Zwei in einem Leben - David Nicholls - E-Book + Hörbuch

Zwei in einem Leben Hörbuch

David Nicholls

0,0

Beschreibung

Manchmal muss man sich verlaufen, um anzukommen – der neue große Liebesroman von Bestseller-Autor David Nicholls: »Dieser Roman ist ein Triumph. Was für ein Geschenk!« Sunday Times  »Herzerfrischend! Diese Liebesgeschichte ist echt und authentisch.«  The Guardian Marnie steckt fest. Sie lebt und arbeitet allein in ihrer Londoner Wohnung und kämpft mit der Einsamkeit. Doch mit dem Einigeln soll nun Schluss sein. Michael ist dabei, sich zu verlieren. Seit seine Ehe gescheitert ist, muss er lernen, als Ein-Mann-Show zu funktionieren. Er fühlt sich noch nicht bereit für die Gesellschaft anderer Menschen. Nur bei langen Spaziergängen findet er Ruhe. Als eine gemeinsame Freundin und sehr englisches Wetter Marnie und Michael bei einer Wanderung zusammenbringen, merken die beiden trotz aller Strapazen, dass ein erstes Treffen vielleicht auch eine zweite Chance sein kann. »Nicholls' bester Roman! Sie werden ZWEI IN EINEM LEBEN genauso lieben wie ZWEI AN EINEM TAG.« Independent

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:9 Std. 52 min

Sprecher:Timo WeisschnurTessa Mittelstaedt
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



David Nicholls

Zwei in einem Leben

Roman

 

Aus dem Englischen von Simone Jakob und Anne-Marie Wachs

 

Über dieses Buch

 

 

Marnie und Michael werden von ihrer gemeinsamen Freundin Cleo zu einem Wanderausflug übers Wochenende genötigt. Michael ist Lehrer und wandert für sein Leben gern – am liebsten aber allein. Marnie ist freie Lektorin und arbeitet von zu Hause aus. Sie hat sich über die Jahre immer weiter eingeigelt, jetzt soll sie endlich mal wieder vor die Tür.

Zu Beginn des Ausflugs finden die beiden einander ziemlich nervig. Und das Wetter sorgt auch nicht gerade für gute Laune, sodass die Wandergruppe immer mehr zusammenschrumpft. Am Ende bleiben nur noch Marnie und Michael übrig …

Ein Roman über Lebensentscheidungen.

Über Wünsche, die wir uns erfüllt haben oder die uns verwehrt blieben.

Und über die Chance, noch einmal neu anzufangen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

David Nicholls, Jahrgang 1966, ist ausgebildeter Schauspieler, hat sich dann aber für das Schreiben entschieden. Mit seinem Roman »Zwei an einem Tag« gelang ihm der internationale Durchbruch, seine Bücher wurden in vierzig Sprachen übersetzt und verkauften sich weltweit über sechs Millionen mal. Auch als Drehbuchautor ist David Nicholls überaus erfolgreich und mehrfach preisgekrönt. Mit seiner Familie lebt der Autor in London.

 

Simone Jakob hat Literaturübersetzen in Düsseldorf studiert und übersetzt Bücher aus dem Englischen, unter anderem von Philip Kerr, Jennifer Saint, Abi Daré und Novuyo Rosa Tshuma. Sie lebt und arbeitet in Mülheim an der Ruhr.

Anne-Marie Wachs hat Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik studiert, lebt in Berlin und übersetzt Literatur diverser Genres aus dem Englischen.

Inhalt

[Widmung]

Die Wanderung von Küste zu Küste

[Motto]

Teil eins

Imaginäre Fotos

Gewaltige Kräfte unter euren Füßen

Alle Änderungen annehmen

Der Deal

Die Diashow

Napoleon

Wetterfest

Teil zwei

Tag eins

Die Wigan-Orgie

Anschluss

Steinnamen

Leuchtturm

Hobbys und Interessen

Menschliche Geographie

Fünf Feuerlöscher

Das Tal

Das Tor zu den Seen

Kintsugi

Tatort

Backteig

Tag zwei

Die After-Show-Party

Mehr Regen

Noch mehr Regen

Rolltreppe abwärts

Über den Wolken

Selbstbetrug

Zähneklappern

Badekostüm

Chlor

Hoffeallesgut

Essig

Tag drei

Das Schweigegelübde

Dorothy Wordsworth

Stegosaurus

Der Hochzeitslachs

Hôtel du Lac

In Shelley

Der Leihschlips

Tag vier

Katze/Kuh

Wild

Nicht Portugiesisch lernen

Teil drei

Der Black Dog

Der Kannibale im Kleiderschrank

Tag fünf

Zufallswiedergabe

»Black Magic« von Little Mix (2015)

»El Condor Pasa (If I Could)« von Simon & Garfunkel (1970)

»Don’t Speak« von No Doubt (1996)

»Pull Up To The Bumper« von Grace Jones (1981)

»No Limit« von 2 Unlimited (1993)

»Here Comes the Sun« von The Beatles (1969)

Ha-tschi

Das Auld Shillelagh

Grüße aus dem Land der Viadukte

Nächtliche Nachrichten

Tag sechs

Die Wasserscheide

Davongehen

Preise

Die Jurte

Lagerfeuer

Die Füllerkappe

Pyjama-Party

Auslassungen

Tag sieben

»Sie befinden sich hier«

Wischen zum Annehmen

Nach Weihnachten

Romantisches Wochenende

Teil vier

Narzissen

Tag acht, Teil eins

Bücklinge

Tag acht, Teil zwei

Arbeit

Marschieren

Feta

Am Vorabend in Richmond

Tag neun, Teil eins

Gehirne und Herzen

Tag neun, Teil zwei

Spaß in den Moors

Mark Rothko

Sohnemanns Bettdecke

Der letzte Tag

Auspacken

Der Weg

Teil fünf

Das postromantische Zeitalter

Bootcamp

Tag zehn

Der Serpentine

[Karte: Bis ans Meer]

Bemerkungen zur Route

Danksagung

Hannah, Max und Romy gewidmet,

für all die Spaziergänge

Die Wanderung von Küste zu Küste

Da war sie dessen sicher, dass er seine Partnerin gefragt hatte, ob denn Miss Elliot niemals tanzte. Die Antwort lautete: »O nein, niemals. Sie hat das Tanzen ganz aufgegeben. Sie spielt viel lieber Klavier. Sie wird niemals müde dabei.«

Jane Austen, Überredung[1]

Teil eins

Zu Hause

Zu welchem Zweck, April, kehrst du erneut zurück?

Schönheit ist nicht genug.

Du kannst mich nicht länger besänftigen mit der Röte

Kleiner Blätter, die sich klebrig öffnen.

Ich weiß, was ich weiß.

Edna St. Vincent Millay,Frühling[1]

Imaginäre Fotos

In all ihren jugendlichen Zukunftsvisionen – von der Arbeit, der sie nachgehen, dem Haus, in dem sie wohnen, und der Familie und den Freunden, die sie umgeben würden – hatte Marnie sich nie ausgemalt, dass sie einsam sein würde.

Damals hatte sie sich die Zukunft wie eine Serie imaginärer Fotos vorgestellt, voller Menschen, Freunde, Arm in Arm, die Augen rot vom Blitzlicht im Pub oder vom Schein eines Lagerfeuers am Strand, und mittendrin sie, Marnie, lächelnd. Die späteren Fotos waren weniger deutlich, die Gesichter verschwommener, aber vielleicht würden unter all diesen Freunden, die Marnie sicher ihr ganzes Leben lang kennen und lieben würde, ein Partner oder sogar Kinder sein.

Doch sie hatte seit sechs Jahren kein Foto von einem anderen Menschen mehr gemacht. Sie selbst war zuletzt für einen neuen Reisepass abgelichtet worden, wobei man sie gebeten hatte, nicht zu lächeln. Wo waren all die Leute hin? Sie war jetzt achtunddreißig und im goldenen Zeitalter der Freundschaft erwachsen geworden, als eine unterstützende, liebevolle Gemeinschaft einen weitaus größeren Stellenwert hatte als das stressige Familienzeug, das anstrengende romantische Theater oder die widerwillig erledigte Arbeit. Die nächtlichen Telefonate, die Textnachrichten, Ausflüge und Spieleabende, all das war wesentlich spannender und erfüllender gewesen als Marnies unberechenbares Liebesleben, und war sie nicht einmal ganz gut in alldem gewesen? Sie war immer eine willkommene Ergänzung der Clique gewesen, wenngleich sie nie zum harten Kern gehört hatte, wurde geschätzt, wenn auch nicht angebetet oder umschwärmt. Anders als andere Mädchen hatte sie keinen Nachtclub angemietet, um ihren Geburtstag zu feiern, aber an ihrem einundzwanzigsten hatte sie locker ein Hinterzimmer im Pub gefüllt und an ihrem dreißigsten einen langen Tisch beim Italiener. Zu ihrem vierzigsten überlegte sie nun, mit ein, zwei Freundinnen im Park spazieren zu gehen – eine ehemals populäre Band, die gezwungen ist, in zunehmend kleineren Locations zu spielen.

