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Essen, wohnen, Urlaub machen… Täglich konsumieren wir und belasten damit unsere Umwelt. Geht das auch anders? Längst hat der Markt die Zielgruppe der 'LOHAS' entdeckt, der 'Lifestyles of Health and Sustainability'. Doch genügt dieser Modetrend wirklich? Brauchen wir nicht vielmehr einen Wertewandel – von der Konsumgesellschaft westlicher Prägung hin zu einer Kultur der Nachhaltigkeit? Wie so ein Wandel aussehen könnte, beschreiben die Expert(inn)en des renommierten Worldwatch Institutes. Seit 1984 veröffentlicht das Institut jedes Jahr den Bericht 'Zur Lage der Welt' – 2010 erscheint er erstmals im oekom verlag.
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Seitenzahl: 567
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Das Worldwatch Institute ist eine unabhängige, weltweit ausgerichtete Forschungsorganisation für Umweltfragen und Probleme der Sozialpolitik mit Sitz in Washington, D.C. Seine einzigartige Verbindung von interdisziplinärer Forschung und allgemein zugänglichen Publikationen hat das Institut zu einer führenden Autorität gemacht, wenn es um die Belange einer umwelt schonenden und sozial gerechten Gesellschaft geht.
Weitere Informationen unter www.worldwatch.org.
Adresse: Worldwatch Institute, 1776 Massachusetts Ave., N. W. Washington, D.C. 20036
Die Heinrich-Böll-Stiftung ist eine politische Stiftung und steht der Partei Bündnis 90/Die Grünen nahe. Ihre vorrangige Aufgabe ist die politische Bildung im In- und Ausland zur Förderung der demokratischen Willensbildung, des gesellschaftspolitischen Engagements und der Völkerverständigung. Dabei orientiert sie sich an den politischen Grundwerten Ökologie, Demokratie, Solidarität und Gewaltfreiheit.
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Seit 1991 setzt sich Germanwatch für eine zukunftsfähige Entwicklung ein. Ziel von Germanwatch ist nicht nur eine effiziente Arbeit für eine zukunftsfähige Nord-Süd-Politik, sondern die Sensibilisierung der breiten Öffentlichkeit für komplexe entwicklungspolitische Themen.
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Worldwatch Institute (Hrsg.) in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch
Einfach besser leben Nachhaltigkeit als neuer Lebensstil
Mit Vorworten von Muhammad Yunus, Ralf Fücks und Klaus Milke sowie Sonderbeiträgen von Gerhard de Haan und Germanwatch
Aus dem Englischen von Annette Bus, Thomas Pfeiffer, Kathrin Razum, Jochen Schimmang und Heinz Tophinke
Dieser Report wurde aus dem Englischen übersetzt von Annette Bus, Thomas Pfeiffer, Kathrin Razum, Jochen Schimmang und Heinz Tophinke.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Deutsche Erstausgabe Gegenüber der amerikanischen Originalausgabe um zwei Beiträge gekürzt sowie um das Vorwort der deutschen Herausgeber-Organisationen und die Beiträge von Gerhard de Haan sowie von Klaus Milke und Stefan Rostock erweitert.
Titel der amerikanischen Originalausgabe State of the World 2010, Transforming Cultures, erschienen bei W.W. Norton & Company, New York/London
© 2010 by Worldwatch Institute, Washington, D.C.
Für die deutsche Ausgabe
© 2010 Heinrich-Böll-Stiftung und oekom verlag, München, Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH, Waltherstraße 29, 80337 München
1. Auflage München 2010
Alle Rechte vorbehalten
Titelgestaltung: Torge Stoffers
Alle Rechte vorbehalten
eISBN: 978-3-86581-366-4
Vorwort der deutschen Herausgeber
Muhammad YunusVorwort
Christopher FlavinEinleitung
Klaus Milke und Stefan RostockTrotz Kopenhagen – auf vielen schnellen Wegenzu neuen Gewohnheiten
Gerhard de HaanSchule, Nachhaltigkeit, ZukunftBildung für eine nachhaltige Entwicklung als Lernkultur
Erik AssadourianAufstieg und Fall unserer Konsumkultur
KAPITEL 1 ALTE UND NEUE TRADITIONEN
Gary GardnerReligionen im Dienste der Nachhaltigkeit
Gary GardnerRitual und Tabu als Schutzengel der Ökologie
Robert EngelmanWie viele Kinder dürfen es denn sein?Über Familien und Nachhaltigkeit
Judi AubelDie Alten – eine kulturelle Ressourcefür nachhaltige Entwicklung
Albert Bates und Toby HemenwayVon der Agrikultur zur Permakultur
KAPITEL 2 DER NEUE BILDUNGSAUFTRAG: NACHHALTIGKEIT
Ingrid Pramling Samuelsson und Yoshie KagaSpielend in die neue WeltÜber frühkindliche Erziehung und Nachhaltigkeit
Susan LinnDer Kommerz im Leben von Kindern
Kevin Morgan und Roberta SonninoWer hat Appetit auf Neues?Über den Einfluss der Ernährung in der Schule
David W. OrrHochschulbildung – für die Zukunft
KAPITEL 3 UNTERNEHMERTUM UND WIRTSCHAFT: NEUE PRIORITÄTEN FÜR DAS MANAGEMENT
Robert Costanza, Joshua Farley und Ida KubiszewskiInstitutionen für das Leben
Ray Anderson, Mona Amodeo und Jim HartzfeldUnternehmen können auch anders
Johanna Mair und Kate GanlyInnovation für Nachhaltigkeit:Soziale Unternehmer
Michael H. ShumanDie Wirtschaft im Kleinen: ganz groß
KAPITEL 4 DIE ROLLE DES STAATES
Michael ManiatesDie gelenkte WahlWie man nachhaltiges Verhalten steuern kann
Michael RennerSicherheit bedeutet mehr
Peter NewmanSustainability and the CityWie sich die Städte eine Zukunft bauen
Cormac CullinanDas Recht der Erde
KAPITEL 5 NEWS UND NACHHALTIGKEIT: DIE ROLLE DER MEDIEN
Jonah Sachs und Susan FinkelpearlSeifenopern verkaufen oder Nachhaltigkeit? Über soziales Marketing
Robin Andersen und Pamela MillerWas will uns die Werbung damit sagen? Über Medienkompetenz und Nachhaltigkeit
Amy HanMit Musik beginnt Veränderung
KAPITEL 6 DIE MACHT DER SOZIALEN BEWEGUNGEN
John de GraafDie Zeit und die Nachhaltigkeit Wie wir unser Leben zurückgewinnen können
Cecile Andrews und Wanda UrbanskaWarum weniger einfach mehr ist
Jonathan DawsonEin neuer Geist geht umÜber Ökodörfer und Wertewandel
Anmerkungen
Im Anschluss an den gescheiterten Klimagipfel in Kopenhagen hat das Worldwatch Institute in Washington seinen Bericht zur Lage der Welt 2010 mit dem englischen Titel Transforming Cultures: From Consumerism to Sustainability herausgegeben. Nach dem Unvermögen der Regierungen, sich auf eine globale Antwort auf den Klimawandel zu verständigen, ist es spätestens jetzt sinnvoll, verstärkt die Veränderungsbereitschaft der Zivilgesellschaft anzusprechen. Es geht um einen tiefgreifenden Wandel von Gewohnheiten und Verhaltensweisen: von einem verschwenderischen Lebensstil zu einem ökologisch verantwortlichen Wohlstandsmodell.
Das sagt sich leichter, als es getan ist.Vor allem wird man ohne die richtigen Rahmensetzungen seitens der Politik nicht auskommen. Zwar hat jeder Einzelne schon heute mehr oder weniger große Entscheidungsspielräume: wie wir uns ernähren, wie viel und welchen Strom wir verbrauchen (Ökostrom ist eine Alternative!), wie viel Auto wir fahren, welche Art von Urlaub wir machen, wie umweltbewusst wir einkaufen. Hausbesitzer können den Wärmeverbrauch ihrer Gebäude drastisch senken und auf umweltfreundliche Heizungsanlagen umstellen. Und wir alle haben als Kunden durchaus Einfluss auf die Produktpolitik der Unternehmen. Die Nachfrage bestimmt das Angebot mindestens so sehr wie neue Angebote auch neue Nachfrage hervorrufen (Apple lässt grüßen!).
Aber letztlich kann das individuelle Verhalten die großen Weichenstellungen in der Energie-, Verkehrs- oder Steuerpolitik nicht ersetzen. Wenn das System falsch programmiert ist, stößt der gute Wille der Einzelnen an Grenzen. Deshalb brauchen wir auch weiterhin den UN-Klimaprozess und völkerrechtlich verbindliche Abkommen. Auch das Welthandelssystem muss reformiert werden. Sonst werden wir das Ziel einer Halbierung der globalen Treibhausgas-Emissionen bis zum Jahr 2050 nicht erreichen. Und das heißt auch: Wir in den Industrieländern müssen bis 2050 bei 100 Prozent Erneuerbaren Energien ankommen!
Der vorliegende Report versammelt eine Vielzahl ermutigender Beispiele für neue Verhaltensmuster und Lebensstile. Das gilt sogar für die USA, deren verflossener Präsident noch verkündete, der »American Way of Life« sei nicht verhandelbar. Was sich in Amerika tut, ist von besonderer Bedeutung, da die Vereinigten Staaten nun endlich von einem Bremser zu einem Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit werden müssen. Das Jahr 2010 ist dafür der Lackmustest: In diesem Jahr wird der Senat hoffentlich eine nationale Energie- und Klimagesetzgebung verabschieden, mit der die USA Anschluss an Europa und China finden. Sonst können sie sich nicht glaubwürdig an den internationalen Klimaverhandlungen beteiligen, die auch nach Kopenhagen weitergehen werden. Der nächste Klimagipfel in Mexiko Ende diesen Jahres wird den USA sehr dicht auf die Pelle rücken. Und er wird auch die Debatte über die Veränderung der Alltagskultur in den Vereinigten Staaten schüren.
Auch Europa ist gefordert. Die Europäische Union muss sich endlich ohne Vorbehalt zum Ziel einer 30-prozentigen Reduzierung von Treibhausgasen bis zum Jahr 2020 bekennen. Und Deutschland muss deutlich machen, wie es die von der Bundesregierung bekräftigte Zielmarke von minus 40 Prozent umsetzen will. Das geht nur durch eine große konzertierte Aktion von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Mehr ökologische Rücksicht und Weitsicht muss für Alle zum elften Gebot werden. Dabei können wir unterm Strich sogar an Lebensqualität gewinnen. Nicht immer mehr, sondern anders bzw. einfach besser ist eine viel versprechende Devise – für die Politik, für unsere Arbeit wie auch für unsere persönliche Lebensführung.
