11,99 €
Was geht in jungen Menschen vor, die von Deutschland aus in den Dschihad ziehen? Und wie kann man ihnen helfen, aus einem menschenverachtenden Milieu wie dem Salafismus herauszufinden?
Thomas Mücke leitet eine der wichtigsten Anlaufstellen, die mit ausreisegefährdeten Jugendlichen und Rückkehrern aus Kriegsgebieten arbeiten. Hier präsentiert er Geschichten von Jugendlichen, die sich radikalisiert haben. Er erläutert die Gründer der Radikalisierung und zeigt Lösungswege auf. Sein Fazit: Nur wenn wir bereit sind, uns mit den jungen Menschen auseinanderzusetzen, haben wir gegen den zunehmenden Extremismus eine Chance.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 299
Über dieses Buch
Titel
Impressum
Prolog»Die ist in der Hölle«
Mehmet: »Man fällt richtig leicht drauf rein«
Mehmet wollte helfen. Doch die Realität in Syrien hat ihn geschockt. Warum nicht jeder Syrien-Rückkehrer gefährlich ist, und welcher Ideologie Jugendliche wie er folgen.
Adam: »Ich gehe aus einer bösen in eine heile Welt«
Adam ist einer von vielen Konvertiten, die in den Krieg ziehen. Was den Salafismus für sie attraktiv macht und wo sie ihre Vorbilder finden.
Hamid: »Ich hätte für meinen Glauben getötet«
Fast wäre Hamid im Gefängnis zum Gotteskrieger geworden. Wie traditionelle Konzepte von Ehre zum Einfallstor für den Islamismus werden und der Glaube einem die Kraft zur Wandlung geben kann.
Silvia und Celine: »Wenn er mich schlägt, ist das nicht so schlimm«
Silvia und Celine sehnten sich nach der Ehe mit einem Gotteskrieger. Warum immer mehr Frauen in die Kriegsgebiete ausreisen und sich einem frauenfeindlichen System unterordnen.
Murat: »Ich chille, gehe kämpfen, mache meinen Job für Allah«
Vom Dschihad in Syrien in ein deutsches Gefängnis. Wie der IS die Kämpfer an sich bindet, warum Wegsperren die Lage verschlimmert und es sich lohnt, auch mit stark radikalisierten Menschen zu arbeiten.
Thorsten: »Ich bin ein Nazi-Kämpfer – die müssen weg«
Blinder Gehorsam gegenüber der Gruppe, Hass auf alles andere. Welche Parallelen sich zwischen Rechtsextremisten und Islamisten erkennen lassen.
FazitDen Extremismus entzaubern
Anhang
Was man tun kann – Hilfe für Betroffene
Der Ansatz von Violence Prevention Network
Die Autoren
Dank
Was geht in jungen Menschen vor, die von Deutschland aus in den Dschihad ziehen? Und wie kann man ihnen helfen, aus einem menschenverachtenden Milieu wie dem Salafismus herauszufinden? Thomas Mücke leitet eine der wichtigsten Anlaufstellen, die mit ausreisegefährdeten Jugendlichen und Rückkehrern aus Kriegsgebieten arbeiten. Hier präsentiert er Geschichten von Jugendlichen, die sich radikalisiert haben. Er erläutert die Gründer der Radikalisierung und zeigt Lösungswege auf. Sein Fazit: Nur wenn wir bereit sind, uns mit den jungen Menschen auseinanderzusetzen, haben wir gegen den zunehmenden Extremismus eine Chance.
Thomas Mücke
mit Dörthe Nath
ZUM HASSVERFÜHRT
Wie der Salafismusunsere Kinder bedrohtund was wir dagegentun können
BASTEI ENTERTAINMENT
Das vorliegende Buch beruht auf Tatsachen. Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte wurden Namen und Details verändert.
Dieser Titel ist auch als E-Book erschienen
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2016 by Thomas Mücke und Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: Christina Hucke, www.christinahucke.de
Umschlagmotiv: © Tomas Rodriguez, Köln
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-2368-9
www.eichborn.de
www.bastei-entertainment.de
Mitten in der Nacht klingelt mein Telefon. Ich gehe ran. Um diese Uhrzeit kann es nur etwas Dringendes sein.
Am anderen Ende: eine Frauenstimme. Schluchzen.
»Ich rufe wegen meiner Tochter an, weiß aber gar nicht, ob ich bei Ihnen richtig bin«, sagt sie unsicher.
»Schauen wir mal, ob Sie hier richtig sind«, gebe ich ruhig zurück. »Was ist denn mit Ihrer Tochter?«
»Ich glaube, meine Tochter ist in Syrien …«
»Dann sind Sie bei mir richtig!«
Das Schluchzen lässt etwas nach, und die Frau beginnt zu erzählen.
Ihre Tochter ist vierundzwanzig Jahre alt, hat zwei Ausbildungen abgebrochen.
»Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Jetzt ist sie weg, und ich habe einfach keine Ahnung, was ich tun soll.«
»Woher wissen Sie denn, dass sie in Syrien ist?«
»Ich habe eine Nachricht aufs Handy bekommen: ›Liebe Mama, ich bin in Syrien, mach dir keine Sorgen. Mir geht’s gut.‹«
Sie macht eine Pause, schluckt, unterdrückt die Tränen.
»Mir keine Sorgen machen – wie soll das gehen? Die ist in der Hölle – da herrscht doch Krieg.«
Es ist schwer, jemanden zu beruhigen, der so verzweifelt ist. Eine Mutter, die furchtbare Angst hat, dass sie ihre Tochter nicht mehr lebend wiedersehen könnte.
Das ist einer von vielen Anrufen, die mich erreichen. Getätigt von Vätern und Müttern, die emotional völlig aufgewühlt sind, die versuchen, irgendwo Halt zu finden. Ihre Not ist oft so groß, dass sie die Uhrzeit völlig vergessen.
