werdende Welterkenntnis, die sich vor allem in der Astronomie zeigte und eine zutreffende Beschreibung von Himmelserscheinungen ermöglichte. Das gilt besonders für die beeindruckenden Phänomene von Finsternissen und Kometen; ein Komet ist ja Anlass der Schrift und erscheint in deren Titel. Man könnte – noch deutlicher natürlich bei Newton – in Abwandlung eines bekannten Buchtitels,1 von einer Aufklärung aus dem Geiste der Astronomie sprechen. Berichte über den Kometen von 1680 und Reaktionen aus der damaligen Zeit auf dieses Ereignis werden deshalb ebenfalls vorgestellt.
1 Albrecht Schöne, Aufklärung aus dem Geiste der Experimentalphysik: Lichtenbergische Konjunktive. München 1982.
1. Pierre Bayle, die Zeit in der er lebte und seine Kometenschrift
Zum Verständnis der Kometenschrift und der darin angesprochenen Themen und aufklärerischen Tendenzen ist ein Ausblick auf die damalige Zeit hilfreich. Deshalb wird zunächst Pierre Bayles Biographie und das politische und soziale Umfeld, in dem er lebte, in einem knappen Abriss vorgestellt.
1.1. Pierre Bayle
Pierre Bayle wurde am 18.11.1647 in Carla, heute Carla-Bayle, im jetzigen Departement Ariège geboren und starb am 28.12.1706 in Rotterdam. Er war der mittlere von drei Söhnen eines hugenottischen Pfarrers, studierte zunächst an der hugenottischen Akademie in Puylaurens, später an der katholischen Universität zu Toulouse und setzte seine Studien danach in Genf fort.
1675 wurde er Professor an der protestantischen Akademie in Sedan. Diese Akademie wurde auf Anweisung Ludwigs XIV. 1681 geschlossen. Im selben Jahr übernahm Bayle die Professur für Philosophie und Geschichte an der neu gegründeten „École illustre“ in Rotterdam. Er schied 1693 dort aus und lebte bis zu seinem Tod in Rotterdam als freier Schriftsteller.
Über Bayles Leben, seine Zeit und seine Werke informiert am umfassendsten Elisabeth Labrousse2, Bayles Leben wird dort vor allem im ersten Band beschrieben. Interessant und aufschlussreich ist auch die Biographie, die sein Zeitgenosse und Freund Pierre Des Maizeaux verfasste und die sich im 1. Band des Dictionnaire in der Ausgabe von 1740 befindet3. Sie steht auch in der Übersetzung von Gottsched, dort ebenfalls im ersten Band4.
Eine kurze, aber sehr präzise und informative Einführung in Bayles Leben und Werk gibt Lothar Kreimendahl in seiner Einleitung in den ersten Auswahlband der neuen Übersetzung5.
1.2. Zeitumstände
Pierre Bayle lebte in einer aufregenden, bewegten Zeit. In Frankreich hatte sich bereits seit Anfang des 17. Jahrhunderts eine immer stärker zentralistisch und absolutistisch geprägte Regierungsform etabliert, die mit der persönlichen Regierungsübernahme durch Ludwig XIV. nach dem Tode des Kardinals Mazarin (1661), des regierenden Ministers, einen Höhepunkt erreichte. Mazarin hatte die von Kardinal Richelieu inaugurierte Politik trotz vieler Rückschläge konsequent weitergeführt und die Macht Frankreichs nach außen und die Stellung des Königs im Innern weiter ausgebaut und gestärkt.
Nachdem Ludwig XIV. persönlich die Regierung in Frankreich übernommen hatte, war Frankreich bald die bedeutendste Macht in Europa geworden. Die politische und militärische Überlegenheit des Landes war beeindruckend, besonders nach dem Frieden von Nijmegen 1679. Auch die französische Kultur dominierte in Europa. Schon ein Zeitgenosse Ludwigs XIV., Charles Perrault6, nannte diese Epoche, wie später auch Voltaire7, das Jahrhundert Ludwigs XIV. Dieser zunehmende Machtgewinn im Äußeren ging jedoch einher mit zunehmender Repression im Inneren des Reiches, vor allem in religiösen Angelegenheiten. Die Unterdrückung betraf vor allem die französischen Hugenotten, sie verloren immer mehr der ihnen im Toleranzedikt von Nantes 1598 zugesicherten Freiheiten.
Ludwig XIV., der „rex christianissimus“, sah, neben der Expansion und Sicherung Frankreichs nach außen, die Bekämpfung der Häresien und der Häretiker, hier vor allem der calvinistischen Hugenotten, als ihm übertragenen Auftrag und politische und religiöse Verpflichtung an. Da er auch die innerfranzösischen – nicht nur religiös bedingten – Streitigkeiten während der Fronde selbst erlebt hatte und davon tief geprägt wurde, betrachtete er es als eine seiner vornehmsten Aufgaben, das trotz aller bisherigen Zentralisierungsbemühungen noch in vieler Beziehung partikularistisch organisierte Königreich in einen in jeder Beziehung möglichst einheitlichen Staat umzuwandeln. Unverzichtbar für diese politische Einheit erschien ihm die konfessionelle Einheit. Das Schlagwort „Un roi, une loi, une foi“ wurde zum Motto seiner Innenpolitik.