Berlin, im Januar 2010
Ralf Fücks
Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung
Klaus Milke
Vorstandsvorsitzender Germanwatch
Ich freue mich sehr über den Entschluss des Worldwatch Institute, sich im Bericht Zur Lage der Welt 2010 der schwierigen Frage des Lebensstilwandels zu widmen. In den vergangenen drei Jahrzehnten musste ich mich im Zentrum meines Engagements für das Konzept der Mikrofinanzierung mit dem jahrhundertealten Glauben auseinandersetzen, dass arme Frauen, die darüber hinaus nicht lesen und schreiben können, aus eigener Kraft nicht zu Wohlstand gelangen könnten. Die Mikrofinanzierung bestreitet diesen grundlegenden kulturellen Irrtum.
Solche in der Kultur verwurzelten Fehlschlüsse sind schwer auszurotten. Meine ersten Anfragen an Banker, armen Frauen einen Kredit zu geben, riefen entschiedene und heftige Einwände hervor. »Arme Leute sind nicht banktauglich. Sie sind nicht kreditwürdig«, meinte ein Banker und fügte obendrein hinzu: »Ihrem Geld können Sie Lebewohl sagen.« Der erste Versuch war allerdings überaus ermutigend – unsere Kreditnehmer stellten sich als erstklassige Kunden heraus, die ihre Schulden pünktlich zurückzahlten. Die gewöhnlichen Banker nannten das jedoch einen Glückstreffer und blieben unbeeindruckt. Als wir in einer ganzen Reihe von Dörfern Erfolg hatten, zuckten sie nur mit den Schultern.
Ich begriff, dass sich ihre Vorurteile gegenüber den Armen nur schwer erschüttern lassen würden, ganz egal, wie viel Erfolg wir hatten. Sie wussten es einfach besser – arme Leute sind nicht kreditwürdig! Ich erkannte, dass es meine Aufgabe war, den Samen einer neuen Finanzkultur auszusäen, indem ich die falschen Grundgedanken vom Kopf auf die Füße stellte: In Wahrheit ist es nicht so, dass die Armen nicht mit Krediten umgehen können, sondern dass die herkömmlichen Banken nicht mit Menschen umgehen können.
Also machten wir uns daran, einen neuen Typus Bank zu schaffen, eine Bank, die darauf ausgerichtet war, den Armen zu dienen. Herkömmliche Banken bauen auf dem Prinzip auf, »dass man umso mehr bekommen kann, je mehr man hat«. Wir drehten das Prinzip dahingehend um, dass man umso dringender einen Kredit braucht, je weniger man hat. So bauten wir eine neue Kultur der Finanzierung und der Hilfe für die Armen auf, bei der den Ärmsten zuerst geholfen wird und ein winziges Kapital bitterste Armut in die Chance verwandeln kann, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen.
Nach Jahren gewissenhafter Vorarbeit wurde daraus die Grameen Bank, die heute jährlich eine Milliarde Dollar Kredite an 8 Millionen Kreditnehmer vergibt. Unser durchschnittlicher Kredit beträgt 360 Dollar, und 99 Prozent der Finanzierungen werden pünktlich zurückgezahlt. Heute gehören Kredite an Bettler, Kleinstspareinlagen (»micro-savings«) und Kleinstversicherungspolicen zum Programm. Und wir sind stolz darauf, dass der Mikrokredit heute weltweit verbreitet ist.
Ein Finanzwesen für Arme, mehrheitlich Frauen – das ist ein kultureller Wandel.
Heute weiß ich, dass selbst hartnäckige Vorurteile überwunden werden können, und deshalb bin ich von dem Bericht Zur Lage der Welt 2010 begeistert. Das Buch fordert einen der einschneidendsten kulturellen Paradigmenwechsel, den man sich vorstellen kann: von einer Kultur des Konsumismus zu einer Kultur der Nachhaltigkeit. Das Buch geht weit über die Standardrezepte für saubere Technologie und aufgeklärte Politik hinaus. Es plädiert dafür, die Grundlagen der modernen Konsumkultur zu überdenken – die als »natürlich« betrachteten Praktiken und Werte, die paradoxerweise die Natur ausplündern und den menschlichen Reichtum gefährden.
Worldwatch hat sich eine ehrgeizige Aufgabe gestellt. In der Geschichte hat keine Generation einen so umfassenden kulturellen Umbruch geschafft wie den, der in diesem Buch gefordert wird. Die zahlreichen Beiträge in diesem Buch zeigen, dass ein solcher Umbruch möglich ist, wenn man die Grundvoraussetzungen des modernen Lebens auf den Prüfstand stellt, angefangen dabei, wie Geschäfte geführt werden, über die Lehrinhalte in den Schulen bis zu den Prinzipien, nach denen Städte gestaltet werden. Der Leser wird eventuell nicht jeder hier vorgestellten Idee zustimmen. Aber es ist fast unmöglich, von der Kühnheit des Buches nicht beeindruckt zu sein. Seine Grundannahme ist die, dass ein umfassender kultureller Umbruch möglich ist. Nachdem ich die kulturellen Umbrüche für die Frauen in Bangladesch selbst erlebt habe, glaube ich, dass das möglich ist. Letztendlich dient die Kultur dazu, den Menschen die Entfaltung ihres Potenzials zu ermöglichen, und nicht dazu, eine Mauer zu bilden, die sie am Vorwärtskommen hindert. Eine Kultur, die es den Menschen nicht erlaubt zu wachsen, ist eine tote Kultur. Eine tote Kultur gehört ins Museum und nicht in die menschliche Gesellschaft.
Muhammad Yunus
Gründer der Grameen Bank
und Friedensnobelpreisträger 2006
In den vergangenen fünf Jahren sind wir Zeugen einer unerwarteten Mobilisierung jener Kräfte geworden, die die galoppierende ökologische Krise in den Griff bekommen wollen. Seit 2005 sind Tausende von Gesetzen und Regelwerken verabschiedet und Hunderte Milliarden von Dollars in grüne Wirtschaft und Infrastruktur investiert worden, Wissenschaftler und Ingenieure haben die Entwicklung einer neuen Generation »grüner« Technologien massiv vorangetrieben und die Massenmedien haben Umweltprobleme zu einem ihrer Hauptthemen gemacht.
Bei all diesen fieberhaften Aktivitäten bleibt jedoch eine Dimension unseres ökologischen Dilemmas weitgehend unbeachtet: seine kulturellen Wurzeln. Weil der Konsumismus im vergangenen halben Jahrhundert eine Kultur nach der anderen erobert hat, ist er eine mächtige Triebkraft der unaufhaltsamen Steigerung der Nachfrage nach Ressourcen und der Abfallproduktion geworden. Selbstverständlich wären die bekannten Umweltfolgen in diesem Ausmaß ohne die Bevölkerungsexplosion, wachsenden Wohlstand und die Durchbrüche in Wissenschaft und Technologie nicht möglich. Doch Konsumkulturen verstärken die anderen Faktoren, die es der Menschheit ermöglicht haben, ihre ökologischen Grundlagen zu ignorieren, und sie treiben diese Tendenz ins Extrem.
Es gibt zahlreiche und unterschiedliche menschliche Kulturen, die in vielen Fällen tiefreichende und sehr alte Wurzeln haben. Sie ermöglichen es den Menschen, ihrem Leben einen Sinn zu verleihen und ihre Beziehungen zu anderen Menschen und zur Natur eigenständig zu gestalten. Bemerkenswerterweise belegen anthropologische Forschungen, dass der Kern vieler traditioneller Kulturen der Respekt vor den natürlichen Systemen ist, die die menschliche Gesellschaft am Leben erhalten, und folgerichtig liegt in diesem Kern auch ihr Schutz. Leider sind viele dieser Kulturen bereits untergegangen und mit ihnen die Sprachen und die Kenntnisse, über die sie verfügten – verdrängt von einer globalen Konsumkultur, die sich zuerst in Europa und Nordamerika durchgesetzt und inzwischen die entlegensten Winkel der Welt erreicht hat. Diese neue kulturelle Orientierung ist nicht nur verführerisch, sondern auch einflussreich. Wirtschaftswissenschaftler gehen davon aus, dass sie bei der Ankurbelung des Wirtschaftswachstums und der Zurückdrängung der Armut in den vergangenen Jahrzehnten eine große Rolle gespielt hat.
Selbst wenn man diese Entwicklung billigt, kann kein Zweifel darüber bestehen, dass hinter dem, was Gus Speth die »Große Kollision« zwischen einem endlichen Planeten und den unendlichen Wünschen der Menschheit genannt hat, die Konsumkulturen stehen. Mehr als 6,8 Milliarden Menschen brauchen heute immer größere materielle Ressourcen, schädigen die reichhaltigsten Ökosysteme der Welt und jagen jedes Jahr Milliarden Tonnen von Treibhausgasen in die Atmosphäre. Trotz einer dreißigprozentigen Steigerung bei der Ressourceneffizienz ist in den letzten drei Jahrzehnten die Ausbeutung der weltweiten Ressourcen um 50 Prozent gestiegen. Und diese Zahlen könnten in den kommenden Jahrzehnten noch steigen, wenn mehr als 5 Milliarden Menschen, die heute pro Kopf nur ein Zehntel der Ressourcen verbrauchen, die der durchschnittliche Europäer verbraucht, diesen Weg einzuschlagen versuchen, der durch den Überfluss gebahnt wurde.
Bereits in der Vergangenheit hat sich Zur Lage der Welt mit den kulturellen Dimensionen der Nachhaltigkeit beschäftigt – besonders in Zur Lage der Welt 2004, dessen Kernthema der Konsum war. Diese Erörterungen waren jedoch knapp und blieben an der Oberfläche. Anfang letzten Jahres überzeugte mich mein Kollege Erik Assadourian davon, dass man nicht länger um den heißen Brei herumreden könne. Bei Worldwatch verpufft kein guter Einfall, und deshalb wurde Erik Assadourian der Projektleiter für dieses Jahrbuch.
