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Zwangsstörung E-Book

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Beschreibung

The disorders that are categorized under the term ?obsessive-compulsive= are mistakenly regarded as being rare forms of mental illness. In fact, more than 3% of the population suffer from obsessive-compulsive disorders. In addition to the severe sense of shame that those affected experience, which causes acute psychological stress, the disorder is often not recognized, or recognized incorrectly. In addition, there is a persistent misconception among experts that obsessive-compulsive disorders are difficult to treat. This practice-oriented standard work deals with the broad spectrum of this often bizarre condition, which is difficult to understand for outsiders, in accordance with the latest state of knowledge about it. Numerous renowned experts provide well-founded explanations of the background, special features, and methods of treating obsessive-compulsive disorder.

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Die Herausgeber

Dr. phil. Charles Benoy ist Psychologe, psychologischer Psychotherapeut, Verhaltenstherapeut. Absolvent der Universitäten Luxemburg, Fribourg und Basel. Seine klinische Tätigkeit absolviert er in der Rehaklinik des Centre Hospitalier Neuro-Psychiatrique (CHNP) in Ettelbrück in Luxemburg. Er forscht am Zentrum für Psychosomatik und Psychotherapie an der Klinik für Erwachsene der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel in der Schweiz. Darüber hinaus ist er als verhaltenstherapeutischer Supervisor tätig, hat verschiedene Lehraufträge inne und ist Past-Präsident und ordentliches Mitglied des Vorstandes der Schweizerischen Gesellschaft für Zwangsstörungen (SGZ).

Prof. Dr. med. Marc Walter ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und psychoanalytischer Psychotherapeut. Er ist Klinikleiter und Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Psychiatrischen Dienste Aargau AG (PDAG) und Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Basel. Wissenschaftlich war er an der Charité in Berlin und an der Harvard Medical School in Boston tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Persönlichkeitsstörungen, Psychotherapie und Suchtmedizin.

Charles BenoyMarc Walter (Hrsg.)

Zwangsstörung

Grundlagen – Formen – Interventionen

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-038732-4

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-038733-1

epub:        ISBN 978-3-17-038734-8

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

 

 

Backenstraß, Matthias, Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych.

Psychologischer Psychotherapeut, Institutsleiter

Institut für Klinische Psychologie

Zentrum für Seelische Gesundheit, Klinikum Stuttgart

Prießnitzweg 24, D-70374 Stuttgart

[email protected]

Benoy, Charles, Dr. phil.

Psychologischer Psychotherapeut

Centre Hospitalier Neuro-Psychiatrique Luxembourg

Rehaklinik

17, avenue des Alliés, L-9012 Ettelbrück

und

Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel

Zentrum für Psychosomatik und Psychotherapie ZPP

Wilhelm Klein-Str. 27, CH-4002 Basel

[email protected]

Brancato, Christine, M.Sc.

Psychologin, Eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutin

Praxis Psychotherapie und Paartherapie

Horburgstr. 105, CH-4057 Basel

[email protected]

Brezinka, Veronika, Dr. phil. Dr. (PhD)

Psychologin, Verhaltenstherapeutin

Spezialsprechstunde für Tics und Zwänge

Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Psychiatrische Universitätsklinik Zürich

Eisengasse 16, CH-8008 Zürich

Dammann, Gerhard, PD Dr. med. Dipl.-Psych. (†)

Psychiatrische Dienste Thurgau (Akad. Lehrkrankenhaus der PMU Salzburg)

Psychiatrische Klinik Münsterlingen

Seeblickstr. 3, CH-8596 Münsterlingen

Dürsteler, Kenneth M., Dr. phil.

Leitender Psychologe ADS/AfS/Janus

Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen

Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel

Wilhelm Klein-Str. 27, CH-4002 Basel

und

Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik

Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen

Psychiatrische Universitätsklinik Zürich

[email protected]

Egger, Stephan T., Dr. med.

Oberarzt

Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik

Psychiatrische Universitätsklinik Zürich

Lenggstr. 31, CH-8032 Zürich

[email protected]

Exner, Cornelia, Prof. Dr. rer. nat. Dipl.-Psych.

Psychologische Psychotherapeutin (VT), Klinische Neuropsychologin

Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie

Institut für Psychologie, Universität Leipzig

Neumarkt 9–19, D-04109 Leipzig

[email protected]

Fink-Lamotte, Jakob, Dr. rer. nat. Dipl.-Psych.

Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Psychologischer Psychotherapeut (VT)

Institut für Psychologie, Klinische Psychologie und Psychotherapie, Universität

Leipzig

Neumarkt 9–19, D-04109 Leipzig

[email protected]

Fricke, Susanne, PD Dr. phil.

Psychologische Psychotherapeutin

Privatpraxis

Hegestieg 6, D-20249 Hamburg

[email protected]

Gocheva, Vanya, Dr. sc. med.

Eidgenössisch anerkannte Psychotherapeutin

Praxis Qurateam AG Basel

Steinenberg 23, CH-4051 Basel

[email protected]

Grimmer, Bernhard, PD Dr. phil.

Leitender Psychologe, Therapeutische Bereichsleitung Psychotherapie

Psychiatrische Klinik Münsterlingen

Seeblickstr. 3, CH-8596 Münsterlingen

[email protected]

Carlotta Heinzel, Dr. phil.

Assistentin

Fakultät für Psychologie, Universität Basel

Missionsstr. 62a, CH-4055 Basel

[email protected]

Hollmann, Karsten, Dipl.-Psych.

Ltd. Psychologe Spezialambulanz Zwangsstörungen & Bereich Telemedizin

Abteilung Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und

Jugendalter

Zentrum für Psychische Gesundheit

Universitätsklinikum Tübingen

Osianderstr. 14–16, D-72076 Tübingen

[email protected]

Jahn, Ina, Dipl.-Psych.

Psychologische Leiterin Spezialambulanz für Zwangserkrankungen

Psychologische Psychotherapeutin (VT) und Systemische Therapeutin

Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie

Zentrum für Seelische Gesundheit

Helios Park-Klinikum Leipzig

Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Leipzig

Morawitzstr. 2, D-04289 Leipzig

[email protected]

Kizilhan, Jan Ilhan, Prof. Dr. rer. soc. Dr. phil.

Direktor des Instituts für Transkulturelle Gesundheitsforschung, DHBW

Dekan des Instituts für Psychotherapie und Psychotraumatologie, Universität

Duhok, Iraq

Transkulturelle psychosomatische Abteilung, Klinik am Vogelsang, Mediclin,

Donaueschingen, Deutschland

Schramberger Str. 26, D-78054 Villingen-Schwenningen

[email protected]

Klesse, Christian, Dr. phil.

Psychologischer Psychotherapeut

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Universitätsklinikum Freiburg

Hauptstr. 5, D-79106 Freiburg

[email protected]

Köck, Patrick, Dr. med. univ.

Stv. Oberarzt, Abteilung U2

Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen

Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel

Wilhelm-Klein-Str. 27, CH-4002 Basel

[email protected]

Lieb, Roselind, Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych.

Professorin für Klinische Psychologie und Epidemiologie

Psychologische Psychotherapeutin

Leitung Abteilung Klinische Psychologie und Epidemiologie

Fakultät für Psychologie, Universität Basel

Missionsstr. 60/62, CH-4055 Basel

[email protected]

Maywald, Maximilian, Mag. rer. nat.

Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Psychologischer Psychotherapeut

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, LMU Klinikum

Nußbaumstr. 7, D-80336 München

[email protected]

Miché, Marcel, Dr. phil. Dipl.-Psych.

Wissenschaftlicher Mitarbeiter

Universität Basel, Fakultät für Psychologie, Klinische Psychologie und

Epidemiologie

Missionsstr. 62a, CH-4055 Basel

[email protected]

Pitsch, Karoline, Dr. phil. Dipl.-Psych.

Psychologische Psychotherapeutin, Stationspsychologin der Spezialstation für

Angst- und Zwangsstörungen

Psychologische Leiterin der Spezialsprechstunde für Zwangsstörungen

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Universitätsklinikum Freiburg

Hauptstr. 5, D-79104 Freiburg

[email protected]

Pogarell, Oliver, Prof. Dr. med.

Stellvertretender Direktor

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, LMU Klinikum

Nußbaumstr. 7, D-80336 München

[email protected]

Poppe, Christine, Dr. med.

