Zu kurz gesprungen - Frauke Wandmacher - E-Book

Zu kurz gesprungen E-Book

Frauke Wandmacher

4,9

Beschreibung

Im Sommer 1976 kreuzen sich die Wege zweier Menschen – Franz, gerade 30 Jahre alt und ehemaliges Mitglied des SDS, Lehrer mit Berufsverbot in Heidelberg, und Klaus, Jahrgang 1912, Zahntechnikermeister mit eigenem Unternehmen in Braunschweig. Die Handlung spielt in Braunschweig und in Heidelberg. Franz bietet in einem überregionalen Blatt seine Dienste als Biograph an. Klaus nimmt Kontakt zu Franz auf. Die Verknüpfung durch das Projekt Biographie verhindert für Klaus einen Rückzug ins Schweigen, fordert Franz heraus, eigene Positionen zu hinterfragen. Beide gewinnen durch das Gespräch Selbstdistanz, können so ihre Standpunkte neu bewerten. Franz findet mit seiner chilenischen Freundin Micaela ein alter Ego im Umgang mit dem moralischen Versagen der älteren Generation.

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Inhalt

Franz

Klaus

Nach dem 10.03.1976

Klamme und Schönwetterfragen

Ferien

Zusammentreffen

Eintauchen

Postaer Sandstein

Niederschrift

Tiefer Tauchen

Abgrundtief

Zusammentreffen 2

Umwege

Zusammentreffen 3

Westlicher Außenposten

Zusammentreffen 4

Indian summer

Franz

Franz hatte sich entschieden und der Inhalt dieser Entscheidung war durch nichts als die Annahme bestimmt, dass Leser der WoZ es vielleicht doch eher selbst könnten als die Leser der DamS. Er war sich bewusst, dass diese Vermutung ein Vorurteil war und dass er mit diesem Vorurteil so schön den Vorzug für diese Gruppe, die der DamS-Leser, begründen konnte. Ganz einfach, Franz kannte nur wenige Leser dieser Wochenzeitung und sie waren ihm fremder als die Konsumenten des anderen Blattes. Er wollte kein Vorurteil umkrempeln, er brauchte Stoff für die Gestalt, an deren Entwurf er sich beteiligen wollte.

Das Inserat, das er in den Anzeigenteil der DamS in der Rubrik Stellengesuche einrücken ließ, bot an: „Ich (m) schreibe Ihre Biographie. Mit Lebenserfahrung, Stilsicherheit und Freude am Zuhören. Chiffre“. Franz zahlte per Vorkasse den Anzeigenpreis von 85,60 DM, die Annonce sollte am Sonntag, 29. Februar 1976, erscheinen.

Den Beleg seiner Befähigung für diesen Job mit „Lebenserfahrung“ ergab sein Alter von 30 Jahren. Die hinter Franz liegende Lebensstrecke war wie die eines jeden Dreißigjährigen prall gefüllt mit Hoffnungen, Verletzungen und Leistung; er hatte sich in den von ihm wahrgenommenen Angeboten zu orientieren gelernt, hatte gelernt die getroffene Entscheidung stets zu begründen. Er verschloss sich dabei, wie fast jeder Mensch, möglichen ungedachten anderen Wünschen.

Franz schätzte Menschen aus der Gruppe der DamS-Leser im Gegensatz zu den WoZ-Lesern als geeigneter ein, sich ihm für die Anfertigung einer Biographie anzuvertrauen, statt ihre Lebensgeschichte selbst aufzuschreiben, und er hoffte gleichzeitig auf wenig Wiedererkennen und viel Material; Franz war einverstanden mit sich.

Franz neigte dazu, seine Entscheidungen nach Nützlichkeitsquote zu treffen. So war seine Zugehörigkeit zum SDS Heidelberg schon seit Januar 1968 zunächst aus pragmatischen Überlegungen entstanden, als er eine Möglichkeit suchte, sich die täglichen Fahrten mit verschiedenen Verkehrsmitteln von Mannheim-Feudenheim zu den Vorlesungen und Seminaren an der Rupprecht Karls- Universität Heidelberg zu ersparen durch den Umzug nach Heidelberg, wo ihm Mitglieder des SDS preiswertes Mitwohnen in einer WG angeboten hatten. Möglich, dass die Rekrutierung von Anfangssemestern durch studentische Verbindungen nach ähnlichem Nützlichkeitsmuster verliefe. Also, kollektives Wohnen aus wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit, war es das nur? Franz hoffte darüber hinaus, dass gemeinsames Arbeiten für ein gemeinsames Ziel für ihn, der gewiss nie Teamworker gewesen war, auch gemeinsames Erleben nach sich zöge und ihm, ja, mit einer Funktion auch einen Stellenwert einräumte. Franz wusste, es gibt keinen von Flucht aus den Zwängen des Kapitalismus unterfütterten ‚linken‘ und ‚rechten‘ Pragmatismus. Es würde sein Ziel sein, aus gefühlter politischer Haltung eine Handlungsanweisung zur Überwindung gesellschaftlicher Ungleichheit werden zu lassen.

Nachdem Franz das Kuvert mit seinem Inserentenwunsch in den Briefkasten gesteckt hatte, fuhr er mit der Straßenbahn nach Handschuhsheim, verließ sie an der Tiefburg und lief sich warm in den Straßen, die zum Mühltal führten. Parallel zum Mühlbach bis zur Strangwasenhütte, diesen Parcours wählte Franz immer, wenn er frei im Kopf war und den Nacken strecken konnte. Und heute war so ein Tag: Er war neugierig auf die nahe Zukunft und sie verband sich mit einem Vorvor-Frühlings-Gefühl. Er erreichte den Brunnen im Mühlbachtal; auch heute füllten die Heidelberger mitgebrachte Gefäße mit dem Wasser aus dem Berg, sie ließen den Dauerläufer außer der Reihe ein paar Schlucke am Brunnenrohr trinken und dies kleine Entgegenkommen stimmte Franz noch ein bisschen höher.

Er wollte vor Einbruch der Dämmerung aus dem Wald heraus und wieder auf der asphaltierten Straße sein und legte ein bisschen zu.

Die erste Märzwoche war sonnig, aber kalt. Franz wartete schon seit Mittwoch auf Post. „Jetzt sei halt nicht so ungeduldig“, Martin, sein Mitbewohner der WG in der Kleinschmidtstraße, versuchte seine Hoffnung zu stärken, „deine Ansprechpartner sind gewiss ältere Leute, sie haben schon eine Lebensgeschichte, brauchen aber auch länger für solch eine Entscheidung. Und vielleicht kommt der eine oder die andere durch deine Anzeige erst auf den Gedanken so etwas wie eine Biographie in schriftlicher Form für sich haben zu wollen!“ Martin dachte nach: „Und wenn du dir jetzt vorstellst, du sitzt einem möglichen Kunden gegenüber, - sollte es lieber eine Frau oder lieber ein Mann sein?“ Franz ärgerte sich, bevor er die Frage von Martin beantwortete, erstmal über die Bezeichnung ‚Kunde‘. Dieser Begriff wies zunächst für Franz zu sehr auf materielle Beziehungen zwischen ihm und – ja -. Eigentlich hatte Martin Recht, Franz würde die Verbindung zu „Biographiewünschenden“ ja nie gesucht haben, wenn er nicht seinen Lebensunterhalt materiell und in seiner Sinnsuche hätte auffüllen wollen. Die Arbeitslosenhilfe von knapp 160 DM wöchentlich, die er seit seinem zweiten Staatsexamen im Februar 1975 vom Arbeitsamt erhielt, reichte nicht zum Leben und eine Aufgabe hatte er auch nicht. Viele Bezeichnungen von Hilfesuchenden in den Geschäftsbeziehungen zwischen Anbietern und Nachfragern sollten den Austausch von Leistungen beider Parteien schönreden: Klient, Patient, Mandant, - klingt gut, gniggelte er, haarscharf am Problem der Wirkung von Herrschaftswissen oder Eigentum vorbei.

„Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Ich denke immer nur: Hoffentlich meldet sich überhaupt jemand“.