Zwar scheint die Aufgabe, eine Kultur umzuwälzen, gewaltig oder sogar unlösbar zu sein – besonders eine, die weltumspannend wirkt –, aber die folgenden Kapitel werden Sie vom Gegenteil überzeugen. Man findet hier viele Beispiele kultureller Pioniere – von Firmenleitern und Regierungsbeamten bis zu Grundschullehrern und buddhistischen Mönchen. Diese Pioniere überzeugen ihre Kunden, Wähler und Anhänger von den Vorteilen von Verhaltensweisen, die auf der Erhaltung der natürlichen Umwelt beruhen und sicherstellen, dass künftige Generationen ebenso gut oder noch besser als die heutige leben können.
Religiöse Werte können wieder zum Leben erweckt, Geschäftsmodelle transformiert und Bildungsmodelle verbessert werden. Selbst Werber, Anwälte und Musiker können in ihrem Bereich kulturelle Veränderungen bewirken, die es ihnen ermöglichen, zur Nachhaltigkeit beizutragen, statt sie zu schädigen.
Wenn die destruktive Kraft moderner Kulturen von vielen Entscheidern in Wirtschaft und Politik auch weiterhin ignoriert wird, so erkennt sie doch eine neue Generation von Umweltschützern, die in einem globalen Zeitalter aufwächst, umso deutlicher. Junge Leute sind immer eine starke kulturelle Kraft – und oft genug ein wichtiger Indikator dafür, wohin eine Kultur sich entwickelt. Von modernen Chinesen, die sich auf die alte Philosophie des Taoismus besinnen, zu Indern, die das Werk Mahatma Gandhis zitieren, von Amerikanern, die den Lehren der neuen Green Bible folgen, bis zu Europäern, die sich auf die wissenschaftlichen Prinzipien der Ökologie stützen, dokumentiert Zur Lage der Welt 2010, dass die Renaissance der Kultur der Nachhaltigkeit bereits im Gang ist.
Damit diese Renaissance Erfolg hat, muss das nachhaltige Leben künftig etwas so Selbstverständliches sein, wie es der Konsumismus heute ist. Dieser Band zeigt, dass der Anfang schon gemacht ist. In Italien werden für das Schulessen fortan gesunde, regionale und ökologisch einwandfreie Lebensmittel verwendet – ein Prozess, der die Ernährungsgewohnheiten der Kinder verändern wird. In Stadtteilen wie dem Quartier Vauban in Freiburg machen es Radwege, Windenergie und Bauernmärkte nicht nur einfach, nachhaltig zu leben, sie erschweren es sogar, anders zu leben. Bei der Interface Corporation in den Vereinigten Staaten hat der Vorstandsvorsitzende Ray Anderson eine neue, radikale Geschäftskultur geschaffen, indem er als Zielvorgabe setzte, der Erde nichts zu nehmen, was sie selbst nicht wieder ersetzen kann. Und in Ecuador sind die Rechte und der Schutz des Planeten sogar Bestandteil der Verfassung geworden und schafft so eine starke Motivation, die Ökosysteme des Landes zu schützen und für das langfristige Wohlergehen seiner Menschen zu sorgen.
Zwar sind die Pioniere der Nachhaltigkeit noch immer wenige, aber ihre Stimme wird vernehmbarer, und zum Zeitpunkt einer tiefgehenden wirtschaftlichen und ökologischen Krise wird sie auch gehört. Da die Welt sich von der schlimmsten Weltwirtschaftskrise seit der Großen Depression zu erholen versucht, haben wir die ganz unvorhergesehene Chance, uns vom Konsumismus abzuwenden.
Erzwungener Verzicht hat schon viele dazu bewegt, die Vorzüge eines ständig wachsenden Konsums – und die Begleiterscheinungen Verschuldung, Stress und chronische Gesundheitsstörungen – infrage zu stellen. Anfang 2009 proklamierte das Time Magazine das »Ende der Exzesse« und rief die Amerikaner dazu auf, bezüglich ihrer kulturellen Werte den »Reset«-Knopf zu drücken. In der Tat stellen inzwischen viele die Cowboykultur in Frage, kaufen kleinere Autos, ziehen in weniger pompöse Häuser und stellen die endlose Zersiedelung infrage, die kennzeichnend für die Nachkriegszeit war. In den armen Ländern überall auf der Welt werden die Nachteile des »amerikanischen Modells« offen diskutiert. Paul Hawken hat in Blessed Unrest den Aufstieg zahlloser jüngst entstandener Nichtregierungsbewegungen beschrieben, die an der Neufassung der Beziehungen der Menschen zum Planeten und untereinander arbeiten.
Auch wenn der Konsumismus stark und tief verwurzelt bleibt, wird er sich möglicherweise als nicht so dauerhaft herausstellen, wie es die meisten Menschen annehmen. Unsere Kulturen säen in der Tat schon den Samen ihres eigenen Untergangs. Am Ende wird der menschliche Überlebensinstinkt über den Zwang zum Konsum um jeden Preis siegen.
Christopher Flavin
Präsident des Worldwatch Institute in Washington
Klaus Milke und Stefan Rostock1
»Ich habe zwei Töchter und möchte gerne meine Enkel sehen.
Wenn wir aber so weitermachen wie bisher,
dann werde ich nicht in der Lage sein, meine Enkel zu sehen.«
Mohamed Nasheed, Präsident der Malediven,
in Kopenhagen im Dezember 2009
Direkt nach dem UN-Gipfel von Kopenhagen titelte die Wochenzeitung Die Zeit: »Weltrettung vertagt« und fuhr im Untertitel fort »Nur der Gipfel in Kopenhagen ist gescheitert, der Klimaschutz geht weiter. Jetzt muss noch die Politik den Anschluss finden«.2 Damit hat sie wie auch andere richtig erkannt: Volle Kraft voraus, es gibt keine Alternative.
Alles mündet nach dem Scheitern der politischen Entscheidungsträger in Dänemarks Hauptstadt in der einen Frage: Wer organisiert nach Kopenhagen das große Aufbäumen? Denn eines ist klar: Die Naturgesetze lassen nicht mit sich verhandeln. Ein notwendiger Schritt lautet nun: Die EU sagt zu, ihre Treibhausgase um 30 Prozent bis 2020 zu verringern, ohne dies an Zusagen anderer Staaten zu knüpfen. Für Deutschland bedeutet dies, dass die im Koalitionsvertrag vereinbarten Reduktionen um 40 Prozent ohne Bedingungen bis 2020 mit einer konkreten, stringenten Politik hinterlegt werden müssen. Auch sollte überlegt werden, ob das Ziel nicht um die vor allem durch den stotternden Wirtschaftsmotor in 2009 »geschenkten« knapp 7 Prozent Treibhausgasreduktionen erhöht werden kann.3 Es bleibt also auch nach Kopenhagen noch viel für die politischen Entscheidungsträger, aber gerade auch für die Zivilgesellschaft zu tun, insbesondere in der EU und in Deutschland.
Im Dezember 2010, in Mexiko, muss es nun das Abkommen geben, das in Kopenhagen verschoben wurde. Zugleich gilt es, den Prozess wirkungsvoller zu organisieren und mit Akribie und Intelligenz nun auch zu prüfen, welche anderen Bereiche in Gang gebracht werden müssen. Auch im Bereich der Wirtschaft4, des Konsums und der Kultur gibt es große Handlungsspielräume; diese können mutig genutzt, ergänzt und erweitert werden. Richtungsweisende Einstellungen und das nötige Bewusstsein sind in der deutschen Bevölkerung schon weit verbreitet, dies führt aber kaum zu einer grundlegenden Verhaltensänderung. Neues Handeln und neue Gewohnheiten sind unabdingbar. Bis spätestens 2050 müssen wir in den Industrieländern unser Wirtschafts- und Konsumsystem auf 100 Prozent erneuerbare Energien umstellen. Nur so wird ein gefährlicher Klimawandel zu verhindern sein.
Was das Handeln angeht, sind die Deutschen lange nicht so klimabewusst, wie sie selbst gerne glauben – dies zeigte zuletzt die Studie »Wie klimabewusst sind die Deutschen wirklich?« der Philipps-Universität Marburg.5 Der darin durchgeführte Vergleich mit den anderen Ländern der EU zeigt, dass Deutschland in puncto Einstellungen tatsächlich in der europäischen Spitzengruppe liegt, aber in puncto Handeln sieht es weit weniger positiv aus. Besonders bemerkenswert: Eine gewisse Selbstzufriedenheit hat sich in Deutschland breitgemacht. Nirgendwo (außer in Irland) sind so viele Bürgerinnen und Bürger der Meinung, dass die Regierung doch schon genug im Kampf gegen den Klimawandel unternehme – und diese Stimmung – »Wir engagieren uns doch schon genug« – herrscht vor allem auch in Deutschland vor.
Ein weiteres Ergebnis der Studie ist die Differenz zwischen dem »Wir« und dem »Ich«, die bei vielen Fragen der empirischen Untersuchungen augenscheinlich ist. So ist die große Mehrheit zwar der Meinung, »wir Bürger müssen mehr für den Klimaschutz tun«, bzw. »wir können durch unser Kaufverhalten viel bewegen«; doch faktisch setzen dies nur relativ wenige um. Offenbar schließt das »Wir« die eigene Person nicht ein. Alle in der Studie abgefragten klimarelevanten Verhaltensweisen werden in Deutschland zwar etwas häufiger praktiziert als im europäischen Durchschnitt, doch belegen die Deutschen in keinem einzigen Fall den Spitzenplatz. Faktisch handeln viel zu wenige und das meist nur auf mehr oder weniger symbolische Weise, indem die eine oder andere umweltfreundliche Handlung gelegentlich praktiziert wird. Fatalerweise werden solche Handlungen recht oft vor dem eigenen Gewissen wieder »ausgeglichen«, etwa nach dem Motto: »Ich war so gut, ich darf jetzt auch mal fliegen.« So sinken die Emissionen aber nicht im notwendigen Ausmaß. Zwischen der allgemein bekundeten Bereitschaft und dem Handeln im Alltag klafft also eine gewaltige Lücke. In der Eurobarometerstudie sagen zum Beispiel 75 Prozent der Europäer, dass sie umweltfreundliche Produkte kaufen, aber nur 17 Prozent der gleichen Personen haben dies im letzten Monat tatsächlich getan.