Dass ein nicht unbeträchtlicher Teil seiner Untertanen einem nichtkatholischen Bekenntnis angehörte, war für ihn folglich inakzeptabel. Nach der Etablierung seiner unbestrittenen persönlichen Herrschaft richtete sich seine Innenpolitik zunehmend auf die Ausschaltung dieser Gruppe.
Die den Hugenotten zugestandenen Rechte und Freiheiten gingen zurück auf das Toleranzedikt von Nantes, das 1598 von Heinrich IV., dem Großvater Ludwigs XIV., erlassen wurde. Es wurde 1629 modifiziert durch das sogenannte „Gnadenedikt“ von Nîmes, in dem auch Ludwig XIII. die zivilen Rechte der Protestanten weiterhin zugestand und garantierte. Bis Anfang der siebziger Jahre des 17. Jahrhunderts konnte diese Bevölkerungsgruppe auf Grund dieser Edikte ein einigermaßen erträgliches Leben führen.
Seit den siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts wurde der Gehalt dieser Edikte Schritt für Schritt ausgehöhlt, bis es 1685 durch das Edikt von Fontainebleau sogar zur formalen Aufhebung der Edikte von Nantes und Nîmes kam. Im Laufe dieser Bedrückungen wurde, noch vor dem Widerruf der Toleranzedikte, die Akademie in Sedan, an der Bayle Professor für Philosophie und Geschichte geworden war, in ihrem Lehr- und Studienangebot immer stärker eingeschränkt und die finanzielle Unterstützung immer mehr reduziert. Bereits 1681 wurde die Akademie, im Widerspruch zu Zusagen Ludwigs XIII., sogar geschlossen.
In den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts befand sich Ludwig XIV. auf dem Höhepunkt seiner Macht und seines Ansehens. Im Inneren Frankreichs war seine Macht praktisch unbegrenzt. Alle Gegner hatten sich unterworfen, auch die beiden bedeutendsten und politisch einflussreichsten Gruppierungen, die Hocharistokratie und die von der „noblesse de robe“ beherrschten Magistrate, die „parlements“. Durch die politische Entmachtung dieser partikulären Gesellschaftsschichten war Widerstand gegen die königliche Macht, wie er sich in den 50iger Jahren noch in der „fronde des princes“ und der „fronde des parlements“ zeigte, unmöglich geworden, die Herrschaftsform des Absolutismus hatte sich durchgesetzt. Die einzige Möglichkeit, politische Ziele durchzusetzen, bestand in einem Appell an den König selbst.
Auch außenpolitisch agierte Ludwig XIV. effizient und erfolgreich, die Eroberungen und Gebietsgewinne im Osten, Nordosten und Südwesten Frankreichs waren enorm. Zusätzlich erbaute und organisierte Jean-Baptiste Colbert eine bedeutende Handels- und Kriegsflotte, es wurden bedeutende Territorien in Amerika und Indien erobert. Frankreich war zur stärksten Macht in Europa geworden.
Diese expansive, auch auf territoriale Eroberungen ausgerichtete Politik bedrohte die staatliche Integrität und Unabhängigkeit der an Frankreich angrenzenden Länder immer mehr. Aber erst allmählich formierte sich ein gemeinsamer europäischer Widerstand, der vor allem von Wilhelm von Oranien, dem Statthalter der Niederlande und späteren König Wilhelm III. von England, organisiert wurde.
1.3. Bayles Werke, insbesondere seine Kometenschrift
Als Bayles wichtigstes Werk gilt sein Dictionnaire historique et critique8, ein historisch-kritisches Wörterbuch, das im 18. Jahrhundert das verbreitetste Lexikon in den europäischen Bibliotheken war. Gottsched organisierte eine Übersetzung ins Deutsche und gab diese auch heraus9, eine neue Übersetzung ins Deutsche liegt jetzt in zwei gut lesbaren Auswahlbänden wieder vor10.
Bayles weitere Schriften wurden nach seinem Tod in einer vierbändigen Ausgabe, den Oeuvres Diverses (OD) gesammelt und veröffentlicht11. Diese Ausgabe wurde von Elisabeth Labrousse neu herausgegeben, um einen weiteren Band vermehrt und mit aufschlussreichen Einleitungen versehen 12.
Bekannt ist Bayles entschiedenes Bekenntnis für religiöse Toleranz, das er vor allem im Commentaire philosophique sur ces paroles de Jesus-Christ, Contrains-les d'entrer niedergelegt hat13. In der Critique générale de l'Histoire du Calvinisme14 wies er Anschuldigungen und Verleumdungen gegen die Hugenotten zurück, indem er den historischen Ablauf der Reformation und die Zeit danach historisch korrekt darstellte. Gleichzeitig forderte er damit ein neues Ethos der Geschichtsschreibung ein, der Historiker wurde nämlich angehalten, unvoreingenommen, sine ira et studio, alle Tatsachen zu prüfen und, nur der Wahrheit verpflichtet, Geschichte so darzustellen, wie sie sich aus der Gesamtheit der Quellen ergibt.