Extremistischer Salafismus, Dschihad, »Islamischer Staat«, abgeschlagene Köpfe, Selbstmordattentäter in Paris, blanker Hass und blinde Zerstörungswut: Wie eine schaurige Filmmusik begleiten die Bilder und Meldungen in den Nachrichten unseren Alltag. Man hört davon, liest darüber – aber man kann es nicht wirklich begreifen.
Und am rätselhaftesten erscheint es, dass viele der Kämpfer, die diese Gräueltaten anrichten, sich mitten in unserer Gesellschaft radikalisiert haben, bevor sie dann schlimmstenfalls als »Foreign Fighters« in Syrien und im Irak Menschen umbringen oder Anschläge in Europa verüben.
Zum Jahresende 2015 zählte der deutsche Verfassungsschutz 760 Männer und Frauen, die aus Deutschland zur Terrormiliz des sogenannten Islamischen Staates ausgereist sind.
Ich beschäftige mich seit fünfundzwanzig Jahren als Sozialarbeiter und Pädagoge mit radikalisierten Jugendlichen. In dieser Zeit habe ich einen Erfahrungsschatz angehäuft, der mir dabei hilft zu verstehen, wie junge Menschen in diese Szenen abrutschen können, durch den ich aber auch weiß, wie sie sich aus den extremistischen Milieus wieder lösen können – was sie brauchen, um ein eigenverantwortliches Leben jenseits von Hass und Gewalt zu führen.
Der nächtlichen Anruferin kann ich zumindest eine große Sorge nehmen. Denn in der Regel sind die jungen Frauen aus Deutschland, die freiwillig nach Syrien gehen, um sich dort dem »Islamischen Staat« anzuschließen, nicht an der Front. Sie werden nicht als Kämpferinnen rekrutiert, sondern als Ehefrauen.
Ich spreche leise und bedächtig mit ihr. In solch einem ersten Telefonat geht es vor allem darum, Ruhe reinzubringen. Ich frage sie, ob sich ihre Tochter verändert habe in den letzten Monaten. Sie erzählt, dass das Mädchen plötzlich einen Schleier trug. Und das, obwohl sie mit Religion generell nie viel am Hut hatte – geschweige denn mit dem Islam. Plötzlich betete sie fünf Mal am Tag, aß kein Schweinefleisch mehr, trank keinen Tropfen Alkohol. Vorher war sie gern auf Partys gegangen, hatte sich mit ihren Freunden getroffen, kam auch schon mal betrunken nach Hause. Und auf einen Schlag wollte sie dann von ihren alten Freunden nichts mehr wissen und brach alle Kontakte ab.
»Das war so ein enormer Sinneswandel in so kurzer Zeit, das habe ich gar nicht verstanden.«
»Haben Sie ihr das gesagt?«
»Ja klar. Ich habe ihr gesagt, dass ich mir Sorgen darüber mache, wie sehr sie sich verändert habe, und dass sie mir Angst mache. Aber sie hat das abgeblockt. Ich bin gar nicht mehr an sie rangekommen. Wie eine Fremde war sie.«
»Hat sie einen Abschiedsbrief hinterlassen?«
»Nein. Aber ihr Koran lag auf dem Schreibtisch, aufgeschlagen – da hatte sie eine Stelle markiert. Ich dachte erst, dass sie bei einer Freundin ist. Als sie dann die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen ist, hab ich in ihren Schrank geguckt – da fehlten der Koffer und ein paar von ihren Klamotten.«
Die Mutter ist alleinerziehend und mit der Situation überfordert.
Immer wieder habe sie ihre Tochter in Syrien angerufen, sie angefleht: »Bitte komm zurück.« Bis diese irgendwann nicht mehr ans Telefon gegangen sei und sie nur noch Männerstimmen im Hintergrund gehört habe.
Hätte die Mutter sich früher bei mir gemeldet, dann hätte ich ihr davon abgeraten, so häufig anzurufen. Jeder Anruf, jede SMS kann die Tochter in Gefahr bringen, und sie können – wie in diesem Fall – dazu führen, dass der Kontakt abbricht, dass dieser seidene Faden, an dem sie ihre Tochter vielleicht wieder hätte zurückziehen können, abreißt.
Tatsächlich sind bei Frauen, die nach Syrien ausreisen, die Chancen gering, dass sie zurückkehren. Diese Mutter hat also in jeder Hinsicht zu spät Unterstützung erhalten. Das ist ihr jedoch nicht anzulasten, denn sie ahnte schlicht nichts von Hilfsangeboten, sie hat meine Nummer erst zufällig im Internet gefunden, als ihr auch die Polizei nicht weiterhelfen konnte und sie vor Verzweiflung nicht mehr ein noch aus wusste.
Umso wichtiger, ihr zuzuhören und für sie da zu sein.
Dieses Buch soll dazu beitragen, dass mehr Menschen davon erfahren, dass es Auswege gibt, dass man verhindern kann, dass Jugendliche und junge Erwachsene so sehr in die extremistisch-salafistische Szene abrutschen, dass sie ihr Leben riskieren und sich den Verbrechern der Terrororganisation »Islamischer Staat« anschließen – dass sie sich von dem Hass, den sie in sich tragen, auch wieder befreien können.
Im Rahmen meiner Organisation Violence Prevention Network (VPN) arbeite ich seit vielen Jahren mit gefährdeten jungen Männern und Frauen in extremistischen Szenen – wir betreuen sowohl Rechtsextremisten als auch dschihadistische Islamisten. Siebzig Mitarbeiter arbeiten für VPN – vom Sozialarbeiter bis zum Islamwissenschaftler. Wir haben über die Zeit mit mehr als neunhundert Jugendlichen und jungen Menschen gearbeitet – und diesen Erfahrungsschatz möchte ich teilen.
