Zufall!? - Reinhold Beckmann - E-Book

Zufall!? E-Book

Reinhold Beckmann

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Beschreibung

»Zufall ist im Grunde die Ohrfeige, die dir sagt: Du meinst, du hättest die Kontrolle in deinem Leben? Nein, hast du nicht.« Ranga Yogeshwar Wie entscheidend sind die Zufälle des Lebens? Reinhold Beckmann befragte dazu herausragende Menschen aus Kultur, Politik, Wirtschaft und Sport. Sie erzählen ihre sehr persönliche Geschichte und geben Auskunft, wie der Zufall ihr Leben prägte - oder eben auch nicht. Ein Querschnitt prominenter Menschen unserer Zeit, Frauen von Hildegard Hamm-Brücher über Ursula von der Leyen, Sahra Wagenknecht bis Cornelia Funke und Magdalena Neuner und Männer von Roman Herzog, Martin Walser, Jürgen Grossmann bis Campino - sie alle erzählen von den Zufällen, die ihnen in ihrem Leben begegneten. Ihre Erfahrungen sind nicht nur sehr unterschiedlich, sondern die Protagonisten beurteilen auch sehr verschieden, was Zufall eigentlich ist. Von »Zufall ist das, was der liebe Gott eigentlich wollte« (Jens Lehmann) bis »Die Natur besteht nur aus unbeherrschbarem Chaos, darin gibt es keine Zufälle, sondern nur Naturgesetze« (Reinhold Messner). Flankiert werden die Texte von hochwertigen Fotos von Paul Ripke.

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Seitenzahl: 279

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Reinhold Beckmann | und Sabine Paul

Zufall!?

Eine Spurensuche in außergewöhnlichen Biographien

Fotos: Paul Ripke

Hoffmann und Campe Verlag

Vorwort

Was ist eigentlich ein Zufall? Diese Frage ist schwieriger zu beantworten, als man denkt. Der Duden zeigt sich wenig hilfreich, verweist nur auf das, »was man nicht vorausgesehen hat, was nicht beabsichtigt war, was unerwartet geschah«. Das alles trifft auch auf das Schicksal zu, dennoch scheinen die beiden nichts gemein zu haben. Der Zufall begegnet uns meist als verspielter Luftikus, der uns tändelnd im Vorübergehen streift, ein bisschen Goldstaub auf unserem Weg verstreut und dann eilends wieder entschwindet. Das Schicksal hingegen, der existenzielle Zwilling des Zufalls, ist eine weitaus härtere Nuss. Es waltet bedrohlich als strenge, unbeugsame Macht, dringt strafend mit »Schlägen« in die menschliche Existenz ein. Es kann bestenfalls »gemeistert werden«, nimmt aber meistens unbeirrbar »seinen Lauf«. »Das Schicksal ist«, wie es Peter Ustinov formulierte, »zu ernst, als dass man es dem Zufall überlassen kann.«

Neugierig geworden durch viele außergewöhnliche Biographien, mit denen wir uns über die Jahre journalistisch beschäftigt haben, wollten wir wissen, welche Rolle der Zufall für den einen oder anderen erfolgreichen und bemerkenswerten Lebensweg gespielt hat. Lagen dem Erfolg immer Genie oder Wahnsinn zugrunde? Steckt in jedem erfolgreichen Menschen zumindest immer ein Nanogramm Galilei, ein Quäntchen Bismarck oder eine Prise Beethoven? Reichen ein klares Ziel vor Augen und der brennende Wunsch, es zu schaffen? Oder bedarf es zusätzlich doch der Gunst der Stunde, der Laune eines Augenblicks, des richtigen Moments am richtigen Ort?

Wenn ich diese Fragen mir selbst stelle, fällt mir auf: In meinem Leben hat sich der Zufall oft als kein schlechtes Ziel erwiesen. Weder Sportreporter noch Fernsehmoderator standen für mich auf dem Lebensplan. Ich wollte am liebsten Filme machen. Diesem Ziel war ich schon recht nahe, als ich Anfang der achtziger Jahre in der Kölner Filmproduktion Tag/Traum arbeitete. Aber weil ein Redakteur sich ausgedacht hatte, die zahlreichen in der Stadt gastierenden Künstler kurz vor ihrem Auftritt mit einem Interview live in der Garderobe zu überraschen, stand ich eines Tages, mit einem Mikrophon bewaffnet, vor einem nahezu nackten Udo Jürgens, der gerade von einem Masseur traktiert wurde. Startschuss für die Serie »Backstage« und meinen Einstieg beim Fernsehen. Und mit meinem Weg in den Sportjournalismus lief es nicht viel anders.