Leitende Ärztin

Psychiatrie St. Gallen Nord

Zürcherstrasse 30, CH-9500 Will

[email protected]

Reinecker, Hans, Univ. Prof. Dr. phil.

Ausbildungsleitung und Supervisor

CIP Ambulanz Bamberg

Fleischstr. 17, D-96047 Bamberg

[email protected]

Renner, Tobias, Prof. Dr. med.

Ärztlicher Direktor

Abteilung Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kinder- und

Jugendalter

Zentrum für psychische Gesundheit

Universitätsklinikum Tübingen

Osianderstr. 14, D-72076 Tübingen

Riedel, Andreas, PD Dr. med. Dr. phil.

Leitender Arzt

Luzerner Psychiatrie, Ambulante Dienste

Löwengraben 20, CH-6004 Luzern

[email protected]

Romanczuk-Seiferth, Nina, Prof. Dr. rer. medic. Dipl.-Psych.

Psychologische Psychotherapeutin

Leitende Psychologin und Psychotherapeutin

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Charité Campus Mitte

Charité – Universitätsmedizin Berlin

Corporate Member of Freie Universität Berlin and Humboldt-Universität zu Berlin

Charitéplatz 1, D-10117 Berlin

[email protected]

Rufer, Michael, Prof. Dr. med.

Chefarzt

Triaplus AG, Klinik Zugersee

Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie

Widenstr. 55, CH-6317 Oberwil-Zug

und

Psychiatrische Universitätsklinik Zürich

Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik

Lenggstr. 31, CH-8008 Zürich

[email protected]

Savaskan, Egemen, Prof. Dr. med.

Chefarzt/Klinikdirektor a. i.

Klinik für Alterspsychiatrie

Psychiatrische Universitätsklinik Zürich

Minervastr. 145, CH-8032 Zürich

[email protected]

Stengler, Katarina, Prof. Dr. med.

Direktorin des Zentrums für Seelische Gesundheit

Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie

Helios Park-Klinikum Leipzig

Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Leipzig

Morawitzstr. 2, D-04289 Leipzig

[email protected]

Vögele, Claus, Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych

Professor für Klinische Psychologie und Gesundheitspsychologie

Head of Department

Department of Behavioural and Cognitive Sciences

Faculty of Humanities, Education and Social Sciences, University of Luxembourg

Maison des Sciences Humaines, 11, porte des sciences, L-4366 Esch-sur-Alzette

[email protected]

Wahl, Karina, Dr. Dipl.- Psych.

Wissenschaftliche Mitarbeiterin/Senior Researcher

Fakultät für Psychologie, Universität Basel

Missionsstr. 63, CH-4055 Basel

[email protected]

Walitza, Susanne, Prof. Dr. med. Dipl.-Psych.

Klinikdirektorin, Ordinaria

Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Psychiatrische Universitätsklinik Zürich

Neumünsterallee 3, Postfach 233, CH-8032 Zürich

[email protected]

Walter, Marc, Prof. Dr. med.

Klinikleiter und Chefarzt

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Psychiatrische Dienste Aargau AG

Königsfelderstr. 1, CH-5210 Windisch

[email protected]

Weidt, Steffi, PD Dr. med.

Stv. Chefärztin

Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik

Psychiatrische Universitätsklinik Zürich

Lenggstr. 31, CH-8032 Zürich

[email protected]

Geleitwort

von Ulrich Voderholzer

 

 

Zwangsstörungen und ihre verwandten Störungen zählen zu den häufigen psychischen Erkrankungen sowohl im Kindes- und Jugend- als auch Erwachsenenalter und sie zählen zu denjenigen Erkrankungen mit einem besonders häufig chronischen und manchmal lebenslangen Verlauf. Immer noch gilt, was schon Freud vor über 100 Jahren beschrieb, als er darauf hinwies, dass es mehr Patienten mit Zwangsstörungen gibt, als den Ärzten bekannt ist. Scham und Verheimlichung sind auch 100 Jahre nach Freud ein Grund, warum das Krankheitsbild häufig nicht erkannt wird.

In dem o. g. Survey gaben nur 37 % der 369 Patienten an, kognitive Verhaltenstherapie (KVT) mit Expositions- und Reaktionsmanagement als Erstbehandlung erhalten zu haben, obwohl weltweit Konsens besteht, dass es sich dabei bislang um die wirksamste und am besten belegte Therapieform handelt.

Eine weitere wichtige Ursache der Unterversorgung von Patienten mit Zwangserkrankungen liegt vermutlich in der oft unzureichenden Qualifikation von Therapeuten, die auch zu Behandlungsfehlern führen. Die Ergebnisse einer anonymen Umfrage von Külz et al. (2010) an 177 ambulanten Psychotherapeuten bestätigen diese Annahmen.

All dies erscheint bitter, wenn man bedenkt, welch gute Behandlungsmöglichkeiten heute für Zwangsstörungen zur Verfügung stehen. Doch leider erreichen die effektiven Therapiemethoden letztlich nur einen kleinen Teil der Betroffenen.

Vor diesem Hintergrund begrüße ich es sehr, wenn sich Ärzte und Psychologen dafür einsetzen, wissenschaftliche Erkenntnisse und klinisches Wissen zu Zwangserkrankungen mehr zu verbreiten. Wer Betroffene mit Zwangsstörungen gut versorgen will, sollte gut über Ursachen, sowohl biologischer als auch psychologischer Art, Komorbiditäten und auch die Besonderheiten in den unterschiedlichen Lebensphasen, die in diesem Buch auch mitberücksichtigt sind, und natürlich über das Spektrum der gesamten Therapiemöglichkeiten Bescheid wissen. Nach meiner persönlichen Erfahrung sind Betroffene mit Zwangsstörung, denen es oft nicht leichtfällt, über ihre Störung zu sprechen, sehr sensibel und spüren schnell, ob sich ihr Arzt oder Therapeut mit dieser Erkrankung auskennt und sich dafür interessiert. Das vorliegende, aus meiner Sicht sehr informative und gelungene Buch informiert umfassend zu allen Aspekten dieses Krankheitsbilds.

Ich wünsche dem Buch eine starke Verbreitung und hoffe, dass es einen Beitrag leisten kann, die Versorgung von Menschen mit Zwangsstörungen zu verbessern.

Prien am Chiemsee, im Frühjahr 2022Prof. Dr. med. Ulrich Voderholzer

Literatur

Schwartz C, Schlegl S, Külz AK, Voderholzer U (2013) Treatment-seeking in OCD community cases and psychological treatment actually provided: a systematic review. Journal of Obsessive-Compulsive and Related Disorders 2: 448–456.

Voderholzer U, Schlegl S, Diedrich A, Külz AK, Thiel N, Hertenstein E, Schwartz C, Rufer M, Herbst N, Nissen C, Hillebrand T, Osen B, Stengler K, Jelinek L, Moritz S (2015) Versorgung Zwangserkrankter mit kognitiver Verhaltenstherapie als Behandlungsmethode erster Wahl. Verhaltenstherapie 25: 183–190.

Külz AK, Hassenpflug K, Riemann D, Linster HW, Dornberg M, Voderholzer U (2010) Psychotherapeutic Care in OCD Outpatients – Results from an Anonymous Therapist Survey. Psychother Psych Med 60: 194–201.