In den Nouvelles de la république des lettres15, dem ersten Rezensionsorgan, setzt er sich eingehend mit Zeitfragen auseinander, referiert und kritisiert kenntnisreich auch viele Bücher und bringt dem Leser die in der europäischen Geisteswelt diskutierten Ideen, Themen und Thesen zur Kenntnis.
In Ce que c'est que la France toute catholique sous le Règne de Louis le Grand16 beklagt er die brutale und rücksichtslose Verfolgung der Hugenotten in Frankreich unter Ludwig XIV. und zeigt die Unmenschlichkeit religiöser Intoleranz auf. Aber er verliert dabei die Größe des Herrschers nicht aus den Augen und zeigt Wege zu einer möglichen Lösung. Auch im Avis important aux réfugiez sur leur prochain retour en France17 betrachtet er nüchtern und illusionslos die politische Lage und kritisiert die unbegründeten, politisch haltlosen Vorstellungen und Erwartungen, die sich in einem Teil des Réfuge, unter Führung von Pierre Jurieu, breit machten.
Ein weiteres großes Thema Bayles wird in der Réponse aux questions d'un provincial18 und den Entretiens de Maxime et de Thémiste19 angesprochen.
Es ist dies die Unvereinbarkeit von Vernunft und rationaler Einsicht mit der christlichen Religion, ja sogar der Unmöglichkeit einer rationalen Theologie überhaupt. Damit ist das Thema der Theodizee wieder neu eröffnet; es geht um die Unvereinbarkeit von Not, Elend und Unmenschlichkeit, die sich in der Welt, also der Schöpfung Gottes, finden, mit den wesentlichen Attributen Gottes, der Allmacht, Allwissenheit und Allgüte.
Eine umfassende Bibliographie der Veröffentlichungen Bayles und Sekundärliteratur hierzu (Stand 1996) gibt Gianluca Mori in Introduzione a Bayle.20
Alle großen Themen, die auch in den späteren Schriften Bayles behandelt werden – der Kampf gegen Vorurteile, Aberglauben und Intoleranz, die Unabhängigkeit der Moral von den religiösen Überzeugungen, die immer stärker herausgestellte Diskrepanz zwischen christlicher Lehre und philosophischer Erkenntnis, ja sogar die Problematik einer rationalen Theologie – sind in den Pensées Diverses bereits angelegt. Es zeigt sich hier eine bemerkenswerte Kontinuität in Bayles Denken, auf die schon Elisabeth Labrousse hingewiesen hat.21
Erkennbar wird aber auch eine zunehmend pessimistische Lebensansicht, die erklärbar ist durch die zunehmende politische Verfolgung, aber auch durch die dadurch bedingte zunehmende Intoleranz im Lager der Verfolgten, des Réfuge. In der Kometenschrift selbst zeigt sich noch ein verhaltener Optimismus, durch aufklärerische Kritik die Lebensumstände zu verbessern.
1.3.1. Die Kometenschrift, Bibliographie und Editionsgeschichte
Die erste von Bayle veröffentlichte Abhandlung erschien 1682 unter dem Titel:
Lettre à M.L.A.D.C. Docteur de Sorbonne: Où il est prouvé par plusieurs raisons tirées de la philosophie, & de la theologie, que les comètes ne sont point le présage d'aucun malheur. Avec plusieurs reflexions morales & politiques, & plusieurs observations historiques; & la refutation de quelques erreurs populaires.
Ein Verfasser wurde nicht angegeben, als Verleger respektive Verlagsort war angegeben: P. Marteau, Cologne. Das ist die bekannte fiktive Adresse, unter der viele Anonyma im 17. Jahrhundert veröffentlicht wurden. In Wirklichkeit erschien das Werk bei Reinier Leers, Rotterdam 1682.
Das Werk hatte einen so großen Erfolg, dass kurz darauf eine Neuauflage erforderlich wurde, die teils verbessert, zum großen Teil erweitert, in bestimmten Teilen aber auch gekürzt wurde. Diese Neuauflage erschien 1683 unter dem Titel:
Pensées diverses écrites à un Docteur de Sorbonne, à l'occasion de la comète qui parut au mois de décembre 1680
wieder ohne Angabe eines Verfassers, aber mit Angabe des Verlegers und des Verlagsortes: Reinier Leers, Rotterdam.
Auch diese Auflage war bald verkauft, so dass zu Lebzeiten Bayles noch zwei weitere Auflagen erschienen, jeweils mit demselben Titel wie die zweite Auflage, die dritte erschien 1699, eine vierte 1704.