Egal um welche extremistischen Verführungen es geht, die Lebensläufe dieser jungen Menschen sind oft von Brüchen geprägt, schulischen und beruflichen Misserfolgen, zerrütteten familiären Verhältnissen oder auch von einem kriminellen Umfeld. Diese Jugendlichen fühlen sich so gut wie immer isoliert und ausgegrenzt, haben ein geringes Selbstwertgefühl und sehen keine Perspektive innerhalb unserer Gesellschaft. Also suchen sie sich eine andere und finden sie bei Demagogen, die Hass und Gewalt predigen. Die Gemeinsamkeiten zwischen rechtsextremen und extremistisch-salafistisch radikalisierten Jugendlichen sind augenfällig: Immer wieder sind es zumeist diese sozialen und familiären Enttäuschungen, ist es das Gefühl, nicht dazuzugehören, nicht ausreichend akzeptiert zu werden, die den Jugendlichen auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben Probleme bereiten. Eine ganz zentrale Rolle spielt die Clique, die Freunde – die »Peers«, wie das in der Sozialarbeit genannt wird. Sie können neben diesen anderen Faktoren die Identitätsfindung des Jugendlichen erheblich beeinflussen. Wer aber keine eigenständige Identität entwickelt, bei dem besteht die Gefahr der Radikalisierung. Die Identitätskrisen junger Menschen werden von der extremistischen Szene rücksichtslos für die eigenen politischen Zwecke missbraucht.
Am Anfang meiner Arbeit mit rechtsextremistischen Jugendlichen stand die Überwindung. Ich betreute damals eine Gruppe von jungen Menschen, die große Angst vor fremdenfeindlichen Schlägern hatte. Die aggressiven Jungs zur Rede zu stellen, das fiel mir nicht leicht. Aber für mich war diese Arbeit einer der wichtigsten Lernprozesse überhaupt. Ich lernte, dass die eigenen undifferenzierten Bilder den Zugang zu Menschen versperren, die durchaus noch erreichbar sind. Ich erlebte, wie Menschen sich verändern können, wenn man auf authentische Beziehungen vertraut und sich den Problemen, die hinter der Radikalisierung stehen, zuwendet. Ich konnte lernen, dass eine Haltung, die Interesse signalisiert, mehr bewirkt als eine belehrende. Ich sah, welche Gefahren von extremistischen Organisationen ausgehen, wenn wir uns diesen gefährdeten Jugendlichen nicht rechtzeitig zuwenden.
Diese Grunderfahrungen sind in meiner Deradikalisierungs-Arbeit heute immer noch von zentraler Bedeutung.
Mit diesem Buch will ich Vereinfachungen entgegenwirken und einen Einblick in die Welt radikalisierter junger Menschen geben. Ich beschreibe verschiedene Fälle, die wir mit unserer Organisation betreut haben und die die Motive der Radikalisierung junger Menschen illustrieren. Einer ist im Gefängnis, weil er sich in Syrien dem IS angeschlossen hatte. Andere haben das zwar geplant, konnten aber davon abgehalten werden, und wieder andere radikalisierten sich so stark, dass es nur noch eine Frage der Zeit gewesen wäre, dass sie sich vollends einer extremistischen Organisation ausgeliefert hätten. Das betrifft Jungs wie Mädchen gleichermaßen, deutsche ebenso wie kulturell und familiär im türkischen oder arabischen Raum beheimatete Jugendliche.
Allen Betroffenen, die in diesem Buch vorkommen, habe ich neue Namen gegeben, um die Familien zu schützen und den Prozess der Deradikalisierung nicht zu gefährden. Die Fallbeispiele zeigen die Bandbreite der Persönlichkeiten auf, die sich für den extremistischen Salafismus begeistern. Sie weisen aber auch Gemeinsamkeiten auf: dass das direkte Umfeld und die Familie immer eine große Rolle spielen zum Beispiel und dass man schon früh erkennen kann, wo der Jugendliche da reingeraten ist …
»Ich habe von der Religion keine Ahnung«, sagt mir die aufgelöste Mutter in der Nacht am Telefon, »kein Wunder, dass ich sie nicht mehr erreicht habe.«
»Was war zum Beispiel so eine Situation, in der Sie das Gefühl hatten, Sie kämen nicht mehr an sie ran?«
»Dieser Gesichtsschleier – da haben wir uns am meisten drüber gestritten. Sie hat mir immer gesagt, dass Allah das so verlange, dass Frauen ihren Körper verhüllen sollen. Ich würde hier in der Gegend viele Musliminnen auch ohne Kopftuch sehen, habe ich dann geantwortet. ›Das sind keine echten Musliminnen, Mama – die kommen in die Hölle, weil sie Allahs Willen nicht gehorchen!‹ Ist ja klar, dass sie das über mich erst recht dachte. Aber was sollte ich da sagen? Sie hat immer mit dem Koran argumentiert – ich hab den nicht gelesen. Ich habe ja noch nicht einmal die Bibel gelesen.«
Nun ist es zwar so, dass die jungen Islamisten sich auf ihre Religion berufen, aber in der Regel verfügen sie selbst über keinerlei religiöse Bildung – weder die Konvertiten, die wie in diesem Fall in christlich geprägten Haushalten aufgewachsen sind, noch die Jugendlichen, die aus einer muslimischen Familie stammen. Sie wissen wenig über den Islam, kennen den Koran nicht, lassen sich von extremistischen Organisationen und charismatischen Demagogen blenden. So gesehen konvertieren sie alle – in den Extremismus. Sie begeistern sich für krude Welt- und Feindbilder, deren Verlockung darin liegt, extrem simpel zu sein und die Illusion eines neuen Selbstwertgefühls zu vermitteln. Ahnungs- und arglose junge Menschen nehmen mitunter in rasantem Tempo extremistische, fundamentalistische oder traditionalistische Einstellungen an. Sie entfernen sich damit immer weiter von demokratischen Ideen, Konzepten wie Toleranz und Gleichberechtigung. Und: Sie werden gewaltbereit.