Inhalt

 

 

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Geleitwort

von Ulrich Voderholzer

Vorwort

Teil I Grundlagen

1   Erscheinungsbild und Klassifikation

Hans Reinecker

2   Epidemiologie und Verlauf

Roselind Lieb und Marcel Miché

3   Theoretische Modelle der Zwangsstörung

Carlotta V. Heinzel und Karina Wahl

4   Psychodynamische Aspekte der Zwangsstörung

Gerhard Dammann und Bernhard Grimmer

5   Systemische Aspekte der Zwangsstörung

Christine Brancato und Vanya Gocheva

6   Neurobiologie der Zwangsstörung

Maximilian Maywald und Oliver Pogarell

Teil II   Diagnostik, Differenzialdiagnostik und Komorbidität

7   Diagnostik

Matthias Backenstraß

8   Verwandte Störungsbilder der Zwangsstörung

Claus Vögele

9   Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung

Marc Walter

10 Differenzialdiagnostik und Komorbidität

Christian Klesse, Andreas Riedel und Karoline Pitsch

11 Sucht und Zwang

Kenneth M. Dürsteler und Patrick Köck

Teil III Spezifische Perspektiven

12 Zwangsstörung im Kindes- und Jugendalter

Susanne Walitza und Veronika Brezinka

13 Zwangsstörung im höheren Alter

Egemen Savaskan

14 Kulturspezifische Aspekte der Zwangsstörung

Jan Ilhan Kizilhan

Teil IV Behandlung

15 Evidenzbasierte Behandlung der Zwangsstörung

Charles Benoy

16 Kognitive Verhaltenstherapie der Zwangsstörung

Michael Rufer und Christine Poppe

17 Kognitive Ansätze in der Behandlung der Zwangsstörung

Jakob Fink-Lamotte und Cornelia Exner

18 Die dritte Welle der KVT: neue psychotherapeutische Behandlungsansätze der Zwangsstörung am Beispiel der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT)

Nina Romanczuk-Seiferth

19 Pharmakotherapie der Zwangsstörung

Stephan T. Egger und Steffi Weidt

20 Psychosoziale Behandlungsinterventionen

Ina Jahn und Katarina Stengler

21 Neue Technik – neue Möglichkeiten? Technologiegestützte Behandlung der Zwangsstörung

Karsten Hollmann und Tobias Renner

22 Einbezug von Angehörigen in die Behandlung

Susanne Fricke

Sachwortregister

Vorwort

 

 

Zwang findet meist im Verborgenen statt. Aber entgegen der üblichen Meinung sind die mit den Zwängen verbundenen, oft als skurril wahrgenommenen Verhaltensweisen nicht selten. Zwangsstörungen sind in unserer Gesellschaft weit verbreitet. Sie werden oft nicht ernst genug genommen, dabei handelt es sich häufig um schwere psychische Krankheiten.

Betroffene schämen sich in vielen Fällen, bis hin zum kompletten Rückzug aus jeglichem sozialen und gesellschaftlichen Leben. Zusätzlich zu dieser Scham führt der immer noch verbreitete Glaube, nach dem Zwangsstörungen nur schwer oder sogar gar nicht behandelbar wären, in den meisten Fällen dazu, dass Betroffene erst sehr spät (oder in vielen Fällen sogar gar keine) störungsspezifische Behandlung aufsuchen und erhalten. Leider scheint dieser Mythos auch unter Fachpersonen weiterhin verbreitet. Viel zu oft erleben wir in der klinischen Praxis, dass Zwangsstörungen zwar anbehandelt, aber nicht ordnungsgemäß, umfassend und/oder abschließend behandelt werden. Nicht selten kommen sie nur beiläufig in Therapiegesprächen zur Sprache.

Die Zwangsstörung ist eine massiv einschränkende und für die Betroffenen und ihr Umfeld extrem belastende Störung. Aber sie lässt sich nach heutigem Wissensstand gut erkennen, diagnostizieren und behandeln. Es ist hingegen nötig, dass Fachpersonen genau hinschauen, vertieft nachfragen und Zwänge ernst nehmen. Oft werden diese nämlich auch von Betroffenen selbst aus Scham bagatellisiert oder nur am Rande erwähnt.

Wir freuen uns daher umso mehr über Ihr Interesse an dem vorliegenden Herausgeberwerk. Es kommen hier zahlreiche namenhafte und renommierte deutschsprachige Experten zu Wort, denen es gelungen ist, präzise und prägnant aus Forschung und klinischer Praxis zu berichten und über alle Aspekte der Zwangsstörungen zu informieren.

Wir möchten an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, uns bei allen Autorinnen und Autoren, Kolleginnen, Kollegen und Freunden für ihre Mitarbeit zu bedanken. Wir sind stolz, mit ihnen allen an diesem Projekt zusammen gearbeitet zu haben. Es ehrt uns besonders, dass wir im vorliegenden Sammelwerk eine der letzten Arbeiten von PD Dr. med. Gerhard Dammann vor seinem viel zu frühen Tod aufnehmen durften. Wir werden ihn als geschätzten Kollegen und Freund immer in Erinnerung behalten.

Wir hoffen, mit den enthaltenen Beiträgen möglichst viele Fachpersonen zu erreichen, um zu einem vertieften Verständnis und einer besseren Versorgungssituation für alle Betroffenen beizutragen.

Schlussendlich möchten wir auch allen Kolleginnen und Kollegen danken, die auch weiterhin an der notwendigen Forschung zum Thema der Zwangsstörungen arbeiten und so dazu beitragen, dass in Zukunft noch bessere und für alle Patientinnen und Patienten spezifische Behandlungsmethoden entwickelt werden können.

Nun wünschen wir Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, eine hoffentlich spannende und erkenntnisreiche Lektüre und würden uns über Ihr Feedback sehr freuen.

Luxemburg und Basel, im Frühjahr 2022Charles Benoy und Marc Walter

Teil I    Grundlagen

1          Erscheinungsbild und Klassifikation

Hans Reinecker

1.1       Einleitung

Personen, die unter Zwangsstörungen leiden, sind sehr stark beeinträchtigt. Dabei sind Gewohnheiten und Rituale Bestandteile unseres Lebens; sie helfen uns bei der Strukturierung des Alltags, so dass wir über verschiedene Abläufe nicht mehr aktiv nachzudenken brauchen. Man denke beispielsweise an Rituale beim Begrüßen, beim Essen, beim Waschen, Duschen, bei automatisierten Handlungen im Arbeitsalltag. Rituale haben auch eine ganz wichtige Funktion in Religion und Kultur, viele davon haben wir in emotional relevanten Phasen übernommen, speziell wenn es um die Bewältigung von Gefühlen der Angst und Unsicherheit geht. Gerade in emotional bedeutsamen Momenten helfen Rituale in Situationen des Übergangs, man denke an Tauf-, Hochzeits- oder Beerdigungsrituale.

Viele Personen berichten auch, dass sie unter dem »Tic« leiden, die Haustüre mehrfach kontrollieren zu müssen oder auch bestimmte Abläufe bei der Kleidung oder beim Essen zu befolgen. Solche Gewohnheiten sind sehr weit verbreitet, Gibbs (1996) geht von einer Häufigkeit in der Bevölkerung von rund 20 % aus. In all diesen Fällen kann man auch kaum von einem relevanten Leidensdruck sprechen, die Personen können ihren Alltag in der Regel durchaus problemlos absolvieren.

All das ist nicht gemeint, wenn wir von Zwangsstörungen sprechen.

Eine erste fundierte Beschreibung und Klassifikation erfolgte im Jahr 1838 von Esquirol, etwas später dann auch von Westphal (1878). Die heute gängigen Klassifikationen stützen sich nach wie vor auf Beschreibungen durch Jaspers (1913).

1.2       Erscheinungsbild

Für die Einordnung eines Zwangs sind folgende Kriterien entscheidend:

1.  Die Person leidet unter einem innerenDrang, bestimmte Inhalte zu denken oder zu tun.

2.  Die Person leistet einen Widerstand gegen diesen Drang betreffend der Gedanken und Handlungen.

3.  Die Person erkennt den Inhalt der Gedanken bzw. Handlungen als sinnlos und kann sich im Prinzip davon distanzieren.

4.  Durch die Gedanken oder Handlungen erlebt sich die Person und/oder ihr direktes Umfeld in ihrem Alltag massiv beeinträchtigt.

Fallbeispiel

Herr N., ein 35-jähriger Mitarbeiter einer Bank, berichtet, vor dem Verlassen seiner Wohnung über mehrere Stunden hinweg Fenster, Türen, Elektrogeräte, Wasserhähne, aber auch Bücher im Schrank, Besteck, Geschirr usw. kontrollieren zu müssen. Um dies mit seinem Beruf in Einklang zu bringen, stellt er den Wecker so früh, dass er 2–3 Stunden Zeit hat, diese Rituale durchzuführen und dann noch einigermaßen rechtzeitig zur Arbeitsstelle zu kommen. Dem Patienten ist die Sinnlosigkeit seines Verhaltens völlig klar, er zeigt auch deutlichen Widerstand gegen die Impulse, ist jedoch nicht in der Lage, das entsprechende Verhalten zu unterlassen.

Weshalb ist es so wichtig, die einzelnen genannten Kriterien bei Betroffenen genau zu prüfen?

