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Als Alice die Anzeige liest, ist alles klar: "Mitreisende gesucht." Für ein Abenteuer mit offenem Ausgang. Eine Woche vor Heiligabend packt sie ihren Rucksack und bricht auf. Mit drei sonderbar sympathischen Typen, die sich Könige nennen. Ein Roadtrip durch die norddeutsche Winterlandschaft beginnt. Unterwegs begegnen sie anderen, die auch auf der Suche sind, nach einem Weihnachtsfest, das unter die Haut geht. Eine Busfahrerin, ein Optiker und Jockel, der mit seinen zweiundachtzig Jahren immer noch am liebsten hinter dem Tresen seiner Kneipe stehen würde. Eine Krähe kommt zu Wort und auch ein Wolf will manchmal nur kuscheln. Sie alle glauben an eine Welt, in der es Rettung gibt. Man muss sie nur suchen.
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Seitenzahl: 100
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SUSANNE NIEMEYER
Eine Weihnachtserzählung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2023 by edition chrismon in der Evangelischen Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
Printed in Germany
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Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.
Covergestaltung: Anja Haß, Leipzig
Coverillustration: Orlando Hoetzel, Berlin
Satz: makena plangrafik, Leipzig/Zwenkau
Druck und Bindung: CPI books GmbH
ISBN 978-3-96038-365-9 // eISBN (E-Pub) 978-3-96038-379-6
www.eva-leipzig.de
Packliste für unterwegs:
Mütze
Handschuhe
Streichhölzer
eine mittelgroße Sehnsucht
Jockels Kneipe ist jetzt auch zu.
Bis zum Ende hat er am Zapfhahn gestanden, jeden Abend, auch an Weihnachten. Gerade an Weihnachten. Wo alle auf der Suche nach einem warmen Plätzchen sind. Der erste Schwung kam um vier. Wenn die Glocken läuten und die mit Kindern in die Kirche gehen. Dann bogen die anderen ab, auf einen Sprung zu Jockel. Wo es auch einen Tannenbaum gab, so ein Ding aus Plastik zwar, aber im dämmrigen Kneipenlicht fiel das gar nicht weiter auf. Jockel hängte eine Lichterkette auf und fünf silberne Kugeln dran. Alle Jahre wieder. Irgendwer hatte ein Schiffchen aus Zigarettenpapier gefaltet, das hing da auch. Obwohl das Meer 200 Kilometer weit weg war. Sehnsucht glänzt eben besonders hell.
Ab zehn Uhr kam der nächste Schwung. Wenn die Feiern auf dem Sofa strandeten. Wenn genug geredet und gegessen war. Das war die schönste Stimmung. Dann war es friedlich in Jockels Kneipe, fast wie im Stall. Für einen Moment war alles gut. Weil es doch immer ums Ankommen geht. Du brauchst kein Haus. Vielleicht brauchst du nicht mal ein Klingelschild. Aber einen Ort, wo du willkommen bist und dich nicht erklären musst, den brauchst du. Wo du auch wieder gehen kannst, denn Gehen ist genauso wichtig wie Kommen. Nur wer geht, kann wiederkommen.
Manchmal steckte einer Kleingeld in die olle Musikbox: Ein Schiff wird kommen und meinen Traum erfüllen. Und meine Sehnsucht stillen, die Sehnsucht mancher Nacht.
Jetzt kommt keiner mehr. Alles steht noch an seinem Platz, als hätten die Dinge nicht mitgekriegt, dass Schluss ist: die Pinnchen und die Biergläser hinterm Tresen, die Kaffeetassen für sonntags oder für einen, der wirklich genug hatte. Damit er halbwegs gerade nach Hause kam. Der Aschenbecher mit dem Stammtisch-Schild aus poliertem Messing. Verkaufen kann man solche Sachen nicht. Wer will schon ein Regal voll Biergläser aus den Achtzigern? Bei den meisten hier stapelt sich solcher Krempel auf dem Dachboden, weil Wegwerfen zu schade wäre und die Kinder das eine oder andere noch brauchen könnten, wenn sie zum Studieren wegziehen.
