Zu spät kam die Zärtlichkeit - Susanne Bechstein - E-Book

Zu spät kam die Zärtlichkeit E-Book

Susanne Bechstein

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Beschreibung

Sie ist 68, trennt sich nach neunundvierzig Ehejahren von ihrem Mann, muss nach einem Herzinfarkt ins Krankenhaus und lernt auf der sich anschließenden Kur Rolf kennen. Für die Titelheldin öffnet sich ein neuer Lebensabschnitt, mit markanten Augenblicken und erstaunlichen Erfahrungen, die von der Kraft der Liebe zeugen und zu einer lebensbejahenden Einstellung im Alter führen.

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Susanne Bechstein

Zu spät kam

die Zärtlichkeit

Engelsdorfer Verlag

2010

Homepage:

susannebechstein.jimdo.com

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86901-840-9

Copyright (2010) Engelsdorfer Verlag Alle Rechte beim Autor Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)www.engelsdorfer-verlag.de

11,20 Euro (D)

Inhalt
Wenn mir jemand vor einigen Jahren...
Die Fahrt dauerte dreieinhalb Stunden...
Der Schwur

Wenn mir jemand vor einigen Jahren gesagt hätte, dass ich mich noch einmal so richtig verlieben würde, hätte ich denjenigen ausgelacht und ihm geantwortet: „Aber nicht in meinem Alter.“ Denn inzwischen hatte ich die achtundsechzig Jahre erreicht und stand über den Dingen des Lebens.

Ich sah das nicht mehr für wichtig an und fand es auch etwas lächerlich, wo doch mein letzter Lebensabschnitt begonnen hatte.

Außerdem hatte ich mich endgültig von meinem Mann getrennt. Eine nicht einfache Entscheidung.

Zuvor nahm ich mir einige Auszeiten, immer geklammert an die Hoffnung, dass es nach der Auszeit besser zwischen uns werden würde. Doch ich irrte mich, kein Mensch kann über seinen Schatten springen. Das hatte ich ja schon alles in meiner Autobiographie geschrieben.

Aber wie das Leben eben spielt oder anders ausgedrückt: was der „da oben“ für einen vorgesehen hat. Trotzdem fragte ich mich, warum gerade jetzt? Wollte er mich entschädigen? Etwas gut machen, worauf ich immer hoffte?

Doch zuerst bekam ich eine Lektion erteilt, die mein ganzes Leben grundlegend verändern sollte.

Von einem Tag zum anderen wurde die starke Frau bestraft. Ja, ich fühlte mich als die Frau, die alles macht und kann. Doch ich überschätzte mich damit völlig.

Die kalte Hand griff nach meinem Herzen, so dass ich am dritten Oktober einen Herzinfarkt im Garten erlitt, aber erst einen Tag später zum Arzt ging. Von dort aus wurde ich per Rettungswagen ins Krankenhaus gefahren. Das Übliche folgte: Intensivstation und die Spritze, die mein Leben rettete. Noch am gleichen Tag bekam ich zwei Stents gesetzt. Ich hatte noch mal unwahrscheinliches Glück gehabt.

Von da an fasste ich den Entschluss: ab jetzt zählt nur noch mein Leben. Denn bis dahin stand mein Mann bei mir immer an erster Stelle. Nun beanspruchte ich den Platz für mich. Ich denke, dass mir der Rang nach all den Jahren auch zusteht.

Das sagt sich alles so einfach, denn ein halbes Jahrhundert kann ich nicht einfach auslöschen. Wenn ich wieder einmal am Heulen bin, versuche ich mir selbst Mut zu machen. Dann spreche ich mit mir selbst: Susanne, reiß´ dich zusammen und denke an die Worte deines Mannes, die er dir gegenüber äußerte, als er die Nachricht von deinem Infarkt erhielt.

Ich erinnerte mich an den vierten Oktober.