Die dritte und vierte Auflage von 1699 respektive 1704 sind inhaltsgleich mit der zweiten, es wurde jedoch ein Vorwort hinzugefügt, in dem Bayle kurz auf die Editionsgeschichte seiner Schrift eingeht und begründet, warum er hier keine weiteren Ergänzungen hinzugefügt hat, zusätzlich werden die lateinischen Zitate ins französische übersetzt. In diesem Vorwort verweist Bayle damit bereits auf die Addition aux Pensées diverses sur les comètes22 bzw. die Continuation des Pensées diverses écrites à un Docteur de Sorbonne23. Interessant ist, dass Pierre Bayle in der dritten bzw. vierten Auflage als Autor benannt wurde. Da Bayle inzwischen zu einem der bekanntesten Autoren Europas geworden war, ist nicht auszuschließen, dass die Nennung des Verfassers auch zur Verkaufsförderung eingesetzt wurde.
Eine kritische Ausgabe der Pensées Diverses mit vielen Anmerkungen, herausgegeben von A. Prat, erschien in zwei Bänden 1911 – 1912 in Paris, neu aufgelegt wurde diese Ausgabe 1984 von Pierre Rétat, der auch weitere Anmerkungen und ein Vorwort hinzufügte.24 Von der dritten Auflage von 1699 gibt es eine deutsche Übersetzung25 , 2000 erschien eine neue englische Übersetzung26
Bayles Abhandlung wird im folgenden, und zwar so, wie sie in der zweiten Auflage vorliegt, als Pensées Diverses zitiert, in der Regel auch nur als PD oder als „Kometenschrift“. Textgrundlage ist der von Pierre Rétat herausgegebene Text. Eventuelle Besonderheiten, die sich nur in der ersten Auflage finden, werden gesondert gekennzeichnet. Übersetzungen, soweit nicht anders aufgeführt, stammen vom Verfasser.
Anlass für Bayles Schrift war das Erscheinen eines Kometen und die in weiten Bevölkerungskreisen vorhandenen abergläubischen Überzeugungen, ein solcher Komet würde Unglück bewirken oder zumindest ankündigen, Bayle will seine Zeitgenossen von diesen falschen Vorstellungen befreien. Das sind die Gründe für sein Werk, die Bayle selbst anführt.27
In der Kometenschrift wird zunächst mit überzeugenden Gründen gegen die abergläubischen Vorstellungen, Kometen bewirkten oder bedeuteten Unglück, argumentiert, seine Ausführungen werden aber bald immer vielschichtiger, er schreibt nicht nur über die unbegründeten Befürchtungen, die sich mit dem Erscheinen des Kometen von 1680 einstellten, sondern vor allem über die verschiedenen Gedanken, die „pensées diverses“, die ihm bei der Betrachtung dieses Kometen durch den Kopf gingen.
2 Elisabeth Labrousse, Pierre Bayle. 2 Bde, Bd 1: Du Pays de Foix à la cité d' Erasme. La Haye 1963, Bd 2: Hétérodoxie et rigorisme. La Haye 1964.
3 Pierre Des Maizeaux, La vie de Monsieur Bayle in: Pierre Bayle, Dictionnaire Historique et Critique. Amsterdam/ Leiden/Den Haag/Utrecht 1740 (Reprint Genève 1970); Bd. 1.
4 Leben des Herren Peter Bayle, von dem Herren Desmaizeaux beschrieben Nach der fünften französischen Ausgabe in: Herren Peter Baylens, weyland Professors der Philosophie und Historie zu Rotterdam Historisches und Critisches Wörterbuch nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt. Leipzig 1741–1744; (Reprint Hildesheim 1974–78) ) S. XVII–CXVII.
5 Lothar Kreimendahl, Einleitung, in: Pierre Bayle: Historisches und kritisches Wörterbuch, Eine Auswahl. Übersetzt und herausgegeben von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Hamburg 2003.
6 Charles Perrault, Le siècle de Louis le Grand. Paris, 1687.
7 Francois Marie Arouet, genannt Voltaire, Le siècle de Louis XIV. Berlin 1751/52.
8 Pierre Bayle, Dictionnaire Historique et Critique. Amsterdam/Leiden/ Den Haag/Utrecht 1740.
9 Pierre Bayle, Herren Peter Baylens, weyland Professors der Philosophie und Historie zu Rotterdam Historisches und Critisches Wörterbuch nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt; auch mit einer Vorrede und verschiednen Anmerkungen sonderlich bey anstößigen Stellen versehen, von Johann Christoph Gottscheden, Professorn der Philosophie zu Leipzig, des großen Fürsten=Collegii itz. Z. Präposito und der Königl. Preuß. Sozietät der Wissenschaften Mitgliede. Leipzig 1741– 1744, (Reprint Hildesheim 1974–78).
10 Pierre Bayle, Historisches und kritisches Wörterbuch. Dictionnaire historique et critique. Übersetzt und herausgegeben von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Eine Auswahl. Hamburg 2003. Pierre Bayle, Historisches und kritisches Wörterbuch,. Dictionnaire historique et critique. Übersetzt und herausgegeben von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Zweiter Teil der Auswahl. Hamburg 2006.