Im Lauf der Jahre verlor sie Freunde an Ehe und Elternschaft, an Partner, mit denen sie nichts anfangen konnte oder umgekehrt, oder sie zogen sich in ein geräumigeres, geordneteres neues Leben in Hastings, Stevenage, Cardiff oder York zurück, während Marnie in London die Stellung hielt. Andere Bekanntschaften verliefen aus Gleichgültigkeit oder Achtlosigkeit im Sande, wie bei einem Dankesbrief, den man immer hatte schreiben wollen, bis zu viel Zeit vergangen war und es zu peinlich wurde. Aber vielleicht war dieser Schwund ja etwas ganz Normales. Das echte Leben glich selten einer Strandparty oder einer betrunkenen Runde Twister, und es gehörte zum Erwachsenwerden dazu, sich von der Phantasievorstellung zu lösen, man müsse ständig nackt baden gehen und tiefschürfende Gespräche führen.

Doch niemand trat an die Stelle der verlorenen Freunde, und so hatte Marnie ihre Zukunftsvision in eine von Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit umgewandelt: Tee aus einer hübschen Tasse, Worträtsel auf ihrem Handy, die alleinige Kontrolle über die Fernbedienung, ihre Bücher, ihr Bett. Essen, trinken, lesen, die Uhr ignorieren, ein Leben, in dem sie von keiner anderen Menschenseele gestört oder beurteilt wurde; so musste sich die letzte Frau auf Erden fühlen. Marnie wusste zwar nicht, ob ein Baum, der im Wald umfiel, tatsächlich ein Geräusch machte, aber da zumindest kein Geräusch, das sie verursachte, den Gehörgang eines anderen Menschen erreichte, hatte sie angefangen, mit den Gegenständen in ihrer Wohnung zu reden. Nicht du schon wieder, sagte sie zu dem feuchten Fleck im Badezimmer. Na, alles frisch?, fragte sie die Eier. Da bist du ja, begrüßte sie den Korkenzieher, der ihr mit seinen Armen zuzuwinken schien. Einmal hatte sie in einem Fernsehfilm gesehen, wie eine einsame Frau ihrem Spiegelbild eine lange motivierende Rede hielt. So was macht doch keiner, rief sie dem Fernseher zu.

Aber einseitige Gespräche zu führen war wie allein Scrabble zu spielen – wenig überraschend und selten eine Herausforderung. Manchmal machte sie sich nicht mal die Mühe, ganze Wörter zu bilden; sie entwickelte ein Vokabular aus Interjektionen wie »fw«, »pfta« oder »tja-ha«, deren Bedeutung sich ständig änderte. Das Radio gab ihrem Tag Struktur, obwohl die Nachrichten sich zunehmend zu einer Horrorshow entwickelten, die bei ihr Stunde um Stunde Panik und Zorn hervorrief, so dass sie hektisch nach dem Ausschaltknopf tastete. Sie hörte Playlists mit Titeln wie Coffeeshop Essentials oder Rainy Day Piano, weil niemand bisher eine Playlist für jene öden Sonntagnachmittage zusammengestellt hatte, an denen sie in ihrem Zweizimmerapartment lustlos durch die Sozialen Medien scrollte und unkontrolliert alle möglichen Posts likte, präsent, aber anonym wie eine applaudierende Zuschauerin im Stadion. Die Zeitwahrnehmung war relativ, und die verfluchten Stunden zwischen drei und fünf an einem Februarnachmittag oder am frühen Morgen schienen sich endlos hinzuziehen – in diesen Zeiten kreiste ihr Gedankenkarussell um die immer gleichen Ängste und Schuldgefühle, und sie war gezwungen, sich der Wahrheit zu stellen.

Ich, Marnie Walsh, achtunddreißig Jahre alt, wohnhaft in Herne Hill, London, bin einsam.

Ihr Zustand war keine Abgeschiedenheit, kein bloßes Alleinsein und auch kein freiwilliger Rückzug, es war waschechte Einsamkeit, und diese Erkenntnis war für Marnie von Scham begleitet, denn was implizierte Einsamkeit, wenn Beliebtheit die Belohnung dafür war, klug, cool, attraktiv und erfolgreich zu sein? Marnie war zwar nie cool gewesen, war aber auch nicht völlig unbedarft. Man hatte ihr gesagt, sie sei witzig, und obwohl ihr bewusst war, dass das ein zweischneidiges Schwert sein konnte, war sie nie absichtlich sarkastisch oder gehässig und machte sich eher über sich selbst lustig als über andere. Vielleicht war das ja das Problem – ihr Ex-Mann hatte es jedenfalls ganz oben auf die Liste ihrer Verfehlungen gesetzt –, aber sie war freundlich, rücksichtsvoll und immer großzügig mit dem, was ihr zur Verfügung stand. Sie war nicht schüchtern. Wenn überhaupt, war sie zu bemüht zu gefallen, auch wenn das nicht allen gefiel.

Das ist der Mensch, der wir sein wollen, dachte sie, und der Mensch, der wir sind. Je älter wir werden, desto mehr weicht Ersterer dem Letzteren, und vielleicht bin ich jetzt jemand, der allein besser dran ist. Nicht glücklicher, aber besser dran. Keine Introvertierte, sondern eine Extrovertierte, die es nicht mehr draufhat.

Ihre Einsamkeit hatte nichts Romantisches, oder nur selten. Marnie hatte ungewöhnlich früh geheiratet, mit Ende zwanzig, und sich kurz darauf wieder scheiden lassen, und diese große, zentrale Katastrophe ihres Lebens hatte ihre Gefühle abstumpfen lassen, wobei die Narbe noch hin und wieder schmerzte. Seit der Scheidung hatte es niemanden mehr gegeben, zumindest nicht so richtig, obwohl sie sich manchmal bei dem Wunsch ertappte, die Wärme eines anderen Menschen neben sich im Bett zu spüren oder eine Textnachricht zu bekommen, die keinen Authentifizierungscode enthielt oder ein Phishing-Versuch war. Es wäre schön, begehrt zu werden, auch wenn man wohl besser die Kirche im Dorf ließ. Die Risiken, die romantische Liebe mit sich brachte, ihr Potenzial für Verletzungen, Verrat und Erniedrigungen überwogen ihre Annehmlichkeiten bei weitem. Hauptsächlich fehlte Marnie das Zusammensein mit anderen Menschen, im Allgemeinen wie im Besonderen, und obwohl die Aussicht auf soziale Kontakte manchmal beängstigend, auslaugend und einschüchternd war, fand sie das immer noch besser als dieses beengte, immer kleiner werdende Leben auf vierundfünfzig Quadratmetern.

Manchmal, dachte sie, ist Alleinsein leichter, als sich als einsam zu outen. Aber sie wusste, dass das eine Falle war, dass das hier, wenn sie nichts dagegen unternahm, ein Dauerzustand werden konnte, der nicht mehr weggehen würde, wie ein in Holzdielen eingezogener Fleck.

Es half nichts. Sie würde sich nach draußen wagen müssen.

Gewaltige Kräfte unter euren Füßen

»Es geht darum, in ganz anderen Dimensionen zu denken. Es bringt nichts, in Minuten, Stunden oder Tagen zu rechnen, ja, nicht einmal in Generationen. Ihr müsst euren Maßstab anpassen und von Jahrtausenden ausgehen. Dann existiert alles, was ihr hier seht, nur temporär, die Seen, die Flüsse, die Berge, alles ist im Wandel, und manche Veränderungen dauern Jahrmillionen. Dieses Tal war nicht immer schon hier; es wurde geschaffen, und zwar von einem riesigen Gletscher; Eis bewegt sich, zwar nicht mal einen Meter pro Tag, aber es beißt mit seinen großen Steinzähnen zu, zermalmt Felsbrocken, frisst sich ins Gestein, in einem Vorgang, den wir … wie nennen?

Niemand? Genau, Gletschererosion, die wiederum unterteilt wird in …? Aufwachen, Leute, das wisst ihr. Ja, genau, Detraktion, Detersion und Exaration! Was ist daran so witzig, Noah? Was genau findest du an dem Wort ›Exaration‹ lustig? Lass uns gerne daran teilhaben. Nichts? Dachte ich mir.

Eis ist brachial, weit zerstörerischer als Feuer. Es zerstört, aber es erschafft auch Neues, wie solche Talkessel namens … Genau, ›Kare‹, oder, wie man sie hier in Wales nennt, ›Cwms‹. Oder Karseen, in denen Leute wie Mrs. Fraser und ich schwimmen gehen, anders als ihr Feiglinge. Handys weg, bitte, es sei denn, ihr macht Fotos für euer Projekt. Keine Selfies. Wurdest du von einem Gletscher erodiert, Chrissy? Dann kein Selfie.