Ad (1): Entscheidend ist es, die Person danach zu fragen, woher der Drang für bestimmte Gedanken und Handlungen kommt. Dies deshalb, um Zwangsstörungen von einem möglicherweise psychotischen Geschehen abzugrenzen. Patienten und Patientinnen deuten auf die Frage nach dem woher des Gedankens zumeist auf den eigenen Kopf, um zu signalisieren, dass der Gedanke bei ihnen selbst entsteht und nicht von außen aufgetragen oder eingegeben ist.

Ad (2): Personen leisten den genannten Widerstand, indem sie angeben, dass sie die Gedanken und Handlungen keinesfalls möchten. Besonders relevant ist dies bei Gedanken mit aggressivem oder blasphemischem Inhalt. Die Prüfung des Widerstands ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil Betroffene den Inhalt ihrer aggressiven, blasphemischen oder anderweitigen Impulse nicht in die Handlung umsetzen. Wichtig ist es zu beachten, dass bei einem geringen Teil der Betroffenen das Kriterium der Sinnlosigkeit nicht oder nur zeitweise gegeben ist: Hier sprechen wir von »atypischen Zwängen«.

Ad (3): Herr N. ist die Sinnlosigkeit seiner Gedanken und Handlungen völlig klar:

So verdeutlicht er immer wieder, dass er seinem Drang zur Kontrolle folgt, obwohl er doch gerade nachgesehen hat, ob das Fenster geschlossen, oder ob ein Gerät ausgeschaltet ist usw. Gerade auch bei aggressiven Gedanken sind Patienten und Patientinnen sehr betroffen über den Inhalt, anderen Personen oder Kindern Gewalt anzutun – im Sinne von »ich würde meine Kinder nie schlagen oder verletzen!«

Ad (4): Ganz entscheidend auch für das weitere Vorgehen auch hinsichtlich einer möglichen Behandlung ist das Kriterium der Beeinträchtigung: Personen wenden sich in der Regel speziell dann an Fachleute, wenn Alltag, Familie, Beruf und Partnerschaft so sehr beeinträchtigt sind, dass ein geregeltes Leben nicht mehr möglich ist. Viele Personen haben sich mit ihrer Problematik auch so weit arrangiert, dass sie erst nach vielen Jahren (oft angeregt durch Partner oder Familie, siehe unten Frau R.) bei professionellen Einrichtungen vorstellig werden.

Fallbeispiel

Frau R., 45 Jahre, verheiratet, zwei Kinder, Lehrerin, beschreibt umfangreiche Wasch- und Reinigungsrituale: Als Beginn schildert sie die Geburt ihres zweiten Kindes, hier hatte sie massive Ängste hinsichtlich der möglichen Verletzung entwickelt (Schmutz auf dem Boden, Glassplitter usw.) und begonnen, alle Gegenstände vorbeugend zu reinigen und zu desinfizieren. Im Verlauf von ca. zwölf Jahren seit Beginn der Problematik zeigen sich deutliche Schwankungen: Verschlechterungen vor allem im Zusammenhang mit Belastungen (Umzug, Krankheiten in der Familie, Stress im Beruf usw.). Die gesamte Familie wird in die Rituale mit einbezogen, Frau R. drängt Partner und Kinder zum Duschen beim Betreten des Hauses, sie wirft vermeintlich kontaminierte Kleider weg und verlangt spezielle Reinigung auch in den Zimmern der Kinder. Die Rituale werden immer aufwändiger, Frau R. ist mittlerweile krankgeschrieben und da die Situation für die gesamte Familie unerträglich geworden ist, wendet sie sich an den Psychotherapeuten.

1.3       Klassifikation

Bis einschließlich zum DSM-IV waren die Zwangsstörungen als Untergruppe der Angststörungen klassifiziert worden. Das hatte auch eine gewisse Logik, gesteuert sicherlich durch theoretische Modelle, wonach die Betroffenen durch ihre Gedanken und Handlungen versuchen, Angst zu vermeiden oder zu bewältigen.

Erst im DSM-5 werden Zwänge als eigene Störungsgruppe klassifiziert. Dabei erfolgt die Einordnung unter »Zwangsstörung und verwandte Störungen« (APA 2018, S. 322 f.).

Zwangsstörung – Diagnostische Kriterien (F42.2)

A.  Entweder Zwangsgedanken, Zwangshandlungen oder beides:

Zwangsgedanken sind durch (1) und (2) definiert:

1.  Immer wiederkehrende und anhaltende Gedanken, Impulse oder Vorstellungen, die im Krankheitsverlauf mindestens zeitweilig als aufdringlich und ungewollt empfunden werden, und die meist ausgeprägte Angst und großes Unbehagen hervorrufen.

2.  Die Person versucht, diese Gedanken, Impulse oder Vorstellungen zu ignorieren oder zu unterdrücken oder sie mithilfe anderer Gedanken oder Tätigkeiten zu neutralisieren (z. B. durhc die Ausführung einer Zwangshandlung).

Zwangshandlungen sind durch (1) und (2) definiert:

1.  Wiederholte Verhaltensweisen (z. B. Händewaschen, Ordnen, Kontrollieren) oder mentale Handlungen (z. B. Beten, Zählen, Wörter lautlos wiederholen), zu denen sich die Person als Reaktion auf einen Zwangsgedanken oder aufgrund von streng zu befolgenden Regeln gezwungen fühlt.

2.  Die Verhaltensweisen oder mentalen Handlungen dienen dazu, Angst oder Unbehagen zu verhindern oder zu reduzieren oder gefürchteten Ereignissen oder Situationen vorzubeugen; diese Verhaltensweisen oder mentalen Handlungen stehen jedoch in keinem realistischen Bezug zu dem, was sie zu neutralisieren oder zu verhindern versuchen oder sie sind deutlich übertrieben.

Beachte: Kleine Kinder könnten nicht in der Lage sein, den Zweck dieser Verhaltensweisen oder mentalen Handlungen auszudrücken.

B.  Die Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen sind zeitintensiv (sie beanspruchen z. B. mehr als 1 Stunde pro Tag) oder verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionbereichen.

C.  Die Symptome der Zwangsstörungen sind nicht Folge der physiologischen Wirkung einer Substanz (z. B. Substanz mit Missbrauchspotenzial, Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors.

D.  Das Störungsbild kann nicht besser durch das Vorliegen einer anderen psychischen Störung erklärt werden (z. B. exzessive Sorgen, wie bei der Generalisierten Angststörung; übermäßige Beschäftigung mit dem äußeren Erscheinungsbild, wie bei der Körperdysmorphen Störung; Schwierigkeiten, Gegenstände auszusondern oder sich von diesen zu trennen, wie beim Pathologischen Horten; Haareausreißen, wie bei der Trichotillomanie [Pathologisches Haareausreißen]; Hautzupfen/-quetschen, wie bei der Dermatillomanie [Pathologisches Hautzupfen/-quetschen]; Stereotypien, wie bei der Stereotypen Bewegungsstörung; ritualisiertes Essverhalten, wie bei Essstörungen; übermäßige Beschäftigung mit Substanzen oder Glücksspielen, wie bei den Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen und abhängigen Verhaltensweisen; übermäßige Beschäftigung, eine Krankheit zu haben, wie bei der Krankheitsangststörung; sexuell dranghafte Bedürfnisse oder Fantasien, wie bei der Paraphilie; Impulsdurchbrüche, wie bei den disruptiven, Impulskontroll- und Sozialverhaltensstörungen; Grübeln über Schuld, wie bei einer Major Depression; Gedankeneingebung oder Wahn, wie bei einer Störung aus dem Schizophrenie-Spektrum oder anderen psychotischen Störungen; oder stereotyp wiederholten Verhaltensmustern, wie bei der Autismus-Spektrum-Störung).

Bestimme, ob:

Mit Guter oder Angemessener Einsicht: Die Person erkennt, dass die zwangsbezogenen Überzeugungen definitiv nicht, wahrscheinlich nicht oder möglicherweise nicht zutreffen.

Mit Wenig Einsicht: Die Person denkt, dass die zwangsbezogenen Überzeugungen wahrscheinlich zutreffen.

Mit Fehlender Einsicht/Wahnhaften Überzeugungen: Die Person ist vollkommen davon überzeugt, dass die zwangsbezogenen Überzeugungen zutreffen.

Bestimme, ob:

Tic-Bezogen: Die Person weist gegenwärtig oder in der Vorgeschichte eine Tic-Störung auf.

Abdruck erfolgt mit Genehmigung vom Hogrefe Verlag Göttingen aus dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition, © 2013 American Psychiatric Association, dt. Version © 2018 Hogrefe Verlag.

