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Originalausgabe September 2009 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Copyright © 2009 by Frank Rehfeld
Umschlagfoto: © Raphael Lacoste
Redaktion: Simone Heller HK ∙ Herstellung: RF
ISBN 978-3-641-02839-8V002
www.blanvalet.de
Inhaltsverzeichnis
PROLOG
Kapitel 1 – SCHATTEN IN DER NACHT
Kapitel 2 – FINSTERWALD
Kapitel 3 – CLAIRBORN
Kapitel 4 – EIN ALTER TRAUM
Kapitel 5 – ELEM-TENIT
Kapitel 6 – DER KALATHUN
Kapitel 7 – DER ÜBERFALL
Kapitel 8 – SHAALI
Kapitel 9 – IM INNEREN DES BERGES
Kapitel 10 – LAVINION
Kapitel 11 – DIE NYMPHEN
Kapitel 12 – IN DIE TIEFE
Kapitel 13 – RADON
Kapitel 14 – DIE FEUERSBRUNST
Kapitel 15 – ZARKHADUL
Kapitel 16 – DAS TOTE LAND
Kapitel 17 – MARSCH AUF CLAIRBORN
Kapitel 18 – DIE LEICHENGRUBE
Kapitel 19 – DIE WEISSBERGE
Kapitel 20 – DIE BELAGERUNG
Kapitel 21 – LIAN
Kapitel 22 – VILDANA
Kapitel 23 – TORG
Kapitel 24 – DIE THIR-AILITH
Kapitel 25 – LIKAT
Kapitel 26 – UDAN
Kapitel 27 – CAREM THAIN
Kapitel 28 – DER RAT DER ELBEN
Kapitel 29 – DIE SCHLACHT UM ZARKHADUL
Copyright
PROLOG
WILLENLOS
Das Scharren des Riegels an der Tür der Wohnhöhle riss Lian aus dem Schlaf. Er fuhr hoch, und augenblicklich loderte die Angst – sein unsichtbarer Begleiter, so lange er sich zurückerinnern konnte – in ihm hoch und ergriff Besitz von ihm.
Sie kamen, um ihn zu holen.
Die Angst war stets gegenwärtig, war das beherrschende Gefühl in seinem Leben. Es war, als wäre er bereits mit einem unsichtbaren Reif um seine Brust geboren, der sich von Zeit zu Zeit ein wenig lockerte, nur um sich anschließend wieder umso fester zusammenzuziehen. Früher hatte er gedacht, er würde sich irgendwann daran gewöhnen und sein Schicksal hinnehmen, aber dem war nicht so. Im Gegenteil. Je älter er wurde, desto mehr näherte er sich dem unausweichlichen Zeitpunkt, an dem es ihm wie schon so vielen anderen vor ihm ergehen würde.
Jetzt schien dieser Tag gekommen. Die Thir-Ailith würden ihn holen, er wusste es einfach; er spürte es tief in sich mit einer Bestimmtheit, die weder einen Grund erforderte noch einen Zweifel zuließ. Es gab nur zwei Anlässe, zu denen die Tür geöffnet wurde. Entweder brachte man ihnen ein paar Flechten oder etwas Moos zum Essen, doch das war bereits vor ein paar Stunden geschehen.
Oder die Thir-Ailith kamen, um eine Auswahl zu treffen, wer weiterleben durfte und wer sterben musste. Diesmal würde er zur zweiten Gruppe gehören.
Schon seit Wochen sprossen auf seinem Kinn, seinem Hals und vereinzelt auch auf seinen Wangen Härchen und bildeten mittlerweile einen weichen Flaum; ein sicheres Zeichen, dass er alt wurde und sein Leben sich dem Ende näherte. Die Thir-Ailith wählten zumindest ihre männlichen Opfer immer nach dem Bartwuchs aus.
Der Reif um Lians Brust schien sich mit einem Ruck enger zusammenzuziehen und ihm die Luft abzuschnüren. Er wollte aufspringen, sich irgendwo verstecken, obwohl es in der Höhle keine Verstecke gab, er wollte irgendetwas tun, aber die Angst hatte bereits die Grenze zu lähmender Panik überschritten. Er war unfähig, sich zu rühren, schien jegliche Kontrolle über seinen Körper verloren zu haben. Nur sein Herz hämmerte so rasend schnell, als wolle es explodieren. Und vermutlich wäre das eine Gnade gegenüber dem gewesen, was ihn stattdessen erwartete.
