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Die fünfzehn besten Küchenmeister der Welt haben Nero Wolfe zu ihrer Tagung eingeladen. Als einer von ihnen sinnigerweise mit einem Tranchiermesser ermordet wird, erklärt der gewichtige Privatermittler sich bereit, den Mörder zu finden. Allerdings nur unter einer Bedingung: Er fordert als Honorar ein geheimes Würstchenrezept. Jeder weiß, dass zu viele Köche den Brei verderben, aber es muss ja nicht gleich zu Mord und Totschlag führen. Doch genau das steht auf dem Speiseplan bei einem Treffen der weltbesten Köche. Nero Wolfe ist als Ehrengast aus seinem New Yorker Stadthaus in ein schickes Spa gelockt worden, um die Eröffnungsrede zu halten. Dabei hätte er niemals erwartet, zwischen den exquisiten Gängen der Haute Cuisine zusammen mit seinem Assistenten Archie nach einem Mörder suchen zu müssen. Einem Mörder, der auch dem großen Privatermittler nur allzu gern sein letztes Abendmahl bereiten möchte.
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Seitenzahl: 390
Rex Stout
Zu viele Köche
Ein Fall für Nero Wolfe
Aus dem amerikanischen Englisch von Simone Salitter und Gunter Blank
Mit einem Nachwort von Tobias Gohlis
KLETT-COTTA
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
www.klett-cotta.de
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1938 unter
dem Titel »Too Many Cooks« bei Farrar & Rinehart, New York,
und liegt hier vollständig neu übersetzt vor.
© 1938, 1966 by Rex Stout
Nachwort © 2017 by Tobias Gohlis
Für die deutsche Ausgabe
© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1669, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Umschlag: ANZINGER UND RASP Kommunikation GmbH, München
Unter Verwendung einer Illustration von Dirk Schmidt, München
Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde
Printausgabe: ISBN 978-3-608-98113-1
E-Book: ISBN 978-3-608-10885-9
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Ich habe mich bemüht, beim Aufschreiben dieses neuesten Glanzstücks von Nero Wolfe französische oder sonst wie ausgefallene Wörter so weit als möglich zu vermeiden, aber angesichts der ganzen Leute, die darin verwickelt waren, konnte ich nicht ganz darauf verzichten. Für die Schreibweise bin ich nicht verantwortlich, schreiben Sie mir also nicht wegen irgendwelcher Fehler. Wolfe hat sich geweigert, mir zu helfen, und so musste ich zur Sprachschule Heinemann gehen und einem Professor dreißig Dollar hinblättern, damit er es durchliest und korrigiert. Wenn jemand etwas sagte, das für mich wie Kauderwelsch klang, habe ich es – wenn es nicht wichtig war – entweder weggelassen oder es irgendwie geschafft, eine grobe Vorstellung davon in die amerikanische Sprache hinüberzuretten.
Archie Goodwin
Rastlos neben dem Zug auf und ab gehend, der am Bahnsteig der Pennsylvania Station auf seine Abfahrt wartete, wischte ich mir den Schweiß von der Stirn und zündete eine Zigarette an, denn ich war überzeugt, wenn ich erst meine Nerven ein wenig beruhigt hatte, wäre ich, trotz allem was ich gerade durchgemacht hatte, in der Lage die Cheops-Pyramide mit bloßen Händen und nichts als einer Badehose am Leib von Ägypten auf das Dach des Empire State Building zu verfrachten. Doch als ich zum dritten Mal zog, wurde ich von jemand unterbrochen, der an das Fenster des Abteils klopfte, an dem ich gerade vorüberging, und als ich mich vorbeugte, um durch die Scheibe zu spähen, sah ich mich mit dem verzweifelten Blick Nero Wolfes konfrontiert, der mich von seinem Platz im Schlafabteil eines dieser neumodischen Pullman-Wagen anfunkelte, in dem ich ihn endlich wohlbehalten verstaut hatte.
»Archie!«, brüllte er mir durch das geschlossene Fenster zu. »Zum Teufel mit Ihnen! Machen Sie, dass Sie reinkommen! Der Zug fährt gleich ab! Sie haben die Fahrkarten!«
»Sie haben gesagt, drin sei es zu eng zum Rauchen!«, schrie ich zurück. »Außerdem ist es erst 21:32! Und ich habe beschlossen, nicht mitzukommen! Angenehme Träume!«
Ich schlenderte weiter. Von wegen Fahrkarten. Es waren nicht die Fahrkarten, die ihn beschäftigten; er hatte panische Angst, weil er allein im Abteil war und fürchtete, der Zug könnte sich in Bewegung setzen. Er hasste Dinge, die sich bewegten, und brüstete sich mit der Behauptung, in neun von zehn Fällen seien die Orte, wohin die Menschen gingen, in keinster Weise besser als die, woher sie kamen. Aber verdammt, ich hatte ihn – ungeachtet von Kleinigkeiten wie drei Taschen und zwei Koffern sowie zwei Mänteln für einen viertägigen Aufenthalt im April – zwanzig Minuten vor der Zeit zum Bahnhof geschafft, obwohl Fritz Brenner uns mit Tränen in den Augen auf den Stufen des Hauses verabschiedet hatte, Theodore Horstmann herausgerannt kam und noch ein paar Dutzend Fragen bezüglich der Orchideen hatte, nachdem wir Wolfe schon im Auto verstaut hatten, und sogar der kleine Saul Panzer ein Schluchzen herunterwürgte, als er uns am Bahnhof absetzte und Wolfe Auf Wiedersehen sagte. Man hätte denken können, wir würden in die Stratosphäre fliegen, den Mond polieren und wilde Sterne pflücken.
Und just da ich meinen Hintern über den Spalt zwischen Zug und Bahnsteig schwang, hätte ich auf der Stelle so einen Stern pflücken – oder wenigstens berühren können. Sie ging nahe genug an mir vorbei, dass ich einen feinen Hauch von etwas abbekam, das aus einer Parfümflasche hätte kommen können, aber angesichts der Umstände nur zu natürlich wirkte, und während ihre Gesichtszüge in Technicolor erstrahlten, schienen sie zudem, als wären sie von Anbeginn genauso beabsichtigt und bedürften keinerlei Veränderung. Der kurze Blick, den ich erhaschte, genügte, um zu sehen, dass sie keine Fabrikware, sondern gänzlich handgefertigt war. Sie löste sich vom Arm eines großen, massigen Mannes, der einen braunen Umhang und einen braunen Schlapphut trug, um vorzugehen und dem Schaffner in den Waggon hinter unserem zu folgen. »Mein Herz war alles, was ich hatte, und jetzt, da es gebrochen ist, hätte ich besser Scheuklappen aufgesetzt«, murmelte ich vor mich hin, zuckte betont indifferent mit den Schultern und ging in unser Abteil, während draußen »Alles einsteigen« ertönte.