In unseren Gesprächen zeigte sich, dass jeder der Begegnung mit dem Unerwarteten eine andere Bedeutung zumisst, mancher eine größere, mancher gar keine, die meisten halten es mit einem entschiedenen Mal-so-mal-so. Was macht die Einschätzung so schwierig? »An den Zufall zu glauben, entspricht der Entmündigung der Willensfreiheit«, sagt Ranga Yogeshwar. Deshalb mögen einige den Zufall gar nicht und versuchen, ihn in Schach zu halten, soweit es nur geht – wie beispielsweise Bundeskanzlerin Angela Merkel –, andere sind der unerschütterlichen Überzeugung: Es gibt keine Zufälle! Stattdessen schwören sie auf den Einfluss des Schicksals, einen höheren Plan, die Macht der Naturgesetze. Seit zweitausend Jahren versuchen viele große Geister, diese Frage zu klären, sogar die moderne Physik müht sich um eine eindeutige Antwort, aber bisher Fehlanzeige.

»Gott würfelt nicht«, entschied Albert Einstein, als die Quantenphysik jeder inneren Ordnung eine Absage erteilte. Er behauptete, dass die Welt im Innersten keinen Prinzipien gehorcht, aber beweisen konnte Einstein das nicht. Auch die Mathematik hilft nicht weiter. Sie kann zwar mit riesigen Datenmengen Wahrscheinlichkeiten berechnen – die Gewinnchancen eines Lottospielers, die Lebenserwartung aller vegetarisch lebenden Dackelbesitzer oder die Wahrscheinlichkeit, an einer seltenen Art von Zeckenbissen zu sterben. Auch dass in einer Gruppe von 23 Menschen die Wahrscheinlichkeit mehr als 50 Prozent beträgt, dass zwei von ihnen am selben Tag Geburtstag haben. (Wir waren trotzdem amüsiert, dass Carl Djerassi und Dieter Nuhr beide am 29. Oktober geboren sind!) Doch wer wissen will, ob es ein Zufall ist oder nicht, einen verschollen geglaubten Freund genau in dem Augenblick zu treffen, in dem man nach Jahren mal wieder an ihn denkt, dem kann auch die höhere Mathematik nicht helfen.

Die Hirnforschung liefert immerhin einen wichtigen Hinweis: Die Mechanismen unserer Wahrnehmung sind evolutionären Ursprungs. Unser Gehirn ist darauf programmiert, nicht an Zufälle zu glauben, sondern aus geringsten Bruchstücken Zusammenhänge und Ursachen zu erkennen. So kann sich das Individuum in der Welt orientieren. Es kann lebensrettend sein, aus dem Rascheln im Gebüsch auf das Nahen des Tigers zu schließen. Wenn es nur eine Maus war, hat man sich halt umsonst erschreckt, ist aber immerhin nicht als Abendessen verspeist worden. Für jegliches Ereignis schnell eine Erklärung parat zu haben, gibt uns außerdem das angenehme Gefühl, die Kontrolle zu behalten und selbstbestimmt handeln zu können. Doch ist das nun alles eine Illusion?

Die Bandbreite von Erklärungen für den Ausgang eines Fußballspiels beispielsweise ist beeindruckend. Der Trainer der Siegermannschaft kann en détail erläutern, mit welcher Taktik er seine Elf zum unausweichlichen Erfolg geführt hat. Ganz anders hört sich das beim Trainer der unterlegenen Mannschaft an. Der Misserfolg ist oft auf unglückliche, nicht vorhersehbare Ereignisse wie parteiische Schiedsrichter, unverhältnismäßig viele Latten- und Pfostenschüsse oder ein überraschendes Formtief zurückzuführen. Kurzum, die Niederlage wird erklärt als ein dummer, ärgerlicher Zufall. »Sieger« hingegen, das hat schon Nietzsche festgestellt, »kennen keinen Zufall.«