Jockels Tochter Clara wollte keine Biergläser, als sie drüben ins Neubaugebiet zog. Kann Jockel auch verstehen. Alles hat seine Zeit, sagt er sich, doch irgendwas in ihm drin will sich nicht überzeugen lassen. Wie die Leuchtschrift draußen überm Eingang. Die hängt auch immer noch. »Zur halben Nacht«. Was das denn für ein Name sei, hatten die Alten gefragt und ihm kein halbes Jahr gegeben. Aber dann sind sie doch alle gekommen.
Muss ich mal abbauen, denkt Jockel und überlegt, wo Clara die Leiter versteckt hat, weil sie findet, dass er in seinem Alter nicht mehr so hoch hinaus soll.
Anderswo liest Alice beim Frühstück folgende Anzeige:
Mitreisende gesucht. Bring deinen Rucksack mit.
Kein Lametta.
C + M + B.
Weil sie findet, dass Weihnachten ein Fest zum Weglaufen ist, bleibt sie daran hängen. Alle Jahre wieder fragt sie sich, wie man sich in der Enge des Feiertagkokons wohlfühlen kann. In einem überheizten Wohnzimmer, betäubt vom Dunst aus Rotkohl, Räuchermann und Kerzenwachs. In diesem Jahr besonders. Weil Jule weg ist. Alle werden sie hätscheln wie ein verwundetes Häschen: Warum es denn nicht geklappt hat? Die Jule war doch so eine Nette. Wo man sich gerade an sie gewöhnt hatte. Beim Verdauungsschnaps würde es dann so richtig losgehen mit der Sofapsychologie. Alice kann ihre Stimmen hören: Dass sie zu hohe Erwartungen hat. Dass heutzutage immer alles perfekt sein muss. Dass der Timo aus ihrem Abijahrgang jetzt auch wieder Single ist. Ob sie nicht wenigstens mal Kaffeetrinken mit ihm will? Alles lieb gemeint. Aber Alice kann gerade nicht lieb.
Sie schüttet Knusperflakes in die Schüssel. Sogar die Knusperflakes machen auf Weihnachten: »Joy of Winter. Jetzt mit einem Hauch Zimt.«
Alice nimmt einen Löffel und verzieht das Gesicht.
Nie hält dieses Fest, was es verspricht. Alles ist eine Nummer zu groß: die ganze Sehnsucht genauso wie der Topf mit dem Rotkohl und der aufgeblasene Weihnachtsmann, der am Nachbarhaus hängt wie ein Einbrecher, dem die Puste ausging. Natürlich sind es nur drei Tage. Im Gegensatz zu 362 Tagen, an denen nicht Weihnachten ist. Damit müsste man sich eigentlich arrangieren können. Aber es ist schwer, sich zu entziehen, ohne zu einem schlechtgelaunten Klischee zu werden.
Alle anderen in ihrer Familie lieben Weihnachten. Spätestens Mitte November wird der Familienchat mit Wunschlisten, Keksrezepten, Katzen mit Nikolausmützen und natürlich mit einem Countdown geflutet.
»Ach, ist das gemütlich …«, seufzt ihre Mutter, wenn sie dann am Heiligabend schließlich alle zusammen um den Tannenbaum sitzen.
Ihr ist nicht nach Gemütlichkeit. Als ob es damals im Stall gemütlich gewesen wäre. Alice möchte nicht wissen, wie ihre Mutter es aufnehmen würde, wenn das Wohnzimmer plötzlich voller Stroh läge. Und überhaupt: Sauber ist Stroh doch höchstens in einer Kondensmilchwerbung.