Mit religiösen Werten zumindest hat der extremistische Salafismus nichts zu tun – was ich aufzeigen werde. Auch deshalb ist es so wichtig, dass Jugendliche aus muslimischen Familien und Kulturen ihre Religion kennenlernen – sei es in der Moschee oder im islamischen Religionsunterricht in der Schule. Denn die Radikalisierung ist nicht nur für sie selbst gefährlich, sondern auch für die deutsche Gesellschaft. Nur dem Glück ist es zu verdanken, dass es bislang keinen größeren Anschlag in Deutschland gegeben hat. Aber es gab und gibt sehr wohl zahlreiche Anschläge in den Kampfgebieten, auch von jungen Menschen ausgeführt, die hier geboren sind. Wir haben Angst vor einem Terror, der nach Deutschland gebracht wird, und übersehen allzu leicht, dass deutsche Islamisten Terror, Leid und Tod in zahlreiche Länder exportiert haben.
Egal wo Menschen sterben, den Extremismus müssen wir hier bei uns zum Thema machen.
Doch wie geht man mit den jungen Menschen um, die wieder nach Deutschland zurückkehren? Aufenthalte in den Kampfgebieten Syriens und des Iraks können wie Durchlauferhitzer wirken und die Radikalisierung in ungeahntem Tempo beschleunigen. Was sie dort gesehen und vielleicht auch getan haben, kann sie emotional abgestumpft, verroht haben. Noch dazu haben viele von ihnen dort eine militärische Ausbildung genossen. Und trotzdem ist nicht jeder, der lebend aus den Lagern des sogenannten Islamischen Staates entkommt, ein potentieller Attentäter. Nicht jeder, der zum IS gegangen ist, wollte dort zwangsläufig kämpfen, mancher reist ausdrücklich zu wohltätigen Zwecken dorthin. Einige klopfen dann später zutiefst desillusioniert wieder bei ihren Familien an, manche sind traumatisiert.
Es ist eine große und wichtige Herausforderung, mit diesen jungen Menschen zu arbeiten, auf sie zuzugehen, statt sich abzuwenden, mit ihnen zu sprechen, sie selbst erzählen zu lassen, statt nur über sie zu debattieren.
Extremisten wollen schockieren, wollen Angst und Schrecken verbreiten, wollen einen Keil in die Gesellschaft treiben. Sie forcieren auf allen Seiten Intoleranz, und diese Intoleranz spaltet die Gesellschaft. Es ist wichtig, dieser perfiden Strategie etwas entgegenzusetzen, die Gesellschaft als Ganzes muss sich gegen diese Ab- und Ausgrenzungen wehren. Und dafür ist es wichtig, die Gegner einer freien demokratischen Gesellschaft zu kennen, ihre Strategien zu verstehen und vor allem: nicht jeden Muslim zu verdächtigen.
Die Herausforderung für die Gesellschaft heißt: zusammenhalten. Wir dürfen uns nicht auseinanderdividieren, nicht instrumentalisieren lassen. Vielmehr sollte jeder, gerade aus der Mitte der Gesellschaft heraus, die Identitätskrisen und die Labilität dieser jungen Menschen ernst nehmen. Es sind Kinder aus unserer Gesellschaft, die sich in unserer Gesellschaft radikalisiert haben, und in unserer Gesellschaft müssen wir dieses Problem auch wieder lösen.
Wenn wir mit den gefährdeten Jugendlichen nicht mehr reden, werden es nur noch die Extremisten tun.
Lange reagierte die Politik in Deutschland eher hilflos auf dieses Phänomen des Extremismus. Die Angst vor Anschlägen führte zu einem erhöhten Sicherheitsdenken, für präventive Maßnahmen fehlte das Verständnis.
Aber sicherheitspolitische Anstrengungen alleine reichen nicht aus, denn sie können das Denken der Menschen nicht verändern. Niemandem ist geholfen, wenn Wegsehen und Wegsperren die einzigen Reaktionen auf Radikalisierung sind – weder den Jugendlichen noch der Gesellschaft insgesamt. Wir müssen versuchen zu verstehen, was in jungen Menschen vorgeht, die bereit sind, sich im Dschihad selbst aufzugeben, und wir müssen sie unterstützen. Nur so kann es gelingen, sie aus dem extremistischen Milieu wieder herauszuführen, sie in die Gesellschaft zurückzuholen.
Dementsprechend ist dies nicht nur ein Buch für Eltern, die den Verdacht hegen, ihr Kind könnte gefährdet sein, sondern für alle, die begreifen wollen, wie Jugendliche sich so radikalisieren können, dass sie verführt werden, Menschen für ihre Ideologie zu töten.
Vor allem ist es aber auch ein Buch, das zeigt, dass jede Familie betroffen sein kann. Die von Polizeibeamten genauso wie die von Lehrern oder Handwerkern, arm oder reich, religiös oder nicht, seit Generationen deutsch, türkisch oder arabisch – das Spektrum an Familien, die wir bislang beraten haben, zeigt: Niemand ist davor gefeit, dass sein Kind den Seelenfängern verfällt.
Wir haben viele Familien betreut, die die Veränderungen ihrer Kinder lange für sich behalten haben. Eltern, deren Kinder zu Extremisten werden, können darüber mit kaum jemandem reden. Es ist unangenehm, und keiner will, dass der Rest der Familie in den Verdacht gerät, damit etwas zu tun zu haben. Die Eltern kämpfen mit ihren Schuldgefühlen, fragen sich, was sie falsch gemacht haben könnten. All das führt die Mütter und Väter in die soziale Isolation. Ihnen hilft es allerdings ungemein zu merken, dass sie nicht allein sind mit ihren Problemen. Auch dazu soll dieses Buch beitragen.
Die Mutter, mit der ich in dieser Nacht am Telefon sprach, hatte drei Wünsche: dass ihre Tochter am Leben bleibe, dass sie zurückkomme und dass alles wieder so wie früher werde.