Wolfe saß in unserem Abteil auf dem breiten Sitz am Fenster und hielt sich mit beiden Armen fest umklammert; nichtsdestotrotz narrte der Zug seine Erwartung, und als er ruckelnd anfuhr, kippte Wolfe nach vorn und wieder zurück. Aus dem Augenwinkel sah ich die Wut, die ihn gepackt hatte, und entschied, es sei besser, die Tatsachen zu ignorieren. Ich zog eine Zeitschrift aus meiner Tasche und zwängte mich auf den unterdimensionierten Sitz in der Ecke. Mit immer noch um den Körper geschlungenen Armen rief er mir zu:
»Wir erreichen Kanawha Spa morgen Vormittag um 11:25! Vierzehn Stunden! Dieser Wagen wird in Pittsburgh an einen anderen Zug gekoppelt! Sollte eine Verspätung eintreten, müssten wir auf den Nachmittagszug warten! Sollte unserer Lokomotive irgendetwas zustoßen –«
»Ich bin nicht taub, Sir«, erwiderte ich kühl. »Sie können auch herumstänkern, so viel Sie wollen, denn es ist ja Ihr eigener Atem, den Sie verschwenden, aber ich verbitte mir, dass Sie durch die Wahl Ihrer Worte oder auch nur Ihres Tonfalls andeuten, ich sei in irgendeiner Weise für Ihre Misere verantwortlich. Ich habe diese Rede gestern Abend schon vorbereitet, weil ich wusste, dass ich sie benötigen würde. Es war Ihre Idee, dieser Ausflug. Sie wollten hinfahren – zumindest wollten Sie im Kanawha Spa sein. Vor sechs Monaten haben Sie Vukcic erzählt, Sie würden am 6. April dort eintreffen. Jetzt bedauern Sie es. Genau wie ich. Was unsere Lokomotive angeht, so verwenden sie für diese Express-Züge nur die neuesten und besten, und nicht einmal ein Kind –«
Wir kamen auf der anderen Seite des Flusses wieder nach oben und nahmen Fahrt auf, während wir durch die Verschiebebahnhöfe von Jersey ratterten. »Eine Lokomotive hat zweitausenddreihundertundneun bewegliche Teile!«, rief Wolfe.
Ich legte die Zeitschrift beiseite und grinste ihn an. Und wenn schon, dachte ich. Er hatte Lokomophobie, und es ergab keinen Sinn, ihn vor sich hinbrüten zu lassen, denn das würde es für uns beide nur schlimmer machen. Man musste ihn auf andere Gedanken bringen. Doch noch ehe ich mir ein hübsches Thema einfallen lassen konnte, wurden wir unterbrochen, und es zeigte sich, dass er, auch wenn er panische Ängste ausgestanden haben mochte, während ich auf dem Bahnsteig eine Zigarette rauchte, sich nicht hatte demoralisieren lassen. Es klopfte an der Tür, die sich öffnete und den Blick auf einen Schaffner freigab, der auf einem Tablett drei Flaschen Bier und ein Glas brachte. Er förderte ein Tischchen zutage, auf dem ein Glas und eine Flasche Platz hatten, öffnete sie und stellte die beiden anderen zusammen mit einem Öffner in die Ablage, ließ sich von mir bezahlen und verschwand. Als der Zug sich in eine Kurve legte, schaute Wolfe wütend auf, und erst als wir wieder geradeaus fuhren, nahm er das Glas, schluckte ein-, zwei-, fünfmal und setzte es leer wieder ab. Er leckte sich den Schaum von den Lippen, wischte sie dann mit dem Taschentuch ab und bemerkte ohne das geringste Anzeichen von Hysterie:
»Ausgezeichnet. Ich darf nicht vergessen, Fritz zu sagen, dass das erste exakt die richtige Temperatur hatte.«
»Sie könnten ihm von Philadelphia aus telegrafieren.«
»Danke. Ich leide Höllenqualen, und das wissen Sie. Würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihr Gehalt zu verdienen, Mr. Goodwin, indem Sie mir ein Buch aus meiner Tasche holen? Inside Europe von John Gunther.«
Ich holte die Tasche und fischte es heraus.
Als sich eine halbe Stunde später die nächste Unterbrechung ankündigte, glitten wir sanft und geschwind durch das nächtliche Herzland von Jersey. Die drei Flaschen Bier waren leer, Wolfe schaute stirnrunzelnd in sein Buch, las aber tatsächlich, was ich an der Art, wie er die Seiten umblätterte, erkennen konnte. Ich hatte mich indes im Journal of Criminology fast bis ans Ende eines Artikels über die Kollation von Beweisen gekämpft. Allerdings hatte ich nicht viel behalten, denn ich war nicht in der Verfassung, mir Gedanken über den Abgleich von Beweisen zu machen, da ich mit dem Problem beschäftigt war, wie ich Nero Wolfe auskleiden würde. Zu Hause erledigte er das selbstverständlich selbst, und ebenso selbstverständlich stand ich auch nicht als Kammerdiener in seinen Diensten, sondern lediglich als Sekretär, Leibwächter, Büroleiter, Detektivassistent und Sündenbock. Nichtsdestotrotz war es in zwei Stunden Mitternacht, und hier saß er in seinen Hosen, und jemand musste herausfinden, wie man sie ihm auszog, ohne dass der Zug entgleiste. Nicht dass er schwerfällig gewesen wäre, aber er besaß praktisch keine Erfahrung, in einem sich bewegenden Gefährt das Gleichgewicht zu halten, und ihm die Hosen im Liegen auszuziehen stand außer Frage, da er irgendetwas zwischen hundertzwanzig Kilo und einer Tonne wog. Soweit ich wusste, war er nie auf einer Waage gewesen, deshalb wusste auch niemand genau wie viel. Angesichts des Problems, das sich mir stellte, setzte ich meine Schätzung an diesem Abend etwas höher an und hatte mich gerade auf hundertfünfzig als Grundlage meiner Berechnungen festgelegt, als es an der Tür klopfte. Ich rief »Herein«.
Es war Marko Vukcic. Aufgrund eines Telefonats zwischen ihm und Wolfe vor einer Woche wusste ich, dass er im selben Zug sein würde, aber gesehen hatte ich ihn zuletzt Anfang März, als er wie jeden Monat zum Abendessen bei uns in Wolfes Haus war. Er war einer der beiden einzigen Männer, die Wolfe – abgesehen von Angestellten – mit Vornamen ansprach. Er schloss die Tür und füllte sogleich das Abteil aus; er war nicht fett, aber groß wie ein Löwe, der sich auf den Hinterbeinen aufrichtet, und trug keinen Hut, der sein dichtes, in die Stirn fallendes Haar gebändigt hätte.