Die wichtigste differenzialdiagnostische Abgrenzung betrifft das Merkmal der Angststörungen – dies deshalb, weil das Merkmal der Angst auch in den Kriterien bei Zwängen benannt wird. Folgende Gesichtspunkte erlauben eine Differenzierung von Zwängen einerseits und Angststörungen andererseits:

•  Art der Emotionen: Patienten und Patientinnen mit Ängsten (z. B. Phobien) benennen die Emotion als Angst, während bei Zwängen eher undifferenzierte emotionale Zustände beschrieben werden, nämlich Unruhe, Anspannung etc.

•  Merkmale der Vermeidung: Bei Patienten und Patientinnen mit Ängsten sprechen wir eher von passiver Vermeidung, d. h. die Personen versuchen, mit einer gefürchteten Situation gar nicht in Kontakt zu kommen (z. B. Vermeidung von öffentlichen Plätzen, sozialen Kontakten). Bei Zwängen spielt aktive Vermeidung eine wichtige Rolle, die Patienten und Patientinnen versuchen durch eigenes Verhalten, die entsprechende Emotion zu reduzieren (z. B. durch Waschen, Reinigen, Zählen und weitere gedankliche Rituale).

•  Patienten und Patientinnen mit Ängsten können die Auslöser ihrer Ängste zumeist recht konkret beschreiben (z. B. bei Phobien, oder auch bei generalisierter Angststörung). Frägt man Patienten und Patientinnen mit Zwängen nach den Auslösern ihrer Unruhe und ihrer Zwänge, so können sie diese kaum konkret benennen. Entscheidend ist für Betroffene vielmehr das Gefühl, eine Situation nicht mehr aushalten zu können (also eher ein innerer Spannungszustand).

•  Wirkung von Medikamenten: Patienten und Patientinnen mit Angststörungen reagieren in der Regel signifikant auf Anxiolytika (z. B. Benzodiazepine), diese erweisen sich bei Zwängen als weitgehend unwirksam. Ebenso interessant ist die deutliche Reaktion von Patienten und Patientinnen mit Ängsten auf Placebos, während sich diese Reaktion in Studien bei Zwängen nicht zeigt.

Zwangsstörungen treten in der Regel mit einer Reihe von anderen psychischen Störungen auf. Hier ist vor allem die Problematik der Depression zu erwähnen, aber auch viele andere Störungsbilder sind häufig mit Zwängen verknüpft (Komorbidität, Kap. 10 in diesem Buch). Daneben sind Erscheinungsbilder zu berücksichtigen, die große Ähnlichkeiten mit Zwängen aufweisen, die aber in der Klassifikation davon getrennt gesehen werden sollten (z. B. Horten, Trichotillomanie etc., Kap. 8 in diesem Buch). Vielfach wird hier auch von Zwangsspektrumsstörungen gesprochen.

1.4       Aspekte der Differenzierung von Zwangsstörungen

Die beschriebene Klassifikation täuscht eine Einheitlichkeit des Störungsbildes vor, die in der klinischen Realität so nicht gegeben ist: Zwang ist nicht gleich Zwang. Verschiedene Differenzierungen haben sich nicht nur aus deskriptiver Sicht als sinnvoll herausgestellt, sie sind auch in epidemiologischer und vor allem hinsichtlich des Verlaufs und der Therapie relevant.

Generell macht es Sinn, zwischen Zwangsgedanken einerseits und Zwangshandlungen andererseits zu unterscheiden; dabei ist zu berücksichtigen, dass diese beiden Formen in der Regel gemeinsam auftreten – die Gedanken sind zumeist Auslöser, Vorläufer oder Begleiter der Zwangshandlungen.

Bei den Zwangsgedanken unterscheidet man wiederum:

•  Reine Gedanken, z. B. zählen, wiederholen von Worten, beten etc.,

•  zwanghaft immer wieder auftauchende Bilder, etwa über unerwünschte Inhalte und

•  unerwünschte Impulse hinsichtlich einer bestimmten Handlung, etwa Gedanken aggressiver oder blasphemischer Art.

Auch wenn Zwangsgedanken zumeist mit Handlungen gemeinsam auftreten, gehen wir davon aus, dass in rund ¼ aller Fälle keine Handlungen mit den Gedanken verknüpft sind.

Bei den Zwangshandlungen hat es sich als sehr sinnvoll herausgestellt, zu unterscheiden zwischen

a.  Waschzwängen (u. a. auch Reinigen, Putzen, Säubern …) und

b.  Kontrollzwängen (Ordnen, Symmetrien …).

Die Differenzierung ist nicht nur phänomenologisch relevant, sondern auch hinsichtlich einiger anderer Merkmale von Bedeutung, nämlich:

•  Geschlecht: Männer leiden etwas häufiger unter Kontrollzwängen, Frauen eher unter Waschzwängen (Rachman und Hodgson 1980).

•  Alter: Der Durchschnitt des Beginns von Zwängen liegt generell bei ca. 23 Jahren (Kap. 2). Dabei beginnen Kontrollzwänge rund fünf Jahre früher als der Durchschnitt, Waschzwänge ca. fünf Jahre später (Rachman und Hodgson 1980).

•  Art des Beginns: Kontrollzwänge beginnen »schleichend«, d. h. der Verlauf kann sich über Jahre hinweg entwickeln; Waschzwänge beginnen eher »abrupt«, d. h. sie können sich innerhalb weniger Wochen oder Tage vollständig ausbilden.

•  Überlappungen mit Phobien: Bei Waschzwängen werden viele Überschneidungen mit Phobien beobachtet (z. B. Kontaminationsängste, Verschmutzung, Krankheiten etc.). Für Kontrollzwänge trifft dies offenbar nicht zu.

•  Die Differenzierung hat wichtige Implikationen für die Therapie: Bei Betroffenen mit Kontrollzwängen ist es ganz entscheidend, die Verantwortung bei den Patientinnen und Patienen zu belassen (z. B. für die Frage, ob das Licht, der E-Herd, eine Maschine etc. auch sicher ausgeschaltet ist). Bei der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Waschzwängen spielt dies offenbar keine so große Rolle.

In der Forschung wird vielfach auch darüber diskutiert, ob es sinnvoll ist, eine weitere Gruppe so genannter »atypischer Zwänge« zu klassifizieren (s. o., Merkmale). Gemeint sind damit Patienten und Patientinnen, die sich nur zeitweise vom Inhalt ihrer Gedanken distanzieren können. Generell geht man davon aus, dass dies rund 10 % aller Patienten und Patientinnen betrifft (Kozak und Foa 1994). Diese Form der Problematik stellt für die Behandlung natürlich eine ganz besondere Herausforderung dar. In gewisser Weise bildet diese Gruppe eine Art Übergang zur »Zwanghaften Persönlichkeitsstörung« (Kap. 9 in diesem Buch).

1.5       Beschreibung der Psychopathologie

Für Zwecke der Forschung sowie für die Verständigung unter Fachleuten ist es zweifellos wichtig, bei der Analyse psychischer Störungen auf eine valide Klassifikation zurückgreifen zu können. Im Umgang mit der Problematik erscheint es allerdings noch bedeutsamer, eine Beschreibung der Problematik auf unterschiedlichen Ebenen zu leisten. Im Folgenden sollen einige dafür relevante Gesichtspunkte benannt werden.

Was ist mit den unterschiedlichen Ebenen gemeint:

Menschliches Verhalten lässt sich in einzelne Ebenen gliedern – dabei ist klar, dass Erleben und Verhalten eine Einheit sind, die lediglich für Zwecke der Analyse in einzelne Details gegliedert wird. Seit einer grundlegenden Arbeit von P. Lang (1971) wird unterschieden in

•  eine Ebene des Verhaltens (Merkmal: Beobachtbarkeit),

•  eine Ebene der Gedanken oder auch der Kognitionen, Prozesse, Ereignisse und Strukturen, sowie

•  eine Ebene der physiologischen, körperlichen, biologischen Abläufe und des damit verbundenen komplexen Geschehens.

Es ist in diesem Zusammenhang darauf zu verweisen, dass die Ebenen sowohl jede für sich, als auch in ihrer Interaktion als ausgesprochen komplex anzusehen sind (wie entstehen Gedanken, wie beeinflussen Hormone unser Verhalten, wie verändert unser Verhalten körperliche Prozesse usw.).