Er war nicht der Einzige, dem es so ging. Alle Gespräche waren schlagartig verstummt, niemand bewegte sich mehr. In der plötzlichen Stille klang das Knarren der aufschwingenden Tür überlaut.
Wie stets kamen die Thir-Ailith zu dritt, der dreifach Gestalt gewordene Tod. Hochgewachsen und schlank, mit hageren Gesichtern von der Farbe ausgebleichter Knochen. Glattes, ebenso bleiches Haar rahmte ihre Gesichter ein und fiel weit über ihre Schultern. Ihre Augen besaßen die Farbe von Rubinen, die in einem inneren Feuer zu glühen schienen. Schwarze Kleidung schmiegte sich wie eine zweite Haut um ihre Körper, darüber trugen sie ebenfalls schwarze, fast bis auf den Boden reichende Umhänge, die sich bei jeder Bewegung bauschten.
Alle Thir-Ailith, die er bislang gesehen hatte, waren einander so ähnlich wie Zwillinge, sodass es Lian noch nie gelungen war, sie auseinanderzuhalten. Er vermochte nicht einmal zu sagen, ob sie männlichen oder weiblichen Geschlechts waren oder überhaupt verschiedene Geschlechter besaßen. Für ihn sah einer von ihnen aus wie der andere, und jeder einzelne stellte eine Inkarnation des Todes dar.
Es war die gleiche Prozedur wie jedes Mal. Einer der Thir-Ailith blieb an der Tür stehen, die anderen beiden gingen im schwachen Lichtschein des an der Höhlendecke wuchernden Glühmoses mit langsamen, gemessenen Schritten zwischen den auf dem Boden kauernden Zwergen hindurch, begutachteten sie, als handele es sich um Vieh. Aber etwas anderes sahen sie ja vermutlich ohnehin nicht in ihnen. Nicht der Funke eines Gefühls war in ihren rot glühenden Augen zu erkennen.
Einer von ihnen deutete auf einen der Zwerge. Nacktes Entsetzen zeigte sich auf dessen Gesicht, doch mit ungelenken, steifen Bewegungen stand er auf.
Die Thir-Ailith zeigten auf weitere Zwerge, Männer wie Frauen, die nur eines gemein hatten: Sie waren alle ungefähr in Lians Alter, gerade voll ausgewachsen. Zumindest die Männer. Die Frauen waren älter, und jede von denen, die ausgewählt wurden, hatte bereits mehrfach Kinder geboren.
Unaufhaltsam näherten sich die beiden Todesboten Lian. Alles in ihm schrie danach, aufzuspringen und davonzustürmen, sich in der entlegensten Ecke zu verkriechen, aber sein Körper war noch immer wie gelähmt. Allerdings hätte es ihm ohnehin nichts genutzt, wenn es anders wäre. Er befand sich schon jetzt im hinteren Teil der Höhle, nicht einmal ein Dutzend Schritte von der Wand entfernt, und einen zweiten Ausgang gab es nicht. Abgesehen von einer kleinen Quelle, aus der sie ihren Durst stillen konnten und die durch dasselbe Loch im Boden versickerte, durch das sie ihre Notdurft verrichteten, war die Höhle völlig kahl.
Auch hätte es nichts genutzt, wenn er versuchte, seinen Flaum zu verbergen. Selbst mit beiden Händen könnte er Hals, Kinn, Wangen und Oberlippe nicht vollständig verdecken, sondern würde dadurch erst recht die Aufmerksamkeit auf sich lenken.
Lians einzige Hoffnung bestand darin, dass die Thir-Ailith ihn zwischen all den anderen übersahen, aber er wusste, dass das nicht passieren würde. Er wünschte, er könnte sich unsichtbar machen oder im Boden versinken, nur ein paar Sekunden, mehr Zeit brauchte er nicht.
Zwei Schritte trennten die Todesboten noch von ihm, noch einer, dann befanden sie sich auf gleicher Höhe mit ihm, kaum einen Meter entfernt. Der Blick eines von ihnen traf ihn, schien sich für einen entsetzlichen, zeitlosen Moment in seine Augen und geradewegs in seinen Kopf zu bohren und alles in ihm zu Eis erstarren zu lassen – und glitt dann von ihm ab und erfasste die Zwerge neben ihm, während die beiden Thir-Ailith weitergingen.