Gehen wir noch weiter zurück, so um die 480 Millionen Jahre, als dieser Berg, der höchste in Wales, noch gar nicht da war. Er entstand erst im sogenannten Ordovizium. Nein, das ist nicht prüfungsrelevant, aber das heißt noch lange nicht, dass ihr es nicht wissen solltet. O-r-d-o-v-i-z-i-um. Lange vor den Dinosauriern … Nein, noch viel früher. Ja, es gab hier auch mal Dinosaurier. Nein, jetzt doch nicht mehr, sei nicht albern. Ja, Ryan, Dinosaurier sind cool, aber das hier ist noch viel cooler, diese Kräfte, diese unglaublichen Kräfte …

Hört mir bitte zu, wenn ihr je wieder zurückwollt! Wenn Kontinentalplatten miteinander kollidieren, wölben sie sich aufwärts, erheben sich über die Wasseroberfläche, und Vulkane entstehen – Vulkane, hier, könnt ihr euch das vorstellen? Schließt eure Augen, dann seht ihr sie vor euch. Ihr wisst schon, was ich meine. Schließt eure Augen und stellt es euch vor … Ja, stellt euch meinetwegen auch Dinosaurier vor, das ist zwar nicht korrekt, aber nur zu. Wichtig ist, dass dieser Prozess nicht einfach aufhört, nur weil es Menschen gibt. Er geht heute noch weiter, in diesem Moment, und wird auch dann weitergehen, wenn keine Menschen mehr existieren. Gewaltige Kräfte unter euren Füßen. Nichts ist von Dauer, alles ist im Fluss. Sarah Sanders, gähn mich bitte nicht an. Gehen wir weiter. Ja, macht erst die Augen wieder auf, das wäre hilfreich.«

Sie machten sich an den Abstieg. Ähnlich wie Flüsse mussten auch Stereotype irgendwo ihren Ursprung haben, und manchmal fragte er sich, wer das Klischee vom langweiligen Erdkundelehrer erfunden hatte. Stammte es aus einem Buch, von einem trotzigen Kind, einem verbitterten Physiklehrer? Es würde ihm nicht im Traum einfallen, die Fächer seiner Kollegen zu kritisieren, aber waren Geschichtslehrer wirklich so viel interessanter, wenn sie von den Tudors und der Weimarer Republik schwafelten? Die Leute aus dem Fachbereich Englisch sprangen auch nicht auf die Tische wie in Der Club der toten Dichter, und die Mathematiklehrer konnten noch so von der Schönheit der Zahlen schwärmen: Ihr Fach war und blieb glorifiziertes Sudoku. Dennoch war irgendwie, irgendwo das Klischee über Erdkundelehrer entstanden, und jetzt war es an Mr. Bradshaw – Michael –, den Erwartungen zu trotzen und Schüler zu inspirieren. Er ging voran, Mrs. Fraser – Cleo – trieb die Nachzügler zusammen, und, unten im Tal angekommen, erzählte er ihnen von alluvialen Fächern.

»Vor rund achtzehntausend Jahren, was erdgeschichtlich betrachtet nichts, praktisch vorgestern ist, schmolzen die Gletscher und ließen dieses großartige Geschenk zurück.« Er stampfte auf den Boden, und sie senkten pflichtschuldig den Blick und betrachteten das Geschenk des Staubs. »Diese Erde, diese wunderschöne dunkle Erde, kam unter dem Gletscher zum Vorschein wie gemahlenes Getreide und wurde über den Talboden gespült, und es bildete sich ein fetter, fruchtbarer … alluvialer Fächer. Alluvial, was für ein schönes Wort. Die darin enthaltenen Mineralien haben ihren Weg in Bäume, Pflanzen und Feldfrüchte gefunden, sogar in die Äpfel aus eurem Lunchpaket, die ihr gegessen habt oder essen solltet. Ist das nicht verblüffend? Mineralien aus einem uralten Gletscher befinden sich jetzt in eurem Körper, als Kalzium in euren Knochen, als Eisen in eurem Blut …« An dieser Stelle hielt Michael inne und fragte sich, ob er noch weiter ausholen sollte, auf den Ursprung der Elemente, des Universums selbst eingehen und den Schülern erzählen sollte, dass sie aus demselben Stoff gemacht waren wie die Sterne. Jugendliche waren leicht zu beeindrucken, aber das war eher Chemie oder Physik, und die Äpfel aus dem Lunchpaket stammten aus Südafrika.

»Hat jemand Fragen?«, fragte er und schaute in die dreißig fettig-glänzenden, unfertigen Gesichter seiner Schüler, von denen einige mürrisch aus ihren Kapuzen lugten, während andere miteinander tuschelten oder über Insiderwitze kicherten. Er war ein leidenschaftlicher, engagierter Lehrer, der sich alle Mühe gab, zu den gleichgültigen Heranwachsenden durchzudringen, aber die Fragen, die diese Teenager beschäftigten, konnte er nicht beantworten. Wen interessierten Haufenschichtwolken, wenn die Gedanken ständig um den geschmuggelten Flachmann, E-Zigaretten oder die Frage kreisten, ob er oder sie einen auch mochte? Was war schon ein Berg gegen einen Pickel am Kinn? Heute Nacht würde in der Jugendherberge wieder das übliche Katz-und-Maus-Spiel stattfinden, Taschenlampenpatrouillen um drei Uhr früh: Ich tu mal so, als hätte ich das nicht gesehen. Mach die aus. Zurück auf euer Zimmer. Morgen steht einiges an, und am Ende der Klassenfahrt würde er, gebeugt und blass vor Erschöpfung, nach Hause zurückkehren. Obwohl er eigentlich lieber nicht dorthinwollte.

Er war Lehrer, aber kein Vater. Sie hatten es probiert, aber es hatte Komplikationen, Hindernisse gegeben, wobei er heute Mühe hatte, sich an die genauen Umstände zu erinnern. Beide Rollen waren nicht miteinander vergleichbar und wiesen nur oberflächlich Überschneidungen auf; Eltern konnten ihrem Kind vielleicht etwas beibringen, aber es war ein Fehler, wenn Lehrer versuchten, ihre Schüler zu erziehen. Trotzdem kam es ihm manchmal so vor, als würden das gesamte Chaos und alle Ängste des Heranwachsens in die fünf Tage einer Klassenfahrt gequetscht, nicht nur der Unsinn und der Aufruhr, sondern auch der ganze emotionale Kram. Die beliebten, selbstsicheren Schüler konnte man getrost ihren Umtrieben überlassen. Mr. Bradshaw richtete seine Aufmerksamkeit stattdessen lieber auf die unsicheren, unbeholfenen Kids, die hilflos am Ende eines Kletterseils hingen. Obwohl es ihm beim Anblick ihrer schweißüberströmten, nervösen Gesichter schwerfiel zu glauben, dass sie aus demselben Stoff gemacht waren wie die Sterne, hegte er eine gewisse professionelle Zuneigung für sie.

»Landschaft ist Leben«, erklärte er ihnen jetzt, »und wenn man einen Blick auf diese Landschaft wirft statt auf sein Handy, Sarah Sanders – ich hab’s dir schon mal gesagt, ich schmeiße es in den nächsten Zungenbeckensee –, dann könnt ihr nicht nur ihre Schönheit sehen, sondern ihr auch ihre Geheimnisse entlocken. Wieso gibt es hier Bauernhöfe? Warum hat die Erde diese Farbe? Wieso hängen Wolken über dem Berg, aber nicht über dem Tal? Wieso glitzert dieser Felsen so in der Sonne? Seht nur, wie schön er ist! Schaut hin!«

Ihm fiel auf, dass die Schultern der Jungen ganz hinten, die ihre Kapuzen fast bis zum Anschlag zugezogen hatten, zuckten, weil sie ein Lachen unterdrückten. Er war als Lehrer beliebt, beliebter, als er ahnte, wenngleich ihm die unbekümmerte Respektlosigkeit abging, die man brauchte, um vergöttert zu werden. Seine Begeisterung für sein Fach war aufrichtig, aber er wurde damit auch zur Zielscheibe von Spott, und je aufrichtiger sein Gefühl, desto lauter lachten sie. So wie damals, als ihn nach Mrs. Bradshaws Auszug ein paar Jungs in seinem Wagen hatten weinen sehen. Es gab nichts, worüber einige Schüler nicht lachten, wirklich nichts.