Anmerkung: Ebenso wichtig wie die Erfassung der Pathologie und ihrer detaillierten Merkmale ist auch die Analyse von Verhaltensweisen, die als unproblematisch anzusehen sind; in letzter Zeit spricht man in diesem Zusammenhang auch von »Ressourcen«, die auch für den Weg aus der Problematik nutzbar gemacht werden können.

Für unsere Zwecke heißt das, bei der Analyse der Problematik genau hinzusehen und eine Beschreibung auf unterschiedlichen Ebenen zu leisten: Was genau tut der Patient und die Patientin, wie intensiv sind seine und ihre Bestrebungen nach Sauberkeit, wie häufig kontrolliert er und sie einen Wasserhahn oder eine Türklinke? Wie viel Zeit benötigt die Person für alltägliche Handlungen?

Es ist völlig klar, dass eine Erfassung der Gedanken nur auf indirektem Weg erfolgen kann, aber: Ohne eine Analyse der Befürchtungen, Gedanken, der kognitiven Abläufe einer Person hat man die Problematik nur unvollständig erfasst.

Dasselbe gilt für körperliche/somatische Prozesse, physiologischeAbläufe etc. Auch und gerade als Psychotherapeut und Psychotherapeutin sollte man einschlägige physiologische Merkmale erfassen und in der Beschreibung und Behandlung nutzen.

Exkurs: Emotionen

Es ist hier natürlich nicht der Raum, das Thema der Emotionen in der notwendigen Differenziertheit darzustellen. Dennoch: Die Analyse von P. Lang ist und war als eine mögliche Analyse von Emotionen angelegt. Demnach sind Emotionen als theoretische Konstrukte zu sehen, die selbst nicht direkt beobachtbar sind – wir können Aspekte von Emotionen erfassen, und genau dies tun wir mit der oben beschriebenen Form der Analyse.

Zusätzlich zur genauen Beschreibung auf den unterschiedlichen Ebenen stellt es sich als höchst bedeutsam heraus, die Einbettung des Verhaltens (wiederum: auf unterschiedlichen Ebenen) in auslösende und aufrechterhaltende Bedingungen zu erfassen. Verhalten ist in eine Kette von Mikro- und Makro-Bedingungen eingebettet zu sehen. Dabei können sowohl externe Merkmale als Auslöser angesehen werden, als auch eigenes Verhalten (Berührung einer Türklinke), eigene Gedanken (habe ich die Türklinke berührt?) oder auch physiologische Merkmale (Schlaf, Erregung …).

Die Trennung von Mikro- und Makroebene bedarf einer Erläuterung:

Mit Mikroebene sind diejenigen Auslöser ebenso wie Konsequenzen einer Handlung (oder eines Gedankens) gemeint, die bei detaillierter Betrachtung des Ablaufs eines Verhaltens einer Person erfassbar sind.

Als Makroebene bezeichnen wir diejenigen Merkmale im Umfeld der Person, die als Randbedingungen unseres Verhaltens anzusehen sind, z. B. Familie, berufliches Umfeld, finanzielle Situation, generelle Stressbedingungen usw. Gerade die Analyse von Makro-Bedingungen stellt sich für die spätere Behandlung der Problematik als ganz entscheidend heraus, z. B. hinsichtlich der Kooperation von Partnern, der Familie, des beruflichen Umfelds, aber auch hinsichtlich der Erreichbarkeit von psychotherapeutischer Hilfestellung.

1.6       Klinische Fragestellungen

Wie kommen der Patient und die Patientin zur Therapie in die Klinik?

Diese einfach klingende Frage steht am Beginn eines diagnostischen oder therapeutischen Kontakts. Daran lassen sich auch verschiedene Merkmale der Pathologie von Personen mit Zwangsstörungen gut erläutern.

•  Nach verschiedenen Studien zur Epidemiologie (Kap. 2) dauert die Suche nach einer professionellen Einrichtung bei Patienten und Patientinnen mit Zwängen 9–14 Jahre. Das hängt u. a. mit der oben beschriebenen Makro-Situation der Versorgung von Patienten und Patientinnen zusammen. Hinsichtlich der Pathologie verwundert es nicht, dass sich die Problematik im Lebenskontext der Patienten und Patientinnen stabilisiert hat. Die Schwierigkeiten für die Therapie (sprich: Veränderung) liegen dabei auf der Hand.

•  Eng damit verbunden ist ein spezielles Merkmal von Betroffenen: Personen mit Zwängen versuchen, ihre Problematik oft über Jahre hinweg selbst vor ihren nächsten Angehörigen zu verheimlichen. Diese Verheimlichung hat mit der Scham der Patienten vor ihren eigenen Gedanken ebenso zu tun wie mit der Angst vor Ablehnung durch die Umgebung. Viele Patienten und Patientinnen haben auch im professionellen System vielfach Unverständnis und Hilflosigkeit erlebt.

•  Wenn Personen mit Zwängen professionelle Hilfe suchen, tun sie dies vielfach auf Anraten oder Drängen von Angehörigen. Personen der näheren Umgebung leiden unter der Problematik zumeist in besonderer Weise, da sie vielfach in die Problematik mit einbezogen sind (Unterstützung bei Kontrollen oder bei Reinigungsritualen usw.). Hier ist es meist Aufgabe von Therapeuten und Therapeutinnen, die Patienten und Patientinnen selbst zur Veränderung zu motivieren. Veränderung ist aber generell aversiv, so dass der Patient oder die Patientin zumeist wenig Motivation zeigt, Schritte in Richtung eines Ziels zu unternehmen.

•  Damit im Zusammenhang steht eine besondere Form von Ambivalenz von Betroffenen: Die Person kann sich auf der Grundlage einer lange dauernden Problematik kaum noch vorstellen, wiederum ein »normales« Leben zu führen. Darüber hinaus ist der Patient oder die Patientin unsicher, und hinsichtlich der Problematik auch demoralisiert: Er oder sie hat ggf. schon eine Reihe von erfolglosen (medikamentösen oder psychotherapeutischen) Versuchen zur Behandlung unternommen. Viele Patienten und Patientinnen berichten auch von Ansätzen aus dem nicht- oder paraprofessionellen Bereich.

•  Die angesprochene Unsicherheit schlägt sich auch im Bereich der therapeutischen Beziehung nieder: Viele Kolleginnen und Kollegen kennen dies auf der Grundlage der Erfahrung in der Behandlung von Patienten und Patientinnen mit Zwängen. Betroffene äußern sich skeptisch über Psychotherapie, schwanken hinsichtlich der Medikation oder Möglichkeit einer stationären Behandlung und ggf. auch hinsichtlich des Geschlechts oder der Kompetenz des Therapeuten oder der Therapeutin (»Mir wäre eine weibliche Therapeutin lieber!« »Sie sind ja noch so jung, haben Sie Erfahrung in der Behandlung einer so schweren Störung?«).

•  Letztlich zeigen Betroffene ihrer Umgebung – und nicht zuletzt den Psychotherapeuten gegenüber – ein beachtliches Ausmaß an Manipulation: Angehörige werden massiv gedrängt, dem Patienten und der Patientin diejenige (Pseudo-)Sicherheit zu vermitteln, wenn es um Merkmale von Sauberkeit, Kontrolle etc. geht. Nicht zuletzt werden auch Therapeuten und Therapeutinnen damit konfrontiert, zumindest kurzfristig nachzusehen, ob die Türe wirklich abgeschlossen ist etc.

1.7       Zusammenfassung

Im Verlauf des Beitrags wurde mehrfach auf die Notwendigkeit einer Binnen-Differenzierung der Problematik sowie auf eine Analyse auf unterschiedlichen Ebenen verwiesen. Dennoch hat bereits die Klassifikation als »Zwangsstörung« oder »Zwangserkrankung« für den Patienten und die Patientin eine wichtige Funktion: Viele Betroffene erleben eine deutliche Erleichterung, wenn sie die einschlägige Diagnose vermittelt bekommen. Vorher herrscht beim Patienten oder der Patientin vielfach ein Zustand der Demoralisierung, d. h. er oder sie erlebt zusätzlich zur Problematik ein Gefühl der völligen Hilflosigkeit (Frank 1985). Hier bietet eine sachliche Vermittlung einer Diagnose und Klassifikation eine erste Orientierung: Wenn die Problematik einen Namen hat, dann besteht auch die Chance einer Einordnung und ggf. auch einer Lösung.