Doch es gibt auch Qualitätssprünge. Inzwischen werden ganz neue Milieus der Gesellschaft erreicht. Schauspieler und Musikschaffende melden sich zunehmend in Sachen Nachhaltigkeit und Klimaschutz zu Wort: Beispielhaft zu nennen sind Leonardo DiCaprio, Daniel Brühl, Marie-Luise Marjan alias Mutter Beimer aus der Lindenstraße, die Band Juli, die Rolling Stones und die Berliner Philharmoniker. Auch Udo Jürgens greift das Thema mit seinem Song »5 Minuten vor 12« auf. Sogar in die Fußballstadien zieht das Thema Klimaschutz und Nachhaltigkeit ein.
So hat der HSV im Juni 2009 mit der Herausgabe des ersten Nachhaltigkeitsberichtes eines Bundesligavereins Farbe bekannt. Am 5.12.2009 – zwei Tage vor dem Kopenhagen-Gipfel – stand das Heimspiel gegen 1899 Hoffenheim vor 50.000 Zuschauern unter dem gleichen Slogan wie der bundesweite Klimaaktionstag der deutschen Klima-Allianz:6 »ACT NOW – KLIMASCHUTZ JETZT«. Der HSV bekennt sich zum Klimaschutz und gleicht nun alle Geschäftsflüge über atmosfair7 aus. Außerdem wechselte er zu einem Ökostromanbieter, und auch die in einer Auflage von 70.000 Exemplaren erscheinende Stadionzeitung widmete sich im Dezember diesem Thema. Bundesumweltminister Dr. Norbert Röttgen reiste eigens mit der Bahn an und richtete zusammen mit dem Vereinsvorsitzenden Bernd Hoffmann vor dem Spiel im Stadion dringliche Worte an die Fans, um die Wichtigkeit des Klimagipfels in Kopenhagen und des Klimaschutzes zu verdeutlichen. Außerdem wurde in der Halbzeit der Kurzfilm Die Rechnung von Peter Wedel8 gezeigt, in dem verschiedene Lebensstile gegeneinander stehen. Der Klimawissenschaftler Prof. Hartmut Graßl gab ein Halbzeitinterview. Auch die HSV-Spieler, wie zum Beispiel Marcel Jansen bei der Ankündigungspressekonferenz, beteiligen sich an der langfristig angelegten Initiative.9
Auch beim Bundesligisten Mainz 05 bewegt sich einiges in Richtung Klimaschutz. Niko Bungert, 23-jähriger Kicker in der im Herbst 2009 überaus erfolgreichen Mannschaft, gilt bei Trainer, Team und Fans als abgeklärter »Abwehrstabilisator«. Der Innenverteidiger wird nun vom FSV Mainz 05 und dessen Haupt- und Trikotsponsor Entega als »Klimabotschafter« zum Angriff aufs Spielfeld geschickt. Die Fußballer vom FSV Mainz 05 wurden insgesamt symbolisch zu »Klimaverteidigern«. Während der Welt-Klimakonferenz in Kopenhagen sind die Rheinhessen mit der entsprechenden Trikotaufschrift im Bundesliga-Heimspiel am 13. Dezember gegen den VfB Stuttgart angetreten. Denn auch die 05er beteiligen sich am Wettstreit, »erster klimaneutraler Verein« der Fußballbundesliga zu werden. »Wir wollen den Verein durch Vermeidung, Verminderung und Kompensation klimaneutral stellen«, sagte Vereinspräsident Harald Strutz. Dafür wird ein »Klimawart« eingestellt, der am 1. Januar 2010 seinen Dienst angetreten hat. Der Klimawart von Mainz 05, so Strutz, soll künftig die Klimaschutzinitiativen des Vereins koordinieren und überwachen.10
Zwei Beispiele, die Schule machen sollten, gerade im WM-Jahr von Südafrika. Es wäre an der Zeit, dass auch der DFB entscheidet, die Flüge dorthin auszugleichen.
Mindestens drei Aspekte sind in diesem Zusammenhang wichtig:
Wenn prominente Vorbilder anders handeln, hat dies einen besonderen Anreiz, dem im eigenen Alltag nachzueifern.
Die Vorreiter sorgen dafür, dass auch andere Prominente (und Vereine) sich veranlasst sehen, zu prüfen, warum sie denn nicht mitmachen.
Die Vorreiter müssen sich gefallen lassen, dass nachgeprüft wird, ob Wort und Tat auch übereinstimmen.
Die ökologischen Stresssituationen verschärfen sich. Der Expansionsdrang und der Wachstumszwang des nun nahezu globalisierten kapitalistischen Wirtschaftssystems haben dieses an Grenzen oder sogar über Grenzen hinaus geführt, die zunehmend auch innerhalb des Systems selbst als bedrohlich registriert werden. Gehörten zunächst Wissenschaftler und Umweltbewegte, einige Jahre später Versicherungskonzerne und Zukunftsbranchen zu den Warnern, so ist die Erkenntnis, dass wir uns Grenzen nähern und damit größere Systembrüche provozieren, mittlerweile weitgehend akzeptiert. Dabei drohen beispielsweise im Klimasystem beim Überschreiten bestimmter Erwärmungsschwellen ganze Kontinente irreversibel in neue, bedrohliche Zustände zu kippen (»Kipp-Punkte«). Doch bereits vorher können durch Überschwemmungen, Dürren und Starkregenereignisse soziale Systeme an die Grenzen ihrer Fähigkeit gelangen, mit Belastungssituationen umzugehen. Migration, Gewalt, soziale Spannungen und letztlich der Zerfall von Staaten könnten die Folge sein.
Jedoch: Das aktuelle Handeln ist den enormen Herausforderungen nicht angemessen. Es stellt sich die Frage, auf welcher Ebene, von welcher Akteursgruppe die notwendigen wirkmächtigen Veränderungen initiiert werden können. Nach dem Scheitern von Kopenhagen rufen viele nach dem Verbraucher, der es nun richten soll.11 Vieles kann der Bürger als Verbraucher, Wähler, Geldanleger etc. mitgestalten, doch dürfen seine Möglichkeiten auch nicht überschätzt werden. Ernst Ulrich von Weizsäcker hat den Begriff der »schiefen Ebene« eingeführt. Die »Sschiefe Ebene« beschreibt die Schwierigkeit der Verbraucher, in einer nicht nachhaltigen Gesellschaft nachhaltig zu leben und zu wirtschaften. Es ist in vielen Bereichen derzeit noch einfacher, billiger und näherliegender, sich nicht klimaverträglich zu verhalten. Die billige Urlaubsreise ist zumeist die Allinclusive-Flugreise, der eigene Pkw ungeprüft die Standardlösung für die privaten und beruflichen Mobilitätserfordernisse. Klimafreundliches Verhalten erfordert heutzutage noch einen längeren Prozess, in dem sich Verbraucher informieren und auf eine längere Suche nach entsprechenden Produkten begeben müssen. Erst wenn das preiswertere, leichter zu erreichende und modernere auch gleichzeitig das nachhaltigere, klimafreundlichere Produkt oder die Dienstleistung ist, haben wir den Kampf gegen die »Schiefe Ebene« gewonnen. Politische Entscheidungen müssen den Bürgern den Weg zur »100 Prozent erneuerbare Energien«-Gesellschaft bis 2050 erleichtern, das heißt: mit neuen Rahmensetzungen den Steigungswinkel der schiefen Ebene, gegen die wir anlaufen müssen, verringern. An Ideen mangelt es dazu nicht. Lediglich an politischem Umsetzungswillen. Hierfür braucht es aber wiederum Druck und Rückendeckung aus der Bevölkerung – beides ist bislang oftmals unzureichend vorhanden.
Insbesondere nachdem die Klimakonferenz von Kopenhagen ihre Ziele nicht erreicht hat, verschärft sich die Debatte darüber, ob im Rahmen des UN-Systems – aber auch mit den einzelnen demokratischen Nationalstaaten und ihren Legislaturperioden, mit ihrem wahltaktischen Handeln und ihren zum Teil langsamen Strukturen – rechtzeitig und umfassend auf die Herausforderung des globalen Klimawandels reagiert werden kann. Die Antwort liegt in mehr Demokratie als in weniger. In einer Demokratie ist der politische Wille eine erneuerbare Ressource. Je mehr Menschen sich an politischen Prozessen beteiligen, desto mehr Beteiligung, Rückhalt und Transparenz braucht der kommende soziale und kulturelle Wandel, denn er wird nicht geringe Veränderungen und auch Übergangshärten mit sich bringen.
Aus vielen belächelten Pilotprojekten der nachhaltigen Entwicklung sind in den vergangenen Jahren gut eingeführte, teilweise in Gesetze überführte Standards geworden. Ein gutes Beispiel ist in Deutschland das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das zu einem Exportschlager in der Welt geworden ist. Nachhaltigkeitsdenken und Umweltschutz, insbesondere Klima- und Ressourcenschutz, fangen an, die Art, wie wir wohnen, wie wir uns fortbewegen und uns ernähren, zu verändern. Längst verstehen wir dies nicht mehr nur als ökologische Herausforderung, sondern als Notwendigkeit im Sinne globaler Gerechtigkeit und zunehmend auch als wirtschaftliche Chance. Die Globalisierung umfassender Krisen und ihre Wechselwirkungen machen deutlich, dass die Erdbevölkerung unter bestimmten Bedingungen nur gemeinsam eine Zukunft und Wohlstand hat – oder aber gemeinsam leidet. Die Hauptbetroffenen des Klimawandels sind die armen Menschen überall, aber insbesondere in den Ländern des Südens. Die Auswirkungen von Krisen in Afrika und Asien werden global spürbar werden. Auch die europäische Mittelmeerregion leidet schon heute unter immer massiveren Einschränkungen. Keine Frage, die weltweiten sozialen Konsequenzen werden auch Europa nicht unberührt lassen.