Was soll’s, denkt Alice. Wahrscheinlich ist das bürgerliche Weihnachtsfest eine Art späte Wiedergutmachung: Alle fahren auf, was dem heiligen Paar vor 2000 Jahren verwehrt wurde. Das Wohnzimmer wird zur Herberge, nur ohne Blut und Schleim und was sonst zu einer Geburt gehört.
Jule wollte auch Kinder. Am liebsten ein ganzes Haus und ein ganzes Herz voll. Alice nicht. Jedenfalls nicht so richtig. Höchstens mit halbem Herz. Jule weiß immer, was sie will, und am 1. November wollte sie weg. Das ist so typisch für Jule, denkt Alice zum tausendsten Mal. Dass sie zum Monatswechsel Schluss macht. Ein sauberer Schnitt.
Alice liest die Anzeige ein weiteres Mal. C + M + B. Wer wohl dahintersteckt?
Das Handy pingt.
»Ihr Kinderlein kommet – wie alle Jahre am 23.?«, schreibt ihre Mutter. Und bevor sie es sich anders überlegen kann, antwortet Alice: »Dieses Jahr ohne mich. Ich suche den Stall. Schicke ein Foto, wenn ich da bin.« Zwinkersmiley.
Nicht, dass Alice besonders religiös wäre. Aber irgendwas ist da. Religion ist auch nur ein anderes Wort für Sehnsucht, hat sie mal gehört. Damit konnte sie was anfangen, denn Sehnsucht hat sie. Nach Jule, nach Regenküssen, nach mondlosen Nächten, nach Zwerchfellbeben. Nach Sachen, die nicht erwartbar sind. Nach dem Moment, kurz bevor sich eine Tür öffnet. Nach mehr Glanz. Danach, dass endlich das richtige Leben beginnt. Manchmal beginnt ihr Herz zu rasen, als gäbe es keine Sekunde zu verlieren. Vielleicht sollte sie jetzt, wo sowieso alles egal ist, ihrem Herz einfach mal hinterherlaufen.
Hallo C + M + B.
Ich bin dabei. Lametta war noch nie mein Ding.
Wann geht es los?
A.
PS: Was soll ich mitnehmen?
Hallo A.
Übermorgen gehen wir los. Super, dass du dabei bist.
Wir haben auf jemanden wie dich gewartet.
C + M + B
PS: Gold, Weihrauch, Myrrhe
PPS: Scherz!
Alices letzter Urlaub fand in Begleitung eines hinkenden Rollkoffers statt. Das vierte Rad war beim Sprint zum Gleis verlorengegangen und Alice bemerkte sein Fehlen erst, als der Zug schon hinter den Bergen war. Jule fand das süß. »Du bist so verpeilt«, sagte sie, und Alice hatte das als Kompliment genommen.
Sie strafft die Schultern. Ab jetzt wird sie die Dinge selbst in die Hand nehmen. Was bleibt ihr auch anderes übrig. Zuerst den Dachboden. Irgendwo da oben müsste noch ihr alter Rucksack liegen. Sie gräbt sich durch ausrangierte Winterklamotten, schiebt zwei Kisten mit Briefen zur Seite und findet das Waffeleisen wieder.
Der Zweifel steht im Türrahmen und grinst. Er sieht aus wie ihr Bankberater. Sie versucht ihn zu ignorieren. Jetzt bloß nicht nachdenken. Weil der Zweifel immer zur Stelle ist, sobald sie im Begriff ist, ihre Komfortzone zu verlassen. Er hasst das. Er mag keine Unsicherheit, und deshalb weiß er auch nicht, was an geheizten Wohnzimmern verkehrt sein soll.
Da ist der Rucksack. Und gleich dahinter liegt auch der Schlafsack. Extrembereich minus 18 Grad steht auf dem Waschzettelchen. Bisher hat sie damit nur ein Wochenende am See übernachtet.