Damit im Zusammenhang steht die Möglichkeit der Vermittlung eines plausiblen Modells an den Patienten und die Patientin: Die Aufklärung über Häufigkeit und Verteilung der Problematik in der Bevölkerung bietet vielen Betroffenen eine erste Erleichterung, mit der Störung nicht allein zu sein und im professionellen System gut aufgehoben zu sein. Diese Vermittlung eines plausiblen Modells für die mögliche Entstehung der Problematik vor dem Hintergrund der eigenen Biografie wird vielfach auch als »Psycho-Edukation« bezeichnet und steht sinnvollerweise am Beginn jeder therapeutischen Intervention.

Zur Grob-Identifikation von Zwangsstörungen hat es sich als sinnvoll herausgestellt, folgende Screening-Fragen an den Beginn zu stellen:

•  Müssen Sie Ihre Hände immer wieder waschen, obwohl sie sauber sind?

•  Müssen Sie Dinge immer und immer wieder kontrollieren?

•  Gehen Ihnen häufig unangenehme Gedanken durch den Kopf, die Sie nicht loswerden?

Mit diesen einfachen Fragen ist es möglich, rund 90 % der Phänomene korrekt als »Zwangsstörung« zu klassifizieren.

Literatur

American Psychiatric Association (APA) (2018) Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5®. Deutsche Ausgabe herausgegeben von Peter Falkai und Hans-Ulrich Wittchen. 2., korrigierte Auflage. Göttingen: Hogrefe.

Frank JD (1985) Die Heiler. München: DTV Klett-Cotta.

Gibbs N A (1996) Nonclinical populations in research on obsessive-compulsive disorder: A critical review. Clinical Psychology Review 16: 729–773.

Esquirol JED (1838) Des maladies mentales. Paris: Lafayette.

Jaspers K (1913) Allgemeine Psychopathologie. Berlin: Springer.

Kozak MJ, Foa EB (1994) Obsessions, overvalued ideas and delusions in obsessive-compulsive disorder. Behaviour Research and Therapy 32: 343–353.

Lang PJ (1971) The application of psychophysiological methods for the study of psychotherapy and behavior change. In: Bergin AE, Garfield SL (Eds.) Handbook of psychotherapy and behavior change. New York: J. Wiley.

Rachman SJ, Hodgson RJ (1980) Obsessions and Compulsions. Englewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall.

Westphal C (1978) Über Zwangsvorstellungen. Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 8: 734–750.

2          Epidemiologie und Verlauf1

Roselind Lieb und Marcel Miché

2.1       Einleitung

Epidemiologie ist die wissenschaftliche Disziplin, in der die Verteilung von gesundheitsbezogenen Phänomenen, wie z. B. von psychischen Störungen, körperlichen Erkrankungen oder Substanzkonsum in definierten Populationen untersucht wird. Zudem werden in epidemiologischen Studien Faktoren untersucht, die diese Verteilung beeinflussen (Lieb 2015).

Epidemiologische Forschung ist entscheidend für das Verständnis unterschiedlicher Aspekte von gesundheitsbezogenen Phänomenen. So ist etwa Wissen darüber, wie häufig eine Störung (z. B. Prävalenz oder Inzidenz) in spezifischen Bevölkerungsgruppen oder auch in der Gesamtbevölkerung aufritt, von entscheidender Bedeutung für die Planung von Versorgungsdiensten (z. B. Behandlungsangebot).

Andere Aspekte epidemiologischer Forschung umfassen den natürlichen Verlauf einer Störung. Hier wird z. B. untersucht, in welchem Alter sich eine Störung in der Regel erstmalig manifestiert, wie sich ihr Verlauf ohne Behandlung gestaltet oder mit welchen Komplikationen ein Störungsbild kurz- und langfristig verbunden ist. Ein weiterer Aspekt umfasst unterschiedlichste Faktoren, die an der Ätiologie und Entwicklung des Verlaufs einer Störung oder Krankheit beteiligt sein können. Ein besseres Verständnis all dieser Aspekte kann zur Entwicklung von neuen Präventions- oder Interventionsmethoden herangezogen werden. Die Epidemiologie kann grob in die deskriptive und analytische Epidemiologie unterteilt werden. Die deskriptive Epidemiologie fokussiert primär auf die Untersuchung der Häufigkeit und des Verlaufs von Störungen in umschriebenen Populationen, wie auch auf die Evaluation von bestehenden Versorgungseinrichtungen. Die analytische Epidemiologie hingegen befasst sich primär mit der Identifikation von Faktoren (Risikofaktoren, kausale Faktoren), die an der Entstehung von spezifischen Störungen oder auch deren Verlaufsgestaltung (z. B. chronischer vs. remittierender Verlauf) beteiligt sind. Epidemiologische Forschung ist eine zentrale Ergänzung zur klinischen Forschung, da Forschungsbefunde, die an klinischen Gruppen ermittelt werden, nicht unkritisch auf nichtklinische Populationen verallgemeinerbar sind, somit z. B. auf Personen, die eine Störung entwickelt haben, sich aber nicht an eine Behandlungseinrichtung begeben. Beispielsweise haben epidemiologische Studien an Personen der Allgemeinbevölkerung aufgezeigt, dass bei weitem nicht alle Personen, die von einer psychischen Störung betroffen sind, auch eine Behandlung bekommen (Bijl et al. 2003) – die Inanspruchnahme einer Behandlung und die Rekrutierung von Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern über das klinische Setting könnten somit in klinischen Studien mit einem sog. Selektions-Bias assoziiert sein (siehe etwa Nohr und Liew 2018; Patten 2000). Daher können Befunde, die an betroffenen Personen ermittelt wurden, die sich in Behandlung befinden, nicht auf betroffene Personen generell verallgemeinert werden. Epidemiologische Studien, die betroffene Personen unabhängig davon untersuchen, ob diese sich in Behandlung befinden oder nicht und zudem zufällig aus der Allgemeinbevölkerung ausgewählt werden, sind daher erforderlich, um zu ökologisch validen Befunden zu kommen. Dieses Kapitel soll einen Überblick über den aktuellen Wissensstand zur Epidemiologie von Zwangsstörungen bieten. Dabei soll zunächst auf die Auftretenshäufigkeit (Prävalenz) von Zwangsstörungen in der Allgemeinbevölkerung, das Alter der erstmaligen Manifestation, Beeinträchtigungen, Aspekte der Versorgung und das gemeinsame Auftreten von Zwangsstörungen mit anderen psychischen Störungen (Komorbidität) fokussiert werden. Das Kapitel schließt mit einem Überblick über den aktuellen Wissensstand zu Risikofaktoren.

2.2       Häufigkeit von Zwangsstörungen in der Allgemeinbevölkerung

Epidemiologische Studien konnten ferner aufzeigen, dass Zwangsstörungen bereits im Kindes- und Jugendalter auftreten. Studien, die auf der Basis von operationalisierten Kriterien und standardisierter Erhebungsinstrumente durchgeführt wurden, ergaben Schätzungen der Lebenszeitprävalenz zwischen 0,5 % und 2,6 % und für die 12-Monats-Prävalenz zwischen 0,0 % und 4,0 % für Kinder und Jugendliche (z. B. Beesdo-Baum et al. 2015; Fontenelle et al. 2006; Valleni-Basile et al. 1994; Wittchen et al. 1998).

Bevölkerungsbasierte epidemiologische Studien konnten weiter aufzeigen, dass sog. subklinische Ausprägungen der Zwangsstörung, somit Störungsbilder, die nicht alle diagnostischen Kriterien erfüllen, relativ häufig in der Bevölkerung vorkommen. Für solche subklinischen Störungsbilder wurden über die Studien hinweg Lebenszeitprävalenzen zwischen 2,0 % und 8,7 % geschätzt (Adam et al. 2012; Angst et al. 2004; De Bruijn et al. 2010; Grabe et al. 2000). Betrachtet man sich schließlich die Zwangsstörung auf der Symptomebene, also dem Vorkommen von Zwangshandlungen oder Zwangsgedanken, ohne dass die betroffenen Personen die diagnostischen Kriterien für die Diagnose einer Zwangsstörung erfüllen, so konnte die Replikationsstudie des National Comorbidity Survey (NCS-R) aufzeigen, dass immerhin 28,2 % der befragten Personen irgendwann in ihrem Leben Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen erlebten (Ruscio et al. 2010). Auch aus den Befunden weiterer Allgemeinbevölkerungsstudien lässt sich der Schluss ableiten, dass bis zu einem Viertel der Allgemeinbevölkerung irgendwann in ihrem Leben Zwangssymptome erlebt (Adam et al. 2012; Fullana et al. 2010; Stein et al. 1997; Valleni-Basile et al. 1994). Zusammenfassend zeigt sich somit das Bild, dass Zwangsstörungen, die die diagnostischen Kriterien voll erfüllen, eher selten in der Bevölkerung vorkommen. Erweitert man jedoch den Blick und zieht auch subklinische Störungsformen oder auch symptomatisch auftretende Zwangshandlungen oder Zwangsgedanken in die Betrachtung ein, so sind weit mehr Menschen in der Allgemeinbevölkerung betroffen.