Lian war wie betäubt. Es war unmöglich … Er war sich so sicher gewesen, dass sie ihn holen würden, dass er noch nicht einmal Erleichterung empfinden konnte. Der Tod war keine zwei Schritte von ihm entfernt vorbeigeschritten und hatte ihn verschont.
Wenigstens für dieses Mal.
Lian verfolgte die Thir-Ailith verstohlen aus den Augenwinkeln und wagte kaum zu atmen. Als sie aus seinem Blickfeld zu verschwinden begannen, schaffte er es irgendwie, den Kopf um eine Winzigkeit zu drehen.
Er sollte nie erfahren, ob es diese Bewegung oder eine andere Kleinigkeit war, die die Aufmerksamkeit eines von ihnen erregte. Der Thir-Ailith wandte sich um. Erneut traf ein Blick aus seinen glühenden Augen Lian, und wieder schien er sich geradewegs in sein Innerstes zu bohren. Eine dürre, bleiche Hand wurde ausgestreckt und deutete auf ihn.
Sein Herz setzte einen Schlag lang aus, um dann noch wilder als zuvor weiterzuhämmern. Ein gellender Schrei hallte in Lians Kopf, aber kein Laut kam über seine Lippen. Alles in ihm schien zu Eis zu erstarren. Ohne bewusstes Zutun erhob er sich mit abgehackten Bewegungen, als wäre sein Körper losgelöst von seinem Verstand, und er hätte keine Kontrolle mehr darüber.
Ungerührt setzten die beiden Thir-Ailith ihren Weg fort, wählten noch zwei weitere Zwerge aus und kamen schließlich wieder an der Tür an. Genau wie die anderen, auf die ihre Wahl gefallen war, setzte sich Lian mit steifen Schritten in Richtung Ausgang in Bewegung. Er wollte es nicht, versuchte dagegen anzukämpfen, aber es war unmöglich. Mit neuerlichem Entsetzen erkannte er, dass er tatsächlich keine Kontrolle mehr über seinen Körper besaß, sondern wie eine Puppe von einer fremden Macht gelenkt wurde – und es bestand kein Zweifel, um welche Macht es sich handelte.
Mit ihm waren neun Zwerge ausgewählt worden, neun von über dreihundert, die in der Höhle eingepfercht waren. Die Blicke der anderen folgten ihnen, gleichermaßen mitfühlend wie auch erleichtert, dass es nicht sie getroffen hatte.
Schon oft, wenn er zuvor Zeuge einer solchen Auswahl geworden war, hatte Lian sich gefragt, warum es nie Widerstand gab, warum nie einer der zum Tode Verurteilten einen – wenn auch aussichtslosen – Fluchtversuch unternahm, sondern alle den Thir-Ailith scheinbar bereitwillig folgten. Nun kannte er auch die Antwort auf diese Frage. Er war wie ein unbeteiligter Gast in seinem eigenen Körper, der den lautlosen Befehlen anderer gehorchte und einen Fuß vor den anderen setzte, ohne dass er es verhindern konnte, so sehr er auch dagegen ankämpfte. Unerbittlich näherte er sich dem Ausgang, trat schließlich durch die Tür.
Einer der Thir-Ailith wartete, bis auch der Letzte von ihnen sie passiert hatte, dann schloss und verriegelte er sie wieder und bildete den Abschluss der kleinen Gruppe.
Seit seiner Geburt hatte Lian die Höhle noch nie verlassen. Abgesehen von ein paar flüchtigen Blicken durch die Tür, wenn diese geöffnet wurde, besaß er nicht die geringste Vorstellung, wie die Welt außerhalb aussah. Selbst durch den Panzer aus Panik, der seinen Geist umfangen hielt, drang ein Funke von Neugier. Nicht einmal dies jedoch vermochte ihm Trost zu spenden oder wenigstens seine Gedanken von dem abzulenken, was ihn erwartete – dafür war das, was er zu sehen bekam, zu trostlos.
Vor der Höhle erstreckte sich in beide Richtungen ein langer, vollkommen kahler Stollen, der von in Wandhaltern steckenden Fackeln schwach erleuchtet wurde. Mehrere ebenso massive und durch dicke Riegel gesicherte Türen zweigten davon ab. Lian fragte sich, ob dahinter ebenfalls Wohnhöhlen lagen, in denen Zwerge eingepfercht waren. Er befürchtete, dass es so war, auch wenn er keine Möglichkeit hatte, es zu überprüfen.