Alle Änderungen annehmen

Ihr Job war auch keine Lösung für das Einsamkeitsproblem. Als freiberufliche Lektorin und Korrektorin arbeitete Marnie allein im Homeoffice, und die einzige Kaffeeküche war ihre eigene. Die Bezahlung war mies, die Vorstellung, Urlaub zu machen, lachhaft, die Angst vor Krankheit nur zu begründet. Trotzdem machte die Arbeit ihr Spaß, Marnie war gut, schnell, akkurat – und begehrt. Die Verlage waren loyal, und die Autoren fragten sie an wie einen Promi-Friseur oder Star-Chirurgen. Marnie kannte alle Marotten und Vorlieben ihrer Stammkunden; die Autorin, bei der alles »schemenhaft« war, den Autor, der süchtig nach »ekstatisch«, »distinguiert« und Dreierreihungen von Adjektiven war, der Entweder-Oder-Konstruktionen oder dreimal »aber« im selben Satz benutzte. Waren das Fehler oder Stilmittel? Marnie kannte den Unterschied, und obwohl es nicht in ihrer Macht lag, aus einem schlechten Buch ein gutes zu machen, konnte sie die Schlaglöcher beseitigen, die die Reise für die Leser zu holperig machen würden. Die meisten Schriftsteller waren dankbar, und viele klickten ohne einen weiteren Blick auf »alle Änderungen annehmen«. Dieses Vertrauen schmeichelte Marnie und gab ihr das Gefühl, eine weise und unaufdringliche, aber zugleich unverzichtbare Ratgeberin zu sein, die den Autor sanft am Ellbogen berührt, um ihn darauf hinzuweisen, dass er Spinat zwischen den Zähnen hat.

Eine gewisse Pedanterie gehörte zum Job – auf gewisse Art war Pedanterie der Job –, doch sie bemühte sich, aufgeschlossen und kollegial zu sein. Die Jüngeren neigten dazu, die Anführungszeichen wegzulassen, und Marnie hatte schon mehrmals erlebt, wie Kleinschreibung in und wieder aus der Mode gekommen war. Das ging in Ordnung, Marnie hatte viel eher das Gefühl, dass heutzutage zu viele Semikola benutzt wurden, so dass einem die Lektüre wie ein Hürdenlauf vorkam. Und sie kannte sich mit den Unterschieden zwischen britischem und U.S.-amerikanischem Englisch aus. Einmal hatte sie sich per E-Mail einen hitzigen Schlagabtausch mit dem streitlustigen rechtskonservativen Verfasser eines Spionagethrillers geliefert, der darauf beharrte, Dinge zuoberst auf andere Dinge zu legen; Käse zuoberst auf den Burger, den Bösewicht beim Kampf zuoberst auf den Helden. Kein Brite hätte dieses Wort je verwendet, am allerwenigsten der Chef des MI5, dessen Waffe zuoberst auf dem Kaminsims lag. Doch da es einem Zahnarzt auch keine schlaflosen Nächte bereitete, ob seine Patienten Zahnseide benutzten oder nicht, sah Marnie nur selten nach, wer ihren Ratschlägen gefolgt war und wer nicht. Allerdings hatte sie den veröffentlichten Roman Monate später in einer Buchhandlung entdeckt, und da waren sie alle: »zuoberst« hier, »zuoberst« da. Was soll’s, dachte sie, er ist derjenige mit dem Spinat zwischen den Zähnen. Sie legte einen anderen Roman zuoberst auf seinen Thriller und ging weiter.

Dennoch hätte es ihr in der Seele weh getan, wenn ihr ein »sie« als ein »Sie« durchgeschlüpft wäre. Sie war renommiert und gefragt, und es war befriedigend, wenn Verlagslektoren zu ihr kamen und sie wie eine Auftragskillerin anflehten, noch einen letzten Job zu übernehmen. Und so hatte sie seit drei Jahren keinen Urlaub mehr gemacht. Bei ihrem letzten Solotrip nach Griechenland hatte sie in ihrem Hotelzimmer gesessen und gearbeitet und war bei ihrer Heimkehr blasser gewesen als vor der Reise.

Wie vielen Selbständigen fiel es ihr schwer, die Arbeit vom Privatleben zu trennen. Ihr Mann hatte einmal in einem Café »eine Latte Macchiato« bestellt. »Einen Latte Macchiato«, hatte sie gesagt, ehe sie sich zurückhalten konnte. Er schloss die Augen und atmete langsam aus. »Marnie«, sagte er, »wag es ja nicht, mich zu lektorieren.« Am Ende war sie froh gewesen, als er gegangen war.

Der Deal

»Ich glaube«, sagte Mrs. Fraser, seine alte Freundin Cleo, auf der langen Busfahrt zurück nach York, »du verbringst zu viel Zeit allein.«

Dank Lehrerprivileg saßen sie auf den vordersten Plätzen, und die Schüler waren entweder nach diversen Tankstellensnacks völlig überdreht oder holten Schlaf nach, weil sie die ganze Nacht Karten gespielt hatten; der Geruch nach nassen Turnschuhen und versagendem Deo, der in der stickigen Luft hing, machte das Atmen fast unmöglich. »Also, im Moment wäre ich liebend gern allein«, erwiderte Michael über das blecherne Piepsen von dreißig Mobiltelefonen hinweg. »Wünschst du dir nicht gerade auch verzweifelt, allein zu sein?«

»Das ist nicht dasselbe. Komm doch am Sonntag zu uns zum Essen.«

»Tut mir leid, da bin ich weg.«

»Das ganze Wochenende?«

»Ich geh wandern.«

Ihre Augen wurden schmal. »Mit anderen Leuten?«

Er zuckte die Achseln. »Ich bin gern allein.«

Außer bei der Arbeit war er immer allein. Natasha war vor neun Monaten zurück zu ihren Eltern in die Nähe von Durham gezogen; sie hatte die Gelegenheit zwischen zwei Lockdowns hastig genutzt, wie jemand, der sich unter einem fallenden Metallgitter hindurchrollt. Seit sie fort war, blieb Michael nur noch äußerst ungern längere Zeit zu Hause. Auch wenn er in einem ordentlichen, hübschen Reihenhaus mit drei Zimmern und einem Wintergarten wohnte und Natasha so viele Sachen zurückgelassen hatte, dass es noch gemütlich war, konnte er das Gefühl nicht abschütteln, dass irgendetwas fehlte, dass er von höflichen, rücksichtsvollen Einbrechern ausgeraubt worden war.

Und natürlich fehlte etwas. Obwohl er allein lebte, war Natashas Gegenwart immer noch spürbar. Wochenenden und Feiertage waren besonders schwierig, und so hatte er sich angewöhnt, im Morgengrauen zu weit entfernten Orten zu fahren und dort bis zur Erschöpfung zu wandern. Für Cleo und seine anderen Kollegen hatten seine Expeditionen etwas Masochistisches, fast Mittelalterliches, als würde er die ganze Zeit mit gesenktem Kopf durch Wind, Regen und Nebel stapfen. »Das ist doch komisch«, sagte Cleo. »Wohin gehst du überhaupt?«

»Im Kreis, wenn du es unbedingt wissen willst. Ich stelle den Wagen ab. Ich entferne mich von ihm. Und wenn ich weit genug weg bin, gehe ich wieder zurück.« Cleo sang »Good Times« von Chic, und Michael lachte. »Mir gefällt’s. Das macht den Kopf frei.«

»Einen freien Kopf. Den könnte ich auch gebrauchen«, sagte Cleo. »Kann ich dich nicht mal begleiten?«

»Mal schauen«, sagte er vorsichtig.

»Wir könnten auch Sam und Anthony mitnehmen.« Anthony war Cleos und Sams dreizehnjähriger Sohn, Michael hatte ihn aufwachsen sehen. »Wir könnten einen richtigen Miniurlaub daraus machen!«

»Vielleicht«, sagte er, in der Hoffnung, dass sie es dabei bewenden ließ. Mit anderen Leuten zusammen wäre es nicht dasselbe. Ihm ging es hauptsächlich ums Alleinsein, und nirgendwo, wo er hinging, war es ihm menschenleer genug. Cleo würde es sicher vergessen. Tatsächlich hatte sie sich schon von ihm abgewandt und rief einmal quer durch den Bus: »Stellt euch bitte nicht auf die hinteren Sitze. Lasst die Lkw-Fahrer in Ruhe!«

Und das war es dann wohl hoffentlich. Irgendwie hatte er die grausamen Winterferien überstanden. Er hatte sich von seinen Eltern überreden lassen, sie zu besuchen, und sie hatten sich alle Mühe gegeben, ihn mit einer exakten Nachstellung von Weihnachten 1997 aufzuheitern: das gleiche trockene Essen in denselben überheizten Zimmern, dieselbe Deko, dieselben Fernsehfilme und eine Flasche Eierlikör, die vermutlich auch buchstäblich dieselbe war. Die unausgesprochene Übereinkunft in Bezug auf seine abwesende Frau bestand darin, kein Wort über sie zu verlieren; als würden sie Weihnachten in einem Paralleluniversum feiern, in dem er nie verheiratet gewesen war. Das lag nicht daran, dass sie Natasha nicht leiden konnten; seine Eltern hatten sie geliebt, hatten gesehen, wie gut sie ihrem Sohn tat, aber sie fanden einfach nicht die richtigen Worte. Ist wahrscheinlich besser so, dachte Michael, als er in seinem Jugendbett lag. Da dies ein alles andere als frohes Fest war, war er auch wie ein Jugendlicher bei der ersten Gelegenheit geflüchtet und im Regen wandern gegangen. »Soll ich mitkommen?«, hatte sein Dad gefragt. »Ich habe noch die Wanderstiefel.« Doch Michael wollte lieber allein losziehen.