Ich wollte nicht weinen beim Arzt, aber was sollte ich machen? Ich verspürte einen Kloß im Hals und konnte nicht sprechen. Mein holder Ehemann saß draußen im Wartesaal und wartete auf mich. Als er wissen wollte, was mit mir los sei, ich aber nicht antworten konnte, weil mir die Tränen nur so über mein Gesicht liefen, verschärfte sich sein Ton sofort. Er wiederholte: „Kannst Du nicht sprechen?“ Nein, dazu war ich nicht in der Lage, so dass der Arzt ihn aufklärte. Inzwischen kam auch schon der Rettungswagen. Mein Mann begleitete mich in die Klinik. Auf der Fahrt dorthin hatte ich so sehr auf ein gutes Wort von ihm gehofft, wollte einfach etwas getröstet werden. Aber statt dessen Schweigen von ihm, kein liebes Wort. Es war wie zuvor in unserer Ehe. Ich fühlte mich alleingelassen mit meinem Schmerz.

Die Operation überstand ich gut, aber es müsste noch einiges am Herz gemacht werden, meinte der Stationsarzt zu mir. Bei der umfassenden Untersuchung stellte sich auch heraus, dass ich bereits einen Vorderwandinfarkt hatte, den ich nicht bemerkte. Der Kardiologe verwies darauf, dass so etwas öfter vorkommt und verabschiedete sich mit den Worten: „Wir sehen uns im Januar wieder.“

Dann ereignete sich etwas, womit ich nie gerechnet hätte im Leben.

Mein Mann klagte öfter über Herzprobleme, so dass wir schon mehrmals den Rettungsarzt anrufen mussten. Sie nahmen Ulli in die Klinik mit, wo er durchgescheckt wurde. Der Arzt konnte neben seinem hohen Blutdruck nichts Gravierendes feststellen. Weiterführende Untersuchungen lehnte mein Mann ab.

Zwei Tage nach meinem chirurgischen Eingriff klopfte es plötzlich morgens um sechs Uhr dreißig an meine Badezimmertür im Krankenhaus. Auf meine Frage, wer da sei, vernahm ich Ullis Stimme: „Ich bin es.“ Ich öffnete und sah ihn verwundert an: „Was machst Du um diese Zeit hier im Krankenhaus?“ „Ich bin schon seit drei Uhr in der Klinik, musste den Rettungswagen anrufen, Verdacht auf Herzinfarkt.“ Am nächsten Tag wurde bei meinem Mann ein Stent gesetzt. Zum Glück war bei ihm noch kein Infarkt eingetreten, wie bei mir. So lagen wir beide auf der gleichen Station, er auf Zimmer zwölf und ich auf neun.

Wir machen eben alles gemeinsam, scherzten unsere Freunde. Aber mir war nicht zum Lachen zumute.

Mein Mann Ulli ist ein Frühaufsteher. Bis zum Frühstück setzte er sich in den Klinikflur und wartete. Ich wollte ihm Gesellschaft leisten und ging zu ihm. Als er mich sah, motzte er mich gleich mit den Worten an: „Wenn ich schon Dein Gesicht sehe, wird mir ganz übel. Du siehst aus wie die Merkel mit hängenden Wangen. Du musst aus Deinem Kopf herausbekommen, dass Du einen Herzinfarkt hattest. Andere Menschen leben schließlich auch weiter und machen nicht so ein Gesicht, wie Du.“ Seine Worte trafen mich wie einen Hammerschlag, ich lief fort. Nach neun Tagen wurden wir beide aus dem Krankenhaus entlassen.

Heute denke ich, es war alles Bestimmung gewesen.

Für den siebzehnten Januar hatte ich bereits den nächsten Untersuchungstermin in der Klinik erhalten. Schöne Aussichten für mein Leben, dachte ich.

Nach dem Krankenhausaufenthalt sollte ich auch eine Kur erhalten. Jedoch nur eine ambulante, die ich mit einem Widerspruch ablehnte. Damit verzögerte sich meine Kur um sieben Wochen.