»Marko!«, rief Wolfe ihm zu. »Haben sie dir kein Bett oder wenigstens einen Platz zugewiesen? Oder warum zum Teufel galoppierst du durch die Eingeweide dieses Ungeheuers?«
Vukcic’ Grinsen entblößte strahlend weiße Zähne. »Nero, du verdammter alter Eremit! Im Gegensatz zu dir bin ich keine Schildkröte in Aspik. Aber egal, du bist tatsächlich in diesem Zug – welch ein Triumph! Habe ich dich also entdeckt – wie übrigens auch einen Kollegen im nächsten Waggon, den ich fünf Jahre nicht gesehen habe. Ich habe mit ihm gesprochen und vorgeschlagen, dass ihr euch trefft. Er würde sich freuen, wenn du seinem Abteil einen Besuch abstatten würdest.«
Wolfe presste die Lippen zusammen. »Das soll vermutlich witzig sein. Ich bin aber kein Akrobat. Ich werde nicht aufstehen, bis dieses Ding anhält und die Lokomotive entkoppelt ist.«
»Wie willst du dann …«, Vukcic musste lachen und warf einen Blick auf den Gepäckstapel. »Immerhin scheinst du bestens gerüstet. Ich habe auch nicht wirklich erwartet, dass du dich bewegst. Ich werde ihn stattdessen herbringen. Wenn ich darf. Darum bin ich eigentlich gekommen.«
»Jetzt?«
»Augenblicklich.«
Wolfe schüttelte den Kopf. »Das muss ich ablehnen, Marko. Schau mich an. Ich bin nicht in der Verfassung für Höflichkeiten oder Konversation.«
»Nur kurz dann, zum Hallo sagen. Ich habe es vorgeschlagen.«
»Nein. Ich denke nicht. Ist dir klar, dass wenn dieses Ding plötzlich stehen bleibt, weil es auf ein Hindernis prallt oder aus einer dämonischen Laune heraus, wir alle mit hundertzwanzig Sachen pro Stunde weiter schnurgeradeaus fliegen? Ist das der Augenblick für gegenseitige Schmeicheleien?« Wieder presste er die Lippen aufeinander, öffnete sie dann leicht und sagte standhaft: »Morgen!«
Vukcic, der fast genauso wie Wolfe daran gewöhnt war, seinen Willen zu bekommen, versuchte darauf bestehen, biss aber auf Granit. Er versuchte es mit Späßchen, aber auch die brachten ihn nicht weiter. Ich gähnte. Schließlich gab Vukcic schulterzuckend auf. »Morgen also. Falls wir nicht auf ein Hindernis prallen und noch am Leben sind. Ich richte Berin aus, dass du zu Bett gegangen bist –«
»Berin?« Wolfe richtete sich auf und lockerte sogar seinen Griff um die Armlehne. »Doch nicht etwa Jerome Berin?«
»Allerdings. Er ist einer von den fünfzehn.«
»Hol ihn her.« Wolfe hatte die Augen halb geschlossen. »Unbedingt. Ich will ihn sehen. Warum zum Teufel hast du nicht gesagt, dass es Berin ist?«
Vukcic winkte kurz und verschwand. Drei Minuten später war er zurück und hielt seinem Kollegen die Tür auf; nur dass es sich um zwei Kollegen zu handeln schien. Der oder vielmehr die aus meiner Sicht wichtigere trat zuerst ein. Sie hatte ihren Schal abgelegt, den Hut aber aufbehalten, und ihr Duft, kaum merklich und faszinierend, war noch derselbe wie vorhin, als sie auf dem Bahnsteig an mir vorübergegangen war. Nun konnte ich zudem erkennen, dass sie jung war wie der Traum von der Liebe, und ihre Augen leuchteten im Licht des Abteils in einem dunkelroten Purpur, und ihre Lippen verrieten ein natürliches, aber zurückhaltendes Lächeln. Wolfe schenkte ihr einen kurzen erstaunten Blick, wandte seine Aufmerksamkeit aber sogleich dem hochgewachsenen, massigen Mann hinter ihr zu, den ich auch ohne braunen Umhang und Schlapphut wiedererkannte.
Vukcic zwängte sich um die beiden herum. »Mr. Nero Wolfe. Mr. Goodwin. Mr. Jerome Berin. Seine Tochter, Miss Constanza Berin.«
Nach einer knappen Verbeugung ließ ich die anderen ihre Begrüßung fortsetzen und sorgte dafür, dass sich alle so wie von mir gewünscht setzten. Am Ende saßen die drei großen Kerle auf den gepolsterten Sitzen, Miss Liebestraum auf dem kleinen Sitz und ich auf einem Koffer neben ihr. Da bemerkte ich, dass ich die Bühne schlecht bereitet hatte, und rückte herum, bis ich mit dem Rücken zur Wand saß und besser sehen konnte. Sie schenkte mir ein freundliches, unschuldiges Lächeln und überließ mich mir selbst. Aus dem Augenwinkel sah ich Wolfe zusammenzucken, als Vukcic sich eine Zigarre anzündete und Jerome Berin eine große alte schwarze Pfeife stopfte und paffend in Gang setzte. Da ich erfahren hatte, dass es sich um ihren Vater handelte, hegte ich nichts als Sympathien für ihn. Er hatte schwarzes Haar, das bereits kräftig von grauen Strähnen durchzogen war, einen gestutzten, noch graueren Bart und tiefliegende Augen, die schwarz aufleuchteten.
»Nein, dies ist mein erster Besuch in Amerika«, sagte er gerade zu Wolfe. »Aber die Natur eures Genies habe ich bereits erkannt. Kein Lufthauch in diesem Zug! Nicht ein bisschen! Und bewegen tut er sich so sanft wie der Flug einer Möwe! Wundervoll!«
Wolfe schüttelte sich, aber Berin bemerkte es nicht, sondern fuhr munter fort. Mit seinem »erster Besuch in Amerika« hatte er mir allerdings einen Schrecken eingejagt. Ich beugte mich vor und flüsterte dem Traumstern ins Ohr: »Sprechen Sie englisch?«
Sie lächelte mich an: »Aber ja. Sehr gut. Wir haben drei Jahre in London gelebt. Mein Vater war im Tarleton.«
»Okay.« Ich nickte und lehnte mich zurück, um einen besseren Blick zu haben. Im Stillen beglückwünschte ich mich für meine Klugheit, den Versuchungen, die sich mir geboten hatten, nicht nachgegeben zu haben. Hätte ich das, würde ich jetzt mit den Zähnen knirschen. Letztlich geht es darum, mich im Zaum zu halten, bis meine Zähne zu alt zum Knirschen sind. Aber nur hinzugucken war nicht verboten.
Ihr Vater redete immer noch. »Wenn ich Vukcic richtig verstanden habe, sind Sie Servans Gast. Dann wird der letzte Abend Ihnen gehören. Das ist das erste Mal, dass einem Amerikaner diese Ehre zuteil wird. 1932 in Paris, als Armand Fleury noch lebte und unser Präsident war, hat der französische Premier die Rede gehalten. 1927 war es Ferid Khaldah, der damals noch kein Profi war. Vukcic hat mir erzählt, Sie seien ein agent de sûreté. Wirklich?« Er ließ seinen Blick über Wolfe schweifen.
Wolfe nickte. »Nicht im engeren Sinne. Ich bin kein Polizist, ich bin Privatdetektiv. Ich locke Kriminelle in die Falle, um sie ins Gefängnis zu bringen oder zu töten. Gegen Bezahlung.«
»Wundervoll! Welch schmutziges Geschäft.«
Wolfe hob ein wenig die Schultern, wurde jedoch vom Zug an einem entschlosseneren Zucken gehindert. Er runzelte die Stirn, was aber nicht Berin, sondern dem Zug galt.