Am ersten Schultag im neuen Jahr besuchte er Cleo in ihrem Büro. Obwohl sie nach ihm an die Schule gekommen war, war sie die Ehrgeizigere gewesen, und so saß sie ihm jetzt hinter dem Schreibtisch der stellvertretenden Direktorin gegenüber.

»Wie war Weihnachten? Hast du’s ordentlich krachen lassen?«

»Mitternachtsmesse, Sherry, die Ansprache der Queen …«

»Ah, du hast dir die Kante gegeben. Kein Wunder, dass du total fertig aussiehst.«

»Vielen Dank auch. Gleichfalls.«

»Leider darfst du nicht so mit mir reden«, sagte sie und klopfte auf den Schreibtisch zwischen ihnen. »Vorgesetzte und so. Wir hatten gehofft, dich an Silvester bei uns zu sehen.«

»Ich wollte kommen, aber das Fernsehprogramm ist immer so spannend …«

»Michael …«

»Sorry, es ist einfach kein wichtiger Feiertag für mich.«

»Was sind denn die großen Feiertage in deinem Leben, Michael?«

Er kannte diesen Ton nur zu gut. Sie benutzte ihn, wenn sie einem begabten Schüler ins Gewissen redete, der hinter den Erwartungen zurückblieb. Aber er war zweiundvierzig, und Cleo war seine Freundin. Sie waren schon zusammen in den Urlaub gefahren, erst zu viert, später, als Anthony geboren wurde, zu fünft, und so rührend es war, dass sich jemand um ihn sorgte, es war auch demütigend. Er ließ den Blick zum Fenster schweifen; von den Sportplätzen her schallte Geschrei zu ihnen herauf. »Mir geht’s bestens. Ich hatte eine schöne, erholsame Zeit, sehr ruhig, sehr friedlich.« Am zweiten Weihnachtstag hatte er eine Panikattacke gehabt und sich im Schuppen seines Vaters verkrochen, bis sie abgeklungen war.

»Hast du mit Natasha telefoniert?«

»Ja, kurz, am ersten Weihnachtstag. Wir haben nett geplaudert.«

»Sie meinte, es wäre gewesen, als würde man sich durch eine dieser Trennscheiben mit einem Knastinsassen unterhalten.«

»Na ja, ist halt meine Art zu plaudern.«

»Okay. Ich wollte mich nur vergewissern, dass bei dir alles in Ordnung ist.«

Nichts war in Ordnung, aber das ging niemanden etwas an. »Alles bestens. Ich bin einfach noch nicht bereit für Gesellschaft. Ist das erlaubt?«

Cleo seufzte. »Komm am Samstag zum Abendessen.«

»Geht nicht, sorry …«

»Freitag …«

»Freitag kann ich nicht. Am nächsten Tag muss ich früh raus.«

»Zum einsamen Wandern?«

»Ich geh ein paar Tage wandern, ja.«

»Okay, dann kommen wir mit!«

Er lachte. »Nein.«

»Ich ziehe auch andere Schuhe an. Und deine schrecklichen Sandwiches essen wir dir schon nicht weg …«

»Ich bin gern allein.«

»Gut, wir folgen dir mit etwas Abstand. Unterhalten uns laut, damit du es auch mitkriegst. Laden noch ein paar Leute ein.«

»Ich bin einfach noch nicht so weit.«

»Doch, ich glaube schon.«

»Du kannst jemanden … nicht einfach überstimmen, was seine Gefühle angeht.«

»Das nennt man ›sich um Freunde kümmern‹.«

Er schaute erneut zum Fenster. »Und ich bin dir auch dankbar, aber diesmal nicht.«

Sie sah ihre Chance gekommen und beugte sich vor. »Ah, aber ein anderes Mal!«

»Vielleicht.«

»Ostern, zweite Ferienwoche, eine nette, lange Wanderung.«

»Vielleicht.«

»Okay. Deal.«

»Ist es auch dann ein Deal, wenn ich gar nicht will?«

»Ja. Wir ziehen alle in einer großen, lustigen Truppe los.«

»Du bist nur stellvertretende Schulleiterin.«

»Das mit der Beförderung ist nur eine Frage der Zeit. Also abgemacht.«

Das war die Krux des Ganzen. Für Cleo lag die Lösung eines Problems im Zusammensein mit anderen Menschen, Michael dagegen suchte sie in deren Abwesenheit, und obwohl die Unterstützung einer Freundin etwas Wertvolles, Berührendes war, konnte sie auch eine Zumutung sein. »Na schön«, sagte er seufzend, »wenn die Tage wieder länger werden.« Die Neigung der Erde und ihre Umlaufbahn um die Sonne machten das zwar unausweichlich, aber zumindest würde es ihm Zeit verschaffen, sich eine gute Ausrede zu überlegen.

Die Diashow

Marnie war süchtig nach dem Hochgefühl, das mit abgesagten Plänen einherging. Es war zwar kurz und flüchtig und niemand erinnerte sich später nostalgisch daran zurück, sich vor einer Verabredung gedrückt zu haben. Aber im Moment gab es für sie keine schöneren Worte als: »Tut mir leid, ich schaff’s leider nicht.« Es war, als würde eine Prüfung ausfallen, bei der sie vermutlich durchrasseln würde.

Im Idealfall sagte die andere Person zuerst ab, aber Marnie war durchaus bereit, die Initiative zu ergreifen. Es half ihr, wenn sie wie eine Schauspielerin in einer emotionalen Szene aus persönlicher Erfahrung schöpfen oder auf eine zumindest halbe Wahrheit zurückgreifen konnte, und so war ihr erster Gedanke, als sie an Silvester – dem schrecklichsten Tag des Jahres – mit einem Kratzen im Hals aufwachte: »Das ist doch eine gute Grundlage.« Ihre Freundin Cleo, stellvertretende Schulleiterin einer Mittelschule in York, hatte sie zu einer Party eingeladen, aber es wäre unvernünftig hinzugehen – sie war nicht in Stimmung, die Fahrt war zu weit, natürlich war es klüger, zu Hause zu bleiben, um sich gesund zu schlafen! Sie legte sich aufs Sofa, damit sie bettlägerig klingen würde, rief ihre Freundin an und versuchte, ihrer Stimme das Krächzen eines von Dämonen besessenen Kindes zu verleihen.

»Ich wusste es«, sagte Cleo. »Ich wusste einfach, dass das passieren würde.«

»Du wusstest, dass ich krank werden würde?«

»Jeder kann seine Stimme verstellen, Marnie.«

»Ich hab Temperatur!«

»Ja, Normaltemperatur.«

»Mich fröstelt die ganze Zeit … Wieso willst du unbedingt, dass ich komme, wenn ich eh nicht unterhaltsam bin?«

»Wir laden dich nicht ein, weil du unterhaltsam bist.«

»Oh.«

»Wir laden dich ein, weil wir dich lieben und weil es wichtig ist, unter Leute zu gehen. Du bist zu viel allein.«

»Es ist nicht meine Schuld, dass …«

»Hockst in deiner Bude wie … Eleanor Rigby, verdammt nochmal.«

»Cleo!«

»Sorry, aber ich hatte mich echt darauf gefreut, dich wiederzusehen. Anthony auch.« Anthony war Marnies Patenkind – noch jemand, den sie vernachlässigte.

»Ich möchte ihn ja gerne wiedersehen, und dich natürlich auch. Ich will dann einfach nur in Bestform sein.«

»Du brauchst nicht in Bestform zu sein. Das interessiert doch keinen. Wir mögen dich genau so, wie du bist.«

»Das ist nett.«

»Ja, nicht? So nett, dass es schon nicht mehr gesund ist.«

»Ich bin nicht gesund«, sagte Marnie. »Und deshalb kann ich nicht kommen.«

»Na dann. Frohes Neues, schätze ich.« Cleo legte auf, und plötzlich schien es in der Wohnung sehr still zu sein. Marnie mochte Cleo sehr, sie war eine gute, verlässliche Freundin, loyal, wenn auch etwas streng. Doch obwohl es unangenehm war, so den Kopf gewaschen zu bekommen, wusste sie, dass ihre Zerknirschung sich bald in tiefe Erleichterung verwandeln würde. Sie ließ sich ein Bad ein, öffnete eine Flasche Wein und überlegte sich mehrere lustige Beiträge für die Sozialen Medien über ihre wilde Nacht zu Hause. Allerdings hatte sie die Erfahrung gemacht, dass ihre Versuche, im Internet witzige Sachen zu posten, dazu führten, dass sie Nachfragen von Freunden bekam, ob alles in Ordnung sei. Also stalkte sie stattdessen ihre Kontakte, las ihren Feed und hatte das Gefühl, von draußen durch ein Fenster eine Party zu beobachten.