Wie um alles in der Welt hatte es dazu kommen können? Bestand der gesamte Daseinszweck seines Volkes wirklich darin, Sklaven der Thir-Ailith zu sein? War es immer schon so gewesen, war sein Volk in Sklaverei geboren, oder hatten die Thir-Ailith es irgendwann in grauer Vorzeit erst dazu gemacht? Und wenn ja, was war davor gewesen?
Fragen wie diese beschäftigten Lian schon, seit er denken konnte, obwohl er wusste, dass er niemals Antworten darauf erhalten würde. Die Thir-Ailith bewachten sie, gaben ihnen zu essen und wählten aus, wer von ihnen sterben musste, aber es war unmöglich, mit ihnen irgendeine darüber hinausreichende Form von Kontakt herzustellen. Jeder Versuch, sie auch nur anzusprechen, wurde mit dem Tod bestraft.
Lian hatte es nur ein einziges Mal erlebt, dass ein Zwerg es gewagt hatte, sich direkt an einen der bleichen Herrscher zu wenden. Der Zwerg, dessen Namen er längst vergessen hatte, wenn er ihn überhaupt jemals gekannt hatte, war krank gewesen und hatte wegen seiner schrecklichen Schmerzen den Thir-Ailith angefleht, ihm zu helfen. Dieser hatte ihn einen Moment lang ausdruckslos angesehen, dann einen Dolch gezogen und ihm die Kehle durchgeschnitten. Aber das war noch nicht alles gewesen. Etwas war geschehen, was Lian bis zum heutigen Tag entsetzte. Während der Zwerg verblutete, hatte sich sein Körper zu verändern begonnen, war in rasender Geschwindigkeit gealtert und in sich zusammengesackt. Nach seinem Tod war nicht mehr als eine ausgedörrte, irgendwie leer wirkende Hülle von ihm zurückgeblieben; lederartige Haut, die sich über den Knochen spannte. Lian hatte diesen Anblick niemals vergessen, und schon die bloße Erinnerung ließ ihn schaudern.
War es das, was nun auch ihn und die anderen erwartete? Aber warum tötete man sie nicht direkt an Ort und Stelle, wenn dies das ihnen zugedachte Schicksal war? Oder verhielt es sich tatsächlich so, wie einige der anderen, mit denen er gesprochen hatte, in einer durch nichts Konkretes gestützten Hoffnung mutmaßten, dass diejenigen, die von den Thir-Ailith ausgewählt wurden, nicht der Tod erwartete, sondern sie lediglich an einen anderen Ort gebracht wurden, um dort Sklavendienste für sie zu verrichten?
Lian glaubte nicht daran, dennoch spürte er, wie sich etwas tief in ihm an diese Hoffnung zu klammern begann, so gering sie auch sein mochte, während er weiterhin monoton einen Fuß vor den anderen setzte. Er wollte nicht sterben!
Innerhalb der Wohnhöhle hatte es keinerlei Möglichkeit gegeben, das Verstreichen der Zeit zu messen, weshalb Begriffe wie Monate oder Jahre für ihn keinerlei Bedeutung besaßen. Auch wusste er nicht, wie alt ein Zwerg werden konnte, wenn ihn die Thir-Ailith nicht vorher töteten, aber sicherlich älter, als er jetzt war. Er war gerade erst körperlich ausgewachsen und fühlte sich noch jung und auf der Höhe seiner Stärke und Leistungskraft. Was war das für ein grausames Schicksal, das ihn schon jetzt zum Tode verurteilte, ohne dass er jemals mehr als die Wohnhöhle zu sehen bekommen hatte oder etwas anderes hatte tun können als zu schlafen, essen, trinken, warten und – zumindest in letzter Zeit – sich mit einigen der Zwerginnen zu vereinen?
Zum wiederholten Male kämpfte er gegen den fremden Zwang an, der ihn zum Weitergehen trieb, doch abermals erfolglos. Die Magie der Thir-Ailith, die die Kontrolle über seinen Körper übernommen hatten, war einfach zu stark. Unaufhaltsam näherten sie sich dem Ende des Ganges.
Eine Halle, gigantischer als Lian sie sich in seinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können, schloss sich daran an. Sie war um ein Vielfaches größer als die Wohnhöhle, die bislang seine gesamte Welt dargestellt hatte – und unvergleichlich prachtvoller. Für einige Sekunden ließ der Anblick ihn sogar seine missliche Lage und die tödliche Gefahr, in der er schwebte, vergessen.