11 P. Husson et al. (Hrsg.), Oeuvres Diverses de Mr. Pierre Bayle, professeur en philosophie et en histoire à Rotterdam. La Haye 1727–31; 4 Vol.
12 Pierre Bayle, Oeuvres Diverses. Herausgegeben und mit Einleitungen versehen von Elisabeth Labrousse; Hildesheim 1964–82, 5 Bde. Bd. I–IV Reprint der vierbändigen Ausgabe von 1727–31, Bd. V enthält weitere Texte Bayles und Texte von Zeitgenossen.
13 Pierre Bayle, Commentaire philosophique sur ces paroles de Jesus-Christ, contrain-les d'entrer, où l'on prouve, par plusieurs raisons demonstratives, qu'il n'y a rien de plus abominable que de faire des Conversions par la Contrainte; Et où l'on refute Tous les Sophismes des Convertisseurs à contrainte, & et l'Apologie que St. Augustin a faite des Persécuteurs, traduit de l'Anglois du Sieur Jean Fox de Bruges par M.J.F.. Amsterdam 1686–87 (OD II, 355–496).
14 Pierre Bayle, Critique générale de l'Histoire du Calvinisme de Mr. Mainbourg. Amsterdam 1682 (OD II, 1–160).
15 Pierre Bayle, Nouvelles de la république des lettres. Amsterdam 1684– 1687 (OD I, 1–760).
16 Pierre Bayle, Ce que c'est que la France toute catholique sous le Règne de Louis le Grand Amsterdam 1686 (OD II, 336–354).
17 Pierre Bayle, Avis important aux réfugiez sur leur prochain retour en France Donné pour Etrennes à l'un d'eux en 1690 par Monsieur C.L.A.A.P.D.P.,J.Le Censeur. Amsterdam 1690; Paris 1692 (OD II, 577– 633).
18 Pierre Bayle, Réponse aux questions d'un provincial. 5 (bzw. 6) Bde.; Rotterdam 1704 – 1707; (OD III 501–1084).
19 Pierre Bayle, Entretiens de Maxime et de Thémiste ou Réponse à ce que Mr. Leclerc a érit dans son X. Tome de la Bibliothèque Choisie contre Mr. Bayle. (OD IV 1 – 106).
20 Gianluca Mori, Introduzione a Bayle. Bari 1996.
21 „Ce qui est en tout cas certain, c'est la continuité des réflexions de Bayle et il est exact que l'auteur du Dictionnaire est déjà en puissance dans l'originalité, l'inflexible logique et l'indépendance d'esprit de celui des Pensées Diverses“. Elisabeth Labrousse; Einleitung zum dritten Band der Oeuvres Diverses (OD III, S. IX).
22 Pierre Bayle, Addition aux Pensées diverses sur les comètes. Rotterdam 1694 (OD III, S.161–186).
23 Pierre Bayle, Continuation des Pensées diverses écrites à un Docteur de Sorbonne. Rotterdam 1705 (OD III S.187–417).
24 Pierre Bayle, Pensées diverses sur la comète. Ed. A. Prat, revu par P. Rétat, Paris 1984.
25 Pierre Bayle, Herren Peter Baylens, weyland Prof. der Philosophie zu Rotterdam, verschiedene Gedanken bey Gelegenheit des Cometen, der im Christmonate 1680 erschienen, an einen Doctor der Sorbonne gerichtet: aus dem Französischen übersetzt, und mit einer Vorrede / ans Licht gestellet von Joh. Christoph Gottscheden. Hamburg 1741. Nachdruck Leipzig1975; Hrsg.: Rolf Geißler Titel : Verschiedene einem Doktor der Sorbonne mitgeteilte Gedanken über den Kometen, der im Monat Dezember 1680 erschienen ist.
26 Pierre Bayle, Various thoughts on the occasion of a comet. Transl. with notes and an interpretative essay by Robert C. Bartlett. Albany 2000.
27 „Comme j'étois Professeur en Philosophie à Sedan, lors qu'il parut une Comète au mois de Décembre 1680, je me trouvois incessament exposé aux questions de plusieurs personnes curieuses, ou allarmées. Je rassûrois, autant qu'il m'étoit possible ceux qui s'inquiétoient de ce prétendu mauvais présage“ PD, Préface de la troisième et quatrième Edition.
2. Der Komet von 1680
Der Komet, auf den sich die Kometenschrift im Titel bezieht, erschien 1680. Er war während etwa vier Monate sichtbar und konnte in ganz Europa beobachtet werden. Die Größe des Schweifs betrug zeitweise fast 80 Grad, der Komet war somit unübersehbar.
2.1. Entdeckung und Beschreibung des Kometen
Dieser Komet wurde von Gottfried Kirch bei seiner teleskopischen Durchmusterung des Himmels am 14. November 1680 entdeckt, er war damit der erste Komet, der mit Hilfe der neu entwickelten astronomischen Fernrohre aufgefunden wurde. Während seines Flugs in Richtung auf die Sonne war er im November morgens zu beobachten, bei der Umkreisung um die Sonne, im Perihel, war er für einige Tage im Dezember nicht mehr sichtbar, erschien aber wieder Ende Dezember, als er sich von der Sonne entfernte, dann aber abends.