Marnie fühlte sich ihrer vorgetäuschten Krankheit so verpflichtet, dass diese bald zu einer echten wurde, einschließlich Halsschmerzen, süßlich-metallischem Geschmack im Mund und Ganzkörper-Gliederschmerzen. Ihr Vergnügen an abgesagten Plänen hing davon ab, dass sie glaubte, mehr Spaß zu haben als die Idioten, die sich die Mühe gemacht hatten auszugehen, was nicht mehr der Fall war. Also prostete sie sich selbst mit einem Glas Wasser zu, schluckte zwei Paracetamol und eine Schlaftablette und zwängte sich gegen Viertel nach zehn unter die Gewichtsdecke, die ihr Bett zu einer gigantischen Blumenpresse machte.

Gegen Mitternacht rissen Feuerwerke in ganz London sie aus dem Schlaf, und Marnie verbrachte die ersten Stunden des neuen Jahres damit, sich in einem fiebrigen Dämmerzustand auszumalen, was hätte sein können, wenn sie diesmal Ja statt wieder einmal Nein gesagt hätte. In einer Parallelwelt sah sie sich in einer Ecke von Cleos Küche ein angeregtes, witziges Gespräch mit einem nett aussehenden Mann führen, der Lachfältchen um die dunklen Augen und nicht ganz perfekte Zähne hatte, wodurch er umso attraktiver wirkte. Wollen wir rausgehen?, würde er fragen. Hier ist es zu hell. Vielleicht würden sie irgendwo eine Zigarette schnorren und sie sich auf kitschige Art teilen. Wann geht dein Zug morgen?, würde er fragen. Ich hab’s nicht eilig, würde sie antworten (obwohl ihre Fahrkarte nicht umbuchbar war und sie sogar in ihrer Phantasie ein schlechtes Gewissen wegen des Geldes hatte). Und, würde sie ihn fragen, wie wird man Baumchirurg?, und an der Stelle würde er sich vorbeugen, um sie zu küssen.

Das Problem an Parallelwelten war, dass sie voll von solchem peinlichen Unsinn waren. In der Realität, für die sie sich entschieden hatte, zeigte der Wecker Viertel nach zwei an, und Marnie wälzte ihren fiebrigen Körper auf die kühle Seite des Bettes. In einer Doku über Rettungssanitäter hatte sie mal eine Szene über einen alten Mann gesehen, der unter einer Heizdecke gestorben war und mehrere Tage vor sich hin geschmort hatte. Wie würde sich eine Gewichtsdecke über einen längeren Zeitraum auswirken? Würde sie Marnie flach pressen wie einen Archäopteryx? Würde ein Feuerwehrmann sie aufrollen und wie eine Yogamatte unter den Arm geklemmt aus dem Haus tragen?

Als sie am Neujahrstag mit Schüttelfrost auf dem Sofa lag und den Fernseher einschaltete, entdeckte sie, dass ihr Streaming-Gerät aus ihren Handyfotos eine höhnisch anmutende Diashow mit dem Titel »Was für ein Jahr!« erstellt hatte: die Glühbirne in ihrem Backofen, ein Rezept für herzhaften Linseneintopf, eine Nahaufnahme von einem eingewachsenen Haar, ihre Sozialversicherungsnummer, die abgelöste Sohle eines kaputten Schuhs, das Muttermal auf ihrer Schulter, der Gaszählerstand, eine Reinigungsquittung, eine grüne Glasscherbe, die sie in ihrem Salat gefunden hatte, dann wieder die Ofenglühbirne, alles unterlegt von Carole Kings »You’ve Got a Friend«.

In dem Moment fasste sie einen Vorsatz. In diesem Jahr würden die Fotos anders aussehen. Schluss mit den herbeigewünschten Krankheiten, dem gemütlichen Einigeln, den allen Sauerstoff im Raum aufzehrenden Kerzen, der unablässigen Selbstfürsorge. Stattdessen würde sie sich um andere kümmern, ihre Freundschaften wiederbeleben, neue schließen und sich auf das Chaos und die Verwirrung einlassen, die zwischenmenschliche Beziehungen mit sich brachten.

Gute Vorsätze hielten oft nicht lange vor, aber dieser ließ sie nicht los, und als Cleo sich mit einer neuen Einladung meldete, zögerte Marnie, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Veränderung und dem Bedürfnis, alles so zu belassen, wie es war. Drei Tage Wandern mit fremden Menschen. Das war genau die Art von potenziell schrecklicher Erfahrung, die sie brauchte. In Gedanken beschloss sie, es ernsthaft in Erwägung zu ziehen, aber da war ihr in der echten Welt schon ein »Ja« herausgerutscht.

Napoleon

Beim Betrachten der Landkarte geschah etwas Schreckliches mit Michael. Cleo hatte ihm die Aufgabe gegeben, eine Route zu planen, die herausfordernd, aber nicht zu strapaziös sein sollte. Sie wiederum würde sich um die Unterkünfte kümmern (wobei ein striktes Zeltverbot galt) und eine nette Gruppe von Leuten einladen, allesamt sehr umgänglich. Lange, sonnige Tage in den Bergen und abendliche Pub-Besuche. Zusammengefasst, ein angenehmer, unkomplizierter Kurzurlaub.

Tja, das würde sich zeigen. Als Michael sich nun, die Fäuste aufgestützt, über die Landkarte beugte, verwandelte er sich in einen General, der nichts als Verachtung für diese Amateure übrighatte, denen noch die Preisschilder an den Wanderstiefeln klebten. Wie ein Eroberer betrachtete er die Berge und Täler, doch alles kam ihm lächerlich, viel zu kümmerlich und mickrig vor, die Sümpfe und Moore zu Pfützen zusammengeschrumpft, die Meilen zu Zentimetern.

Drei Tage reichten nicht; was, wenn er die anderen hinter sich ließ und einfach weiterwanderte? Wie weit würde er kommen, bis er zurück nach Hause musste? Wenn sie an der Westküste starteten, würde er es wohl bis zur Ostküste schaffen, an der schmalsten Stelle, die aussah, als hätte Schottland sich einen Gürtel bis unter die Achseln hochgezogen, vorbei an Seen, durch das Mittelgebirge der Pennines, durch Täler und Heidelandschaften bis hinunter zur Küste von Yorkshire, wo er die Zehen in die Nordsee tauchen würde. Das war die berühmte, 190 Meilen lange Route von Küste zu Küste, die Alfred Wainwright in seinem Buch beschrieben hatte und für die man normalerweise zwölf, dreizehn Tage brauchte. Er war sich sicher, sie in zehn zu schaffen, wenn er keine längeren Ruhepausen einlegte.

Jetzt, da die Idee Gestalt angenommen hatte, war sie nicht mehr abzuschütteln, entwickelte sich zu der Art Obsession, die Männer in der Lebensmitte so häufig überfällt, wie Marathonlaufen oder Schreinern. Sie als solche zu erkennen machte sie nicht weniger unwiderstehlich, und sicherlich würde er nach der Wanderung … was empfinden? Zur Pilgerreise fehlte dem Ganzen ein spirituelles Ziel, doch er erhoffte sich zumindest ein Gefühl von Wohlbefinden, einen Abschluss, ein Erfolgserlebnis. Durch tiefes Eintauchen in die Natur würde er doch bestimmt Ruhe finden, zwar kein Glück, aber zumindest inneren Frieden. Unterwegs würden ihm viel Schönheit, einige Widrigkeiten und natürlich andere Menschen begegnen, aber Letztere würden ihn nach ein paar Tagen verlassen, so dass er schweigen und über die vergangenen Jahre nachdenken konnte. Er würde auf jeden Fall gut schlafen, die Berge und die Heidelandschaft würden wie ein natürliches Beruhigungsmittel wirken, und selbst wenn es die ganze Zeit regnete, wäre das immer noch besser, als zehn Tage in diesem Geisterhaus auszuharren. Zu Hause war er nur einsam. Draußen verwandelte sich seine Einsamkeit in Alleinsein, was weit würdevoller, weil selbst gewählt war. Er stellte sich vor, wie er Robin Hood’s Bay erreichen würde, wettergegerbt, schmutzig und doch – auf eine Art, die er nicht genau definieren konnte – gereinigt, geläutert, wie verwandelt.