„Aber du wirst schon eine Präferenz haben; stell dir einfach vor, du hast drei Briefe von Frauen und drei von Männern. Wie gehst du vor? Hintereinander abarbeiten? Ich glaub, darüber würdest du selbst steinalt“, Martin lachte, „was machst du überhaupt, wenn du Antworten auf deine Anzeige erhältst?“

Soweit war Franz noch nicht, er wollte, und darüber war er noch nicht hinausgekommen, überhaupt eine Reaktion auf seinen Schritt nach vorn erleben.

Martin verunsicherte ihn durch die Fragen nach dem ‚Und dann‘. Sie stimmten ihn aber auch wieder zuversichtlich, weil er in diesen Fragen erkennen konnte, dass er sich auf dem Boden der Wirklichkeit bewegte und vielleicht tatsächlich eine solche Aufgabe auf ihn zukommen könnte.

Ähnlich Martin hatte Susanne, Franz‘ Freundin, ihn nicht nur bewogen, den Plan in Handlung umzusetzen und tatsächlich sein Können in der überregionalen Presse anzubieten, sondern sie glaubte auch, dass ein Mensch in der Bundesrepublik oder in der weiten Welt sein Angebot annehmen könne.

Allerdings hatte sie ihn nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass er mögliche Einkünfte, die er erzielen könnte, dem Arbeitsamt melden müsste. „Sonst kann es dir passieren, dass du alle bisherigen Leistungen aus der Arbeitslosenhilfe zurückzuzahlen hättest“.

„Kein Einziger hat bisher angebissen und du siehst mich schon in der Auseinandersetzung mit dem Arbeitsamt vor dem Sozialgericht!“

Franz war doch ganz froh in Susanne die kompetente Juristin zur Seite zu haben und beschloss, ernsthaft über hereinbrechende Geldströme und den künftigen Umgang mit der Arbeitsbehörde nachzudenken.

Er hatte Susanne in der Kanzlei von Gerhard Härdle in der Handschuhsheimer Landstraße kennengelernt. Sie arbeitete in der Sozietät als angestellte Anwältin und hatte sein Mandat „gegen die Stadt Heidelberg“ 1969 übernommen. Die Anzeige der Stadt galt seinen Aktivitäten in der Wahrnehmung von Bausubstanz als politische Plattform. Er hatte mehrere Mauern mit dem Hinweis in roter Farbe versehen: NUTZT DIE WÄNDE SO LANGE SIE DA SIND!

Ein gut gemeinter Satz, der wissen lassen wollte, dass Wände als demokratisches Forum, als Medium zur Veröffentlichung von Meinung immer da seien, auch wenn keine Zeitungen und keine Flugblätter mehr erscheinen durften. Gleichzeitig führte er damit die Kapitalismuskritik des SDS ad absurdum; denn, dass Mauern trennen und abschirmen, hatte Franz dabei übersehen.

Susanne hatte es geschafft, in der Verhandlung vor dem Amtsgericht Heidelberg den Parolen die politische Spitze zu nehmen und den Tatvorwurf auf Sachbeschädigung zu reduzieren. Der Vorwurf der „Verunstaltung privaten und öffentlichen Eigentums“ war durch die Zusicherung der alsbaldigen Wiederherstellung des vorigen Zustandes – Reinigung der Fassaden – abgemildert und Franz kam, da der Landfriedensbruch nicht weiter in der Anklage verfolgt wurde, mit einer geringen Geldstrafe, die keinen Eintrag ins Führungszeugnis nach sich zog, aus der Sache heraus.

Das Ungleichgewicht in ihrer Beziehung – hier Helfende, dort Ratsuchender – wollte Franz von Beginn an ignorieren und auch Susanne tat nichts, was ihn Unterlegensein spüren ließ. Dass er sich nicht selbst helfen konnte, schuf Macht. Sie ließ sich nicht ignorieren, eben so wenig wie ihr jeweiliger gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Status. Franz rieb sich daran, dass in ihrer Liebesbeziehung sein Selbstwert von diesem Status beeinflusst wurde. Politisch-ideologisch wollte er Ich-Stärke eigentlich aus innewohnenden Kräften gebündelt wissen, die – getreu dem Glaubenssatz von den ineinandergreifenden Rädchen – dem großen Ziel der gesellschaftlichen Gerechtigkeit dienten. So aber spürte er Neid und entwickelte gleichmacherische Strategien; ach, Susanne!

Sie wurde für ihn auch in einer anderen Sache tätig, in seiner Auseinandersetzung mit dem Land Baden-Württemberg wegen seines Antrages auf Einstellung in den Schuldienst nach dem abgeschlossenen zweiten Staatsexamen. Es hatte eine Regelanfrage gegeben und hier wurde bekannt, dass Franz Mitglied des SDS Heidelberg gewesen war, bis der SDS im Jahre 1970 verboten wurde. Franz hatte im Februar 1975 vom Oberschulamt Karlsruhe die Mitteilung erhalten, die einstellende Behörde habe Zweifel am Bekenntnis des Bewerbers zur freiheitlichdemokratischen Grundordnung.

Franz war auf die Aktivitäten des SDS an der Rupprecht Karls-Universität aufmerksam geworden bei dem Schweigemarsch am 02. Juni 1967 zum Tode Benno Ohnesorgs und den Polizeimaßnahmen in Berlin, und war im November 1967, als Oberbürgermeister Zundel die Hauptstraße für eine Vietnamdemonstration hatte sperren lassen, Mitglied des Verbandes geworden. Anlässlich einer Sitzblockade der Studenten auf den Zugängen zu den Hörsälen am Tag der dritten Lesung und Verabschiedung der Notstandsgesetze durch den Bundestag in Bonn am 30.05.1968, wurde die Polizei das erste Mal auf Franz durch eine Anzeige des Lehrkörpers aufmerksam.

Susanne, die ihn gegenüber dem Oberschulamt vertrat, wollte im Zusammenhang mit dieser Anzeige für ihre Mandatswahrnehmung Genaueres von Franz zu den Vorgängen auf den Fluren der Philosophischen Fakultät wissen. “Haben sie dich weggetragen? Hast du Widerstand geleistet im Sinne von Übergriffen auf Polizeibeamte? Hast du deine Personalien freiwillig bekannt gegeben?“ Wie sich eine Juristin Widerstand der Bevölkerung gegenüber den Ordnungsbehörden so vorstellt. Franz kannte seine Susanne nicht recht wieder und schilderte das Sit- In aus seiner Erinnerung als zähes aber gutwilliges, bisschen lautes und albernes Häuflein mit einem bitterernsten Anliegen: Die Verabschiedung der Notstandsgesetze konnten die Studenten nicht verhindern, ihnen war daran gelegen durch spektakuläre Aktionen die Bevölkerung einzubinden in ihre Aufmerksamkeit gegenüber dem Vorhaben der Großen Koalition.

„Dir als Juristin wird doch besonders deutlich sein, welche Kompetenz die Verfassungsschutzbehörden und die Bundeswehr mit dieser Gesetzgebung bekommen! Welch ein Machtverlust für die Legislative! Und dieser unkontrollierbare Machtzuwachs bei der Exekutive!“ Franz sah in der „Gesetzgebung zum Schutz der rechtsstaatlichen Ordnung“, die immerhin 28 von 154 GG-Artikeln verändern oder aufheben sollte, einen Zünder in der Kausalkette von Einschränkung, Widerstand und erneuter Einschränkung.

Susanne blieb sachlich, „es geht mir darum, alles zu wissen, was sich damals ereignete, auch das, was nur du beobachten konntest. Ich möchte dieses Wissen juristisch bewerten und will dann versuchen, ein bisschen an eine Waffengleichheit zwischen der behördlichen und meiner Argumentation heranzukommen“. Franz hoffte immer noch nicht, er fühlte sich aber gut aufgehoben.

„Du hattest dich für den Öffentlichen Dienst beworben. Warum versuchst du es nicht bei einer Schule mit einem nichtstaatlichen Träger?“ Dieser Tipp war unerwartet, er hatte fest auf eine Beamten-Laufbahn gesetzt. Er zweifelte nicht an Susannes Entschlossenheit, ihn vor dem Verwaltungsgericht zu vertreten. Und so schien ihm der Hinweis auf eine Bewerbung bei einer Privatschule ein bisschen der Versuch zu sein, ihn aus seinem Einerlei an Spätaufstehen, Endloszeitunglesen, Susanne-Erwarten und Waldlauf herauszuholen.