»Vielleicht. Jeder von uns sucht sich eine Beschäftigung, mit der er leben kann. Selbst der Hersteller von Kinderwagen verfängt sich im Netz des Systems, und ohne ein Monopol auf die Gier zu besitzen, erlegt er seinen Arbeitern die Mühsal seiner Notwendigkeiten auf. Dolichozephalische Patrioten und brachyzephalische Patrioten bringen sich gegenseitig um, und ihre Gehirne verrotten, noch ehe ihre Denkmäler errichtet sind. Ein Müllmann sammelt die Küchenabfälle ein, während ein Senator Beweise für die Korruptheit hochgestellter Persönlichkeiten sammelt – würde man nicht den Abfall vorziehen, weil er weniger widerwärtig ist? Der Müllmann erhält jedoch einen geringeren Lohn, und das ist der springende Punkt. Ich mache mir nicht für kleines Geld die Hände schmutzig, meine Honorare haben es in sich.«
Berin schüttelte den Kopf und kicherte. »Aber Sie werden uns nicht mit Küchenabfällen behelligen, oder?«
»Nein. Mr. Servan bat mich, über – wie er es nannte –Contributions Américaines à la Haute Cuisine zu sprechen.«
»Pah!« Berin schnaubte. »Es gibt keine.«
Wolfe zog die Augenbrauen in die Höhe. »Keine, Sir?«
»Keine. Man hat mir berichtet, es gäbe in Amerika durchaus gute Hausmannskost, aber ich habe sie nicht probiert. Ich habe gehört, in New England gäbe es einen veritablen Corned-Beef-Eintopf und auch Maisbrot, Muschelsuppe und Mehlschwitze aus Milch. Das ist für die Massen und sicherlich nicht zu verachten, wenn es gut gemacht ist. Aber mit den Meistern hat das nichts zu tun.« Berin schnaubte erneut. »Diese Dinge verhalten sich zur Haute Cuisine wie sentimentale Liebeslieder zu Beethoven und Wagner.«
»Tatsächlich.« Wolfe wedelte mit erhobenem Zeigefinger. »Haben Sie schon einmal in Butter und Hühnerbrühe und Sherry gedünstete Schildkröte gegessen?«
»Nein.«
»Haben Sie schon einmal ein auf der Eichenbohle gebratenes, fünf Zentimeter dickes Porterhouse Steak gegessen, garniert mit amerikanischer Petersilie und frischen Zitronenscheiben? Dazu ein Kartoffelpüree, das auf der Zunge zergeht, und dicke Scheiben von frischen, nicht ganz durchgegarten, bissfesten Pilzen?«
»Nein.«
»Oder kreolische Kaldaunen aus New Orleans? Oder Boone-County-Schinken aus Missouri, der mit Essig, Melasse, Worcestersoße, süßem Cidre und Kräutern zubereitet wird? Oder Huhn Marengo? Oder Hühnchen in gestockter Eiersoße, mit Rosinen, Zwiebeln, Mandeln, Sherry und mexikanischen Würstchen? Oder Opossum aus Tennessee? Hummer nach Newburgh Art? Oder Red-Snapper-Suppe nach Philadelphia Art? Ich sehe, Sie haben nicht.« Wolfe zeigte mit dem Finger auf ihn. »Zugegeben, Frankreich ist des Gastronomen Himmelreich. Aber auf seinem Weg dorthin würde er gut daran tun, einen Umweg durch unsere Breiten zu machen. Ich habe tripes à la mode de Caen bei Pharamond in Paris gegessen. Superb, aber nicht mehr als die kreolische Kaldaune, die auch ohne exzessive Weinbeigabe besser durch die Kehle gleitet. Ich habe in meiner Jugend, als ich noch beweglicher war, in Marseille, der Wiege und Kathedrale der Bouillabaisse, diese gekostet, aber verglichen mit ihrer Namensvetterin aus New Orleans ist die französische ein reines Sättigungsgericht, bloß Ballaststoff für Schauerleute! Wenn kein Red Snapper verfügbar ist –«
Eine Sekunde lang glaubte ich, Berin würde ihn anspucken, merkte aber schnell, dass es sich nur um einen von seiner Empörung verursachten Vokalstau handelte. Ich überließ die beiden sich selbst und beugte mich wieder zu Constanza.
»Wenn ich recht verstehe, ist Ihr Vater ein hervorragender Koch.«
Die purpurnen Augen wandten sich mir zu, mit leicht gehobenen Brauen gluckste sie. »Er ist Küchenchef im Corridona in San Remo. Wussten Sie das nicht?«
Ich nickte. »Doch, ich habe eine Liste der Fünfzehn gesehen. Gestern in der Beilage der Times. Ich wollte nur das Eis brechen. Kochen Sie auch selbst?«
»Nein. Ich hasse es. Allerdings koche ich einen guten Kaffee.« Sie senkte den Blick bis zum Knoten meiner Krawatte – ich trug eine dunkelbraun gepunktete zu meinem nadelgestreiften hellbraunen Hemd – und hob ihn wieder. »Als Mr. Vukcic uns vorstellte, habe ich Ihren Namen nicht verstanden. Sind Sie auch Detektiv?«
»Mein Name ist Archie Goodwin. Archibald bedeutet heilig und gut, dennoch heiße ich nicht Archibald. Aber noch nie hat ein französisches Mädchen Archie zu mir gesagt. Versuchen Sie es doch einmal.«
»Ich bin keine Französin.« Sie runzelte die Stirn. Ihre Haut war so glatt, dass die Falten wirkten wie die Naht eines fabrikneuen Tennisballs. »Ich bin Katalanin. Und sicher kann ich Archie sagen. Archiearchiearchie. Gut so?«
»Wunderbar.«
»Sind Sie Detektiv?«
»Sicher doch.« Ich zog meine Brieftasche heraus und fingerte einen Angelschein heraus, den ich im Vorjahr in Maine erhalten hatte. »Schauen Sie. Da steht mein Name.«
Sie las die Aufschrift. »An…geln?« Sie schaute mich zweifelnd an und gab ihn mir zurück. »In Maine? Ich nehme an, das ist Ihr arrondissement.«
»Nein. Ich habe keins. In Amerika haben wir zwei Arten von Detektiven, die kräftigen und die klugen. Ich zähle mich zur zweiten Kategorie. Das heißt, ich überlasse die schweren Aufgaben, wie Pferde tränken, Häftlinge erschießen und die Rutschen schmieren, den anderen. Hauptsächlich denke ich nach und überlege, zum Beispiel wenn man jemanden benötigen, der überlegt, was als Nächstes zu tun ist. Mr. Wolfe hier ist der kräftige. Sie sehen selbst, wie groß und stark er ist. Und er läuft geschwind wie ein Reh.«
»Aber … wofür die Pferde?«
Ich erklärte es ihr geduldig. »In diesem Land gibt es ein Gesetz, das besagt, dass man einen Mann nicht töten darf, wenn man kein Pferd besitzt. Wenn zwei oder mehr Männer um Drinks würfeln, hört man oft den einen zum anderen sagen: ›mit dir kann man Pferde stehlen‹. Deshalb kann man einen Mann nur erschießen, wenn man diesen Satz ausspricht, bevor er es sagt. Dann wiederum werden Sie einen Mann bei einem Betrug sagen hören, das sei eine falsche Stute, denn man gibt dem Hengst nur eine falsche Stute, die man aber nicht mit dem trojanischen Pferd verwechseln –«
»Was ist eine Stute?«
Ich räusperte mich. »Das Gegenteil von einem Pferd. Sie wissen doch, es muss zu allem ein Gegenstück geben. Es gibt kein rechts ohne links, kein oben ohne unten, kein gut ohne böse. Ebenso kann es keine Stute ohne Pferd und kein Pferd ohne Stute geben. Wenn Sie, sagen wir, zehn Millionen Pferde nehmen –«
Ich wurde von Wolfe unterbrochen, wenn auch nur indirekt. Ich hatte mich zu sehr in meine Plauderei mit dem katalanischen Mädchen vertieft und nicht mehr zugehört, was die anderen redeten. Unmittelbar war es Vukcic, der mich unterbrach, indem er sich hochwuchtete und Miss Berin einlud, ihn in den Speisewagen zu begleiten. Wie es schien, hatte Wolfe das Bedürfnis nach einem vertraulichen Gespräch mit ihrem Vater geäußert, und als ich zu ihm hinüberschaute, fragte ich mich, was für eine Scharade er arrangierte. Mit einem Finger klopfte er sich sanft aufs Knie, daher wusste ich, dass es sich um eine ernste Angelegenheit handelte. Als Constanza sich erhob, tat ich es ihr gleich.