Nachdem ich nun den konkreten stationären Kurtermin erfuhr, teilte ich meinem Mann mit, dass unser gemeinsames Leben zu Ende sei. „Sofern meine Kur beendet ist, werde ich mir eine neue Wohnung suchen. Von jetzt an zählt nur noch mein Leben“, sagte ich. Ich sah meinen Mann sprach- und fassungslos, aber das war mir egal. Mein Entschluss stand nach diesen demütigenden Worten im Krankenhaus fest.

Der Tag meines Kurantritts begann.

Eigentlich hatte mein Hausarzt zuerst einen anderen Kurort für mich beantragt, aber es kam, wie so oft, ganz anders.

Ich wurde morgens um acht Uhr für die Kurreise von zu Hause abgeholt.

Wir fuhren nach Plau am See, und meine Kindheit holte mich wieder ein. Einfach herrlich dieses Fleckchen Erde. Als Kind wurde ich hierher zur Erholung geschickt, damals lebte ich noch in der Prignitz.

Umso glücklicher war ich jetzt, hier zu sein.

Es war ein Freitag, ich bezog in der Kurklinik „Silber-Mühle“ ein schönes Zimmer mit Blick auf den See. Anschließend folgte meine Aufnahme.

Eine nette Ärztin sah sich meine Unterlagen an und fragte nach meinem Alter. Dabei fügte sie an: „Endlich etwas Junges.“ Ich lachte über diese Bemerkung. Sie schaute mich verwundert an. „Ich bin schon achtundsechzig Jahre alt“, entgegnete ich. Sie staunte: „Donnerwetter, wie haben Sie das gemacht? Das Rezept müssen Sie mir unbedingt verraten. Man kann sagen, dass Sie zwanzig Jahre jünger aussehen.“ „Ja“, scherzte ich, „wie ein schöner Baum, der blüht, doch innen schon morsch ist.“ Dann stellte Frau Doktor für mich den Rehaplan auf: Radfahren mit Überwachung, Atemübungen, Gymnastik, Ergotherapie. Schließlich entschied ich mich noch für Korbflechten, Musiktherapie und einige andere Angebote.

So war jeder Kurtag bis auf die zwei Stunden Mittagspause voll ausgeplant.

Zur Esseneinnahme erhielt ich, wie jeder Kurgast, meinen persönlichen Tisch zugewiesen, den ich während des Kuraufenthaltes beibehielt. Von meinem Platz aus konnte ich den Seeblick genießen.

An jedem Tisch nahmen sechs Personen Platz, alles sehr kranke Menschen. Wenn man nicht wüsste, dass das ein Ort der Genesung war, hätte man den Eindruck von einem Urlaubsaufenthalt bekommen können. Doch jeder von Ihnen hatte seine eigene Lebensgeschichte zu erzählen. Was ich hier hörte, verlangte starke Nerven von mir. Existenzen standen auf dem Spiel, und einige von Ihnen wussten nicht, wie es in Ihrem Leben weitergehen sollte, da sie Ihren Beruf nicht mehr ausüben konnten. Viele waren durch ihre langen Klinikaufenthalte schon Monate nicht zu Hause gewesen. Ich empfand starkes Mitgefühl mit ihnen und sah dadurch meine Krankheit zu diesem Zeitpunkt etwas anders.

Da ich ein sehr zugänglicher und kontaktfreudiger Mensch bin, kam ich schnell mit meinen Tischnachbarn ins Gespräch. Viele von Ihnen zählten schon die Tage, endlich nach Hause zu können.

Es gab aber auch Kurgäste, die an allem etwas auszusetzen hatten. Ihr Verhalten ärgerte mich, so dass ich ab und zu entgegnete, dass sie doch froh sein können, hier sein zu dürfen. Ich erinnerte daran, dass es Länder gibt, in denen die Menschen mit ihren Krankheiten alleine gelassen werden oder die Medikamente nicht bezahlen können.