Namen und Adressen von zwei Privatschulen fand er im Telefonbuch, die Elisabeth von Thadden-Schule in Wieblingen, die einen kirchlichen Träger hatte, und das privat geführte, staatlich anerkannte Englische Institut.

Die Fächerkombination, die Franz für das Lehramtsstudium gewählt hatte, war nicht besonders originell, geisteswissenschaftlich beide. Franz bedauerte, dass er nicht wenigstens ein Fach vertrat, das in den Gymnasien schwach besetzt war. Jemand, der die Allerweltsfächer Germanistik und Geschichte anbot, ließ sich leichter ablehnen als ein Bewerber mit Mangelfächern wie Physik oder Musik. „Mein Lieber, könnte es sein, dass wir uns ein bisschen leidtun?“ Susanne war selten ironisch, und wenn, dann sollte Franz auf Distanz zu sich selbst gehen, wo er mit Banalitäten sein Handeln blockierte.

Er hatte ein neusprachliches Gymnasium in Mannheim besucht, hier war der Wunsch Lehrer zu werden, und zwar für diese beiden Fächer, gewachsen. Die Lehrer unterstützen ihn, zeigten auch keine Alternative auf. Naturwissenschaften interessierten ihn nicht über die schulischen Anforderungen hinaus. Geschichte war schon immer eines seiner Lieblingsfächer gewesen, und mit Leichtigkeit schrieb er Gedichte und anständige Besinnungsaufsätze, wie die Erörterung von Thesen damals hieß. Seine Eltern waren beide mit seinem Berufsziel einverstanden gewesen, seine Geschwister waren ebenfalls in akademischen Berufen ausgebildet. Sein zwei Jahre älterer Bruder Georg hatte an der Wirtschaftshochschule im Mannheimer Schloss Betriebswirtschaft studiert und seine jüngere Schwester Barbara war Lehrerin an einer Volksschule.

Franz hatte schon in der Schule die Zeit nach der Französischen Revolution und das 19. Jh in Deutschland als Arbeitsschwerpunkt für sich entdeckt. Die Geschichtsübermittlung in dieser Zeit konnte vielschichtiger dargestellt werden, die wechselseitigen Bedingungen von Machtstrukturen und ökonomischen Prozessen werden in diesem Jahrhundert schon transparenter.

So fand Franz in Ordinarius Werner Conze einen Historiker, der Geschichte wahrnahm als Gesamtheit gesellschaftlicher Faktoren. Er setzte seinen methodischen Schwerpunkt der Geschichtsforschung über die politische Analyse der jeweiligen Sieger hinaus in die Deutung der Geschichte der Wirtschaft, Kultur, Recht, auch Religion und Ethnologie und ihrer Vernetzung.

Conze war umstritten wegen seiner frühen Schriften, in denen er durchaus antisemitisches Vokabular benutzte und das geistige Fundament für die NS- Bevölkerungspolitik in Osteuropa vorbereitete; er war aus diesem Grunde bei vielen Studenten als Reaktionär und als Altnazi bekannt, so dass sie sich im Februar 1969 legitimiert fühlten, eine seiner Unterrichtsveranstaltungen zu sprengen.

In dem von Conze favorisierten Zugang zur Geschichtswissenschaft fühlte Franz sich aufgehoben und es war für ihn ein großes Glück, von Conzes Assistenten Hartmut bei der Anfertigung seiner Hausarbeit betreut zu werden. Er hatte Hartmut seine zunächst etwas sperrige These über den Zusammenhang zwischen föderaler Reichsstruktur in der Verfassung von 1871 und der Verabschiedung der Sozialgesetzgebung durch den Reichstag darlegen können, Hartmut hatte akzeptiert und Franz hatte nun Gelegenheit wissenschaftlich und nutzbringend für seine erstes Staatsexamen seine Theorie zu entwickeln.

Im fünften Semester hatte Franz einen Klassenkameraden getroffen, Martin, er steckte im Physikum und suchte einen Mitbewohner für seine WG. Die persönliche Vertrautheit war für Franz wichtiger geworden als die politische Nähe und funktionelle Unentbehrlichkeit, die die SDS-WG ihm geboten hatte, und nun bewohnten die beiden ehemaligen Mannheimer Gymnasiasten eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Heidelbergs Weststadt. Martin war durch das Physikum sehr in Anspruch genommen; Franz wusste auch nicht, wo Martin sich politisch orientierte, ob er bei den Aktivitäten der Heidelberger Studenten mitgelaufen war, vorangelaufen war oder sich zugunsten seines Medizinstudiums nicht hatte mobilisieren lassen. Im SDS war immer wieder die passive Rolle der zwischen Studieren und „freizeitpolitischem“ Handeln zum Publikum degradierten Studenten thematisiert worden. Franz war Martin gegenüber unsicher, sah die Fraglichkeit selbstbestimmter Wissenschaft unter der Zielorientierung Studienabschluss. Und je näher er dem Staatsexamen rückte, umso angepasster wurde auch er.

Kurz vor Weihnachten 1969 hatten beide Zeit zum gemeinsamen Kochen gefunden und zum Sitzenbleiben am Küchentisch.

Franz arbeitete in dieser Zeit an einem Referat für ein Seminar in seinem zweiten Fach, Germanistik. Die Aufgabe reizte ihn, er sollte den Einfluss japanischer Haiku-Dichterinnen des 18. Jh auf die moderne europäische Lyrik analysieren. Er hatte gerade einen Haiku entdeckt, den! Haiku, wie er empfand:

„Hör mal, hier von Kaga no Chiyo:

Um mein Brunnenseil

Rankte eine Winde sich –

Gib mir Wasser, Freund!“

Martin reagierte mit einem Hm, und dann: „Wie wohl ‚die Winde‘ im Japanischen heißt?“ Damit hatte Franz nicht gerechnet: „Magst du das Haiku?“

„Mir ist schon in der Schule aufgefallen, dass du Gedichte mochtest. Das hatte mir wiederum geholfen, Lyrik etwas ernster zu nehmen. Bis dahin war das Schreiben eines Gedichts für mich immer so ein bisschen unanständiges Zurschaustellen, um nicht zu sagen Prostitution, einer Befindlichkeit.“

Franz freute sich, dass Martin aus seiner Hinwendung zu einer Sache, und sei es die Lyrik, etwas gewonnen hatte. Franz hatte sich in Schulzeiten Martin verbunden gefühlt, war indes immer unsicher ihm gegenüber und seiner so ganz anderen Schwerpunktsetzung gewesen.

„Weißt du noch, dieses ewiglange Gedicht von Vergil ‚Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris …‘, dafür hat der Mann zehn Jahre seines Lebens investiert und uns hat nur interessiert, wie es mit Aeneas und Dido weitergeht“.

„Ja, damals lernten wir in Geschichte die Entstehung und Zerschlagung von Weltreichen als Zwangsläufigkeit; Minoer, Phönizier, Griechen, Etrusker, Römer führten Kriege, verloren Schlachten, traten ab.“

Franz wollte von der Einfühlsamkeit Vergils in der Schilderung von Gefühlen und Abhängigkeiten, von Naturschönheit und Versagen sprechen, wurde aber von Martin unterbrochen: „Nie werd ich vergessen, wie der Müller uns die Tragödie der Perser von Aischylos wiedergab. Mit welchen Worten er von dieser ungeheuerliche Schlacht bei Salamis berichtete. Ich konnte mir das richtig vorstellen, wie die armen Kerle von ihrem etwas eitlen und in der Kriegsführung nicht besonders begnadeten König Xerxes zu Tausenden geopfert wurden. Und wie die Davongekommenen ihr Ansehen in der Heimat verloren. Die Sprachlosigkeit und Trauer der Zuhausgebliebenen!“

Schon waren sie bei Dr.Müller, dem Ausnahme-Lehrer. Es hatte keinen in der Klasse gegeben, der diesen Lehrer nicht mochte, auch die anderen Jahrgänge wollten in Latein von ihm unterrichtet werden. Bei allen Gymnasiasten herrschte Einmütigkeit darüber, dass Lateinlehrer spinnen. Müller fiel nicht unter die Kategorie ’Lateinlehrer‘, er repräsentierte für die Jugendlichen den anderen Deutschen in der Generation der Erwachsenen.

Er war, wenn er auch von längst geschlagenen Schlachten sprach, überzeugend in seiner Vision von der Vermeidbarkeit eines jeden Krieges.