Kirch beschrieb seine Entdeckung in seiner Neuen Himmelszeitung28. In dieser Abhandlung führt Kirch auch viele von anderen angestellte Beobachtungen dieses Kometen an, vor allem aus dem deutschsprachigen Bereich, die zeigen, welchen enormen Eindruck dieser Komet hervorrief.
Kirch, neben Halley und Hevelius wohl einer der bedeutendsten Astronomen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, schreibt im Titel seiner Himmelszeitung ausdrücklich von zwei Kometen dieses Jahres: „ (…) Darinnen sonderlich und ausführlich von den zweyen neuen grossen im 1680. Jahr erschienenen Cometen (…) Bericht zu finden“ (Hervorhebung F.S.) Noch deutlicher wird das in einem Zwischentitel29 dieser Himmelszeitung. Hier wird von „(Dem) sehr nachdenckliche(n) Comet(en) Welcher sich im Novemb. früh gegen Osten hat sehen lassen“ gesprochen und danach „Desgleichen auch der grausam großgeschwänzte Comet Welcher im Decemb. Zu Abends gegen Westen von Jederman mit grosser Verwunderung gesehen worden“ beschrieben.
An keiner Stelle seiner Abhandlung geht Kirch darauf ein, dass es sich bei den beiden Erscheinungen um verschiedene Bahnpunkte ein und desselben Himmelskörpers handeln könnte. Eine solche Erkenntnis ist natürlich nicht selbstverständlich. Im Perihel war der Komet ja nicht sichtbar, die Kontinuität der Beobachtung insoweit nicht gegeben. Die Erkenntnis einer Kontinuität setzt damit die Berechnung der Bahn des Kometen voraus und das wiederum das Wissen, dass diese Bahnen auf Kegelschnitten, also parabolisch, hyperbolisch oder in einer lang gestreckten Ellipse verlaufen. Das aber ist nur in dem von Kepler modifizierten heliozentrischen Himmelssystem wissenschaftlich erklärbar, wobei im keplerschen System allerdings nur elliptische Bahnen möglich sind. Dass ein so bedeutender Astronom wie Kirch diese Überlegungen nicht vollzogen hat, also die Einsicht nicht gewonnen hat, dass die beiden von ihm in der Himmelszeitung beschriebenen Kometenerscheinungen sich auf dasselbe Objekt beziehen, dass es also nur einen Kometen gab, ist doch eher verwunderlich.
2.2. Bayles Kenntnisse über Kometen
Umso erstaunlicher ist, dass Bayle dieses Wissen besaß. Im ersten Paragraphen der Kometenschrift, der den Titel hat: „Der Anlass dieses Werkes“30 unterstellt Bayle seinem fiktiven Briefpartner, einem Doktor der Sorbonne, eben diese Kenntnis.31 Aber das heißt wiederum, dass Bayle selbst über Vorgänge am Himmel durchaus gut informiert war.
Bayle werden üblicherweise mathematisches Wissen und tiefere Kenntnis naturwissenschaftlicher Theorien abgesprochen; dieses Urteil geht bis auf Voltaire zurück. So schreibt dieser in einem Brief vom 13. März 1739 an Rolland Puchot des Alleurs: „Le scepticisme est très bon avec des faiseurs d' hypothèses, avec des rêveurs théologiens; Bayle n'a guère couru sus qu'à ces messieurs, mais c'était un pauvre géomètre, et il ne savoit presque rien en physique;“32 (Hervorhebung F.S.) Allein aber der Hinweis auf die Identität des Himmelskörpers, der zuerst im Osten und dann, nach kurzem Verschwinden, im Westen am Himmel sichtbar war, zeigt, dass Bayle nicht unbeträchtliches Wissen in der Astronomie hatte. Auch wenn er dieses Wissen sich im eigentlichen Sinne nicht selbst erarbeitet, sondern von anderen bezogen haben sollte, zeigt das doch, dass er genügend Kenntnisse besaß, um seine eigene richtige Deutung der von Kirch beobachteten Phänomene an Stelle dessen konkurrierender, aber falschen Interpretation zu setzen.