Nichts davon konnte ich ihr versprechen. Jede Beratung muss ehrlich und realistisch bleiben. Aber ich habe mit ihr durchgespielt, wie sie sich verhalten könnte, wenn die Tochter doch noch einmal anrufen würde. Dass sie ihr raten könnte, eine Krankheit vorzutäuschen, um aus dem Lager herauszukommen, dass sie ihr schöne gemeinsame Erlebnisse in Erinnerung rufen müsse, um sie wieder stärker an sich zu binden.
Ob ich ihre Tochter betreuen könne, falls sie zurückkomme, fragte sie mich.
Das konnte ich ihr zusagen.
Die Mutter wollte mehr über den Islam und die extremistische Szene erfahren. Sie hatte viele Fragen und brauchte Antworten, um mit ihrer Tochter vielleicht eines Tages besser reden zu können.
Also verabredeten wir ein Treffen für die nächste Zeit.
Als ich nach zwei Stunden Telefonat auflegte, war sie ruhiger, nicht mehr ganz so am Boden.
Wenigstens das.
Mehmet wollte helfen. Doch die Realität in Syrien hat ihn geschockt. Warum nicht jeder Syrien-Rückkehrer gefährlich ist, und welcher Ideologie Jugendliche wie er folgen.
Im Frühjahr 2015 sollte ich Mehmet das erste Mal treffen, und ich war tatsächlich ein bisschen angespannt, als ich mit seinem Betreuer Hasan, einem unserer Mitarbeiter, der bereits seit längerem mit ihm zu tun hatte, die vielbefahrene Straße dieser Stadt im Rhein-Main-Gebiet entlangging.
Zwischen drei Dönerläden und einer Lagerhalle lag der kleine Lebensmittelladen, in dem Mehmet in den Ferien Geld verdiente. Wir wollten seine Mittagspause nutzen, um einen Tee zu trinken und uns kennenzulernen.
Ein schlanker, hochgewachsener junger Mann trat mir da zwischen den Regalen entgegen und gab mir die Hand. Ein gutes Zeichen. Nicht jeder unserer Klienten gibt mir als deutschem Nicht-Muslim beim ersten Mal die Hand.
Der hätte nicht viel länger in Syrien durchgehalten – das war der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, als ich ihn auf dem Weg zum Café von der Seite betrachtete. Mehmet wirkte sanftmütig, fast ein bisschen schüchtern. Ganz und gar nicht wie ein skrupelloser Kämpfer, eher wie jemand, der an der Front im syrischen Bürgerkrieg schnell sein Leben verloren hätte.
Ich bestellte mir etwas zu essen, Mehmet trank Wasser.
»Ist das anstrengend – dein Job im Lebensmittelladen?«
»Nö, das passt schon.«
»Wie geht’s deinen Eltern?«
»Ganz gut.«
»Hasan hat mir erzählt, wie sehr du dich gerade in der Schule anstrengst. Das finde ich gut.«
»Ja.«
Eigentlich war er mir zu dem Zeitpunkt schon sehr vertraut – als einer unserer Fälle, bei denen ich erst einmal im Hintergrund agiere. Ich hatte seine Rückkehr aus Syrien nach Deutschland vorbereitet, den Kontakt zu den Behörden gehalten und mit seinen Betreuern jeden weiteren Schritt besprochen. Das wusste Mehmet, und trotzdem sagte er nicht viel bei dieser ersten Begegnung. Er war erst einmal ziemlich verschlossen – meinte später auch Hasan, der im Café mit dabei war.
Für mich war das nicht neu. Für Jugendliche wie Mehmet bin ich nicht selten der erste Vertreter der Mehrheitsgesellschaft, der erste nicht-muslimische Deutsche, der sich für sie interessiert. Das macht sie in der Regel misstrauisch – nach dem Motto: »Was will der von mir?« Jugendliche wie Mehmet sind, wenn ich sie treffe, vorher ausschließlich in ihren eigenen kulturellen Gesprächszusammenhängen unterwegs gewesen. Jetzt mit jemandem offen zu sprechen, den man ein paar Monate vorher noch als »Kuffar«, als »Ungläubigen«, bezeichnet hätte, erfordert Überwindungskraft. Das war damals für mich deutlich zu spüren. Obwohl Mehmet ja schon sehr früh eingesehen hatte, dass er einen großen Fehler gemacht hatte.
Aber Mehmet hatte das geschafft, was anderen nicht gelingt: Er konnte seinen Fehler korrigieren. Er war aus dem Lager des selbsternannten »Islamischen Staates« geflüchtet, bevor ihm etwas Schlimmes hätte passieren und bevor er anderen etwas Schlimmes hätte antun können. Dabei war er mit so großen Zielen aufgebrochen …
Mehmet war eigentlich ein ganz normaler Jugendlicher in einer hessischen Stadt gewesen. Er hing nach der Schule mit seinen Freunden herum, postete allerlei Bilder in sozialen Medien, spielte für sein Leben gern Basketball. Er war ein guter Spielmacher, wollte Profi werden und träumte davon, mit Basketball später mal Geld zu verdienen. Auch deswegen wollte er gern ein Schuljahr an einer amerikanischen Highschool verbringen – und zwar an einer mit dem Schwerpunkt Sport. Wenn er sich da als guter Spieler präsentiert hätte, so seine Gedanken, dann wäre vielleicht ein Sportstipendium für ein amerikanisches College drin gewesen und damit auch ein Platz im College-Team. Und dann wäre die amerikanische Profiliga NBA nicht mehr weit gewesen – das war Mehmets Traum. Es wurde aber nichts daraus – auch weil sein Vater ihn nicht gehen lassen wollte.
Die Yildrims sind eine sehr aufgeschlossene und liberal eingestellte Familie. Als nett und herzlich habe ich sie erlebt, als ich sie das erste Mal traf. Ganz im Gegensatz zu Mehmet fiel mir der Vater gleich um den Hals, es war, als würden wir uns schon Jahre kennen. Sicherlich verhielten sie sich auch so, weil sie dankbar waren für unsere Unterstützung.