„Lasst uns versuchen, den Begriff ‚Krieg‘ zu bestimmen. Möglichst knapp und nicht in Details hängenbleiben“. Mit behutsamen Zwischenfragen koordinierte er die Antworten der 17-jährigen Feldherren, Oberbefehlshaber und Verteidigungsminister. Mit der Definition, die sie erarbeitet hatten, ließ er sie zunächst allein: Entladung von Konflikten in organisierter Gewalt.

Wobei die ‚Organisation‘ ihnen besonders zu kauen gab, da sie erkannt hatten, dass jeder Organisation ein Gedanke zu Grunde liegt, der, wenn er von einem als absolut gesetztes Werturteil getragen, eine Ideologie ist.

Er war als Lehrer und als Gesprächspartner von hoher Intelligenz und unpädagogischer Schlagfertigkeit, so dass die rhetorischen Spielchen der Schüler ein erfreuliches Niveau und weiterführende Inhalte erreichen konnten.

Er zeichnete sich in weltanschaulichen Diskursen durch Standfestigkeit aus. Die Schüler hatten nicht das notwendige Wissen, um ihn in eine Schublade packen zu können. Sie spürten aber, dass ihnen in Dr.Müller eine Person gegenüberstand, die Visionen und Ziele des Humanismus, für die er sich entschieden hatte, mit Eindeutigkeit vertrat.

Dieses „ja … aber“ der Älteren, dieses zwanghafte Rechtfertigen, das Erklären vermied, dafür die Rolle des Opfers nahelegte, behinderte eine Erziehung zur standfesten Haltung, zum Neinsagen-Können.

Der Lehrer war in einer Familie mit sozialdemokratischer und christlicher Tradition aufgewachsen. Wegen eines Rückenleidens war er nicht wehrtauglich und verbrachte die Kriegsjahre in Mannheim. So war er nicht der Entscheidung ausgesetzt, Wehrdienst zu leisten oder den Kriegsdienst verweigern zu müssen, was Verhaftung und Todesstrafe bedeutet hätte.

Im privaten Gespräch, das Franz gesucht hatte in seiner Ratlosigkeit angesichts staatlicher Präsenz im Juni 1967, erzählte Müller von seinen Kontakten zu Martin Niemöller und seine Zugehörigkeit zur Bekennenden Kirche, die Lebensgefahr barg und Hoffnung gab.

Kirche im Nationalsozialismus – Franz hatte sich nie dafür interessiert und wurde offen für die Bewältigung von Zwängen in einem gesellschaftlichen Ausschnitt aus dem Leben zwischen 1933 und 1945.

Er hatte im Familienstammbuch seiner Eltern den Begriff ‚Deutsche Christen‘ kennengelernt.

Franz erzählte Martin von der Begegnung mit dem früheren Lateinlehrer und war erstaunt, dass Martin diese Bewegung aus der Zeit des gleichgeschalteten Deutschland bekannt war.

„Vielleicht war die Wirkung dieser Zeit und die Zugehörigkeit zur Bekennenden Kirche in Müllers Leben, die seine Person so glaubwürdig machte. Morbus Scheuermann, der diesen langen Kerl so gebeugt aussehen lässt, hatte ihm die Möglichkeit gegeben, nicht zu zerbrechen – so oder so.“ Der Blick des Mediziners.

Die beiden Studenten fragten sich, auf welche Weise die Mitglieder der Bekennenden Kirche, die überlebt hatten, sich 1945 in der Gesellschaft zurechtfanden. Einige waren hatten ihr Pastorenamt wieder aufgenommen, andere waren an Schulen und Hochschulen zurückgekehrt.

Und sie überlegten, wie Inhalte, die die Bekennende Kirche in den Jahren zwischen 1934 und 1945 entwickelte, über den jährlichen evangelischen Kirchentag hinaus in die evangelische Kirche nach dem Krieg hineinreichten. Sie wussten dazu nur, wie sie selbst die Kirche erfahren hatten als Heranwachsende und fanden wenige Fragen beantwortet.

Als Schüler hätten sie fragen können, der Lehrer hätte sich vielleicht gefreut an ihrem Interesse und sie sahen ihn auch jetzt noch kompetent und glaubwürdig für eine Antwort.

Sie fühlten aber beide, dass ihnen die Spuren des Kampfes, den die evangelische Kirche als ein weltanschaulicher Fähnleinträger der bundesdeutschen Gesellschaft mit sich selbst möglicherweise führte, dann doch nicht so wichtig waren wie die Spuren, die ihnen ihre Gesellschaft als zerrissen und ziellos erscheinen ließen.

„Vielleicht nimmt Müller an unserer 10-jährigen Abiturfeier 1975 teil“, Martin äußerte, wie so oft, einen Gedanken, der einfach Freude hinterließ.

Franz hatte noch nicht darüber nachgedacht, ob er überhaupt eine solche Erinnerungsfeier wünschte; er hatte, nachdem er das Abitur und seinen Wehrdienst abgeleistet hatte, nicht mehr an seine eigene Schulzeit gedacht und durch sein Berufsziel Lehrer ‚Schule‘ als Institution neu zu bewerten gelernt.

Die letzten Tage des Jahrzehnts verbrachte Franz in Heidelberg, um die Seminararbeit abzuschließen. Er freute sich auf die Silvesterfête im SDS-Büro im Marstallcafé.

Das Jahrzehnt, in dem er Abitur gemacht hatte und das um ihn herum so anders begonnen hatte: eine Gesellschaft, entschlossen, sich in dem von Adenauer und der CDU gestrickten Normengefüge einzurichten; ein kleiner Verband von Intellektuellen, der literarische Flagge zeigte, die Gruppe 47. 1962 erstmals eine Solidarisierung in der Bevölkerung, als Strauß staatliche Macht gegen ein Presseorgan auffahren ließ. Ein bisschen war schon Elvis Presley gewesen, auf einmal die Beatles und mit ihnen längere Haare und die Rolling Stones und mit ihnen die Musik seiner Generation, rauer, ehrlicher und brillant. Die Studenten, zuerst in Berlin und Frankfurt, dann in Frankreich, Italien und den USA; es schien für eine kurze Zeit so viel möglich geworden!

Sein Studienplatz war in Heidelberg. Wie er und seine Mutter für ihn geplant hatten, das schien unaufwändig; er konnte zuhause wohnen und lernen und nutzte den Öffentlichen Personennahverkehr, um die Lehrveranstaltungen zu besuchen. Er hatte zunächst nicht das Gefühl, in der Loslösung vom Elternhaus größere Unabhängigkeit gewinnen zu wollen, ganz im Gegenteil, der Universitätsbetrieb verunsicherte ihn, er wusste nicht, wie er mit den Verpflichtungen umzugehen habe, deren Einhaltung niemand kontrollierte. Er fand sich in den Örtlichkeiten der einzelnen Institute nicht zurecht. So war er zufrieden, wenn er sich am Ende des Tages wieder in der vertrauten Umgebung seiner Familie, seiner Freunde und seinen Lieblingsorten, wie dem Jazzkeller in der Breiten Straße, wiederfinden konnte.

Franz nahm aber im Laufe des ersten Semesters wahr, dass die anderen Erstsemester seiner Fachrichtung, die nicht mehr bei der Familie wohnten, in die Vorlesungen und vor allem in die Seminare gemeinsam Erlebtes hineintrugen. Ihre Gruppen boten Seilschaften, Nähe, Bindung, ein eigenes Innenleben, und lonesome rider Franz fühlte sich draußen.

Wenn er einen Zug der OEG nach Heidelberg benutzte, sah er Menschen, die zur Arbeit fuhren, Schülerinnen, die lärmend in Wieblingen ausstiegen, er sah auf dem Bismarckplatz Polizisten den Straßenverkehr regulieren, Verkäuferinnen in einer Bäckerei Brötchen in Tüten füllen, um ihn herum hatten die Menschen einen Platz in der Wirklichkeit und sie bewegten sich mit Selbstverständlichkeit. Er sah diesen Platz für sich nicht, er fühlte sich für nichts nötig, vielleicht sogar störend, von niemandem gebraucht – schon gar nicht von jemandem, der ihm etwas bedeutete.