Bayles Kenntnisse in Astronomie zeigen sich auch in den von ihm erstellten Skripten für seine Vorlesungen über Philosophie, wie er sie schon während seiner Lehrtätigkeit an der Akademie von Sedan verfasst und später, erweitert und ausgearbeitet, an der Ecole illustre in Rotterdam hielt33. Speziell im dritten Teil, dem Syntagma physicum, behandelt er kenntnisreich die astronomischen Systeme von Ptolemaios, Tycho Brahe und Kopernikus.34 Voltaires Behauptung: „…il ne savoit presque rien en physique“ dürfte somit widerlegt sein. Natürlich ist Bayle kein Fachastronom, aber das aufklärerische Bestreben, mit der wissenschaftlichen Erkenntnis Schritt zu halten, ist unverkennbar und Bayle beansprucht diese Haltung auch ausdrücklich für sich.35 Das ist, wie hier gezeigt wurde, keine Anmaßung, sondern entspricht durchaus den Tatsachen. Als Philosoph kann man, auch wenn man kein Mathematiker oder Physiker ist, ja selbst wenn die eigenen Interessen nicht in diesen Bereichen liegen, sich in diesen Disziplinen dennoch, wie Bayle, ausreichend sachkundig machen, um der wissenschaftlichen Diskussion folgen zu können. Die neuen Erkenntnisse über die Vorgänge am Himmel stehen ja in einem engen Zusammenhang mit einer neuen Bewertung der Vorgänge auf der Erde und bei den Menschen. Es ist das zunehmende Wissen einer Gesetzlichkeit in allen Bereichen, das gerade durch astronomische Beobachtungen forciert wurde.
2.3. Zeitgenössische Reaktionen zum Kometen von 1680
Über Himmelserscheinungen im Allgemeinen und Kometen im Besonderen, vor allem über abergläubische Vorstellungen im Zusammenhang mit diesen Gebilden, nicht nur, wie im Titel des Buches Il segno zodiacale dello Scorpione nelle tradizioni oocidentali angegeben über das Tierkreiszeichen des Skorpions, berichtet Luigi Aurigemma.36 Er behandelt die Zeitspanne von der griechisch-römischen Antike bis zur Renaissance und zeigt, wie weit verbreitet abergläubische Vorstellungen mit diesen Ereignissen verbunden waren.
Literarische Veröffentlichungen und Schriften im Zeitalter des Rationalismus in Bezug auf Kometen überhaupt und den großen Kometen von 1680 im Besonderen, behandelt Robinson.37 Dabei untersucht er einerseits Berichte über Kometen im Zeitraum von 1600 bis 1675 und dann Veröffentlichungen über den „Großen Kometen“ von 1680.
Nach den Untersuchungen Robinsons gab es abergläubische Vorstellungen im Zusammenhang mit Kometen in Frankreich, vor allem in den gebildeten Schichten, deutlich weniger als im restlichen Europa, besonders als in Deutschland.
Eine gewisse Mittelstellung nahmen die Niederlande ein, hier zeigte sich die gebildete Oberschicht für neue wissenschaftliche Untersuchungen und Ergebnisse sehr aufgeschlossen. Anders war es in weiten Bereichen der reformierten Prediger und des einfachen Volkes, bei denen die Verhaftung in überlieferten Traditionen und autoritären Strukturen noch sehr ausgeprägt war. In Frankreich war die Gesellschaft schon weiter entwickelt und für aufklärerische Gedanken durchaus offen, offener als jede andere Gesellschaft in Europa, trotz der auch hier unübersehbaren Repression durch Staat und Kirche.
Somit ist es auch historisch durchaus verständlich, dass Bayle, in Frankreich geboren und in einer der gebildeten Familien der reformierten Geistlichkeit aufgewachsen und erzogen, alle Voraussetzungen mitbrachte, einer der ersten zu sein, die in die Zukunft weisenden, aufklärerischen Intentionen in einer interessierten Öffentlichkeit zu artikulieren.
28 Gottfried Kirch, Neue Himmelszeitung Darinnen sonderlich und ausführlich von den zweyen neuen grossen im 1680. Jahr erschienenen Cometen Deren Gestalt Grösse Stand und Bewegung wie auch anderen in solchem Jahr am Himmel vorgegangen merckwürdigen Begebenheiten Umständiger und gründlicher Bericht zu finden: Dem in einem Gespräch mit beygefüget worden Etliche unvorgreifliche Muthmassungen was hier auf Erden erfolgen möchte. Nürnberg 1681.
29 Der Neuen Himmels=Zeitung Erster Theil Darinnen zu finden Was im 1680. Jahre Merckwürdiges am Himmel gesehen worden Als Das grosse Feuer=Zeichen am 22 May (1.Juni) früh vor Tage Die Sonnen=Maculn oder Flecken im May und Junio, Die Bedeckung des Palilicii vom Mond am 4.(14.) Sept. bey antretendem Tage und andere Sachen mehr, Absonderlich aber Der sehr nachdenckliche Comet Welcher sich im Novemb. früh gegen Osten hat sehen lassen. Desgleichen auch der grausam großgeschwänzte Comet Welche im Decemb. Zu Abends gegen Westen von Jederman mit grosser Verwunderung gesehen worden. In: Gottfried Kirchs Neue Himmelzeitung.
30 „Occasion de l'Ouvrage.“ Überschrift PD § 1.
31 „Vous aviez raison, Monsieur, de m'écrire que ceux qui n'avoient pas eu la commodité de voir la Comète, pendant qu'elle paroissoit avant le jour, sur la fin de Novembre et au commencement de Décembre, n'atten-draient pas long-tems à la voir à une heure plus commode ; car en effet, elle a commencé à reparoitre le 22. du mois passé, dés l'entrée de la nuit.“ Pierre Bayle, PD § 1.