Ihr Heimatland Türkei spielte für sie auch nach vielen Jahren in Deutschland noch eine große Rolle – eigentlich hatte Vater Ahmed Yildrim immer vorgehabt, irgendwann mit seiner Familie dorthin zurückzukehren. Mit Mehmet und seiner Schwester Tuzla.
Freitags besuchten sie die Moschee. Ansonsten habe Religion in der Familie nie eine große Rolle gespielt, erzählte mir der Vater. Sie lebten eine Art Alltags-Islam mit einer Mischung aus mitgebrachten kulturellen Elementen und familiären Traditionen. Es wurde nicht viel über den Glauben gesprochen.
Auch deswegen waren sie wahnsinnig überrascht und erschrocken über die Wandlung ihres Sohnes.
Mehmet war siebzehn, als 2013 alles begann. Der Islam war immer wieder Thema in seinem Freundeskreis, Religion wurde immer wichtiger. Ein bewusstes Leben als Muslim wurde auf Facebook und in anderen sozialen Medien von einigen seiner Freunde als etwas Cooles präsentiert, als etwas, das sich mit seinem damaligen Alltag allerdings nicht so richtig vertrug.
»Eigentlich dürft ihr als Muslime gar nicht in Deutschland leben«, schallte ihm da aus den Computer-Lautsprechern entgegen. »Deutschland ist ein Land von Kuffars. Ein echter Muslim muss in einem Gottesstaat leben!«
Mehmet hatte bislang eigentlich ganz gut in Deutschland gelebt und sich im Gegenteil immer gegen die Pläne des Vaters gesträubt, zurück in die Türkei zu gehen.
Diese ungewohnten Aussagen verunsicherten ihn nun. Er fragte sich, ob es stimme, dass man in Deutschland kein guter Muslim sein könne, ob Demokratie und Islam sich tatsächlich widersprächen. Denn er wollte ein guter Muslim sein.
Einige seiner Freunde waren schon tiefer drin in der Szene. Wenn er mit ihnen diskutierte, dann unterlegten sie ihre Aussagen mit Koran-Stellen: »Bruder, im Koran steht geschrieben: ›Die aber ungläubig sind – wehe ihnen! Er wird ihre Werke zunichtemachen. Dies, weil sie hassen, was Allah herniedergesandt hat; so machte Er ihre Werke fruchtlos.‹ – Sure 47, kannst du nachlesen.«
In einem Blog fand er Antworten auf die Frage, wie eine Demokratie zu bewerten sei. Etwa: »Viele nutzen die Demokratie, um dem Islam zu widersprechen. So wie der Islam sagt, dass der Bürger nicht das Recht hat, Alkohol zu trinken, würde die Demokratie aufgrund der Ideologie dem Bürger das Recht zusprechen, Alkohol zu trinken. Somit erklärt die Demokratie das für erlaubt, was Allah für verboten erklärt hat.«
Mehmet überlegte, ob er nach dem Freitagsgebet den Imam in seiner Moschee ansprechen sollte, er hatte so viele Fragen zu den Widersprüchen zwischen seinem Leben und dem, was der Koran angeblich forderte. Es war ihm dann aber unangenehm, den Imam zu kontaktieren – der sprach nur türkisch und war immer umringt von alten Männern. Seine Moschee war eine gemäßigte Moschee, in der überwiegend türkisch gesprochen wurde und in der es keine ausgeprägte Jugendarbeit gab. Diskutiert wurde da nicht, der Imam hielt das Freitagsgebet ab und ging dann wieder.
Mehmet fand also keine Antworten auf seine Fragen.
Am Rande der Freitagsgebete lernte er dann Gleichaltrige kennen, einige von ihnen gehörten zu einer Gruppe, die in der Innenstadt den Koran verteilte. Aufgeschlossene, nette Typen. Sympathisch fand er sie – eigentlich waren sie ihm ganz ähnlich. Sie verstanden seine Fragen und wussten von jemandem, der sie gut beantworten könne.
»Lieber Bruder – komm doch mal mit zum Gesprächskreis mit unseren Brüdern. Da reden wir über das alles.«
»Was ›alles‹?«
»Na, warum wir hier keine Chance haben und so – und warum wir uns gegenseitig helfen müssen, wir Muslime.«
Wenig später saß er mit sechs bis sieben anderen Jugendlichen auf dem Fußboden eines fremden Wohnzimmers. Ein bärtiger Mann begrüßte sie mit einer innigen Umarmung, jeden einzelnen von ihnen. »Schön, dass ihr da seid«, sagte er.
Mehmet fühlte sich dort auf Anhieb wohl. Irgendwie aufgehoben.
»Das kann man doch überall sehen, dass der muslimische Glaube und Deutschland nicht zusammenpassen«, führte der bärtige Mann aus. »Muslime werden in Deutschland nicht akzeptiert. Die Deutschen sind Ungläubige, sie werden Muslime nie als gleichwertig betrachten. Deswegen habt ihr hier auch keine Chance, eure Familie zu ernähren. Eine Karriere kann man als Muslim in Deutschland vergessen.«
Die jungen Männer neben Mehmet nickten, und auch er selbst fand das schlüssig, was der Mann da erzählte. Hatte sein Vater nicht immer Sechzig-Stunden-Wochen gearbeitet in der Kfz-Werkstatt, und trotzdem war irgendwie wenig Geld da?