War noch vor wenigen Jahren der Kinderanhänger am Rad echten Ökos vorbehalten, findet man heute, zumindest im städtischen Raum, vor der Kita und dem Kindergarten kaum mehr einen Parkplatz fürs Fahrrad mit Kinderanhänger. Im Mobilitätsbereich zeigen sich vielversprechende Veränderungen. Der Anteil der Wegstrecken, die mit dem Rad, zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden, nimmt zu. Dieser Zuwachs ist besonders groß in den Altersgruppen der 10- bis 24-Jährigen. In den Großstädten Deutschlands lebt etwa ein Drittel der Haushalte ohne eigenes Auto. Je höher der Urbanisierungsgrad und je besser das ÖPNV-Angebot, desto mehr Haushalte finden sich in dieser Gruppe. In Berlin liegt der Anteil der Haushalte ohne eigenen Pkw bereits bei 41 Prozent.12
Doch die Autoindustrie reagiert zu langsam auf die Herausforderung einer zukunftsfähigen Mobilität in einer sich ändernden Gesellschaft. Die Autohersteller wurden dazu auch noch mit der Abwrackprämie »belohnt«. Die Internationale Automobilausstellung IAA 2009 in Frankfurt zeigte deutlich, dass die Trendwende nur langsam die Branche erreicht. Kanzlerin Angela Merkel mahnte eine klimafreundlichere Mobilität an, und die Verbraucherverbände zeigten deutlich neue Möglichkeiten. Jeder Hersteller präsentierte auf der IAA sein ökologisches Feigenblatt, doch der große Wandel lässt noch auf sich warten. Der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel geißelte schon als Umweltminister große Dienstwagen als »Viagra in Chrom«13, überdimensionierte Pkw sind geächtet wie Pelzmäntel. Doch negative Kritik allein genügt nicht. Lösungen müssen entwickelt werden – vor allem, was den öffentlichen Verkehr angeht. In Frankreich erlebt die Straßenbahn eine vielbeachtete Renaissance, die auch zu einer Vitalisierung der Innenstädte führt. Carsharing ist ein weiterer, immer häufiger genutzter Ansatz. Andere neue Ideen müssen folgen und Orientierung in anderen Teilen der Welt kann dabei hilfreich sein: Wie werden sich Asiens Rikschas umwelt- und nutzerfreundlich weiterentwickeln, und was können Europa und Deutschland davon lernen? Global nimmt der Urbanisierungsgrad zu. Zukunftsfähige Mobilität kann gerade für Schwellen- und Entwicklungsländer innovative Impulse geben.
Beim Flugverkehr erleben wir die Schieflage besonders: Flugverkehr ist von Steuern auf Treibstoffe befreit, die beim Superbenzin für Pkw auf dem derzeitigen Preisniveau von 131,9 Cent pro Liter 87 Cent oder etwas mehr als 65 Prozent ausmachen.14 Die EU-Kommission hat entschieden, eine Obergrenze für den CO2-Ausstoß aller Flugzeuge einzuführen, die EU-Flughäfen anfliegen. Zudem nimmt der Luftverkehr am Emissionshandel in der EU ab 2012 teil.15 Aufgrund der zu hohen Gesamtmenge der erlaubten Emissionen für die Unternehmen bleibt die ökologische Lenkungswirkung aber gering. Da für die Festlegung der Flugpreise andere Faktoren entscheidender sind, wird der Kunde den Emissionshandel, so wie er hier eingeführt wird, kaum an den Flugpreisen spüren, er wird auch nicht zu der notwendigen Abnahme des stark wachsenden Flugverkehrs führen. Das Ausweichen auf die Schiene zum Beispiel innerhalb Europas ist naheliegend, doch verpasst die Deutsche Bahn derweilen die Gelegenheit, mit bekannten Ideen (Serviceorientierung, Deutschlandtakt, attraktive Fahrpreisangebote etc.) oder auf innovative Weise (z.B. stärkere Privatsphäre für Geschäftsreisende in Abteilen) zusätzlich Fahrgäste anzulocken.
Kaum jemand kennt die CO2-Budgets unterschiedlicher Ernährungsweisen. Mindestens 18 Prozent der vom Menschen verursachten Treibhausgase sind auf Tierhaltung zurückzuführen.16 Fleisch ist zusammen mit Milchprodukten ein großer Posten in der Treibhausgasbilanz unserer Ernährung, aber nicht der einzige.17 Herstellung, Grad der Weiterverarbeitung und Art sowie Länge der Transportwege sind andere wichtige Faktoren, welche die Treibhausgasbilanz beeinflussen. Das Ziel heißt: lokale und saisonale Produkte bevorzugen und weniger Fleisch und Milchprodukte kaufen; und auch dann das regionale Angebot von biologischen Erzeugern bevorzugen. Oft geht eine Umstellung auf eine Ernährung mit weniger Fleisch und Milchprodukten einher mit dem Kauf von saisonalen Produkten aus lokalem Anbau.18 Klimaschutz schmeckt! Unser Ernährungsbudget unterscheidet sich stark von dem in anderen europäischen Ländern, kaum wird anteilig so wenig für Lebensmittel ausgegeben wie in Deutschland. Doch das Einkaufsverhalten ändert sich. Der Umsatz mit fair gehandelten Produkten stieg von 2007 auf 2008 um über 50 Prozent.19 Durch Verbrauchernachfrage haben fast alle Discounter Bio- und fair gehandelte Produkte in ihr Sortiment aufgenommen. Noch vor Kurzem war der Bioladen Hort des individualisierten Einkaufserlebnisses in urbanen Nischen, doch hat sich der Biosupermarkt jetzt breit durchgesetzt. Der Trend geht zu biologisch produzierten und fair gehandelten Produkten. Flugmangos, Wintererdbeeren, Treibhausschnittblumen etc. dürften so mittelfristig aus den Regalen verbannt werden.
Am 1. Januar 2010 ist in Deutschland ein bislang kaum beachteter Paragraf in Kraft getreten, der eine technische Revolution auslösen kann: Der Paragraf 21b des Energiewirtschaftsgesetzes. Er schreibt vor, dass in Zukunft alle Neubauten und grundsanierten Häuser mit einem intelligenten Stromzähler ausgestattet werden müssen, einem »Smart Meter«. Im Gegensatz zu den alten Zählern messen Smart Meter den Stromverbrauch kontinuierlich über den Tagesverlauf, manche sogar sekundengenau. Damit wird erkennbar, wann wie viel Strom verbraucht wird. So kann der Hausbesitzer in günstigen Fällen den Stromverbrauch um 10 Prozent drücken, indem er die Niedrigpreisphasen nutzt.20 Im Gebäudebereich steckt in der Bundesrepublik über den Strombereich hinaus noch ein riesiges Potenzial an Energieeinsparungen. Der Wärmemarkt wird oft als »schlafender Riese« bezeichnet, weil das enorme Potenzial für Energieeinsparung und Klimaschutz durch moderne Heizungssysteme, Gebäudedämmung und erneuerbare Energien bislang vor allem im Bereich der Altbauten kaum genutzt wird. Der Fokus muss dabei auf dem Gebäudebestand liegen, der wesentlich bedeutsamer ist als der Neubaubereich. Mit dem Integrierten Energie- und Klimaprogramm (IEKP) hat der Bundestag neue Rahmenbedingungen im Wärmesektor beschlossen, die ab 2009 in Kraft treten.21 Im Bereich der Neubauten haben diese und weitere Energieeffizienz- und Klimaschutzvorschriften der letzten Jahre weitreichende Wirkungen gehabt und werden sie in den nächsten Jahren noch entfalten. Bestehende Vorschriften schöpfen das Maß des technisch Umsetzbaren bei Weitem noch nicht aus. Große Effekte können erreicht werden, wenn hier in den Rahmenbedingungen nachgebessert wird. Das Null-Energie-Haus oder das Energie-Plus-Haus sind längst aus den Kinderschuhen heraus und haben sich bewährt. Der Gesetzgeber sollte hier nachjustieren.
In den letzten Jahren hat das Wissen und das Bewusstsein der Verbraucher in Umwelt- und Klimafragen zugenommen. Aber nur wenige Verbraucher stellen ihr Verhalten bezüglich ihres Einkaufs-, ihres Mobilitäts- oder ihres Geldanlageverhaltens entsprechend um. Die Bildungsforschung steht vor dem Dilemma, dass Gesellschaften mit hohem Bildungsstand auch einen hohen Ressourcen- und Energieverbrauch aufweisen. Wissen führt nicht zwangsläufig zum Handeln. Unser Handeln wird viel stärker von sozialen Erwartungen, kulturellen Prägungen und gesellschaftlichen Werten bestimmt, als viele Umweltpädagogen dies wahrhaben wollen. Frühkindliche Erziehung spielt in der Bildung für nachhaltige Entwicklung eine immer wichtigere Rolle, doch läuft uns die Zeit davon. Bis die heutigen Kindergartengänger Entscheidungsträger geworden sind, kann es bereits schlecht um ihre Zukunft stehen. Derzeit reagiert die Debatte auf diese Herausforderung mit Slogans wie »Klimaschutz muss ›cool‹ werden«. Tradierte Systeme der Wissensvermittlung geraten an ihre Grenzen. Das Konsumverhalten der Babyboomer und ihr Erfahrungsschatz zur Lebensbewältigung bieten keine ausreichenden Lösungen für die Herausforderungen der Gegenwart oder gar der Zukunft. Aus dem Erfahrungsschatz der älteren Generation lernen? Die Wirtschaftswundergeneration mit ihren Idealen, Zielen und Lebensentwürfen (»Jedes Auto, das ich mir kaufte, war größer als das vorherige…«) kann kein Maßstab für das Verhalten jetziger und kommender Generationen sein.
Ein möglicher Schluss aus diesen Beobachtungen mag sein, dass moderne Vorbilder eine immer wichtigere Rolle spielen können. Wenn der Mensch sich so stark an Seinesgleichen orientiert, dann haben Einzelne, die gute Ideen vorleben, eine potenziell enorme Einflussmöglichkeit auf ihre Umwelt. Lebe gut und berichte davon!