Ich verbeugte mich. »Darf ich?« Und an Wolfe gerichtet: »Wenn Sie mich benötigen, können Sie den Schaffner nach mir schicken. Ich muss Miss Berin noch die Sache mit den Stuten zu Ende erklären.«
»Stuten?« Wolfe beäugte mich misstrauisch. »Es gibt nichts, das sie über Stuten wissen müsste, das nicht auch Marko ihr erklären könnte. Wir werden – so hoffe ich– Ihr Notizbuch benötigen. Setzen Sie sich.«
Also zog Vukcic mit ihr ab. Ich setzte mich wieder auf den zu kleinen Sitz und hätte am liebsten ein Plädoyer für den Acht-Stunden-Tag gehalten, aber dafür war ein fahrender Zug leider nicht der geeignete Ort. Vukcic würde ihr sicher, was die Pferde anging, die Illusionen rauben und damit meinem Stil möglicherweise irreparablen Schaden zufügen.
Berin hatte indes wieder seine Pfeife gestopft. Wolfe sprach ihn in seinem gewohnt beiläufigen Ton an, der bedeutete, dass man sich vor einer vollen Breitseite in Acht nehmen musste. »Ich wollte Ihnen zum einen ein Erlebnis schildern, das ich vor fünfundzwanzig Jahren hatte. Und ich verspreche, Sie nicht zu langweilen.«
Berin grummelte. Wolfe fuhr fort: »Es war vor dem Krieg, in Figueras.«
Berin nahm die Pfeife aus dem Mund. »Ha! Und?«
»Ja, ich war noch ein junger Kerl, aber nichtsdestotrotz im Auftrag der österreichischen Regierung in geheimer Mission in Spanien unterwegs. Die Spur eines Mannes führte mich nach Figueras, und eines Abends, es war zehn Uhr und ich hatte mein Abendessen versäumt, betrat ich einen kleinen Gasthof am Rande der Plaza und verlangte etwas zu essen. Die Frau sagte, sie hätten nicht viel, und brachte mir den Hauswein, Brot und eine Portion Würste.«
Wolfe beugte sich nach vorn. »Sir, Lucullus hat nie so eine Wurst genossen wie jene. Auch Brillat-Savarin nicht. Noch haben Vatel oder Escoffier je Vergleichbares zustande gebracht. Ich fragte die Frau, woher sie sie hätte. Sie sagte, ihr Sohn mache sie. Ich bat sie um die Ehre, ihn sprechen zu dürfen. Sie sagte, er sei nicht zu Hause. Ich fragte nach dem Rezept. Sie sagte, niemand außer ihrem Sohn kenne es. Ich fragte nach seinem Namen. Sie sagte Jerome Berin. Ich aß noch drei weitere Portionen, verabredete ein Treffen mit ihrem Sohn für den kommenden Vormittag. Eine Stunde später versuchte mein Mann nach Port-Vendres zu entkommen, von wo er ein Schiff nach Algier nahm, und ich musste ihm folgen. Die Jagd führte mich bis nach Kairo, und dann hinderten mich andere Pflichten, Spanien vor dem Krieg noch einmal zu besuchen.« Wolfe lehnte sich zurück und seufzte. »Ich kann, wenn ich die Augen schließe, immer noch diese Wurst schmecken.«
Berin nickte, runzelte aber gleichzeitig die Stirn. »Eine hübsche Geschichte, Mr. Wolfe. Eine wahre Hommage, vielen Dank. Aber natürlich ist die saucisse minuit –«
»Sie hieß damals nicht saucisse minuit, sie war einfach die Hausmacherwurst eines kleinen Gasthofs in einer kleinen spanischen Stadt. Das ist mein Punkt, mit dem ich Sie beeindrucken will: In meiner Jugend, ohne den Gaumen eines erprobten Gourmets, unter erschwerten Bedingungen in einem fragwürdigen Ambiente, erkannte ich diese Wurst als hohe Kunst. Ich erinnere mich gut: Bei der ersten, die ich aß, fürchtete ich, es handele sich nur um ein zufälliges Produkt, eine unbedachte Mischung der Zutaten, doch die anderen schmeckten exakt gleich, wie auch die folgenden drei Portionen. Ein Geniestreich. Und mein Gaumen hat ihn bereits an diesem Ort erkannt. Ich gehöre nicht zu denen, die von Nizza oder Monte Carlo nach San Remo zum Mittagessen ins Corridona fahren, nur weil Jerome Berin berühmt und saucisse minuit sein Meisterwerk ist. Ich musste nicht den Ruhm abwarten, um Größe vorherzusehen. Wenn ich je diesen Ausflug unternähme, wäre es nicht, um zu prahlen, sondern um zu essen.«
Berins Stirn lag immer noch in Falten. »Ich koche außer Würsten auch noch andere Dinge«, brummte er.
»Selbstverständlich. Sie sind ein Meister.« Wolfe wedelte wieder mit dem Finger. »Mir scheint, ich habe Sie irgendwie verärgert, ich muss mich etwas tollpatschig angestellt haben, denn eigentlich war dies als Präambel für eine Bitte geplant. Ich möchte nicht mit Ihnen darüber sprechen, dass Sie sich seit zwanzig Jahren weigern, das Rezept dieser Wurst zu enthüllen, ein Küchenchef muss an sich ebenso denken wie an die Menschheit. Ich bin mit den Bemühungen vertraut, die unternommen wurden, sie zu imitieren. Alles Fehlschläge. Ich kann –«
»Fehlschläge?«, schnaubte Berin. »Beleidigungen! Verbrechen!«
»Ganz sicher auch das. Ich stimme Ihnen zu. Ich verstehe, dass es vernünftig von Ihnen ist, die Gräuel zu verhindern, die in Tausenden Restaurantküchen überall auf der Welt begangen würden, sollten Sie das Rezept bekannt geben. Es gibt nur wenige große Köche, ein paar gute und eine grässliche Anzahl von schlechten. Bei mir zu Hause habe ich einen guten. Mr. Fritz Brenner. Er ist zwar nicht kreativ, aber er ist kompetent und anspruchsvoll. Er ist verschwiegen, und ich bin es auch. Ich flehe Sie an – und nun sind wir bei der Bitte, auf die ich hinauswollte –, ich flehe Sie an, geben Sie mir das Rezept für saucisse minuit.«
»Herr im Himmel!« Berin ließ beinahe seine Pfeife fallen. Er umklammerte sie und starrte Wolfe an. Dann lachte er. Warf die Hände in die Luft und schüttelte sich vor Lachen, als erwartete er, nie wieder einen Witz zu hören und packte deshalb sein Gelächter in diesen einen. Schließlich beruhigte er sich und sah Wolfe voller Verachtung an. »Ihnen?«, wollte er wissen. Sein Tonfall war gehässig, besonders da er von Constanzas Vater kam.