Außerdem verriet ihm ein Blick auf die Landkarte, dass ihn die Route an Natashas neuem Wohnort vorbeiführen würde, doch sich das auszumalen war schwieriger.

Wetterfest

Sie ging shoppen, um sich die nötige »Ausrüstung« zu besorgen, wie sie es nannte. Ihre Londoner Garderobe, die Sachen, die sie unter Leuten trug – blickdichte Strumpfhosen, ein langer schwarzer Mantel, Midi-Kleider und Strickwaren in Grau, Schwarz und Dunkelblau –, hatten Ähnlichkeit mit einer Schuluniform für Erwachsene und wären in der Natur fehl am Platz. Stattdessen würde sie Nylon, Fleece und Funktionskleidung kaufen müssen, oder was auch immer sie brauchte, um es bequem, warm und trocken zu haben, kurz gesagt, um sich draußen so zu fühlen, als wäre sie noch drinnen.

Die Kleidung in dem Geschäft war überwiegend leuchtend rot, gelb, violett oder orange. Marnie bevorzugte Tarnfarben und erstand eine grüne Regenjacke, die nur aus Taschen und Reißverschlüssen zu bestehen schien, und eine wasserdichte Hose, die man auf die Größe eines Apfels zusammenrollen konnte. Dazu Socken mit einer unvorstellbar komplexen Struktur, die auf NASA-Technologie beruhte, und eine rote Wollmütze, denn verlor man nicht fünfundneunzig Prozent der Körperwärme über den Kopf? Außerdem kaufte sie Thermounterwäsche für den Fall, dass es schneite, Sonnencreme für den Fall, dass die Sonne schien, Landkarten, einen wasserfesten Beutel für besagte Landkarten, einen Rucksack mit einer Tasche für besagten Landkartenbeutel sowie Stauraum für ungefähr vierzig Liter Kleidung, obwohl es ihr schwerfiel, sich vierzig Liter Kleidung vorzustellen. Da es unabdingbar war, viel zu trinken, besorgte sie sich auch noch eine Gummiblase mit Trinkröhre, die beunruhigende Ähnlichkeit mit etwas hatte, was über einem Krankenbett hing.

Marnie würde zudem einen Kompass brauchen, denn was, wenn sie sich im Nebel verlief oder von der Gruppe getrennt wurde? Als Kind hatte sie geglaubt, ein Kompass zeige immer dorthin, wo man hinwollte, aber im echten Leben war es etwas komplizierter. Das Gerät bestand aus einer Hightechplastikscheibe mit mysteriösen Skalen und Zeichen, es schien undenkbar, dass es ihr den richtigen Weg anzeigen würde, aber wie peinlich wäre es, ohne Kompass gerettet zu werden? Bei einer Wanderung einen Kompass dabei zu haben war, als würde man sagen: »Hör zu, ich geb mir Mühe, okay? Ich tu mein Bestes.«

Sie kaufte auch ein Paar Wanderstiefel. Idealerweise hätten in einem Geschäft wie diesem wettergegerbte, muskulöse Ranger in Karohemden gearbeitet, aber der junge Schuhverkäufer, der sie bediente, war ein blasser Fanatiker, der darauf beharrte, alles stehe und falle mit den richtigen Wanderstiefeln, die falschen könnten einen in die Knie zwingen, man solle nie an den Schuhen sparen, so dass der Kauf eine ebenso folgenschwere Entscheidung zu sein schien wie die Anschaffung eines Pferdes. Waren sie zu klein, kriegte man Blasen, waren sie zu groß, konnte man sich ebenfalls Blasen und außerdem eingewachsene Zehennägel, Hühneraugen und fiese Narben zuziehen; nach dieser eindringlichen Warnung führte er sie zu einer kleinen Brücke mit Pseudokopfsteinpflaster, die die Erfahrung einer Wanderung in der Natur simulieren sollte –, eine absolut lächerliche Konstruktion.

»Ernsthaft jetzt, da soll ich drübergehen?«

»Wenn möglich.«

»Gibt’s darunter auch einen Brückentroll? Sie wissen schon, wie im Märchen?« Der Verkäufer warf ihr einen so strengen Blick zu, dass ihr keine andere Wahl blieb, als mehrere Paar Stiefel anzuprobieren und, die Stirn so konzentriert gerunzelt, als kommunizierte sie telepathisch mit ihren Füßen, über die Brücke zu stapfen, bis sie sich am liebsten von dem mickrigen Ding gestürzt hätte. Sie entschied sich für ein sündhaft teures Paar aus glänzendem braunem Leder, ein Pflegemittel zum Einsprühen und Wachs zum Einreiben. »Ziehen Sie sie sofort an, um sie einzulaufen«, befahl ihr der Verkäufer, und so verstaute sie ihre Ballerinas im Rucksack und ging zu Fuß zurück zur Charing Cross Road. Beim Gedanken an das hingeblätterte Geld wurde ihr flau im Magen, und sie hatte Mühe, die Ausgaben vor ihrem inneren Kritiker zu rechtfertigen.

Wieder zu Hause, probierte sie die ganze Montur an und begutachtete sich im Spiegel; die Preisschilder hingen an ihr wie Weihnachtsbaumschmuck, und das Zimmer erschien ihr nun, da sie selbst so viel voluminöser geworden war, plötzlich umso kleiner. Die grüne Regenjacke und die rote Mütze verliehen ihr Ähnlichkeit mit einer gefüllten Olive, und das Rascheln von Nylon auf Gore-Tex trieb sie jetzt schon in den Wahnsinn. Und bildete sie es sich nur ein, oder drückten die Wanderstiefel? Wenn sie die Daumen unter die Schulterriemen klemmte und sich im Profil begutachtete, sah sie mit dem tief sitzenden Rucksack aus wie ein Tyrannosaurus. Von vorne betrachtet war es ihr peinlich, wie die Riemen ihr die Brüste hochdrückten wie eine einzige solide Einheit, die Nase eines U-Boots. Sollte sie etwas Elegantes für den Abend einpacken und ein, zwei ihrer vierzig Liter für ein hübsches Kleid reservieren? Würden sie feiern gehen? Sollte sie sich die Beine enthaaren? Marnie spürte, wie ihr der Schweiß den Rücken hinunterlief.

Vier Singles, ein Ehepaar, ein Teenager. Das klang nach den Verdächtigen in einem Mordfall, auch wenn es dazu hoffentlich nicht kommen würde.

Teil zwei

Die Seen

Ich will in den Wolken herumkraxeln und leben. Ich will einen solchen Vorrat an unglaublichen Erinnerungen zusammentragen, daß ich auf meinen Spaziergängen durch die Londoner Vororte gar keinen Blick mehr für das, was um mich her ist, habe.

Keats in einem Brief an Benjamin Robert Haydon, April 1818[1]

Tag eins

St. Bees nach Ennerdale Water

Die Wigan-Orgie

Es war schade, dass sie nicht in einem romantischeren Bahnhof einsteigen konnte – in der anmutig gewundenen Waterloo Station oder dem riesigen Glasgewölbe von King’s Cross oder Paddington oder in der Marylebone Station, die wie einem Schwarz-Weiß-Film entsprungen schien. Aber Reisen in Richtung Nordwesten begannen in der Euston Station mit ihrem düsteren, kastenförmigen Gebäude, das anscheinend perfekt getarnt ist – selbst gebürtige Londoner können es nicht beschreiben –, und dasselbe gilt auch für die Züge, die dort verstohlen wie aus einem Hinterzimmer abfahren. Selbst an diesem sonnigen, frischen Aprilmorgen wirkte der Bahnhof trist und dystopisch, und Marnie kam sich in ihrer Verkleidung absurd vor: Der Sport-BH fühlte sich an wie ein Druckverband, die Thermohose war viel zu früh zum Einsatz gekommen, und die vierzig Liter Kleidung in ihrem Rucksack waren so schwer, dass sie in der Warteschlange im Café fürchtete, ohnmächtig zu werden, auf den Rücken zu fallen und hilflos mit Armen und Beinen zu rudern wie ein Käfer.

Im Zug, dem ersten des Tages, fühlte sie sich gleich besser, als sie ihren Fensterplatz mit Tisch in Fahrtrichtung in Beschlag nahm – perfekt. Wie eine Führungskraft holte sie ihren Laptop, einen Stift sowie ein Notizbuch aus dem Rucksack und lud ihre elektronischen Geräte auf, was eigentlich unnötig war, aber das war wichtig, wenn man in der Wildnis überleben wollte: wann immer möglich seine Akkus aufzuladen und aufs Klo zu gehen. Sie legte ihre Uralt-Ausgabe von Sturmhöhe daneben, die sie mitgenommen hatte, um sich auf die Wanderung einzustimmen, während der Zug langsam nach draußen ins Tageslicht rollte, vorbei an den Reihenhäusern von Mornington Crescent, einem Ort, der wegen seiner schäbigen Atmosphäre Assoziationen an alte Sozialdramen weckte, traurige Liebesgeschichten, die sie erstrebenswert gefunden hatte, als sie in die Stadt gezogen war. Beim Anblick der geschlossenen Fensterläden und schmutzigen Vorhänge stellte sie sich Frischverliebte vor, die in gemieteten Zimmern noch schliefen. Doch als über den Reihenhäusern ein Streifen leuchtendes Blau sichtbar wurde, taten ihr alle leid, die noch im Bett lagen.