»Deutschland und seine Demokratie können gar nicht zum Islam passen – grundsätzlich nicht. Die deutsche Rechtsprechung erlaubt, was die Scharia verbietet. Vieles, was die Scharia erlaubt, ist hier verboten. Im Koran steht: ›Sie sagen: Wir waren Unterdrückte im Land. Sie (die Engel) sagen: War Allahs Erde nicht weit, sodass ihr darauf hättet auswandern können? Jene aber, ihr Zufluchtsort wird die Hölle sein, und wie böse wird der Ausgang! Ausgenommen die Unterdrückten unter den Männern, Frauen und Kindern, die keine Möglichkeit haben, auszuwandern und auf dem Weg nicht rechtgeleitet sind, jenen wird Allah vielleicht verzeihen.‹ Umso wichtiger, dass wir Muslime zusammenhalten. Die Umma, die islamische Gemeinschaft, ist das, was uns stark macht.«
Die Koransure, die der Mann da zitierte, wird häufig herangezogen, wenn es darum geht, die »Hidschra« – die Ausreise – zu rechtfertigen. Sie bezieht sich auf die Zeit, als der Prophet Mohammed mit seinen Anhängern von Mekka nach Medina fliehen musste. Eine Gruppe war nicht mitgekommen, und die wird nun von den Engeln gefragt, warum nicht. Heute sehen die extremistischen Salafisten Deutschland als das Land an, aus dem man auswandern muss, weil man hier – so sagen sie – seinen Glauben nicht leben könne.
Da waren die Antworten, die Mehmet suchte. Sie waren klar und eindeutig. Und immer waren sie durch die Worte des Propheten abgesichert. Eine bessere Legitimation kann es doch für einen Muslim nicht geben, muss er sich gedacht haben.
Was Mehmet gefunden hat, waren die Antworten des extremistischen Salafismus: Koran-Verse werden aus dem Zusammenhang gerissen und ohne ihre historische Bedeutung betrachtet, um sie für Propaganda zu verwenden. Ein Vorgehen, das sich im Übrigen in ähnlicher Weise auch bei Rechtsextremisten und islamfeindlichen Organisationen finden lässt.
Seit der intensiven Berichterstattung über radikale Islamisten in Deutschland kennt wohl jeder den Begriff »Salafismus«. Aber auch diese Strömung muss man differenziert betrachten, denn nicht alle Salafisten lehnen wie die neuen Freunde von Mehmet den Staat Bundesrepublik ab, und nicht alle Salafisten rufen andere dazu auf, nach Syrien in den Krieg zu ziehen.
Der Salafismus ist eine sunnitische Strömung des islamischen Glaubens. Das Wort ist abgeleitet vom arabischen Wort »as-Salaf as-Salih« – »die frommen Altvorderen« – und bezieht sich damit auf die ersten drei Generationen der Muslime. Der Ursprung der Salafiyya-Bewegung liegt im dreizehnten Jahrhundert. Ihre Anhänger wollten den Islam von vermeintlich un-islamischen Praktiken reinigen, solche aus dem Volksaberglauben zum Beispiel, und den Islam anhand seiner Hauptquellen reformieren – also anhand der Texte des Koran und der »Sunna«, der Aussprüche des Propheten Mohammed. Muhammad ibn Abd al-Wahhab hat im achtzehnten Jahrhundert dieses salafistische Gedankengut systematisch politisiert und damit salonfähig gemacht. Auf seinen Nachnamen geht der Wahhabismus zurück. In Saudi-Arabien sind seine Lehren Staatsdoktrin.
Der Salafismus ist im Wortsinne fundamentalistisch: Seine Anhänger legen den Koran und die Sunna wortwörtlich aus. Jede Deutung der Verse im übertragenen Sinne einer Allegorie sehen sie als Missbrauch. Salafisten haben einen exklusiven Wahrheitsanspruch: Nur sie kennen den Weg ins Paradies, sagen sie. Allen anderen Muslimen wird ihr Muslim-Sein abgesprochen. Die Salafisten projizieren durch ihre wörtliche Auslegung der Schriften die Handlungen und Aussagen des Propheten Mohammed und seiner Gefährten in die heutige Welt. Nur wer sich ihnen gemäß verhält, findet den Weg ins Paradies. Das heißt: Nur wer das Leben eines Mannes aus dem siebten Jahrhundert nachahmt, ist in ihren Augen ein Muslim.
In den 1990er-Jahren entstanden in Deutschland erste orthodoxe salafistische Gruppen und Moscheen. Seit 2000 etwa treten sie immer mehr auch offensiv missionierend auf. Schätzungen zufolge sind etwa 0,1 Prozent der Muslime in Deutschland dem Salafismus zuzurechnen. Die Salafisten sind eine heterogene Bewegung, in der sich verschiedene Strömungen voneinander unterscheiden lassen: zum einen die puristische sowie die politisch-missionarische Strömung, die beide Gewalt ablehnen. Diese Gruppierungen stehen der nicht-muslimischen Gesellschaft nicht unbedingt feindlich gegenüber. Sie lehnen den Staat auch nicht zwingend ab. Zum anderen aber gibt es eine politisch-missionarische Strömung, die Gewalt durchaus legitimiert, und schließlich den dschihadistischen Salafismus, der Gewalt nicht nur akzeptiert, sondern sogar offensiv als Mittel einsetzt, um seine Ziele zu erreichen. Die beiden Letzteren meine ich, wenn ich vom extremistischen Salafismus spreche.
Vor diesem Hintergrund lassen sich auch die Zahlen des Verfassungsschutzes differenzierter lesen. Denn wenn er im Januar 2016 in Deutschland 8 350 Salafisten zählt, heißt das noch lange nicht, dass jeder einzelne von ihnen den deutschen Staat ablehnt und bereit wäre, Gewalt selbst anzuwenden oder zumindest zu befürworten. Dass der Verfassungsschutz darüber hinaus bis zum Januar 2016 aber 790 Männer und Frauen zählte, die aus Deutschland zum sogenannten Islamischen Staat nach Syrien ausgereist sind, und 1 100 in Deutschland lebende Salafisten als gewaltbereit einstuft, von denen 430 als so gefährlich angesehen werden, dass sie jederzeit eine schwere Straftat begehen könnten, sollte zu denken geben. Nicht jeder Salafist ist also gewaltbereit. Aber die überwiegende Zahl derjenigen, die aus Deutschland nach Syrien oder in den Irak in den vermeintlich »Heiligen Krieg« gezogen sind, standen vorher mit salafistischen Gruppen in Kontakt und waren durch entsprechende Strukturen beeinflusst – mehr als achtzig Prozent nämlich. Das sind die Erkenntnisse der Sicherheitsorgane, die genauso wie wir immer wieder betonen, dass zwischen dem Islam als Religion und dem politischen Extremismus dschihadistisch-salafistischen Zuschnitts unterschieden werden müsse.