Eine andere Schlussfolgerung bezieht sich auf das Erlernen neuer Gewohnheiten. Einmal etwas zu tun, reicht nicht aus (z.B. nur ein einziges Mal einen Flug bei atmosfair auszugleichen). Verhaltensmuster und dauerhafte Gewohnheiten müssen sich ändern. Quer durch alle Altersgruppen muss viel handlungsorientierter pädagogisch gearbeitet werden. Da ist der Seniorenkreis, der sich auf der Fahrt mit Bus und Bahn zu Kaffee und Kuchen die Fahrkartenautomaten und das Preissystem erklären lässt; oder das Rockkonzert, das in der Umbaupause den Wechsel zu einem Ökostromanbieter samt verteiltem Formblatt erläutert. Daraus folgt die Notwendigkeit einer handlungsorientierten Bildungsoffensive vom Kindergarten an, über die Schulen und Universitäten bis hin zu Seniorengruppen, für eine globale Verantwortung und nachhaltige Entwicklung.22
Klimaschutz ist weit mehr als Einschränkung, Verzicht und Komplikation. Immer mehr Menschen nehmen Maßnahmen zur Nachhaltigkeit und zum Klimaschutz nicht länger als Belastung, sondern als Gewinn wahr: durch finanziellen Nutzen, langfristig mehr Sicherheit und eine Erhöhung der Lebensqualität. Klimaschutz hat viel zu tun mit Kosteneinsparungen. Bewusstes und nachhaltiges Handeln zahlt sich aus: in objektiv messbarer Lebensqualität sowie in Glücksgefühl und Zufriedenheit. Der häufige Vorwurf der »Verzichtsdebatte« ist stark angstbehaftet. Wie bei einer Sucht wird das eigene Handeln, trotz hoher Verluste im materiellen, sozialen und gesundheitlichen Bereich, alternativlos der erkannten oder unbewussten Abhängigkeit untergeordnet. Und: Welcher Süchtige führt schon gerne eine Verzichtsdebatte, wenn es um die Befriedigung der Sucht geht? Zugrunde liegen dem notwendigen zukunftsfähigen Handeln oft gründliche Analysen des eigenen Lebensstils und Emissionseinsparungsmaßnahmen sowie Gerechtigkeitsfragen, auf deren Basis dann grundlegende und verhaltensweisende Entscheidungen getroffen werden können. Trennt man sich beispielsweise ein für alle Mal von seiner Ölheizung und setzt auf erneuerbare Energien oder von seinem Auto und entscheidet sich für den öffentlichen Nahverkehr und die Bahn, entzieht man sich täglich wiederkehrenden lästigen Entscheidungen.
Eine zentrale Frage ist also sicherlich angesichts des 2-Grad-Limits die nach dem richtigen Maß, nach dem Maßhalten und nach der Genügsamkeit (der sogenannten Suffizienz). Aber auch hier gilt, dass dies in Erinnerung an die »schiefe Ebene« nicht dem Einzelnen allein überlassen werden kann. Vielmehr geht es um eine neue Politik der Suffizienz im Energie- und Ressourcenbereich. Dazu muss es auf nationaler und bilateraler Ebene, in Staatengruppen und letztlich auch wieder auf der UN-Ebene verstärkten Austausch und Anstrengungen geben.
Damit jeder Einzelne Klimaschutz im Alltag ohne Hürden umsetzen kann, treten die Verbraucherorganisationen seit 2009 erstmals in einer umfassenden und mehrjährigen Kampagne – »für mich. für dich. fürs klima.« – gegenüber Politik und Wirtschaft für mehr Informationen und bessere Rahmenbedingungen ein.23 Denn der Handel sollte mehr klimaverträgliche Produkte ins Verkaufssortiment nehmen und die Hersteller mehr davon entwickeln. Der Bundesverband der Verbraucherzentralen gibt zusammen mit Kooperationspartnern Studien, Gutachten und Marktchecks in Auftrag. Gegen unlautere Werbung mit Klimaargumenten nutzt die Klimakampagne ihre juristischen Möglichkeiten. Man hat sich zusammengeschlossen, um Verbraucher zu klimafreundlicherem Handeln zu befähigen und zu ermuntern und so effektiv zum Klimaschutz beizutragen. Die Verbraucherorganisationen arbeiten auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene. Viele Angebote der Klimaschutzkampagne werden gemeinsam von allen Beteiligten ausgerichtet. Daneben gibt es zahlreiche Teilprojekte, mit denen die Verbände ihre jeweils eigenen Zielgruppen ansprechen und ihre Expertise und Erfahrungen einbringen. Hier machen Verbraucher deutlich: Klimafreundliches Handeln muss aufgrund der falschen Rahmenbedingungen leider immer noch gegen eine »Schiefe Ebene« anrennen. Um dies zu ändern, brauchen Verbraucher Unterstützung von der Politik.
Vielleicht ist der Gipfel von Kopenhagen, obwohl er die notwendigen Ziele nicht erreicht hat, zu einem Aufwachen und Beginn geworden, denn nie zuvor haben sich derart viele Privatpersonen weltweit gegen den Klimawandel und für den System- und Gewohnheitswandel vereint gesehen. Die fröhliche und aufbruchsbereite Stimmung mit etwa 100.000 Menschen, die die Demonstration am 12. Dezember 2009 auf dem Platz vor dem Dänischen Parlament allein in Kopenhagen verbreitete, macht Hoffnung auf Kreativität und Innovation zur Beschreitung des Weges aus der fossilen hin zur solaren Gesellschaft. Zwar fehlt auch nach dem zweiwöchigen Gipfeltreffen im Rahmen der UNO weiterhin ein völkerrechtlich verbindliches Regelwerk für die Zeit nach 2012, und wir wissen nicht, ob der Klimagipfel in Mexiko Ende 2010 dieses bringen wird. Doch zeigte die Präsenz der Zivilbevölkerung, dass Veränderungen nicht ausschließlich durch Beschlüsse von oberster Ebene erzeugt werden müssen. Diese Dynamik »von unten« sollte gestützt und ausgebaut werden. Im zu Beginn erwähnten Artikel endet der Autor mit den Worten: »Das Ergebnis des globalen Experiments namens Klimaschutz ist also noch offen. Nie hatten wir mehr wissenschaftliche Einsicht, nie bessere Techniken und Kommunikationsmittel, die uns in Lichtgeschwindigkeit mit dem anderen Ende der Welt verbinden. Vielleicht lernt es die Menschheit im 21. Jahrhundert ja doch noch, dass sie auch im globalen Maßstab von einer besseren Kooperation nur profitieren kann.« Dem ist nichts hinzuzufügen.
Klaus Milke ist Vorsitzender von Germanwatch. Stefan Rostock ist Referent bei Germanwatch für Informations- und Bildungsarbeit für Klima und Entwicklung.
Gerhard de Haan
Bildung für eine nachhaltige Entwicklung als Lernkultur
Bei allem Konsens über das Leitbild Nachhaltigkeit ist hinsichtlich der Konkretisierung von Zielsetzungen, der Formulierung von Handlungsprioritäten und der Entwicklung von Strategien eine außerordentlich kontroverse Diskussion zu registrieren. Soll in erster Linie die Biodiversität erhalten, der Klimawandel gestoppt und der Ressourcenverbrauch reduziert werden? Soll in erster Linie auf den Ausgleich zwischen armen und reichen Ländern geachtet werden, oder kommt es primär auf die ökonomische Entwicklung an, weil mit ihr die Bedingungen der Möglichkeit von Wohlfahrt geschaffen werden? Sollte man den Schwerpunkt der Aktivitäten auf die Veränderung des Konsumverhaltens legen oder eher auf die Förderung neuer Technologien zielen? Darf man die Fragen überhaupt so stellen, oder muss man sogleich auf eine Balance insistieren oder gar verlangen, dass Prioritäten nicht zu setzen sind, weil es zwischen den einzelnen Aspekten zu viele Interdependenzen gibt? Die wissenschaftlichen wie politischen Differenzen sind in diesen Fragen beachtlich und substanzielle integrative Konzepte nur selten zu registrieren (zwei wenig beachtete Ausnahmen seien hier genannt: Kopfmüller u. a. 2001; Coenen/Grunwald 2003).
Bei aller Divergenz hinsichtlich der Formulierung von substanziellen Nachhaltigkeitspostulaten und- regeln ist allerdings eines auffällig: Generell beurteilt man in der Diskussion um Strategien nachhaltiger Entwicklung seit einem Jahrzehnt schon die Frage als entscheidend, »inwieweit Gesellschaften überhaupt in der Lage sind, eine solche umfassende und weitreichende Transformation zu bewältigen, wie sie das Konzept der zukunftsfähigen Entwicklung impliziert. Dass sich dies nicht anders als über eine weitreichende Modifikation in den Lebensweisen der Menschen, nicht ohne tiefgreifenden Wandel der dominanten Produktions- und Konsumptionsmuster und nicht ohne eine Neuorientierung von Planungs- und Entscheidungsprozessen erreichen lässt – und zwar weltweit – gehört zu den weitgehend geteilten Grundeinsichten der Sustainability-Debatte« (Kopfmüller u.a. 2001, S. 33).
Wenn es um einen weitreichenden mentalen Wandel – also um eine in ihrer ganzen Komplexität veränderte Kultur des Wirtschaftens, des Alltagslebens, der Gerechtigkeit und der Politik – geht, werden Prozesse veränderter Bewusstseinsbildung jedes Einzelnen notwendig. Diese sind nur über das Lernen – und zwar in einer veränderten Lernkultur – zu verwirklichen: ein Lernen, dass kaum noch dem Duktus von Belehrung und dem Verfahren folgen kann, das sich die Schüler an Antworten auf Fragen herantasten müssen, über deren Richtigkeit in beiden Fällen die Lehrkraft entscheidet. Vielmehr über selbsttätiges, entdeckendes, der Komplexität des Sachverhaltes angemessenes Lernen – so ist international in der pädagogischen Fachwelt zu registrieren – soll dieser tiefgreifende Wandel in den Denk- und Handlungsmustern, generell in den Planungs- und Entscheidungsprozessen erfolgen. Nicht ohne Grund, denn den Einzelnen werden in diesem Zusammenhang in erheblichem Maß neue Kompetenzen abverlangt. Sie benötigen Kompetenzen bei der Beteiligung und Selbstorganisation von Verständigungs- und Entscheidungsprozessen, zum Beispiel bei der eigenständigen Aneignung und Bewertung von Informationen, bei der Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit, der Perspektivübernahme in Hinsicht auf die differenten Lebenslagen und Zielsetzungen in unterschiedlichen Kulturen sowie beim vorausschauenden Planen in vernetzten Systemen.
Der damit formulierte doppelte Aufforderungscharakter, Lernkonzepte für die Möglichkeit des Handelns im Sinne der Nachhaltigkeit zu entwickeln und in die offerierten Handlungsstrategien Elemente der Partizipation zu integrieren, führt direkt in die Konzeptionen der Bildung für nachhaltige Entwicklung (im Folgenden: BNE). Ihr wird seit Mitte der 1990er-Jahre in Deutschland sowie international von politischer Seite größere Aufmerksamkeit gewidmet. Auffällig sind in diesem Zusammenhang sogleich die Schwierigkeiten in der Konturierung der BNE. Ein exorbitantes Problem erwächst insbesondere aus dem sehr weiten Verständnis von Nachhaltigkeit und den Aufgaben der BNE, wie sie in internationalen Dokumenten der Vereinten Nationen und der UNESCO formuliert werden. Für die Vereinten Nationen – wie für die UNESCO – gehört »education for all«, die United Nations Literacy Decade (2003 bis 2012), die Armutsbekämpfung sowie die Bekämpfung von HIV/AIDS und die Gleichstellung der Geschlechter zu den Aufgabenfeldern der BNE (vgl. UNESCO 2005). Freilich werden auch die Entwicklung nachhaltiger Lebensstile, der demografische Wandel, innovative Technologien, Probleme des Konsums, die Umweltverschmutzung, der Klimawandel etc. als Themen von BNE genannt. Nachhaltige Entwicklung wird damit einerseits zu einem Lernfeld deklariert, andererseits aber wird alles, was einer Entwicklung im positiven Sinne entgegengeht oder für die Zukunft als sinnvoll erscheint, unter der BNE subsumiert. Es scheint – und wird manchmal sogar formuliert – als solle man aus der BNE heraus generell die Qualität der Bildungssysteme beurteilen, über BNE die Armut bekämpfen, die Alphabetisierung vorantreiben und die Gleichheit der Geschlechter durchsetzen.