2.3       Alter der erstmaligen Manifestation

Wie die oben beschriebenen Prävalenzbefunde zeigen, kann die Zwangsstörung bereits im Kindes- und Jugendalter auftreten. Mehrere Allgemeinbevölkerungsstudien nahmen das zum Anlass, retrospektiv Informationen zum Alter der erstmaligen Manifestation von Zwangsstörungen zu erfassen. So konnte gezeigt werden, dass insbesondere das zweite und dritte Lebensjahrzehnt die kritischste Zeit – somit die Hochrisikophase – für die erste Störungsmanifestation zu sein scheint. Die mittleren Erkrankungsalter für Zwangsstörungen, die aus Querschnittsstudien mit Erwachsenenstichproben berichtet wurden, liegen zwischen 19 und 35,5 Jahren (Angst et al. 2004; Çilli et al. 2004; Grabe et al. 2000; Karno et al. 1988; Kessler et al. 2007; Mohammadi et al. 2004; Weissman et al. 1994).

Basierend auf einer Survivalanalyse ermittelte die ECA-Studie das höchste Risiko für die erste Manifestation einer Zwangsstörung in der Altersspanne zwischen 15 und 39 Jahren. Der Median des Ersterkrankungsalters der Zwangsstörung lag bei 23 Jahren (Burke et al. 1990), der höchste Median unter den in der ECA erfassten DSM-III-Angststörungen. Analysiert auf der Basis des gleichen methodischen Vorgehens berichteten der NCS-R (Ruscio et al. 2010) und eine in Zürich durchgeführte Längsschnittstudie (Fineberg et al. 2013) über ein mittleres Erkrankungsalter von 19 Jahren. In dem NCS-R zeigten die Alterskurven im zweiten und dritten Jahrzehnt die höchsten Risiken für Männer und Frauen. Dieser steile Anstieg im Risiko für das erste Auftreten von Zwangsstörungen im Alter zwischen 10 und 30 Jahren konnte in der Zürcher Studie überzeugend repliziert werden (Fineberg et al. 2013).

2.4       Funktionsbeeinträchtigungen und Inanspruchnahme von Behandlung

Mehrere epidemiologische Studien konnten überzeugend aufzeigen, dass Personen mit einer Zwangsstörung beachtliche Einschränkungen in ihren sozialen und beruflichen Funktionbereichen erleben und auch deren Lebensqualität stark beeinträchtigt ist (vgl. Adam et al. 2012; Ruscio et al. 2010). So berichteten etwa in dem NCS-R nahezu zwei Drittel der Personen, die in den zwölf Monaten vor der Erhebung die diagnostischen Kriterien für eine Zwangsstörung erfüllten, schwerwiegende Rollenbeeinträchtigungen (Ruscio et al. 2010). Zudem liegen Befunde vor, die darauf hinweisen, dass betroffene Personen in ihrem Alltag nicht nur stärker beeinträchtigt sind als gesunde Personen, sondern ebenfalls stärker beeinträchtigt als Personen mit einer anderen psychischen Störung (Torres et al. 2006).

Die Befunde epidemiologischer Studien weisen ebenfalls darauf hin, dass bereits Personen mit einer subklinischen Ausprägung der Zwangsstörung in ihren sozialen oder beruflichen Funktionbereichen beeinträchtigt sind (Adam et al. 2012; De Bruijn et al. 2010; Fineberg et al. 2013). Die Ergebnisse des im Jahr 1998 in Deutschland durchgeführten Bundesgesundheitssurveys deuten zudem darauf hin, dass bereits das Vorliegen von Zwangssymptomen mit bemerkenswerten Beeinträchtigungen des täglichen Lebens verbunden ist (Adam et al. 2012).

Epidemiologische Studien haben sich ebenfalls mit der Frage der Inanspruchnahme von professioneller Hilfe von Personen mit Zwangsstörungen befasst. Hier zeigt sich eine eher heterogene Befundlage. Während in einigen Studien eher niedrige Behandlungsraten beobachtet wurden (z. B. 10,2 % (Subramaniam et al. 2012) in einer asiatischen Population), kamen andere Studien zu höheren Raten. In dem US-amerikanischen NCS-R berichteten ca. 50 % der Personen mit einer 12-Monats-Diagnose, dass sie im Jahr vor der Erhebung eine Behandlung erhielten (Ruscio et al. 2010). Im Rahmen des deutschen Bundesgesundheitssurveys berichteten immerhin 68 % der Personen mit einer 12-Monats-Diagnose einer Zwangsstörung die Inanspruchnahme einer Intervention (Adam et al. 2012). Torres et al. (2006) konnten zudem beobachten, dass Personen mit einer Zwangsstörung häufiger als Personen mit anderen psychischen Störungen eine Behandlung aufsuchen (40 % gegenüber 23 %), wobei hier Personen ohne eine zusätzliche komorbide Störung geringere Raten zeigen als Personen, die noch die Kriterien für mindestens eine zusätzliche komorbide Störung erfüllen (14 % gegenüber 56 %).

Der Befund von Torres et al. (2006) stimmt mit den Ergebnissen anderer epidemiologischer Studien überein, die aufzeigen konnten, dass die Komorbidität mit anderen psychischen Störungen ein starker Prädiktor für das Aufsuchen einer Behandlung zu sein scheint (Jacobi et al. 2004; Mayerovitch et al. 2003). Studien, die sich die Frage gestellt haben, wie lange es dauert, bis eine Person ab erstem Auftreten der Zwangssymptomatik eine Behandlung aufsucht, ergaben einen sog. »treatment delay« von 9 bis 14 Jahren (Cullen et al. 2008; Pinto et al. 2006; Subramaniam et al. 2012). Diese »Behandlungsverzögerungen« fallen zeitlich länger als bei affektiven Störungen aus, sind jedoch vergleichbar mit denjenigen, die für Angststörungen berichtet wurden (Wang et al. 2005).

2.5       Risikofaktoren

Nach Kraemer et al. (1997) ist ein Risikofaktor definiert als ein Faktor, der zeitlich vor dem Outcome (z. B. Störung) auftritt. Personen, die den Risikofaktor aufweisen, haben im Vergleich zu Personen, die den Risikofaktor nicht aufweisen, eine höhere Wahrscheinlichkeit, den Outcome zu entwickeln. Das Zeitkriterium kann bis auf wenige Ausnahmen (z. B. Geschlecht) nur von prospektiven Längsschnittstudien – jedoch nicht von Querschnittsstudien – erfüllt werden. Teilnehmer und Teilnehmerinnen einer prospektiven Längsschnittstudie unterscheiden sich zu Studienbeginn darin, ob sie den vermuteten Risikofaktor aufweisen oder nicht, während der Outcome zu Studienbeginn bei niemandem vorliegen darf, sondern frühestens bei der ersten Folgeuntersuchung.

Die Autorin und der Autor konzentrieren sich in diesem Beitrag auf bevölkerungsrepräsentative Längsschnittstudien, die hinsichtlich des Outcomes Zwangsstörung Risikofaktoren untersucht haben (Kraemer et al. 1997). Es sei bereits hier erwähnt, dass unterschiedliche Merkmale die Interpretation der Ergebnisse einschränken können, z. B. eine geringe Anzahl an Studienteilnehmern mit inzidenter Zwangsstörung (Valleni-Basile et al. 1996) oder trotz Studiendesign verbleibende Unsicherheit, ob das Zeitkriterium in allen Fällen als erfüllt gilt (Douglass et al. 1995; Grisham et al. 2011).

Soziodemografische Faktoren