Er stellte sich nach dem Zimmer-Angebot eines Mitmarschierers bei der Ohnesorg-Demonstration, den er im verbotenen Hauptstraßendemonstrationszug wiedergetroffen hatte, zum Bewerbergespräch in der Sandgasse ein. Zu den Fragen zu seiner Person, die die drei Kommilitonen – keine Kommilitoninnen dabei, wie Franz bedauernd feststellte –, deren Beantwortung die drei nicht sonderlich interessierten, kamen solche, die einen konkreten Bezug zum SDS hatten: „Wenn du bei uns einziehst, würdest du dann auch in den SDS eintreten?“ Franz hatte sich nie so recht mit den Inhalten, die die einzelnen studentischen Verbände voneinander trennten, befasst. Er begriff, dass die Übernahme des Zimmers von seiner Bereitschaft zur Mitgliedschaft abhing und dass das erste S im Namen des Studentenbundes „sozialistisch“ bedeutete. „Ich würde eintreten, wenn ihr für heute akzeptieren könnt, dass ich das Kapital noch nicht durchgearbeitet und auch sonst von Marx nur ein paar Aufsätze gelesen habe“. Sie verschonten ihn mit den Glaubensfragen der Diktatur des Proletariats, der Notwendigkeit der drittelparitätischen Besetzung der Univer sitätsgremien und seiner Einstellung zum parlamentarischen System.

Zum Wintersemester 1967 zog er in die Wohnung in der Sandgasse ein und war froh über die gewonnene Unabhängigkeit von der Familie.

Er hatte sich, wenn er sich bei seiner Mutter aufhielt, unangenehm leichtgewichtig gefühlt, zwar ständig für Kleinigkeiten in Anspruch, aber nicht wahrgenommen in der Aufgabe, die er in dieser Zeit zu bewältigen hatte, seinem Studium. Durch die SDS-Zugehörigkeit geriet er in neue Abhängigkeiten; denn mit der Mitgliedschaft wurden an den Genossen hohe Erwartungen an Aktions- und Arbeitsbereitschaft gestellt. Es gelang halbwegs die Anforderungen der Universität zu erfüllen, zumal am Historischen und Germanischen Institut der Lehr- und Forschungsbetrieb reduziert war. Politischen Entscheidungen auf Landes- und Bundesebene, ja sogar in der Kommunalpolitik (Erhöhung der Straßenbahn-Gebühren!), forderten zumindest Stellungnahmen. Zudem hatte Franz eine Menge theoretischer Lektüre zu bewältigen, Ernest Mandel und Marcuse, Abendroth, Adorno. Ja, und eben, die drei Bände des Kapital von Karl Marx in Arbeitsgruppen, deren hohe Anforderungen an seine Vorkenntnisse und sein Abstraktionsvermögen ihn schwindelig werden ließen.

Seine Mitbewohner der WG und die anderen Mitstreiter der Aktionen vom Tage traf er abends in der ‚Orange‘ in der Altstadt, ganz selten waren sie im Club ‚Kosmodrom‘ im Pfaffengrund. Franz wollte dann eigentlich nur tanzen und ein Henninger trinken, ja und ganz sicher auch andere Gesichter sehen, vor allem weibliche.

Der SDS und die Frauen – Franz war sauer: Hier versagte die revolutionäre Praxis. Auch in der Theorie kamen Frauen eigentlich nicht vor. Frauen wurden vom SDS in jenen Jahren nur als Erzieherinnen im Kinderladen wahrgenommen. Und als verdinglichendes Organ in der Schmiede egalitärer Weltentwürfe – sprich: sie durften nachher die Texte tippen. Und vielleicht war die freudlose Innerlichkeit der Specula-Zirkel in jenen Jahren ein zaghafter Versuch der Frauen sich und ihrer Körperlichkeit Einzigartigkeit abzuringen.

Franz war kein ausgewiesener homo politicus. Er hatte gelernt, Zusammenhänge auf ihre gesellschaftlichen Wurzeln hin zu betrachten, aber er wollte nicht immer nur analysieren und Vorgänge vor dem Hintergrund des dialektischen Materialismus wahrnehmen. Er vermisste in all den ernsthaften und von der einzigen Wahrheit durchdrungenen Bemühungen die kleinen Abweichungen, Kurven, Verästelungen, die menschliches Leben gestalten und auch die Beziehungen zwischen den Menschen. Und er war ein Abweichler, der die Gewaltfrage für sich keineswegs gelöst hatte; auch nicht im Bewusstsein ihres Einsatzes gegen die Ursachen und vermeintlichen Verursacher der sozialen Ungleichheit.

Die Antworten im Heidelberger SDS zu tagespolitischen und organisatorischen Fragen und zu denen des theoretischen Überbaus wurden wahrnehmbar uneinheitlicher. In gemeinsamen Aktionen ließ sich vordergründige Gemeinsamkeit herstellen, in nacharbeitender Diskussion gerieten die Argumente zu Waffen ad personam. Die Standpunkte drifteten auch auf Bundesebene zum ideologischen Krieg, der Bundesvorstand löste sich im

März 1970 auf. In Baden-Württemberg nahm das Innenministerium die Vorgänge um den Besuch McNamaras in Heidelberg, - von der lokalen Presse als ‚Straßenschlacht‘ umschrieben -, zum Anlass, in einem summarischen Vorwurf festzustellen, der SDS habe das demonstrationsrechtlich Erlaubte auch in früheren Aktivitäten überschritten, seine Ziele seien mit denen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht vereinbar. Der Verband wurde mit Verfügung der Innenbehörde vom 24.06.1970 verboten.

In diesem Sommer schien es für Franz und Susanne selbstverständlich, die Ferien miteinander verbringen zu wollen. Sie konnten sich viel Zeit nehmen und planten, mit Susannes Käfer den italienischen Stiefel mit Ziel Sizilien zu umrunden, Franz‘ Sehnsuchtsort, seit er den „Leopard“ von Giuseppe Tomasi di Lampedusa gelesen hatte. Der Autor hatte in dem 1958 erschienenen Roman des 19. Jahrhunderts die italienische Gesellschaft des 20. Jahrhunderts analysiert, hatte in den Zugeständnissen des Adels an die Bourgeoisie deren Entwurzelung, die später in Massengesellschaft und Diktatur mündete, beschrieben. Und er hatte den Zauber des Inselinneren mit der Handlung so verwoben, dass Franz sich in der Wärme und der staubigen Luft wahrnahm, umgeben von Stille und den gedämpften Farben – sein Sizilien!

Der Weg war lang für Auto und Fahrer. Als sie endlich auf der Fähre nach Messina von Villa San Giovanni aus angekommen waren, erlebte Franz sich neben sich selbst, so sehr hatte er sich hierher gewünscht. Susannes Gegenwart und ihr Arm auf seiner Schulter verhießen Wirklichkeit, und vor allem, geteilte Empfindung.

Die vergangenen Monate waren intensiv gewesen, ihre Beziehung war, seit sie sich in der Kanzlei in der Handschuhsheimer Landstraße kennengelernt hatten, geprägt von außerhalb gelegenen Anforderungen. Sie erlebten sich in diesen Wochen erstmals ohne die Rückzugsmöglichkeit durch eine Inanspruchnahme von Dritten.

Nachdem Susanne im Sommer 1969 sein Mandat übernommen hatte, waren sie sich im September auf der Hauptstraße begegnet und hatten einen Kaffee im Garten des Kurpfälzischen Museums getrunken. Hier saß man mitten in der Stadt, in einem Garten um ein Rondell, es waren nur das fallende Wasser des Springbrunnens und Vogelstimmen zu hören. Ein poetischer September, hochsommerlich warm und sonnenbeschienen, erntereich. Später verabredeten sie sich zu einem Spaziergang an der Bergstraße, dort entlang, wo aus der Ortschaft Handschuhsheim ein riesiger Garten bis hinauf in den Odenwald wird. Sie entdeckten ihre gemeinsame Freude an dem weiten Blick über die Rheinebene, und dass sie beide ein Leben am Meer dem in den Bergen wegen der vielen -sichten vorzögen. Ansicht, Durchsicht, Weitsicht.

„Die Worte mit –sicht haben oft so etwas Verträgliches: Umsicht, Rücksicht, Einsicht, Nachsicht“, und dann fielen ihnen noch ein paar –sichten ein, die sich nicht zuordnen ließen, wie Vorsicht und Absicht. Und als Lateiner setzten sie noch eins obendrauf, von Lessing auch so erkannt: Man könnte doch den Respekt wiederum recht verträglich als Rücksicht wörtlich übersetzen!