»Ja, Sir«, erwiderte Wolfe ruhig. »Mir. Ich würde Ihr Vertrauen nicht missbrauchen. Ich würde es an niemanden weitergeben. Die Würste würden nur Mr. Goodwin und mir serviert werden. Ich möchte nicht damit angeben, ich möchte sie essen. Ich habe –«
»Herr im Himmel! Unfassbar! Glauben Sie wirklich –«
»Nein, ich glaube nicht. Ich frage lediglich. Sie werden sich gewiss über mich erkundigen wollen, die Ausgaben dafür würde ich Ihnen erstatten. Ich habe mein Wort noch nie gebrochen. Zusätzlich zu Ihren Kosten bin ich bereit, Ihnen dreitausend Dollar zu zahlen. Ich habe kürzlich ein beachtliches Honorar erhalten.«
»Ha! Man hat mir fünfhunderttausend Francs geboten.«
»Für kommerzielle Zwecke. Mein Angebot bezieht sich auf die ausschließliche Nutzung für private Zwecke. Sie wird unter meinem Dach hergestellt werden, und die Zutaten werden von Mr. Goodwin besorgt, den ich für immun gegen jegliche Art von Korruption halte. Ich muss Ihnen ein Geständnis machen. Als Sie noch im Tarleton waren, hat ein Mann aus London zwischen 1928 und 1930 viermal Ihr Restaurant besucht und saucisse minuit bestellt, etwas davon mitgenommen und mir geschickt. Ich habe versucht, sie zu analysieren – ich selbst, ein Nahrungsmittelexperte, ein Küchenchef, ein Chemiker. Die Ergebnisse waren rundweg unbefriedigend. Anscheinend ist es eine Kombination aus Zutaten und Zubereitung. Ich habe –«
Berin unterbrach ihn schneidend: »War es Laszio?«
»Laszio?«
»Phillip Laszio.« Er sprach den Namen aus, als wäre es ein Fluch. »Sie sagten, Sie hätten die Analyse von einem Küchenchef machen lassen …«
»O nein, nicht von Laszio. Ich kenne ihn nicht einmal. Ich habe Ihnen meinen Versuch gestanden, um Ihnen zu zeigen, dass ich durchaus erpicht darauf war, mich Ihres Rezeptes zu bemächtigen, aber es wäre mir niemals in den Sinn gekommen, es zu verraten. Ich gestehe weiter: Ich habe mich nicht allein der Ehre wegen zu dieser hanebüchenen Reise überreden lassen. Mein Hauptanliegen war es, Sie zu treffen. Ich habe nur eine begrenzte Lebenszeit – ich kann noch so und so viele Bücher lesen, so und so viele Ironien belächeln, so und so viele Mahlzeiten zu mir zu nehmen.« Er seufzte, schloss halb die Augen und schlug sie wieder auf. »Fünftausend Dollar. Ich verabscheue es zu feilschen.«
»Nein!« Berin wurde grob. »Weiß Vukcic davon? Hat er mich deshalb hierher –«
»Sir! Ich bitte Sie. Unser Gespräch ist vertraulich. Diese Angelegenheit wurde niemandem sonst gegenüber erwähnt. Ich habe Sie bereits angefleht und tue es wieder. Werden Sie mich erhören?«
»Nein.«
»Unter keinen Umständen?«
»Nein.«
Wolfe stieß einen Seufzer aus, der aus den Tiefen seiner Eingeweide zu kommen schien. Er schüttelte den Kopf. »Ich bin ein Trottel. Ich hätte das niemals im Zug versuchen dürfen. Ich bin nicht ich selbst.« Er streckte sich nach dem Knopf an der Ablage. »Möchten Sie ein Bier?«
»Nein«, schnaubte Berin. »Falsch. Ich meine, ja. Ich hätte gerne ein Bier.«
»Gut.« Wolfe lehnte sich zurück und schloss die Augen. Berin brachte seine Pfeife wieder in Gang. Der Zug ruckelte und legte sich in eine Kurve, und Wolfe griff nach der Armlehne. Der Schaffner kam, nahm die Bestellung auf und war kurz darauf mit Flaschen und Gläsern zurück. Er goss ein, und ich drückte ihm ein paar Münzen in die Hand. Während das Bier durch die Kehlen rann, saß ich da und kritzelte Würste auf eine leere Seite meines Ausgabenbuchs.
»Ich danke Ihnen, Sir«, sagte Wolfe, »dass Sie meine Einladung zum Bier angenommen haben. Es gibt keinen Grund, warum wir keinen freundlichen Umgang pflegen sollten. Ich scheine Sie auf dem falschen Fuß erwischt zu haben. Noch ehe ich meine kleine Anekdote erzählte, die Ihnen eigentlich nur hätte schmeicheln können, hatten Sie etwas Feindseliges im Blick. Knurrten mich praktisch an. Was habe ich falsch gemacht?«
Berin schmatzte mit den Lippen, als er sein leeres Glas abstellte, und seine Hand griff unwillkürlich nach dem Zipfel einer Schürze, die nicht da war. Er suchte nach einem Taschentuch, wischte sich den Mund ab, beugte sich vor, klopfte mit dem Finger auf Wolfes Knie und meinte emphatisch: »Sie leben im falschen Land.«
Wolfe zog die Augenbrauen hoch. »Ach ja? Warten Sie, bis Sie Schildkröte Maryland probiert haben. Oder vielleicht sogar, wenn ich das sagen darf, Austernpastete à la Nero Wolfe, zubereitet von Fritz Brenner. Im Vergleich zu den amerikanischen Austern sind die europäischen bloße Kleckse kupfrigen Protoplasmas.«
»Ich rede nicht von Austern. Sie leben in dem Land, das Phillip Laszio Aufenthalt gewährt.«
»Tatsächlich. Und ich kenne ihn nicht.«
»Aber er kocht den Fraß im Hotel Churchill in Ihrem ureigensten New York! Das müssen Sie doch wissen.«
»Gewiss weiß ich, wer er ist, zumal er ja einer Ihrer Zunft ist –«
»Meiner Zunft? Pah!« Mit einer ausholend langen Armbewegung beförderte Berin Phillip Laszio durch das Fenster. »Nicht meiner Zunft!«
»Verzeihung.« Wolfe neigte den Kopf. »Aber er ist doch einer der Quinze Maîtres, zu denen auch Sie gehören. Wollen Sie behaupten, er sei dessen nicht würdig?«
Erneut klopfte Berin auf Wolfes Knie. Als ich sah, wie Wolfe, der Berührungen verabscheute, sich wand, um die Wurstmission nicht zu gefährden, musste ich grinsen.