Ich sah die Kur für mich und meine Krankheit als etwas Positives. Ich besaß reichlich Kontakte zu anderen Kurpatienten und die Männerwelt lag mir zu Füßen, wie es sprichwörtlich heißt. Ich dachte schmunzelnd darüber, dass es doch überall das Gleiche ist. Was mir weiter durch die Gehirnzellen schoss, möchte ich hier für mich behalten. Letztendlich ging es mir um meine Gesundheit.

Kurgäste fuhren heim, Neue kamen an. So wechselte auch unsere personelle Tischbesetzung. Ein älterer Herr schwärme bereits von dem guten Essen, Eisbein mit Sauerkraut, welches seine Frau für ihn zu Hause kochen würde. Er wollte endlich wieder so richtig reinhauen beim Essen. Hier am Tisch hatte jeder sein Kärtchen zu liegen, auf dem genau stand, was derjenige essen durfte. Ich sollte kalorienarm essen, so dass das Diätbuffet mir gehörte. Diese ärztliche Anweisung störte mich nicht, denn ich habe schon vorher bewusst gegessen. 

Da ich an einem Freitag in der Silber-Mühle in Plau am See eintraf, konnte ich ein schönes, langes Wochenende genießen. Ich unternahm viele ausgedehnte Spaziergänge am Wasser.

Das Wetter zeigte sich trotz November von seiner schönen Seite, so dass ich den Weg direkt am Wasser benutzen oder durch den Wald streifen konnte.

Auf meiner Wandertour fand ich auch einen Pfad, der etwas anstieg und vom See wegführte. Anfangs traute ich mich nicht, den Wald alleine zu betreten, doch dann sprach ich mir Mut zu und wanderte inmitten der hohen Waldbäume. Beim Anblick der bizarren Bäume raste mein Herz öfter, denn beim näheren Hinschauen wirkten die Riesen wie Gestalten, und ich vermutete hinter einem Baum oder Gebüsch irgendwelche Geschöpfe, die mich verhexen würden. Es war einfach unheimlich, ähnlich wie bei Hänsel und Gretel, nur die Hexe fehlte noch. Ich taufte den Wald auf den Namen „Hexenwald“. Natürlich gab es im Wald auch Leben. Wildschweine, die alles wie ein Pflug umwühlten. Das ständige Knacken und Rascheln im Hexenwald zwangen mich zum mehrmaligen Umdrehen, und ich beschloss, den Wald vorerst zu verlassen.

Im Kurhotel wurde den Gästen ein abwechslungsreiches Freizeitangebot geboten. Zwei Mal wöchentlich wurden Verkaufsstände in der großen Vorhalle des Kurhotels aufgebaut, an denen man Schuhe, Bastelarbeiten und Kerzen für die kommende Weihnachtszeit kaufen konnte. Kosmetikartikel und diverse Schmuckpaletten ergänzten das Verkaufsangebot. Wichtig war nur, dass der Kurgast ausreichend Taschengeld bei sich hatte.

Das Kurheim besaß auch eine gemütliche Cafeteria, in der ein leckeres Tortenbuffet die Gäste verführte. Immer, wenn ich daran vorbei ging, lief mir das Wasser im Munde zusammen und ich dachte bei mir: Susanne, morgen wirst du dir trotz Diät ein Stück gönnen. Dabei blieb es auch. Nicht alle Gäste waren so diszipliniert in ihrem Essen, etliche gingen bereits beim morgendlichen Frühstück auf das falsche Buffet zu, nämlich auf die Vollwertkost, trotz ihrer verordneten Diät.

Sogar für musikalische Unterhaltung wurde gesorgt. Es wurden Tanzabende veranstaltet, und verschiedene Musikgruppen, wie die „Lustigen Musikanten“, spielten.