 

Und was folgt daraus als Handlungsanweisung fürs eigene Leben: Fatalismus oder Detailplanung? Beides falsch, sagen die Psychologen, sinnvoll sei es vielmehr, dem Zufall eine Chance zu geben. Das bedeute nicht, erwartungsvoll auf dem Sofa auszuharren und auf eine glückliche Fügung zu warten, sondern aktiv die Wahrscheinlichkeit für freundliche Zufälle zu erhöhen. Ein Meister in diesem Fach scheint zum Beispiel Mario Adorf zu sein. Von ihm haben wir erfahren, wie man die eigene Sichtbarkeit für Fortuna steigern kann, indem man etwa höllische Schmerzen aushält und dafür dann am Ende eine wegweisende satanische Charakterrolle ergattert. Roman Herzog hingegen hat uns erzählt, wie man es als wachsames, flexibles Geißeltierchen zum Bundespräsidenten bringen kann und als verliebter Türmer auf einer schwäbischen Raubritterburg landet. Sahra Wagenknecht berichtet, wie sie der teuflische Thomas-Mann-Held Adrian Leverkühn zum politischen Engagement animierte. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen spricht über einen ordinären Plattfuß, dem sie Eheglück und Kindersegen verdankt. Der Unternehmer Jürgen Großmann schuckelt im VW Cabrio der Mutter zwei australische Manager durch den Ruhrpott und rettet die Klöckner-Werke. Reinhold Messner macht auf seiner Gartenmauer Bekanntschaft mit der Tücke des unbedachten Moments, die fast seine einzigartige Bergsteigerkarriere beendet. Der Aufstieg des Kabarettisten Dieter Nuhr beginnt mit einer halb abgetrennten Hand, und die »Tintenherz«-Autorin Cornelia Funke offenbart, welche Rolle ein kleiner, amerikanischer Junge für ihre Weltkarriere spielte.

Wir tun oft so, als sei Erfolg ausschließlich eine Frage der persönlichen Leistung. Doch die Geschichten, die wir gehört haben, lassen vermuten, dass die Dinge nicht ganz so einfach liegen. Sie erzählen stattdessen von Menschen, die etwa eine außergewöhnliche Chance bekamen, großen Einsatz zu zeigen, die diese Chance ergriffen und dies zufällig zu einem Zeitpunkt, an dem die Gesellschaft diesen spontanen Einsatz belohnte. So bezeichnet Helmut Schmidt zwar überraschend, aber nicht ohne Grund die Hamburger Sturmflut als einen der entscheidenden Zufälle in seinem Leben. Carl Djerassi ist überzeugt, wäre er mit seinem entscheidenden Coup, der Entwicklung der chemischen Formel für die Antibabypille, 15 Jahre später dran gewesen, wir hätten bis heute keine Pille! Oder Hildegard Hamm-Brücher: Ihre liberale Stimme, ihr Einsatz für eine aufgeklärte Bürgergesellschaft prägten das Gesicht ihrer Partei in den Bonner Jahrzehnten, heute ist sie nicht einmal mehr Mitglied der FDP.

Und noch etwas anderes zeigt sich in den Geschichten: Niemand, kein Musikstar, kein Profisportler, kein Spitzenpolitiker, nicht einmal ein Wissenschaftsgenie, schafft es ganz allein. Der Zufall oder was man dafür hält, muss schon ein bisschen zu Hilfe kommen, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Zufällig hatte ein WDR-Redakteur mitgehört, wie ich Kollegen damit unterhielt, prominente Fußballreporter zu imitieren. Ich hatte damit wohl bei ihm den Eindruck erweckt, Fußballspiele kommentieren zu können. Vielleicht hätte ich ohne diese Begegnung nie den Anruf bekommen, ich solle am nächsten Wochenende über das Spiel Bad Honnef gegen Schwarz-Weiß Essen aus der Amateur-Oberliga Nordrhein berichten. Ich hatte so etwas noch nie gemacht, lediglich mit meinen Brüdern in Kindertagen jeden Sonnabend vor dem Radio die Fußballberichte verfolgt und Reporterstimmen imitiert. Und nun sollte ich selber ran?

Das Spiel damals endete übrigens 1:0