Das war im August, sagt die Bankberaterstimme. Und du hast kein Auge zugetan, wegen der Mücken und der Hitze im Zelt. Du konntest dich nicht entscheiden, was schlimmer war. Kalt war nicht mal das Bier. Im September bist du die Erste, die die Heizung aufdreht.
»Dann machen wir eben Feuer«, murmelt sie.
Im Nieselregen, frotzelt die Stimme unbeirrt weiter. Am besten, du packst schon mal eine Großpackung Grillanzünder ein. Was glaubst du eigentlich da draußen zu finden?
Sie stopft den Schlafsack in den Rucksack. »Was Besseres als dich allemal!«, ruft sie und knallt die Dachbodentür hinter sich zu.
Im Treppenhaus stößt sie beinah mit dem Nachbarn zusammen. »Hoppla, wohin so eilig? Bist du auf der Flucht?« Er balanciert fünf Großpackungen Toilettenpapier im Arm. »Gab’s im Sonderangebot. Kann man nie genug von haben.« Neugierig schaut er auf die Dachbodentür. »Mit wem redest du? Ist da wer drin?«
»Ja. Mein Zweifel. Aber keine Angst, der bleibt am liebsten drinnen.«
»Du bist verrückt«, sagt ihr Bruder. Wie immer kommt er direkt zur Sache. Alice stellt das Handy auf Lautsprecher und gießt kochendes Wasser über das Kaffeepulver. Wer weiß, wie oft es in nächster Zeit Kaffee geben wird.
»Du willst also lieber mit Wildfremden losziehen, als mit uns Weihnachten zu feiern. Darf man fragen, wohin?«
»Keine Ahnung. Das steht noch in den Sternen …«
»Ist es wegen Jule? Hör mal, wir kümmern uns um dich. Wir sind da. Onkel Heinz und Tante Anni kommen, und Flori bringt seine neue Freundin mit. Sie hat einen Dackel! Und am Fünfundzwanzigsten reist unser großes Schwesterchen mit den Zwillingen an. Du wirst keine Minute allein sein, versprochen.«
Alice spürt tausend Kilo Liebe auf ihrer Brust. Wahrscheinlich wird sie an Nougatkugeln und Mitleid ersticken.
»Was ist, wenn das total durchgeknallte Typen sind?«, fragt ihr Bruder.
»Dann geh ich wieder nach Hause.«
»Du kennst die doch gar nicht. Das könnten Menschenhändler sein. Oder Serienmörder. Oder weiß der Himmel, was …«
»Genau. Weiß der Himmel was. Hör zu, ich muss jetzt weiter packen. Iss einen Knödel für mich, Brüderchen, frohe Weihnachten!«
Bevor er etwas erwidern kann, klickt sie ihn weg. Gut, denkt sie, nippt am Kaffee und angelt sich einen Keks, als das Handy erneut pingt.
Dieses Mal ist es eine Nachricht von ihrer Mutter:
»Aber einen Wunschzettel schickst du mir? Paket geht raus.«
Alice tippt: »Ich kann doch nicht so viel mitnehmen.«
»Trotzdem!!!«
Also schreibt sie: »Mütze (rot), Erleuchtung, Schokorosinen, Weltfrieden«.
Weltfrieden scheint ihr nach kurzem Überlegen dann doch zu groß. Sie löscht das »Welt« und tippt »to go« dahinter.
Jockels Tee ist kalt geworden. Dass er jetzt immer öfter träumt. Mitten am Tag. Das kennt er gar nicht von sich. Jetzt aber los. Zwanzig nach fährt der Bus. Und den sollte man nicht verpassen, wenn man in die Stadt will. Die Schulkinder sind schon weg, als Nächstes kommt der Hausfrauenexpress. So haben sie den früher genannt. Als die Männer noch das Auto fuhren und das Geld nach Hause brachten und im Gegenzug ein ordentliches Kotelett wollten. Und die Frauen mit dem Bus zum Metzger fuhren.