Gegen Abend, zwanzig Uhr, wartete ich schließlich in meinem Zimmer auf den Telefonanruf meiner Mutter. Dieses Ritual wiederholte sich täglich. Meine liebe Mutter wollte wissen, wie es mir gesundheitlich ging, das war bei ihr zuvor leider nicht immer so. Wehe, wenn ich nicht pünktlich am Telefon zu erreichen war, dann wollte sie genau wissen, wo ich mich solange aufhielt. Für die Mutter bleibt man eben immer Kind, egal wie alt man auch ist. Wie sehr hätte ich mir dieses Sorgegefühl ihrerseits um mich als Kind gewünscht.

Vor mir lag ein voll gestopfter Kurplan. Jeden morgen vor dem Frühstück Blutdruck messen, wiegen, Zettelchen ins Eimerchen stecken. Ich nahm freiwillig an einem Zuckertest teil, der für mich gut ausging.

Danach nahm ich wie gewohnt meinen Restaurantplatz ein. Ein älterer Herr neben mir wirkte bereits sehr aufgeregt, er sollte endlich nach dem Frühstück nach Hause entlassen werden, wo sein Eisbein schon auf ihn wartete. Auch eine Dame konnte heimfahren, so dass zwei Plätze frei wurden. Ich war mit meinen restlichen Tischnachbarn schon auf die neuen Kurgäste gespannt. Mein Frühstück bestand aus zwei Scheiben Knäckebrot mit Quark. Müsli, Joghurt und Diätwurst mit einem Fettgehalt von nur drei Prozent waren auch im Angebot. Es gab alles, um gesund zu leben.

Danach schlüpfte ich in meinen Sportdress und suchte im unteren Bereich des Kurhotels den Sportraum, in dem die Ergometer standen. Trotz des Wegweisers dauerte es anfangs etwas länger, bis ich die Räumlichkeiten fand.

Für den ersten Kurtag war ich bereits voll ausgebucht und freute mich schon auf mein leckeres Mittagessen, was trotz der Diät immer schmeckte.

Das Essen wurde uns stets serviert. Ich nahm mir vor, mich nach der Esseneinnahme zum Ruhen ins Bett zu legen.

Als ich mit meiner Sportbekleidung den Speisesaal betrat, erblickte ich an unserem Tisch einen neuen Kurgast. Er hatte seine Frau und seinen Enkel dabei, die ihn wohl hierher fuhren. Ich musterte kurz die Frau: eine ganz schön dicke Mami, eine Kur wäre für sie angebracht. Ich stelle mir dann immer vor, wie groß ihre Höschen bei so einem Hinterteil wohl sein mögen.

Ja, Frauen sind schon eine Welt für sich. Ich wurde begrüßt mit den Worten: „Ich bin der Neue“, wir schauten uns an, und das war es erst einmal. Ich dachte: er sieht nicht schlecht aus, sehr groß gewachsen und seine Frau passte zu ihm.

Ich riskierte einen kurzen Blick zum Nachbartisch, an dem es Vollkost gab. Nach der Mahlzeit ging ich zum Ruhen auf mein Zimmer.

Von vierzehn bis siebzehn Uhr folgte dann die nächste Anwendung. Den ersten Tag empfand ich ziemlich strapaziös.

Zum Abendbrot zog ich mich schick um und fand im Spiegel, dass ich nicht schlecht aussah. Den guten Geschmack in punkto Mode hatte ich von meiner Mutter geerbt. Meine Haare trug ich meistens hochgesteckt. Als ich den Speisesaal betrat, richteten sich fast alle Blicke auf mich, was mich zum Schmunzeln bewegte. Beim Vorbeigehen an den Tischen wünschte ich den Damen und Herren einen freundlichen „Guten Appetit“ und ging auf meinen Tisch zu. Der letzte freie Platz war nun auch besetzt. Ich begrüßte die Tischnachbarn mit „Hallo“ und lief zum Diätbuffet. Als ich mit meinem beladenen Teller zurückkehrte, schaute ich kurz zu unserem neuen Gast. Unsere Blicke trafen sich für Bruchteile von Sekunden, und dieser Moment musste es zwischen uns gewesen sein.