Die Stadt wich den Vororten. Sie sah Gasometer, Pferde in einem Stall, Leute, die Hunde in einer raureifüberzogenen Grünanlage spazieren führten, und Sattelschlepper auf Umgehungsstraßen; alle gingen ihren Beschäftigungen nach wie in einem Wimmelbuch. Sie war nur noch den Ausblick aus ihrem Küchenfenster gewohnt, einen kleinen Ausschnitt Londoner Lebens. Und jetzt lag England vor ihr wie ein auf Lebensgröße angewachsenes Modelldorf. Sieh nur, Kanalschiffe! Eine Recyclinganlage! Ein Windpark! Infrastruktur, nannte man das so? Die Vororte verschwanden, und Senken und Talkessel tauchten auf, über denen dramatische Nebelschwaden hingen. Frei laufende Kühe! Sie nahm alles begierig in sich auf, und ihr fiel wieder ein, dass Zugfahrten das Leben in eine Filmmontage verwandeln konnten, eine Szenenfolge, die Veränderung suggerierte. Wieso hatte sie so etwas noch nie gemacht? Wovor hatte sie sich gefürchtet? Ob sie etwas vom Snackwagen wolle? Am liebsten alles.

Sie würde drei Übernachtungen und damit die erste Etappe der Wanderung von Küste zu Küste mitmachen, die anscheinend eine große Sache war. Es war zwar keine besonders beeindruckende Leistung, nur eine der beiden Küsten zu sehen, aber selbst wenn alles schrecklich war, wenn sie sich nicht gut verstanden oder einander nichts zu sagen hatten, würde Marnie drei Nächte bestimmt überstehen. Sie würde die Irische See und ein paar der berühmten Seen zu Gesicht bekommen, bevor sie am Dienstag von Penrith aus zurückfuhr; und an den Nachmittagen konnte sie sich ein ruhiges Plätzchen suchen, um zu arbeiten, denn dieses Abenteuer wollte schließlich finanziert werden.

Sie öffnete die Datei für ihren jüngsten Auftrag. Lasterhafte Nächte war die Fortsetzung des extrem erfolgreichen Erotikthrillers Finstere Nächte, der in der glamourösen, schockierenden Welt privater Sexclubs in Hollywood spielte. »Sehr erotisch«, hatte der Verlagslektor gesagt, »aber möglicherweise etwas zu schnell runtergeschrieben.« Selbst der Titel schien eine Anmerkung zu erfordern, denn Nächte mochten finster, heiß oder endlos sein, aber lasterhaft? Ging das?

Sie fand es bald heraus. Schon für die erste Orgie brauchte sie, bis der Zug die Cotswolds und die West Midlands hinter sich gelassen hatte. Die Handlung war so wirr, dass sie auf ihrer Serviette eine Skizze anfertigte, um nachzuvollziehen, wer sich wo befand, ein komplexes Netz aus Pfeilen und Initialen, wie ein Schaubild der Schlacht von Austerlitz. Lag S jetzt auf oder hinter B, und wo war L und was hielt sie in der Hand? Ein Vibrator wanderte auf wundersame Weise unversehens von der rechten in die linke Hand, und die Autorin benutzte »PVC« und »Latex« wie Synonyme. Marnie war sich ziemlich sicher, dass das nicht dasselbe war, doch als sie die Begriffe mit Hilfe des Zug-eigenen WLANs überprüfen wollte, erhielt sie die Information, die Suchanfrage PVC und Latex sei nicht gestattet.

Sie löschte ihren Suchverlauf; das konnte sie später recherchieren. Unterdessen gab es noch genug andere Baustellen, nicht zuletzt die chaotische Interpunktion – Kommata wie verstreute Rosenblätter, willkürlich gesetzte Ausrufezeichen, die alles in einen Aufschrei verwandelten, Sätze, die ganze Absätze lang waren und dem Text eine halluzinatorische, hypermoderne Intensität verliehen. Marnie war zwar noch nie bei einer Orgie dabei gewesen, aber sie hatte schon einige lektoriert, und auch wenn das natürlich nicht dasselbe war, konnte sie nicht leugnen, dass die Autorin ein Talent dafür hatte, ein Gefühl von Desorientierung und sexueller Konfusion zu erzeugen, so dass man nie genau wusste, wer was mit wem und womit trieb. Anscheinend war die Teilnahme an einer Orgie ein bisschen damit vergleichbar, sich gleichzeitig den Kopf tätscheln und den Bauch reiben zu wollen, nur dass der Kopf und der Bauch zu verschiedenen Personen gehörten und dass es eben nicht der Kopf und der Bauch waren. Fuhr die heiße Zunge von S über Ls salzige Haut, umschloss Ls sinnlicher Mund Bs spitzen Nippel, und war »spitz« in diesem Kontext wirklich das passende Adjektiv?

Als private Leserin würde sie all das möglicherweise antörnen, obwohl es etwas anrüchig und oberflächlich war, doch als Lektorin musste sie eine gewisse professionelle Distanz wahren, und so arbeitete sie sich systematisch durch den Text und stellte sich dabei Fragen wie: Schmeckten die Geschlechtsorgane eines Menschen tatsächlich nach Meer, und wenn ja, war das etwas Gutes? Das hing vermutlich stark vom Meer ab. Der Ärmelkanal wäre wohl keine Gaumenfreude.

Marnie nippte an ihrem Tee. Sie war jetzt seit – o Gott, im Rechnen war sie eine Niete – sechs Jahren mit niemandem mehr im Bett gewesen. Sie wusste, dass das nicht ungewöhnlich war und dass es absolut in Ordnung ging, keinen Sex zu haben, aber als sie die Zahl einmal in Gegenwart von Cleo erwähnt hatte, war der ein »Ach, du Schande« herausgerutscht. Ihre Freundin war mit ihrem Schlafzimmerblick und den zerzausten Haaren immer von einer Aura sexuellen Selbstvertrauens umgeben gewesen; sie prahlte zwar nie direkt, deutete jedoch an, dass sie »in dem Bereich« mehr als zufrieden war. Marnie hatte versucht, es ihr nicht übel zu nehmen, aber das »Ach, du Schande« hatte sie getroffen. Sex sei wie Autobahn fahren, hatte Cleo ihr erklärt. Man könne es nicht ewig aufschieben, sonst werde es zu beängstigend. Marnie hatte ihr auch das leicht übel genommen, denn sie war immer gerne Autobahn gefahren, sie hatte sogar Komplimente für ihren Fahrstil bekommen und würde es jederzeit wieder tun. Etwas, woran nicht mal ihre Ehe etwas geändert hatte.

Aber auf diesem Kurztrip war das vermutlich unwahrscheinlich. Es mochte an der frischen Luft, der abwischbaren Hose oder den in Frischhaltefolie eingewickelten Käsebrötchen liegen, das englische Landleben schien alles andere als aphrodisierend. Der Geruch nasser Wolle, einer nicht ausgewaschenen Thermosflasche, der schale Geschmack von Bonbons … Nein, Sex gehörte in die Städte. Nach Los Angeles zum Beispiel, dort trieben sie es jetzt schon seit dreihundert Meilen, so dass Marnie sich danach sehnte, dass irgendjemand endlich kam, damit sie wieder aus dem Fenster schauen konnte. Doch es ging weiter, Seite für Seite, bis sie Warrington, Wigan und Preston hinter sich gelassen hatten. Marnie bekam Kopfschmerzen. Konnte nicht bitte jemand endlich einen Orgasmus vortäuschen? In Lancaster begannen die Worte ihre Bedeutung zu verlieren. In Oxenholme schrieb sie den Kommentar »zu häufige Wiederholung von ›Schwanz‹«, speicherte die Datei ab und hob den Blick.

Es schien, als hätten sie die Grenze zu einem anderen Land überquert, alles war violett und salbeigrün, und zu ihrer Linken erblickte sie so etwas wie Anhöhen – auch wenn das wahrscheinlich nicht das richtige Wort war –, die sich, kleiner als Berge, größer als Hügel, jäh wie von Kindern gezeichnete Vulkane aus der Landschaft erhoben. Irgendwo dahinter musste sich die Irische See befinden, was bedeutete, dass sie diese Landschaft ebenfalls durchqueren musste, um den Zug nach Hause zu nehmen. Sie griff nach ihren Büchern A Pictorial Guide to the Western Fells und The Central Fells