Franz setzte seine Brille ab und stellte fest, dass er seine Kurzsichtigkeit nicht hilfreich fand. Sein Blick erreichte Susanne, er fühlte sich durch die Entdeckung gemeinsamen Empfindens angenommen.

Später lud Susanne Franz zu einer Betriebsfeier in der Kanzlei ein – zunächst als Klienten.

Auf halber Höhe von Taormina ließen sie den Käfer stehen und folgten dem Kletterpfad, der die asphaltierten Serpentinen abkürzte. In einer Straße abseits des Corso Umberto trafen sie auf ein Hotel im schlichten und reinen Jugendstil, das auch noch ein Zimmer für sie – ohne Bad - bereithielt. Susanne war es nun, die Franz in ihre Begeisterung einbezog. Frühstück auf einem Balkon mit Blick auf die Gärten Taorminas, die Giardini-Bucht und den gewaltigen Ätna, gesichert von einem wackeligen Metallzaun, an dem keine Gewerbeaufsicht und keine Baupolizei herumgepfuscht hatte, der einfach schön und wie die Architektur des Hauses aus der Zeit der Jahrhundertwende stehen geblieben war. Innen, die strenge stilistische Einheit des Nussbaum-Mobiliars, von silberfarbenem Zierrat und den Lampen mit Original-Schirmen in farbigem oder transparentem Glas, den Guss-Öfen und einem floral verkleideten Speisenaufzug wurde durchbrochen durch den darüber thronenden riesigen Plüsch-Orang Utan Beppino.

Sie verabschiedeten sich von den Schwestern Consolo, die das Hotel führten, und verließen Taormina. Den Süden und Westen der Insel wollten sie nicht in unangemessen kurzer Zeit kennenlernen und verzichteten für dieses Mal auf den Besuch der Heiligtümer der einstmals dort angelandeten Griechen.

Ihr Weg führt am Ätna vorbei nach Catania und hier verließen sie die Küste. Im Landesinneren, wo das Licht des Hochsommers die Farben verbrannt hatte, glaubte Franz die Seele der Insel zu spüren: Olivenhaine, Weinhänge, Weideland, Zitronenbäume über sanft hügelige Landschaft bis zum Horizont verbinden Reife und Vergänglichkeit im Drängen der afrikanischen Sonne. Mag sein, dass im Versprechen der grünen Wintermonate Franz „sein“ Sizilien nicht gefunden hätte.

Die Frage nach den eigentlichen Landeigentümern, die hier durch ein ländliches Proletariat die riesigen Latifundien beackern und einen großen Teil des italienischen Bedarfs an Hartweizen zur Herstellung der pasta ernten ließen, wäre hier im Landesinneren drängender geworden. Die Mafia tauchte in ihren Gesprächen nur als folkloristischer Partikel auf, und doch konnten sie aus den Lebensverhältnissen der Bodenbearbeiter schließen, wie das süditalienische Wirtschaftsleben und damit auch politische Entscheidungen von diesen Machtstrukturen dominiert waren.

Im von abgeernteten Ackerflächen umgebenen Felsenort Enna nahmen sie in einer Trattoria die cena ein, Wachspapiertischdecken, leicht verbogenes Besteck, trübe Gläser, eine Ménage mit Olivenöl, die Box mit den herausziehbaren Papierservietten. Von irgendwoher Adriano Celentano, Chi non lavora non far l’amore, dessen Melodie sie an den Hit von 1969 aus der Antivietnamkriegs-Bewegung erinnerte, All we are saying, is give peace a chance.

Calogero, der Wirt, brachte ungefragt eine Karaffe Wasser und Weißwein und zählte das Speisenangebot auf, und sie konnten von hier oben bei abendlichem Licht bis weit auf die Vorgebirge der Insel blicken.

Im folgenden Wintersemester wollte Franz die Aktivitäten seiner inzwischen verbotenen Organisation auf der Ebene der Öffentlichkeitsarbeit weiterführen, indem er mit früheren SDS-Genossen versuchte die Bevölkerung, insbesondere die werktätige Bevölkerung, in die Reaktion auf tagespolitische Entscheidungen der Bundesregierung einzubinden. Sie standen zu Schichtbeginn an den Werkstoren der großen Mannheimer Fabriken. So wartete Franz am Altrhein auf den Schichtwechsel bei Boehringer Mannheim. Er fröstelte, er hatte das Gefühl eine viel zu große Jacke zu tragen, die erlaubte, dass der Wind überall hindurchpfiff. Hatte Lenin in seiner Vorstellung der Verbindung von kollektiven Erfahrungen der Werktätigen mit denen der Intelligentsia ihn in seiner Jacke zusammenschnurren lassen? Das Leninsche Parteikonstrukt schien ihm in dieser ‚Szene vor dem Tor‘ abhängig zu sein von der Gutwilligkeit der Mitspieler und Franz war der Zaungast, der mit geschwätziger Demut Respekt forderte.

Der Wörterfluss ließ Franz spüren, je mehr er guten Willens wurde angesichts der Gleichgültigkeit und der Geringschätzung der ‚Genossen‘, desto gestaltloser wurde – schon sprachlich - das ganze Unterfangen.

Er versuchte es noch einmal, die Nachtschichtler von Boehringer Mannheim erschienen müde am Werkstor, grüßten ihn freundlich. Franz wurde von einem Kollegen wiedererkannt, der, um eine längere Erklärung von Franz zu unterlaufen, sogleich in breitem Pfälzisch die Welt gerade rückte: „Weescht, do weeß keener mehr, wo hinde und vorne is. Des beschte wär, wann uff e kurzi Zeit Blizz un Dunner käme und däde uffräume. Blos for e ganz kurzi Zeit!“ Franz hörte in diesen Worten die Verunsicherung der Bevölkerung zwischen dem Protest der Studenten und der staatlichen Ordnung, die sie umgab. Er fror und er fühlte sich weit weg und, wieder einmal, überflüssig.

Die Genossen arbeiteten in Zellen, die in immer härteren Auseinandersetzungen zu verdrängen versuchten, dass sie alle der Studentenbewegung entstammten und noch immer keine Wurzel gefunden hatten zur Wirklichkeit. Die Dialektik ihres Materialismus fand statt im luftleeren Raum der Ideologie. Und im Versuch, die eigene Gruppierung zu erhalten, entfernten sie sich umso mehr von der Gesellschaft. Sie demonstrierten nicht mehr mit dem Hinweis auf Gegebenheiten, die verändert werden mussten; Demonstrationen fanden als Mittel zur Selbstdarstellung statt; man marschierte streng getrennt nach Blöcken.

Franz resignierte, verlor zunehmend den Kontakt zu den Genossen und vergrub sich in den Anforderungen der Lehramts-Prüfungsordnung. Lange bastelte er an seiner Hausarbeit für das Erste Staatsexamen, wobei Hartmut, der Assistent am Lehrstuhl Conze, ihn in der Ausarbeitung seiner These über ein innenpolitisches Thema zur Reichsgründung 1871 unterstützte. Im März 1972 hatte Franz die erste Lehramtsprüfung bestanden und freute sich auf das Referendariat.

Er war durch das Oberschulamt Karlsruhe als Referendar dem Hölderlin-Gymnasium zugewiesen worden. Ein ehemaliges Mädchengymnasium, das sich seit 1972 der Koedukation geöffnet hatte. Die Schule lag mitten in der Stadt, schön für alle Beteiligten, außer für die jeweils Pausenaufsicht führenden Kollegen. Franz war einer Quarta im Fach Deutsch und einer Obertertia in Geschichte zugeteilt. In diesen Jahrgangsstufen hatte er eigenverantwortlich zu unterrichten, in einer Untersekunda hospitierte er. Ach nein, diese Jahrgangsbezeichnungen waren nicht mehr in Gebrauch! Das „Hamburger Abkommen“ hatten schon 1964 mit der Aufhebung der gesonderten Bezeichnungen der gymnasialen Klassenstufen eine formale Vereinheitlichung des bundesdeutschen Schulwesens im Blick. Alle Beteiligten, auch die Schüler, holperten zwischen oberund unterrömischen Ordnungszahlen, und der Zählweise von der fünften bis zur dreizehnten, hin und her, und jeder wusste, was gemeint war.