»Laszio ist würdig, in kleine Stücke geschnitten und den Schweinen zum Fraß vorgeworfen zu werden!«, presste Berin mit zusammengebissenen Zähnen heraus. »Aber nein – das würde den Schinken ruinieren. Also nur in Stücke geschnitten …«, er deutete auf ein Loch im Boden, »… und verscharrt zu werden. Ich sage Ihnen, ich kenne Laszio seit vielen Jahren. Möglicherweise ist er Türke. Niemand weiß es. Niemand kennt seinen wahren Namen. 1920 hat er meinem Freund Zelota aus Tarragona das Geheimnis seiner rognons aux montagnes gestohlen und behauptet, das Gericht stamme von ihm. Zelota will ihn umbringen, er hat es versprochen. Er hat noch viele andere Rezepte gestohlen. 1927 wurde er trotz meines vehementen Protests in den Kreis der Quinze Maîtres aufgenommen. Seine junge Frau – sind Sie ihr schon begegnet? Sie heißt Dina, sie ist die Tochter von Domenico Rossi vom Empire Café in London, ich habe sie oft auf diesen Knien gewiegt!« Er klatschte sich auf die Schenkel. »Wie Sie zweifelsohne wissen, hat sie zuerst Ihren Freund Vukcic geheiratet, und Laszio hat sie ihm abspenstig gemacht. Vukcic wird ihn umbringen, keine Frage, aber er lässt sich zu viel Zeit!« Berin schüttelte drohend die Fäuste. »Er ist ein Hund, eine Schlange, die im Schleim kriecht! Sie kennen Leon Blanc, unseren verehrten Leon, der einmal zu den Größten zählte? Sie wissen, dass er in einem Schuppen ohne jegliches Ansehen namens Willow Club vor sich hinvegetiert, in einer Stadt namens Boston? Sie wissen, dass sich Ihr Hotel Churchill in New York über Jahre mit seinem Namen und seiner Kochkunst geschmückt hat? Sie wissen, dass Laszio ihm diese Position weggenommen hat – sie ihm durch Unterstellungen, Lügen, Schikanen geraubt hat? Der gute alte Leon wird ihn umbringen! Ganz sicher. Die Gerechtigkeit verlangt es.«
»Dreimal toter Laszio«, murmelte Wolfe. »Erwarten ihn noch weitere Tode?«
Berin sank zurück und knurrte leise: »O ja. Ich werde ihn höchstpersönlich umbringen.«
»Tatsächlich. Hat er Sie auch bestohlen?«
»Er hat alle bestohlen. Gott hat ihn offenbar zum Stehlen erschaffen, soll Gott seiner Seele gnädig sein.« Berin richtete sich auf. »Ich bin am Samstag auf der Rex in New York eingetroffen. Am Abend war ich, getrieben von unbändigem Hass, mit meiner Tochter zum Dinner im Churchill. Wir speisten in einem Salon mit dem Namen Resort Room. Ich weiß nicht, wo er diese Idee geklaut hat. Die Kellner tragen die Uniformen weltberühmter Grand Hotels: dem Shepheard’s in Kairo, dem Les Figuiers in Juan-les-Pins, dem Continental in Biarritz, dem Del Monte in eurem Kalifornien, dem Kanawha Spa, wohin uns dieser Zug bringt, und noch viele mehr, Dutzende, alles ist gigantisch dort. Wir hatten kaum an unserem Tisch Platz genommen, was sehe ich? Einen Kellner, der Laszios Fraß aufträgt – in einer Livree meines eigenen Corridona! Stellen Sie sich vor! Ich wäre aufgesprungen, um ihn zu zwingen, sie auszuziehen, hätte sie ihm mit den eigenen Händen vom Leib gerissen« – er schüttelte sie unkontrolliert vor Wolfes Nase – »aber meine Tochter hielt mich zurück. Sie sagte, ich solle ihr keine Schande machen, aber was ist mit meiner Schande? Zählt die nichts?«
Wolfe schüttelte sichtbar teilnahmsvoll den Kopf und goss Bier nach.
Berin fuhr fort: »Zum Glück befand sich der Tisch, den er bediente, weit weg von uns, und ich konnte ihm den Rücken kehren. Aber dann. Das müssen Sie gehört haben: Ich studierte die Speisekarte, und was sehe ich? Was?«
»Ich hoffe nicht saucisse minuit.«
»Doch! Tatsächlich! An vierter Stelle der entrées! Natürlich wusste ich es. Schon vor Jahren hatte man mir zugetragen, dass Laszio gehacktes Leder mit weiß Gott was für Gewürzen serviert und es saucisse minuit nennt – aber es schwarz auf weiß gedruckt zu sehen, wie auf meiner eigenen Karte! Der ganze Saal drehte sich um mich, Tische, Stühle, all die Livrierten. Wäre Laszio in diesem Moment aufgetaucht, ich hätte ihn mit bloßen Händen erwürgt. Aber er tat es nicht. Mit zitternder Stimme bestellte ich beim Kellner zwei Portionen. Sie wurden auf Porzellan serviert – pah! – und sahen aus – ich sage besser nicht wie. Diesmal gab ich meiner Tochter keine Gelegenheit, zu protestieren. Ich nahm die Platten, in jede Hand eine, erhob mich von meinem Stuhl, drehte sie mit ruhiger Entschlossenheit um und beförderte die widerliche Masse auf den Teppich! Natürlich entstand ein Aufruhr, unser Kellner kam angerannt, doch ich nahm den Arm meiner Tochter und wir gingen. Der maître d’ versuchte, uns aufzuhalten, aber ich brachte ihn in gebührendem Ton zum Schweigen: ›Ich bin Jerome Berin vom Corridona aus San Remo! Schaffen Sie Phillip Laszio her und zeigen Sie ihm, was ich getan habe, aber halten Sie mich davon ab, ihm an die Kehle zu gehen!‹ Viel mehr sagte ich nicht. Das war auch nicht nötig. Ich nahm meine Tochter mit zu Rusterman’s, wo ich Vukcic traf, der mich mit einem Teller seines Gulaschs und einer Flasche Château Latour besänftigte. Dem 29er.«
Wolfe nickte. »Der würde einen Tiger zähmen.«
»Das tat er. Ich schlief gut. Doch am nächsten Morgen – gestern – wissen Sie, was da geschah? Ein Mann kam zu mir ins Hotel mit einer Nachricht von Phillip Laszio, der mich zum Mittagessen einlud! Können Sie sich eine solche Unverfrorenheit vorstellen? Aber warten Sie, das ist noch nicht alles. Der Mann, der mir die Nachricht überbrachte, war Alberto Malfi!«
»Tatsächlich. Müsste ich ihn kennen?«
»Nicht mehr. Er nennt sich jetzt nicht mehr Alberto, sondern Albert – Albert Malfi, ein ehemaliger korsischer Orangenschäler, den ich in einem Café in Ajaccio entdeckt und mit nach Paris genommen hatte. Ich war damals im Provençal. Dort habe ich ihn ausgebildet und ihm alles Nötige beigebracht, um einen guten Vorspeisenkoch aus ihm zu machen. Er ist jetzt Laszios Souschef im Churchill. Laszio hat ihn mir 1930 in London abspenstig gemacht. Mich meines besten Schülers beraubt und mir ins Gesicht gelacht! Und jetzt schickt ihn dieser schamlose Frosch mit einer Einladung zum Mittagessen zu mir! Alberto taucht in einem Cutaway bei mir auf, verbeugt sich und spricht, als wäre nie etwas geschehen, in perfektem Englisch die Einladung aus!«
»Ich nehme an, Sie sind ihr nicht gefolgt.«
»Pah! Würde ich Gift essen? Ich habe Alberto rausgeschmissen.« Berin schauderte. »Ich werde es nie vergessen – einmal, 1926, als ich krank war und nicht arbeiten konnte, war ich so nah« – er hielt Daumen und Zeigefinger einen Zentimeter auseinander – »so nah dran, ihm das Rezept für saucisse minuit zu überlassen. Herr im Himmel! Hätte ich das getan! Er würde es jetzt für Laszio zubereiten. Schrecklich!«
Wolfe stimmte ihm zu. Er hatte eine weitere Flasche geleert und hob nun zu einer sanften, von Mitgefühl und Verständnis getragenen Rede an, die mir einen Stich versetzte. Er hätte wissen müssen, dass es vergebliche Liebesmüh war, dass er keine Chance hatte zu bekommen, was er wollte; und es ärgerte mich, zusehen zu müssen, wie er sich vor diesem verrückten Würstekoch erniedrigte. Außerdem hatte der Zug mich so schläfrig gemacht, dass ich kaum die Augen offen halten konnte. Ich stand auf.
Wolfe sah mich an. »Ja, Archie?«
Ich sagte nur entschlossen: »Speisewagen«, öffnete die Tür und verdrückte mich.
Es war bereits nach elf Uhr, und die Hälfte der Plätze im Speisewagen war leer. Zwei propere junge Burschen, die direkt der Pomade-Werbung entsprungen schienen, tranken Highballs, dann gab es einige verstreute Glatzköpfe und Silberlocken, die die Schaffner seit dreißig Jahren mit George anredeten. Vukcic und Miss Berin saßen vor leeren Gläsern und wirkten weder angeregt noch verzückt. Neben ihr, auf der anderen Seite des Ganges, saß in einem zurückhaltenden grauen Anzug ein kantiger blauäugiger Modellathlet, der es binnen zehn Jahren mit Sicherheit zum Selfmademan bringen würde. Ich blieb vor meinen Freunden stehen und grüßte. Sie erwiderten den Gruß. Der blauäugige Modellathlet schaute von seinem Buch auf und machte Anstalten aufzustehen, um mir einen Platz anzubieten.