Später erfuhr ich seinen Namen, Rolf. Er offenbarte mir, dass er bei meinem Anblick dachte, ich sei unerreichbar für ihn.

Auf jeden Fall war und ist er kein Mann für alle Fälle. Rolf war klein, hatte einige Kilo an Übergewicht und hatte kaum Haare auf dem Kopf, kurzum, er war überhaupt nicht meine Kragenweite. Doch das Aussehen eines Mannes spielte bei mir nicht die erste Geige. Mich störte, dass er seine Mahlzeiten sehr schnell verschlang, so als ob er Angst hätte, dass ihm jemand etwas wegnehmen könnte. Aber jeder Mensch hat etwas Besonderes an sich, was ihn kennzeichnet. Bei Rolf war es die Stimme, angenehme, weiche Töne. Und sein Lachen wirkte einfach ansteckend. Er hatte das gewisse Etwas, das nur wenige Frauen wirklich erkennen. Ich glaube, er wusste es selbst nicht. All diese Gedanken über ihn kreisten an jenem Abend in meinem Kopf umher.

Nach dem Abendbrot ging ich wie immer auf mein Zimmer, die Männer in die Cafeteria.

Wir trafen uns alle zum morgendlichen Frühstück wieder. In unserer Tischrunde stand das Thema Krankheit an erster Stelle. Der erste neue Gast kam aus Rostock, er arbeitete auf dem Bau in Innsbruck und erlitt dabei einen Herzinfarkt. Harry war sein Name. Der nächste Tischnachbar, Rolf, erhielt bereits drei Bypässe. Als ich an der Reihe war, stellte ich mich mit Susanne vor, meinem Pseudonym, da ich Autorin bin. Ich erzählte, dass ich Kurzgeschichten und Gedichte schreibe und meine Autobiografie verfasst habe, welche veröffentlicht wurde und in Buchläden sowie im Internethandel zu erhalten ist. Meine Schreibereien hatte ich mit zum Kuraufenthalt genommen, um vielleicht einen Leseabend zu veranstalten.

Dann kam der Tag, welcher mein Leben total auf den Kopf stellen sollte. Nach dem Mittagessen gingen Rolf und ich gemeinsam in die Cafeteria, um einen Kaffee zu genießen. Es war zwischen uns wie zwischen zwei Magneten, die sich langsam anzogen.

Jetzt hatte der außerirdische Mensch da oben seine Finger im Spiel.

Wir setzten uns an einen Tisch und fingen an, uns zu unterhalten. Rolf erzählte mir sein ganzes Leben. Ab und zu war er dabei selber über sich erstaunt, dass er mir von Geschehnissen berichtete, die er bisher keinem anderen Menschen offenbarte. Ich vermittelte ihm wohl das Gefühl, als ob er mich schon ewig kannte. Mir erging es genau so. Wir vergaßen die Welt und die Zeit um uns herum.

Da unsere nächste Kuranwendung erst für fünfzehn Uhr geplant war, hatten wir viel Zeit für uns.

Ich weiß heute nicht mehr, wer von uns beiden den Vorschlag unterbreitete, an die frische Luft zu gehen. Wir gingen auf unsere Zimmer um uns warme Kleidung anzuziehen. Dick eingemummelt im Parker mit Kapuze wollten wir uns am Wasser wieder treffen. Ich hatte mir vorsorglich noch meinen langen, roten Wollschal um den Hals gewickelt.

Ich lief durch den Park und ging die Treppe zum See hinunter, wo schon Rolf auf mich wartete. Ich frage: „Welche Richtung wollen wir einschlagen?“ „Lass uns die rechte Seite entlang spazieren.“ Diese führte in meinen Hexenwald, doch mit ihm an der Seite fühlte ich mich sicher.