Franz stürzte sich mit besonderer Freude in die Vorbereitungen für den Unterricht in Geschichte; das Generalthema für die 9. Klasse handelte vom „Widerstreit der Ideologien und Systeme im 20. Jahrhundert“. Er plante die Einbindung der Vorstellungskraft der Schüler als Gestaltungselement in der Wissensvermittlung. So forderte er zu Beginn einer jeden Unterrichtsstunde einen Schüler auf, sich in eine Person in einer gegebenen Situation mit einem gegebenen Ziel zu versetzen. „Stell dir vor, du seist heute als Kind aufgewacht, das unbedingt zur Schule gehen möchte. Deine Eltern möchten dich aber lieber als Helfer in der Landwirtschaft zuhause behalten“. „Stell dir vor, du seist ein Maler, der den Kaiser portraitieren soll“. „Stell dir vor, du möchtest als Mädchen Abitur machen, aber es gibt noch keine Gymnasien für Mädchen“. Je weiter sie im historischen Zeitraum des 20. Jahrhunderts fortschritten, desto mehr Gestaltungskraft entwickelten die Schüler für ihr Handeln in den Was-wäre-wenn-Situationen. Franz ließ sie mitunter ihren Rollen auch unrealistische Autonomie zumessen, wenn sie die Durchsetzung der von ihnen entwickelten Ziele erzwingen oder schon in den Anfängen Barrieren einreißen wollten. Die Neuntklässler fanden noch immer eine Möglichkeit, sich innerhalb der gedachten Bedingungen dem Gelingen ihres Vorsatzes zu nähern.

Anders war es, wenn Franz keine Zielvorgabe nannte, sondern die Schüler einfach in einer Zeit, an einem Ort „aufwachen“ ließ, mit dem sie aus ihrem im Unterricht erworbenen Vorwissen selbst die veränderlichen Größen verbinden sollten. Er erwartete dann von ihnen viel Phantasie für die Gestaltung des Lebensumfeldes der gedachten Person. „Stell Dir vor, du seist als Kind arbeitsloser Eltern in den späten 20-er Jahren aufgewacht“. „Du seist ein Kind von russischen Bauern“, „Du seist Erstwähler bei der Reichstagswahl im März 1933“, - Franz hielt inne, erschrocken von der Vorstellung auch nur gedanklich in die vergangene Wahnwelt abzutauchen und unterbrach das Szenario. Er wusste, dass diese Methode den Militärs abgeschaut war, dass in ihr auch mit Vorurteilen gearbeitet wurde. Er setzte sie dennoch ein, weil den Schülern das Assoziieren innerhalb eines gegebenen Rahmens Spaß machte und weil sie, emotional berührt, am Ende vielleicht doch kritischer mit ihren Vorurteilen umgingen.

In der Zeit des Referendariats war Franz bei sich. Viele seiner Kommilitonen klagten über zu starke Beanspruchung, Kontrollen und Bewertungen. Franz wirkte straffer und seiner sicherer, er wusste, er würde den Anforderungen gerecht und das mit Vergnügen! Der Austausch mit den Jugendlichen, das Vermitteln von Kenntnissen und ihre Einarbeitung in die kindlichen Horizonte, die Anforderungen an seine Beständigkeit waren wichtig für ihn. Seine Freunde, Susanne und Martin vor allem, erlebten Franz jetzt berufsbezogen, er fühlte sich dazugehörig, hatte mit seiner Aufgabe für sich und die anderen an Gewicht gewonnen. Franz teilte, wenn sie von Ereignissen und ihrem handling berichteten, die Freude des professionalisierten Umgangs mit den Problemen und Wünschen anderer Menschen. Susanne spezialisierte sich im Verwaltungs- und Sozialrecht, Martin war im letzten klinischen Semester.

Im Sommer 1974 legte Franz seine zweite Lehramtsprüfung mit einem ordentlichen Ergebnis ab. Er wollte, bevor er sich beim Oberschulamt Karlsruhe auf eine Planstelle als Gymnasiallehrer – möglichst in Heidelberg - bewarb, mit seinem Freund aus Kinderzeiten, Andreas, einen Wunsch aus Kinderzeiten verwirklichen, per Anhalter nach Indien. Die Route hatten sie in Gedanken oft entworfen, sie wollten über die Türkei, Persien, Westpakistan nach Rajastan einreisen und von Delhi aus zurückfliegen. Auch auf dem Hinweg mussten sie, wenn nur noch Militärfahrzeuge auf den Pisten durch karstige Gebirge und die Wüsten fuhren, öffentliche Verkehrsmittel nutzen.

Franz mochte diese Reisemöglichkeit, obwohl sie ihr Budget belastete, da sie ihm die Gelegenheit bot, Kontakt mit Mitreisenden aufzunehmen. Andreas war es egal, ihn schien nicht zu kümmern, wo er war, kletterte hinter Franz in von ihm organisierte Fortbewegungsmittel und stimmte sich, wenn sie nicht fuhren, am Straßenrand flötespielend auf Indien ein. Dort verloren sie sich.

Franz buchte ein Ticket nach Frankfurt und war zur vorgesehenen Zeit wieder in der Bundesrepublik; glücklich, mit seiner Kindheitssehnsucht mitgeflogen zu sein, vor allem aber nachdenklich. Er hatte Augenblicke mit fremden Leben geteilt, war Gast im Reich des kleinen Muck und der Märchen aus 1001 Nacht und später in den Farben und Bräuchen einer tief religiösen Gesellschaft, bis er aus seiner Verzauberung erwachte und wahrnehmen musste, wie Hunger und mangelnde Hygiene die Menschen niederzwang.

Franz bewarb sich nach seiner Rückkehr am Oberschulamt Karlsruhe um einen Arbeitsplatz als Lehrer an einem Heidelberger Gymnasium, ja, „das Hölderlin“ wäre geneigt, ihn ins Kollegium aufzunehmen. Im Februar 1975 dann die Ablehnung nach der Anhörung zu Beginn des Jahres mit Hinweis auf Zweifel der Behörde an der freiheitlich-demokratischen Standfestigkeit des Bewerbers.

Susanne vertrat ihn anwaltlich, zunächst im Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid, und, weil der Widerspruch abgewiesen wurde, im Klageweg gegen die einstellende Behörde vor dem Verwaltungsgericht.

Behörden- und Gerichtsentscheidung zogen sich über Monate hin, er lebte in dieser Zeit von Arbeitslosenhilfe. Wenig Geld zur Verfügung zu haben, war er gewohnt. Was ihm zu schaffen machte, war diese Statusunsicherheit, und, damit verbunden, fühlte er sich wieder als Luftnummer, nutzlos und ohne Gestalt.

War er unterwegs, nahm er Menschen wahr, die alle ein Ziel, ein Werk zu erfüllen schienen; war er zuhause, wurde er unruhig, weil er unablässig auf etwas wartete: Den Frühling, die Rückkehr von Martin aus der Klinik, eine Verabredung mit Susanne, Post im Briefkasten.

Zehn Tage nach Erscheinen seines Angebotes, eine Biographie zu schreiben, erreichte ihn tatsächlich ein dicker Umschlag mit dem Freistempel der DamS. Martin hatte 24-Stunden-Dienst gehabt und war gerade nachhause gekommen. „Ja, und, gibt’s Leute, die dich und deine Gestaltungskünste in Anspruch nehmen wollen?“ „Es waren drei Zuschriften. Eine Frau war dabei, die ihrem Ärger Luft machte, dass alle Leute sich so wichtig nähmen und gleich ihr bisschen Leben der Umwelt mitteilen müssten“. Martin schluckte, als stimme er dieser Ansicht zu. „Und?“ „Und noch eine Frau, und sie teilt mit, sie habe so viel erlebt, dass es mich auszeichnete die Schilderung ihres Lebens aufschreiben zu dürfen, wofür zu zahlen sie nicht bereit sei. Über die Beteiligung an den Tantiemen könne man später sprechen“. „Spannend! Franz Ghostwriter!“ Franz fühlte sich nicht ernst genommen von Martin und wollte nicht weiter berichten. „Und Nummer drei?“

Franz reichte Martin den Briefumschlag, „lies selbst“.