Jungen Menschen wie Mehmet bietet der Salafismus vor allem eine festgefügte Gruppe von Gleichen unter Gleichen. Sie können sich zu einer weltumspannenden Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern des Glaubens zählen, frei von nationalen Kultureinflüssen. Ihre »Nation« ist die »Umma«, die muslimische Gemeinschaft. Ethnische Zugehörigkeit bedeutet in diesem Kontext nur »Muslim sein«. Der Salafismus vereint so junge Männer und Frauen aus deutschen Familien mit solchen mit Migrationshintergrund. Die Eltern können vom Balkan kommen, aus der Türkei oder aus dem Libanon. Allein das vermittelt schon ein starkes Gemeinschaftsgefühl.
Mehmet fühlte sich plötzlich verbunden mit Menschen, die zwar eine unterschiedliche Herkunft hatten, unterschiedlichen Milieus entstammten, aber alle für die eine, die vermeintlich gute Sache standen.
Trotzdem ist die salafistische Bewegung eine reaktionäre Bewegung. Sie gibt den europäischen Muslimen eine Antwort auf die Umstände, mit denen sie sich in ihrem Alltag konfrontiert sehen. Und das tut sie, indem sie sich auf die frühzeitlichen Quellen zurückbesinnt. Charakteristisch dabei ist, dass die Salafisten ihre reale Umwelt gar nicht berücksichtigen.
Plötzlich sind Menschen wie Mehmet ihrem Gefühl nach aber nicht mehr Außenseiter, Marginalisierte in der Mehrheitsgesellschaft – sondern sie sind auf einen Schlag wer und können sich voller Stolz als Muslime bezeichnen.
Das ist vor allem für Jugendliche attraktiv. Denn die Suche nach Identität spielt in diesem Alter eine große Rolle. Die charismatischen Anführer von Pierre Vogel über Sven Lau bis zu Abou-Nagie und Abdellatif Rouali bieten durch ihr autoritäres Auftreten eine klare Orientierung, eindeutige Bewertungen und durch die vielen Gebete nicht zuletzt eine klare Alltagsstruktur. Gepaart mit einer tiefgehenden religiösen Gotteserfahrung. Die Religion wird so zum zentralen Bestandteil des Alltagslebens. Dafür vermitteln Salafisten ihr vermeintlich religiös fundiertes Wissen über den von ihnen so bezeichneten »authentischen« Islam und liefern einfache Begründungen für diese ultrakonservative Auslegung des Glaubens. Das macht den Salafismus anschlussfähig. Und im Übrigen erreicht er die Jugendlichen auch deswegen so gut, weil seine Vertreter vor allem deutsch sprechen.
Mehmet fühlte sich dementsprechend auf einmal wichtig und wertgeschätzt. Plötzlich hatte er die Macht, seinen Lebensweg selbst zu bestimmen und nicht mehr den Vorgaben des Vaters folgen zu müssen. Denn der hatte ziemlich genaue Vorstellungen, wie Mehmet sein Leben gestalten sollte: Da es für den Vater immer außer Frage stand, dass die Familie eines Tages zurück in die Türkei gehen würde, sollte Mehmet zum Beispiel einen Beruf wählen, den er auch dort gut ausüben könnte.
Mehmet selbst hatte wenig Mitspracherecht. Das ist relativ typisch in türkischen Einwanderer-Familien dieser Generation, wir sehen solche Familienkonstellationen häufig in unseren Beratungen.
Jetzt aber traf Mehmet plötzlich selbst Entscheidungen, und er entschied, dass sein Lebensweg ihn zu Allah führen sollte.
Mehmet begann fünf Mal am Tag zu beten – so wie seine Freunde. Er änderte seinen Kleidungsstil, trug plötzlich eine Häkelmütze und eine Schlabberhose, die über den Knöcheln endet – das Erkennungszeichen der extremistischen Salafisten. Und er tauchte immer tiefer ab in die subkulturelle Sektenwelt der Salafisten. Mit Freunden, die nicht in der Szene aktiv waren, hatte er kaum noch etwas zu tun. Basketball spielte er auch nicht mehr. Die Schule vernachlässigte er.
Der Salafismus – und das macht ihn so gefährlich – erscheint trotz seiner Orthodoxie modern. Das klingt erst einmal widersprüchlich. Aber die Inszenierung der Propaganda-Bilder und -Videos ist sehr jugendgerecht, wenn auch pathetisch. Und wenn man mit der Sicherheit eines festen Freundeskreises im Hintergrund ganz anders aussieht als die Erwachsenen, dann ist das über die religiöse Bedeutung hinaus auch eine Art jugendliche Rebellion gegen den Status quo. Mehmet hatte also nicht nur das Gefühl, etwas Richtiges, etwas Sinnvolles zu tun, bei dem er sich moralisch im Recht fühlen konnte, sondern er fand sich außerdem auch noch ziemlich cool dabei. Der Salafismus ist eine Jugendkultur.
Da brauchte es nicht viel Überredungskunst, um ihn davon zu überzeugen, dass er diese Lehre auch anderen näherbringen sollte. Er tat das gern, er glaubte ja fest daran, das Richtige zu tun.
Die Missionierung ist ein wichtiger Bestandteil des Salafismus. Man redet nicht nur über Religion, man tut auch etwas, versucht andere an der vermeintlich wahren Erkenntnis teilhaben zu lassen. Mehmet konnte gemeinsam mit seinen neuen Freunden Aktionen starten – auch das macht einen Teil der Attraktivität des Salafismus aus: Er bleibt nicht theoretisch. Für Mehmet hieß das vor allem: Koran-Ausgaben verteilen.