So sinnvoll all diese Initiativen sind, so sehr überfrachtet man die BNE mit solchen Ansprüchen. Zudem gerät das Verständnis von BNE diffus und man macht sich unglaubwürdig, wenn ein so schmales Lern- und Handlungsfeld, wie es BNE im formellen wie nonformellen Bildungsbereich darstellt, all diese Themen behandeln soll. Wie kann man mit dieser Diffusion und Überfrachtung von BNE umgehen?
Mein Vorschlag ist, der BNE aus mehrfachen Gründen eine nationale Ausprägung zu geben. Das hat weniger mit der Souveränität der Staaten dieser Welt zu tun als mit den spezifischen Problemlagen und jeweiligen gesellschaftlichen Strukturen sowie vorhandener Expertise und Professionalität. So ist es unter Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit sicherlich richtig, in etlichen Ländern »education for all« einzufordern. Wo nicht einmal eine Grundbildung für acht bis zehn Schuljahre verwirklicht ist und zudem Mädchen und Frauen kaum ein Zugang zur Bildung gewährt wird, muss man dieses Problem aus der Perspektive der BNE auf die Agenda setzen. Wo aber, wie hierzulande, ein Deckeneffekt erreicht ist, d.h. für alle eine Schulpflicht bis zum Ende der Sekundarstufe I besteht, ist es wenig sinnvoll, diese Aufgabe der BNE noch zuzuschreiben. Das gilt auch dann, wenn man auf die hohe Quote der Analphabeten in Deutschland verweist, die trotz der Schulpflicht existiert. Denn mit der Aufgabe, diese Quote zu reduzieren, wären die Expertinnen und Experten für BNE überfordert. Es wäre ein Zeichen von Unprofessionalität, würde man dieses Feld mitbedienen wollen. Schließlich gibt es dafür in Deutschland Expertinnen und Experten, die sich dieser Thematik viel besser annehmen können. Das gilt auch für andere Themen, die international der BNE zugedacht werden.Auch für die HIV-Prävention gibt es in Deutschland professionell arbeitende Organisationen und Expertinnen und Experten, die hier tätig sind, wie es sie im Kampf gegen Rassismus und in der Fürsorge sowie Armutsbekämpfung gibt. Damit sind diese (wie zahlreiche andere) Problemfelder dennoch nicht aus dem Horizont der BNE verschwunden. Sie werden, anders fokussiert, durchaus zum Thema, aber immer aus dem Blickwinkel eines engeren Verständnisses von Nachhaltigkeit.
Eine nationale Ausprägung ist auch aus anderen Gründen sinnvoll. Wir leben in einer Wissensgesellschaft. Deutschland ist ein rohstoffarmes Land, dessen Prosperität von Hightech und intelligenten Dienstleistungen abhängt. Innovationen in diesem Feld sind von hohem Wissen abhängig. Zahlreiche Studien belegen inzwischen, dass Wissen der Wachstumsfaktor Nummer eins ist. Technologien und Dienstleistungen unter Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit zu entwickeln, heißt eben auch, in diesem Feld über intelligentes Wissen zu verfügen. Das erschließt einen Themenkanon, der tief in die Naturwissenschaften, technische Grundbildung und das Feld wirtschaftlicher Kenntnisse hineinreicht. Überhaupt bietet die Nachhaltigkeit ein Themenfeld, das als paradigmatisch für eine zukunftsweisende Bildung gelten kann. Denn sie ist interdisziplinär und problemorientiert ausgerichtet. Hier wird kein träges Wissen verbreitet, vielmehr lassen sich durch BNE anwendungs- und alltagsbezogen Fähigkeiten erwerben, deren Nutzen für den Einzelnen wie für die Gesellschaft außerordentlich hoch ist – und die Lernmotivation steigert.
Genau an dieser Stelle setzte das 1999 bis 2004 laufende Modellprogramm der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK) zur Bildung für nachhaltige Entwicklung (BLK-Programm »21«) mit seinem Konzept an. An dem Reformprogramm beteiligten sich fast alle Bundesländer und es nahmen rund 200 Schulen daran teil. Von 2004 bis 2008 schloss sich ein Transferprogramm (»Transfer-21«) daran an. Es wurden mit diesem Programm mehr als 2.500 Schulen erreicht. Das heißt, in den am Programm beteiligten Ländern engagieren sich mehr als 10 Prozent der Schulen für BNE. Im Rahmen dieses Transferprogramms wurden Orientierungshilfen für den Erwerb von Kompetenzen im Rahmen von BNE entwickelt, Qualitätskriterien für BNE-Schulen formuliert und es wurde unterstützendes Material präsentiert für die Erarbeitung eines Schulprogramms mit dem Schwerpunkt BNE und insofern für eine handlungswirksame Umsetzung von BNE im schulischen Kontext eine gute Basis gelegt (vgl. www.transfer-21.de).
Betrachtet man die Fortschritte der BNE in Deutschland über die letzten zehn Jahre, so lässt sich einerseits von einer Erfolgsgeschichte sprechen, wenn man bedenkt, dass innerhalb von 15 Jahren eine konzeptionelle Entwicklung ebenso vorangetrieben wurde wie eine – bei aller Trägheit des schulischen Bildungssystems in Hinblick auf Reformen – praktische Umsetzung der BNE im schulischen Kontext. Denn traditionell dauern durchgreifende Adaptionen von Innovationen im Bildungsbereich weitaus länger. »Man sollte in die Lehrpläne nur aufnehmen, was mindestens seit 20 Jahren als Erkenntnis in der Welt ist.« Das war im Jahr 1900 noch die feste Auffassung des Pädagogen Friedrich Paulsen. Im Vergleich zu diesem Diktum hat die Bildung für eine nachhaltige Entwicklung 100 Jahre später außerordentlich schnell in die Curricula Eingang gefunden. Die ersten konzeptionellen Beiträge erschienen 1996 (vgl. de Haan 1996; 1998). Seit den Anfängen dieses Jahrhunderts wird die Bedeutung von BNE durch Bundes-wie Landesministerien, durch den Bundestag und viele Landesparlamente mit einschlägigen Beschlüssen immer wieder herausgestellt (vgl. z.B. Bundestag 2000, Bundestag 2004, KMK/DUK 2007, BMBF 2009). Bekräftigt wird die Relevanz dieses Themen- und Handlungsfeldes nicht zuletzt durch die Vereinten Nationen, die für den Zeitraum 2005 bis 2014 eine Weltdekade »Bildung für nachhaltige Entwicklung« ausgerufen haben (vgl. www.bne-portal.de/un-dekade). BNE wurde konzeptionell inzwischen weiter ausformuliert und findet sich in zahlreichen Schulgesetzen und Lehrplänen verankert.
Allerdings ist andererseits auffällig, wie selten BNE – mit Ausnahme des Faches Geografie – in den Lehrplänen oder auch in den Bildungsstandards der Schulfächer näher konkretisiert wird. Das hat seine Gründe: Die Bezugsdisziplin von BNE ist die Nachhaltigkeitswissenschaft. Diese ist interdisziplinär und problemorientiert ausgerichtet. Entsprechend können Themen der BNE im schulischen Kontext im Grunde nur in Kooperation zwischen Fächern behandelt werden. BNE in nur einem Fach zu unterrichten, dieses scheint allein unter der Berücksichtigung von Multiperspektivität möglich. Von daher wird BNE auch als »Handlungsfeld« bezeichnet. Das signalisiert, dass sich BNE nicht einem einzelnen Unterrichtsfach zuordnen lässt und selbst auch kein neues konstituiert.
BNE möchte den Schülerinnen und Schülern ermöglichen, aktiv an der Analyse und Bewertung von nicht nachhaltigen Entwicklungsprozessen teilzuhaben, sich an Kriterien der Nachhaltigkeit im eigenen Leben zu orientieren und nachhaltige Entwicklungsprozesse gemeinsam mit anderen lokal wie global in Gang zu setzen. Das Bildungsziel von BNE bleibt allerdings so lange schillernd und vage, wie es nicht mit Aussagen zu den Fähigkeiten verbunden wird, die im Kontext des Lernens erworben werden können oder sollen. Einen entscheidenden Schritt hat die Entwicklung der BNE in den letzten Jahren mit der Ausformulierung eines Kompetenzkonzeptes getan (vgl. de Haan 2008a).
Letztlich steht mit der Orientierung an Kompetenzen auch das Konzept der Fachlichkeit des Unterrichts zur Disposition. Kompetenzen und Fächer müssen nicht in einer unmittelbaren Beziehung zueinander stehen, es ist sogar ein unwahrscheinlicher Fall. Denn die heutigen Schulfächer wurden schließlich nicht auf der Basis von kognitions- oder lernpsychologischen Erkenntnissen oder auf der Basis der Analyse der Komplexität der Alltagswelt der Schülerinnen und Schüler gewonnen, sondern im Rückgriff auf fachwissenschaftliche Relevanzen bzw. ein Fachverständnis der Scientific Community. Damit ist der Unterrichtsgegenstand aber immer schon geprägt von den fachlichen Erkenntnissen und Relevanzen und – wenn es anspruchsvoll sein soll – auch vom fachwissenschaftlichen Vokabular und von fachwissenschaftlichen Methoden.