Und Martin las „Werter Inserent! Ihre frdl. Anzeige hat mein Interesse gefunden. Habe einen langen Lebensweg hinter mir. Ich könnte Sie anrufen. Bitte Nummer und Bestzeiten mitteilen. Hochachtungsvoll, Klaus Marquardt, Braunschweig“

Martin und Franz schwiegen, beide vermutlich, weil die ganze schwergewichtige Wirklichkeit als Folge eines Gedankens in ihren Köpfen Platz genommen hatte und mehr von ihnen forderte als scharfe Analyse und ein schnelles Statement. Es war ein Mensch in ihr, vor allem in Franz‘, Leben getreten, der Franz‘ Angebot als ein Versprechen gedeutet hatte.

Klaus

Klaus zog die Tür hinter sich zu. Er fühlte ganz kurz noch die Blicke der Zurückgebliebenen, zog die Schultern hoch von dem Kältegefühl des Januarnachmittags oder auch in Unschlüssigkeit, weil er einen kleinen Moment einfach nicht weitergehen, sondern einfach stehenbleiben und seinen nächsten Schritt nochmal überdenken wollte. Er blieb nicht stehen, zu überdenken blieb nichts, was er nicht reichlich abgewogen und bedacht hatte. Er wusste, was ihn frösteln und in sich verkriechen ließ, war die Zäsur, Schnitt, Ende. Das Ende seines Berufslebens, das Ende seiner unternehmerischen Selbstständigkeit, die Beendigung des Tagesprogrammes, das ihn 25 Jahre koordiniert hatte. Sein Unternehmen behielt seinen wohl eingeführten Namen, Dentallabor Marquardt, das bei den Auftraggebern einen Qualitätsstandard gesetzt hatte. Die Gesellen und Lehrlinge wurden alle vom ablösenden Inhaber übernommen und Klaus selbst stellte der Innung weiterhin seine Erfahrung zur Verfügung.

Er hatte es gewusst, immer gewusst, dass es ihm schwerfallen würde, die Verantwortung abzugeben und das von ihm Geschaffene einem anderen zu dessen Disposition zu überlassen, mit der sogar sein guter Name als Zahntechnikermeister verbunden werden sollte. Aber er wusste auch, dass es nicht das Loslassenmüssen war, das ihn schmerzte, sondern, dass der Blick in die Zukunft, in das Danach, schon der ins Morgen, auf Nebel stieß. Wenn er stark und zuversichtlich schaute, schien diese Nebelwand kostbar-halbdurchsichtig mit dem Versprechen von Neubeginn in Unabhängigkeit, mit Planungsfreiheit auf sicherem wirtschaftlichem Boden; meist aber bot seine Altersperspektive aus seiner Sicht nicht mehr als gesundheitliche Attacken, bestenfalls größer werdende Schwäche, in Arztpraxen verplemperte Zeit, bestenfalls Langeweile.

Klaus wandte sich nach links, bog um die rechtwinklige Kurve des wilhelminischen Ringes, in der der schon dämmrige Hagen- zum Rebenring wird, und war geblendet vom Licht der tiefstehenden Sonne. „So kann ein Januartag auch werden“, dachte er, und blinzelte lächelnd.

Die Firmenübergabe war zum 01. Januar 1976 abgewickelt worden, Klaus hatte an diesem 14. Januar noch einmal das Labor aufgesucht, Einzelheiten waren noch zu klären und ein allerletztes Abschiednehmen von seinen Angestellten und den zwei Lehrlingen hatten ihm bevorgestanden. Hier, in seinen Geschäftsräumen gab es für ihn keine Zukunft, kein Planen, kein Entwickeln mehr, er konnte den jetzigen Zustand nicht mehr optimieren.

Dieses Wissen durchfuhr seinen Körper, und jetzt wusste er es wirklich, und seine Hände wurden unruhig. Die Auszubildenden träfe er als Vertreter der Arbeitgeber anlässlich ihrer Gesellenprüfung im Prüfungsausschuss der Innung. Sein angestellter Meister, Peter Ihme, hatte das Labor übernommen, man würde sich am Stammtisch der Zahntechnikermeister im Deutschen Haus wiedersehen. Die beiden Gesellen, Wolfgang Fischer und Lothar Firneis – Wofi und Lofi, waren nicht unglücklich über den Eigentumsübergang, da sie zuvor schon mit Peter zusammengearbeitet hatten und ihn schätzten. Klaus schluckte, als er ihnen die Hand reichte. Die drei hatten mit ihm das Gütesiegel der Marquardtschen Firma erwirtschaftet; die Zusammenarbeit war Austausch und Freundschaft. Klaus war sich im Klaren darüber, dass die Distanz, die er gleichwohl zwischen sich und ihnen spürte, nicht nur ein vertikales Problem, Ausdruck der Hierarchie, des Unüberwindbaren im Herr- und Knecht-Verhältnis war, er wusste auch, dass sie sich ganz handfest aus unterschiedlichen Vorstellungen über die Bewertung ihrer Leistung, aus abweichenden Erwartungen über die Lohnhöhe geschaffen hatte. Es gab keinen Tarifvertrag in seinem Gewerbe, für die Einrichtung eines Betriebsrates, der sich für höheres Arbeitsentgelt und die Hebung von betrieblichen Sozialleistungen nachdrücklicher einsetzen könnte, war die Zahl der Mitarbeiter in seinem Betrieb grenzwertig. Alle zahntechnischen Labore in Braunschweig waren vergleichbar klein.

Das Entlohnungsniveau war ebenfalls, und nicht zufällig, vergleichbar. Und das war sein eigentliches Problem: Wenn er Lofi oder Wofi oder auch seine Lehrlinge überpudert vom Gipsstaub der Schleifarbeiten Kraft und Geschicklichkeit einbringen sah, fühlte er etwas wie Solidarität, und war stolz, mit ihnen den Qualitätsstandard für die Firma Marquardt erreicht zu haben. Er und Peter Ihme hatten die Angestellten in die hohen Maßstäbe mit hohen Anforderungen eingearbeitet. Zahnarztpraxen aus Braunschweig und aus dem Umland beauftragten sein Unternehmen zur Anfertigung von Zahnersatz; auch seine Töchter, die beide Zahnärztinnen geworden waren, forderten, aus Lehrte die eine, aus Wolfenbüttel die andere, seine Arbeiten an. Klaus zeigte sich seinen Angestellten gegenüber in gelegentlichen Gratifikationen erkenntlich und dann war auch für ihn die Welt in Ordnung, aber sie waren nichts, womit sein Personal am Monatsende rechnen konnte. Mehr noch, die Sonderzahlungen forderten gesonderten Dank der Empfänger, die hingegen in ihren regelmäßigen Lohnzahlungen einen mehr oder weniger angemessen Gegenwert für ihre Leistung sahen und sich bei der Entgegennahme des monatlichen Schecks nicht weiter äußerten. Mochte Ihme sehen, wie er die Leistung der Angestellten und die ungezählten Überstunden vergütete!

Klaus fühlte die Wärme der Helligkeit auf seinem Gesicht und beschloss, zu Fuß in die Innenstadt zu gehen. Zuhause wartete niemand auf ihn, der sein Befinden nach dieser Begegnung, die nicht mehr war als ein Besuch, mitfühlte. Seine Frau war 1970 in der Folge eines Unfalles gestorben.

Mit dem Tod seiner Frau war auch ein Stück Heimat aus seinem Leben gegangen. Er fragte sich, ob man Heimat wieder schaffen, zurückerobern könne, ob ihr Verlust unwiederbringlich sei. Und er spürte damals, ohne eine Antwort gefunden zu haben, dass er resignierte: „Nicht noch einmal!“ Nicht noch einmal aus einem Verlust mit aller Kraft auf wackeligem Boden und mit einem Gefühl verloren gegangener Haftung etwas schöpfen, das ihm in der Wirklichkeit nicht genügen konnte. Spätestens hier wurde ihm klar, dass das bürgerliche Umfeld, das er und seine Frau in Braunschweig geschaffen hatten, für ihn nie etwas Selbstverständliches geworden war. Selbstverständlich wie das Rückenpolster eines Sessels, einfach hineinfallen lassen, nicht nach Außenwirkung, nach Richtig oder Falsch fragen, nichts begründen müssen.