32 Brief Nr. 1203, in: Voltaires correspondence. ed. Théodore Bestermann. Genève 1953–1965, 13 Bde; ( Bd 2, S.150).
33 Viri clarissimi Petri Bayle, Philosophiae & Historiarum in Schola illustri Roterodamensi Professoris celeberrimi, Insitutio brevis et accurata Totius Philosophiae, in quatuor praecipuas distincta, Logicam, Ethicam, Physicam, & Mtaphysicam, in usum studiosae juvntutis. In: Oeuvres Diverses, Bd. IV, S. 201–520.
34 Oeuvres Diverses, Bd IV, S. 392 ff.
35 „…j'entens raisonner tous les jours plusieurs personnes sur la nature des Comètes, et quoi que je ne sois Astronome ni d'effect ni de profession, je ne laisse pas d'étudier soigneusement tout ce que les plus habiles ont publié sur cette matière.“ PD, § 3.
36 Luigi Aurigemma, Il segno zodiacale dello Scorpione nelle tradizioni oocidentali. Torino 1976.
37 The Great Comet of 1680: A Study in the History of Rationalism. Northfield ( Minnesota) 1916. James Howard Robinson.
3. Aufbau und Struktur der Kometenschrift
Da die Kometenschrift ursprünglich im Mercure Galant38erscheinen sollte, hat Bayle sie in elf Briefe unterteilt. Diese literarische Form war im damaligen Frankreich populär und sehr verbreitet, auch im Mercure Galant erschienen viele Beiträge in dieser Gestalt.
Der –fiktive– Briefpartner ist ein Doktor der Sorbonne, das heißt, ein hochqualifizierter Theologe. Der andere Briefpartner, der dieser Fiktion getreu in Ich-Form schreibt, gibt sich als überzeugten und königstreuen Katholiken zu erkennen. Es handelt sich jedoch um eine strenge und ernste Form des Katholizismus, die an eine jansenistische Prägung erinnert. Im Vorwort zur dritten Auflage gibt Bayle eine Erklärung, warum er diese Form und auch diese Maskerade gewählt hat: da seine Schrift ja im Mercure Galant veröffentlicht werden sollte, musste sich das Werk dem dortigen, durch den Herausgeber39 vorgegebenen, Stil anpassen.40 Als Bayle erkannte, dass das Werk für den Mercure Galant zu umfangreich wurde, hoffte er, aufgrund dieser Schreibweise die Druckgenehmigung von dem Lieutenant de Police zu Paris41 zu erhalten, leider vergeblich.
In den Pensées Diverses findet sich jedoch kein eigentlicher Briefwechsel, es werden keine Antwortbriefe des Doktors angegeben. Bayle, in der Maske des Katholiken, geht aber in seinen Briefen durchaus auf angebliche Antworten des Doktors ein. Dadurch entsteht der Eindruck eines lebendigen Dialogs.
Das zeigt sich schon im ersten Brief. Bayle springt mit dem ersten Satz in medias res, mit der Fiktion eines bereits lang dauernden und freundschaftlichen Diskurses.42
Das Briefschema wird auch in der zweiten und allen folgenden Auflagen beibehalten, nicht jedoch in den selbständigen späteren Erweiterungen, den Additions aux Pensées diverses sur les comètes, von 1694, bzw. 1699 und der Continuation des Pensées diverses écrites à un Docteur de Sorbonne von 1705.
3.1. Gliederung der Kometenschrift
Zunächst wird die formale Gliederung vorgestellt, die von Bayle selbst herrührt, aber erst in der zweiten Auflage der Pensées Diverses vollständig durchgeführt wurde. Diese besteht in einer Unterteilung in Bände, Briefe und Paragraphen.
Innerhalb dieses Gefüges gibt Bayle sieben bzw. acht Gründe dafür an, dass Kometen keinerlei rational begründeten Anlass geben können, abergläubische Vorstellungen mit ihnen zu verbinden. Diese Gründe bilden das Gerüst, um das Bayle die Pensées Diverses konstruiert.
In seinen Ausführungen über diese Gründe, möglichen Gegengründen hierzu und wiederum deren Widerlegungen stellt Bayle Überlegungen an, die auf den ersten Blick nur wenig mit den von ihm aufgeführten Gründen in Zusammenhang zu stehen scheinen. Sie enthalten aber fast den ganzen Fundus dessen, was Aufklärung ausmacht. Diese in den Pensées Diverses oft nicht zusammenhängend dargestellten Gedankengänge können sinnvoll mit Hilfe eines von Norbert Hinske43 erstellten Schemas der Kampfideen untersucht werden, so kann aufgezeigt werden, wie Bayle gegen Aberglaube, Vorurteil und Intoleranz argumentiert.
3.1.1. Formale Gliederung der Kometenschrift
Die Pensées Diverses