Man kann die Veränderungen recht deutlich machen, wenn es um Kompetenzen für eine veränderte Konsumkultur geht. Nachhaltiger Konsum wird implizit in vielen außerschulischen und schulischen Projekten zum Thema gemacht: Der Kindergarten Villa Kunterbunt thematisiert den Zusammenhang zwischen Ernährung, Konsum und Produktion von Nahrungsmitteln (vgl. http://bit.ly/villa_kunterbunt). Ähnliches wird auch von den Kindergruppen des Landesbundes für Vogelschutz Bayern beabsichtigt: Kinder haben hier in Gruppen die Möglichkeit, kochen zu lernen – und das natürlich mit Bioprodukten aus der Region (vgl. http://bit.ly/lbvkinder). Der Schulbauernhof Domäne Hochburg wendet sich der Grundschule zu und zeigt den Kindern nicht nur, wie ökologischer Landbau funktioniert, sondern auch, warum man fair gehandelte Produkte kaufen soll und wie sich der Preis von Lebensmitteln zusammensetzt (vgl. http://bit.ly/domaenehochburg). Die Berufsbildende Schule Handel in Hannover (vgl. http://bit.ly/bbshannover) fördert den fairen Handel und will eine möglichst breite Öffentlichkeit erreichen. Um eine spezielle Berufsgruppe geht es im Projekt »come closer – verantwortliches Design im Fokus«. Hier geht es um nachhaltiges Design auf der Basis fair hergestellter, ökologischer Produkte. Viele Berufsgruppen, die sich mit Design beschäftigen (von der Architektur bis zur Textilbranche) werden dabei angesprochen (vgl. http://bit.ly/comecloser).
Die hier erwähnten Initiativen sind allesamt Projekte, die als vorbildlich und innovativ sowie nachahmenswert im Rahmen der UN-Dekade »Bildung für nachhaltige Entwicklung« in Deutschland als innovativ ausgezeichnet wurden. Es sind Projekte, die zwei Jahre lang den Titel »Offizielles Projekt der Weltdekade« tragen dürfen (vgl. www.bne-portal.de/dekade-projekte). Es handelt sich in jedem Fall um Ansätze, die lebensweltlich und handlungsorientiert ausgerichtet sind und sich nicht in eine singuläre Fachdisziplin wie etwa Biologie, Geografie oder Politik einordnen lassen.
Neue Themenkomplexe wie z. B. eine Kultur der Nachhaltigkeit, aber auch der Umgang mit den Gefahren des Klimawandels und expansive Anwendungsbereiche von Wissenschaft und Technik (etwa Mobilität oder Grüne Gentechnik) sowie veränderte Ansprüche an das Individuum (z. B. gesunde Ernährung oder zivilgesellschaftliches Engagement oder eine neue Konsumkultur) werden in ihrer Bedeutung für eine Kompetenzentwicklung immer noch vernachlässigt. Dabei geht es nicht nur um die reaktive Bewältigung, sondern vor allem um die Fähigkeit zur aktiven Gestaltung der eigenen wie der gesellschaftlichen Zukunft. In der Wissensgesellschaft sind es freilich gerade die wissensbasierten Innovationen, die einerseits die technologische, ökonomische, ökologische und soziale Entwicklung und Prosperität sichern, andererseits Lebenschancen und Möglichkeiten zur Gestaltung des eigenen Lebens in Selbstbestimmung ebenso beschränken wie erweitern. Entsprechend muss sich die Schule stärker jenen Themen und Lernfeldern sowie den interdisziplinär zu bewältigenden Problemkonstellationen öffnen, die sich durch Zukunftsrelevanz auszeichnen.
Gerhard de Haan ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Freien Universität Berlin und Vorsitzender des Nationalkomitees der UN-Dekade »Bildung für nachhaltige Entwicklung 2005–2014«.
BMBF 2009, Bericht der Bundesregierung zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Bonn 2009: http://www.bmbf.de/de/13817.php
Bundestag 2000, Beschlussempfehlung und Bericht. Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Drucksache 14/3319: http://dip.bundestag.de/btd/14/033/1403319.pdf
Bundestag 2004, Beschlussempfehlung und Bericht. Aktionsplan zur UN-Dekade Weltdekade »Bildung für nachhaltige Entwicklung«. Drucksache 15/3472: http://dip.bundestag.de/btd/15/034/1503472.pdf
Coenen, R./Grunwald, A. (Hrsg.) (2003), Nachhaltigkeitsprobleme in Deutschland. Analysen und Lösungsstrategien. Berlin 2003.
de Haan, G. (1997), Paradigmenwechsel.Von der schulischen Umwelterziehung zu einer Bildung für Nachhaltigkeit. In: politische ökologie 9, S. 22–26.
de Haan, G. (2008a), Gestaltungskompetenz als Kompetenzkonzept für Bildung für nachhaltige Entwicklung. In: Bormann, I., de Haan, G. (Hrsg.): Kompetenzen der Bildung für nachhaltige Entwicklung, Wiesbaden 2008, S. 23–44.
de Haan, G. u.a. (2008b), Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit. Grundlagen und schulpraktische Konsequenzen. Berlin, Heidelberg 2008.
de Haan, G.(1996), Bildung für nachhaltige Entwicklung? Sustainable Development im Kontext pädagogischer Umbrüche und Werturteile – Eine Skizze. Paper 96–134 der Forschungsgruppe Umweltbildung. Berlin 1996.
de Haan, G. (1998), Bildung für Nachhaltigkeit: Schlüsselkompetenzen, Umweltsyndrome und Schulprogramme. Paper 98–144, Forschungsgruppe Umwelt. Berlin 1998.
KMK, DUK (Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, Deutsche UNESCO-Kommission) (2007), Empfehlung der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) und der Deutschen UNESCO-Kommission (DUK) vom 15.06. 2007 zur »Bildung für nachhaltige Entwicklung in der Schule«: http://bildungsklick.de/datei-archiv/50166/kmk-duk-empfehlung.pdf
Kopfmüller, J. u.a. (2001), Nachhaltige Entwicklung integrativ betrachtet. Konstitutive Elemente, Regeln, Indikatoren. Berlin.
UNESCO 2005, International Implementation Scheme: http://www.bne-portal.de/coremedia/generator/unesco/de/Downloads/Hintergrundmaterial_international/UNESCO_3A_20Draft_20International_20Implementation_20Scheme.pdf
Erik Assadourian
In dem Dokumentarfilm The Age of Stupid (2009) schaut sich ein fiktiver Historiker, möglicherweise der letzte Mensch auf der Erde, archivarisches Filmmaterial aus dem Jahr 2008 an und denkt über die letzten Jahre nach, in denen die Menschheit sich vor dem weltweiten ökologischen Zusammenbruch hätte retten können. Während er über einige Einzelfälle nachdenkt – ein indischer Geschäftsmann, der eine neue Billigfluglinie aufbaut, eine britische Gemeinde, die wegen des Klimawandels besorgt, aber gegen den Bau eines neuen Windkraftwerks in der Nachbarschaft ist, ein nigerianischer Student, der den amerikanischen Traum leben möchte, und ein Amerikaner aus dem Ölgeschäft, der zwischen seinem Beruf und seiner Liebe zur Natur keinen Widerspruch sieht –, fragt sich der Historiker: »Warum haben wir uns nicht gerettet, als wir noch die Chance dazu hatten? Waren wir einfach nur dumm? Oder waren wir in einem bestimmten Stadium einfach nicht mehr sicher, ob wir es wert waren, gerettet zu werden?« Die Antwort hat mit menschlicher Dummheit oder dem Hang zur Selbstzerstörung nur wenig zu tun, sehr viel aber mit Kultur.1
Menschen sind in Kulturen eingebettet, werden von ihren Kulturen geformt und agieren großenteils im Rahmen ihrer kulturellen Lebensrealität. Dadurch erscheinen die kulturellen Normen, Symbole, Werte und Traditionen, in denen eine Person aufwächst, als »naturgegeben«. Deshalb ist der Appell an Menschen, die in Konsumkulturen leben, ihren Konsum einzuschränken, in etwa mit der Aufforderung vergleichbar, mit dem Atmen aufzuhören – für einen Augenblick können sie das, aber dann werden sie japsend wieder Luft holen. Auto fahren, fliegen, in großen Häusern wohnen, Klimaanlagen nutzen – das sind keine dekadenten Entscheidungen, sondern einfach natürliche Bestandteile des Lebens. Zumindest nach den Normen, die in einer wachsenden Zahl von Konsumkulturen auf der Welt herrschen. Doch auch wenn sie den Menschen, die Teil dieser kulturellen Realitäten sind, natürlich erscheinen, sind diese Verhaltensweisen weder nachhaltige noch angeborene Äußerungen der menschlichen Natur. Sie haben sich über mehrere Jahrhunderte entwickelt und werden heute aktiv bekräftigt und an Millionen von Menschen in den sich entwickelnden Ländern weitergegeben.
Es erfordert nichts Geringeres als eine umfassende Umwälzung der herrschenden kulturellen Muster, wenn man den Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation verhindern will. Diese notwendige Umwälzung würde den Konsumismus – das kulturelle Leitbild, das Menschen Sinn, Zufriedenheit und gesellschaftliche Akzeptanz in dem suchen lässt, was sie konsumieren – ausmustern und zu einem Tabu erklären und an seine Stelle ein neues kulturelles Rahmenwerk setzen, dessen Kern Nachhaltigkeit wäre. In diesem Prozess würde sich ein verändertes Verständnis dessen entwickeln, was »natürlich« heißt: Natürlich wären individuelle und gesellschaftliche Entscheidungen, die minimalen ökologischen Schaden hervorrufen – oder noch besser, die die Ökosysteme der Erde wiederherstellen und heilen. Ein solcher Umbruch – der fundamentaler wäre als die Übernahme neuer Technologien oder Regierungsakte, die oft als eigentliche Triebkräfte für nachhaltige Gesellschaften gelten – würde das Verständnis der Menschen für die Welt und das Handeln in ihr radikal neu gestalten.
Natürlich ist es keine leichte Aufgabe, Kulturen zu transformieren. Das wird jahrzehntelange Anstrengungen erfordern, bei denen kulturelle Pioniere – jene, die aus ihren kulturellen Realitäten weit genug heraustreten können, um sie kritisch zu hinterfragen – unermüdlich arbeiten, kulturelle Schlüsselinstitutionen neu zu gestalten: die Bildungsinstitutionen, das Geschäftsleben, die Regierungsinstitutionen und die Medien ebenso wie die sozialen Bewegungen und sehr alte Traditionen. Es wird entscheidend sein, sich diese Motoren des kulturellen Wandels nutzbar zu machen, wenn die Menschheit überleben und in den kommenden Jahrhunderten und Jahrtausenden gedeihen und beweisen soll, dass wir es in der Tat wert sind, »gerettet zu werden«.