Doch Vukcic kam ihm zuvor. »Nehmen Sie meinen, Goodwin. Ich bin sicher, Miss Berin wird nichts gegen den Schichtwechsel einzuwenden haben. Ich war gestern die halbe Nacht auf den Beinen.«
Er wünschte Gute Nacht und verschwand. Ich verstaute meine Körperteile, und als der Steward seine Nase herausstreckte, winkte ich ihn her. Wie es schien, war Miss Berin dem amerikanischen Ginger Ale verfallen, und ich bestellte ein Glas Milch. Unsere Bedürfnisse wurden befriedigt, und wir nippten an unseren Gläsern.
Sie sah mich aus purpurnen Augen an, die jetzt noch dunkler wirkten. Wie sie wirklich waren, würde ich erst bei Tageslicht beantworten können.
»Sie sind tatsächlich Detektiv, nicht wahr?«, fragte sie mit kehliger Stimme. »Mr. Vukcic hat es mir erzählt, er speist einmal im Monat bei Mr. Wolfe, und Sie wohnen dort. Er sagt, Sie seien sehr mutig und hätten Mr. Wolfe dreimal das Leben gerettet.« Sie schüttelte den Kopf, und in ihren Augen spiegelte sich ein stummer Vorwurf. »Aber das mit dem Pferdetränken hätten Sie mir nicht zu erzählen brauchen. Sie hätten sich denken können, dass ich nachfragen und dahinterkommen würde.«
»Vukcic ist erst seit acht Jahren im Land und weiß sehr wenig über das Detektivgeschäft«, wandte ich mit entschiedener Stimme ein.
»O nein!«, sprudelte sie. »Ich bin nicht mehr jung genug, dass man mich so zum Narren hält. Die Schule habe ich seit drei Jahren hinter mir.«
»Schon gut. Vergessen Sie die Pferde.« Ich winkte ab. »Was für Schulen besuchen junge Mädchen da drüben?«
»Eine Klosterschule. Ich zumindest. In Toulouse.«
»Sie sehen aber nicht aus wie die Nonnen, die mir begegnet sind.«
Sie nippte an ihrem Ginger Ale und lachte dann. »Ich bin ja auch keine Nonne. Im Gegenteil. Ich bin überhaupt nicht religiös. Ich bin weltlichen Dingen sehr aufgeschlossen. Mutter Cecilia hat uns immer erklärt, dass ein Leben im Dienste am Nächsten das Reinste und Süßeste wäre, aber als ich darüber nachgedacht habe, schien es mir das Beste, erst einmal für längere Zeit das Leben zu genießen, mindestens bis man fett wird oder krank oder eine große Familie hat, und erst dann mit dem Dienst am Nächsten zu beginnen. Meinen Sie nicht auch?«
Ich schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich bin gern zu Diensten. Aber natürlich sollte man es nicht übertreiben. Genießen Sie denn Ihr Leben?«
Sie nickte. »Manchmal. Meine Mutter starb, als ich noch klein war, und mein Vater hat mir eine Menge Vorschriften gemacht. Ich habe aber gesehen, wie die amerikanischen Mädchen, die nach San Remo kamen, sich benahmen, und dachte, so will ich auch werden, musste aber feststellen, dass ich gar nicht wusste, wie man das anstellte, und dann hat mein Vater mitbekommen, wie ich ohne Aufpasser mit Lord Gerleys Boot um die Landzunge gesegelt bin.«
»War Gerley nicht dabei?«
»Schon, aber er war keine Hilfe. Er schlief ein, fiel über Bord, und ich musste drei Mal wenden, um ihn herauszufischen. Mögen Sie die Engländer?«
Ich hob eine Augenbraue. »Tja, ich schätze, wenn alles, wirklich alles passt, könnte ich auch einen Engländer mögen. Zum Beispiel, wenn ich mich auf einer einsamen Insel befände, seit drei Tagen nichts mehr gegessen hätte und er gerade ein Kaninchen gefangen hätte – oder falls es keine Kaninchen gibt, von mir aus auch ein Wildschwein oder ein Walross. Mögen Sie die Amerikaner?«
»Ich weiß nicht!« Sie lachte. »Seit ich erwachsen bin, habe ich nur ein paar kennengelernt, in San Remo und Umgebung, und mir kam es so vor, als redeten sie komisch und hielten sich für was Besseres. Die Männer, meine ich. Aber einen habe ich gemocht, den habe ich einmal in London getroffen, ein Reicher mit Magenproblemen, der im Tarleton abgestiegen war. Mein Vater hat Schonkost für ihn gekocht, und als er abreiste, schenkte er mir ein paar hübsche Sachen. Seit ich in New York angekommen bin, waren viele wohl ziemlich gut aussehend. Gestern im Hotel bin ich einem begegnet, der war richtig hübsch. Er hatte eine Nase, ein bisschen wie Sie, aber hellere Haare. Ich kann nicht wirklich sagen, ob ich jemanden mag, bis ich ihn richtig gut kenne…«
Sie plapperte weiter, doch ich wurde durch eine neue Entdeckung abgelenkt. Als sie ihr Glas abgesetzt hatte, war mein Blick von ihren Augen nach unten gewandert, und als sie ihre Beine gekreuzt hatte, wie es die amerikanischen Mädchen tun, nämlich ohne viel Aufhebens um den Rock zu machen, bot sich mir von einem wohlgeformten Fuß und einem makellosen Knöchel an aufwärts der befriedigendste Anblick, der mir je untergekommen war. So weit, so gut, das Problem war nur, dass der blauäugige Modellathlet ihr gegenüber ebenfalls mit einem Auge über den Rand seines Buches schielte und kein Zweifel daran bestehen konnte, dass er dasselbe faszinierende Objekt studierte wie ich. Meine stumme Reaktion darauf war nicht gesellschaftsfähig und alarmierend. Anstatt mich daran zu ergötzen, dass ein Geschlechtsgenosse eine delikate Erfahrung mit mir teilte, überkam mich der fast unkontrollierbare Impuls, zwei Dinge gleichzeitig zu tun: den Modellathleten niederzustarren und ihr zu sagen, sie solle ihren Rock hinunterziehen!
Ich riss mich zusammen und ging das Ganze von der logischen Seite an: Es gab nur eine Erklärung, mit der ich meinen Widerwillen, dass er dieses Bein betrachtete, und mein Verlangen, es ihm auszutreiben, rechtfertigen konnte, und die lautete: Das Bein gehörte mir. Offensichtlich ging ich zusehends davon aus, das Bein als meinen Besitz zu betrachten, oder entwickelte zumindest die Absicht, es zu erwerben. Ersteres war Unsinn; das Bein gehörte mir nicht. Letzteres war gefährlich, denn wenn man die Situation insgesamt betrachtete, gab es nur eine praktische und ethische Möglichkeit, es zu erwerben.
Sie redete immer noch. Ich schüttete ganz gegen meine Gewohnheit den Rest der Milch in mich hinein, überlegte mir, was ich antworten konnte, und wandte mich dann an sie, ohne noch mal das Risiko einzugehen, in ihre dunklen purpurnen Augen zu schauen.