Hätte ihn nicht der Wille der Thir-Ailith unerbittlich vorangetrieben, wäre er sicherlich unfähig gewesen, auch nur einen weiteren Schritt zu machen, sondern wäre stehen geblieben und hätte sich mit vor ungläubigem Staunen weit aufgerissenen Augen umgeschaut. Aber auch so konnte er wenigstens seinen Blick umherschweifen lassen, da die Augen der einzige Teil seines Körpers waren, den er aus eigenem Antrieb bewegen konnte.
Säulen mit einem so großen Durchmesser, dass mindestens fünf oder sechs Zwerge nötig gewesen wären, um eine von ihnen zu umfassen, zogen sich in vier Reihen durch die Halle und stützten die Decke, die sich irgendwo so hoch über ihnen wölbte, dass Lian die Augen nicht weit genug verdrehen konnte, um sie zu sehen. Sie bestanden aus einem schwarz und weiß gemaserten Gestein, das so glatt war, dass es glänzte, und sogar leicht zu spiegeln schien.
Zahlreiche Fackeln steckten in Haltern an den Säulen. Sie erfüllten die Halle mit flackerndem Licht, in dessen Schein Lian erst jetzt die Scharen von Thir-Ailith entdeckte, die sich in dem Gewölbe aufhielten. Der Anblick zerriss den Nebel aus Staunen und Ehrfurcht, der sich kurzfristig um seinen Geist gelegt hatte, und ernüchterte ihn. Es mussten Dutzende der bleichen Gestalten sein, möglicherweise sogar mehr als hundert. Keiner von ihnen nahm Notiz von dem kleinen Zwergentrupp. Allein oder in kleinen Gruppen durchquerten sie die Halle in verschiedene Richtungen. Entlang der Wände gab es zahlreiche Ausgänge, durch die sie verschwanden und andere hereinkamen.
Genau wie die übrigen Zwerge wandte sich Lian nach rechts, wo sich der Trupp einem der Ausgänge näherte. Der Stein war an diesem Durchgang kunstvoll bearbeitet worden, und als er bis auf knapp ein Dutzend Schritte heran war, entdeckte Lian etwas, das ihn so verblüffte, dass er für einen Moment alles andere vergaß. Genau über dem Durchgang prangte ein etwa kopfgroßer Stein, und wie er jetzt erkennen konnte, handelte es sich tatsächlich um die Nachbildung eines Kopfes. Der Stein war verwittert und das Antlitz deshalb nur noch undeutlich zu erkennen, aber es stellte keineswegs das Gesicht eines Thir-Ailith dar.
Was er sah, war ohne jeden Zweifel ein in Stein verewigtes Zwergengesicht.
Lian kam nicht dazu, länger darüber nachzudenken. Der Boden unter ihm begann sich zu bewegen. Zunächst war es nur ein sanftes Vibrieren, das jedoch rasend schnell stärker wurde. Kleine Steinchen lösten sich von der Decke. Eines traf Lian an der Schulter. Der Schmerz war nicht allzu schlimm, aber er wurde trotzdem fast unerträglich, da er weder einen Laut von sich geben noch die Stelle massieren konnte.
Was geschah hier?
Alles um ihn herum schien in Bewegung geraten zu sein. Weitere Steine lösten sich aus Decke und Wänden und polterten zu Boden. Um ihn herum war das Knistern und Knacken von überlastetem Fels zu hören, und immer noch wurde das Schütteln und Rütteln stärker. Der gesamte Boden schien zu schwanken.
Genau wie die anderen Zwerge war Lian stehen geblieben. Furchtsam, mit offenkundigem Entsetzen, blickten sich die Thir-Ailith um. Es war das erste Mal, dass Lian einen solchen Ausdruck von Angst auf ihren Gesichtern sah.
Ein weiterer Erdstoß riss Lian von den Beinen. Instinktiv versuchte er seinen Sturz abzufangen, aber noch immer gehorchte sein Körper ihm nicht. Hart schlug er auf dem Boden auf. Mehreren der anderen Zwerge erging es ebenso.
Ein gewaltiges Donnern und Bersten ertönte. Nicht weit entfernt musste sich ein großer Gesteinbrocken aus der Decke gelöst haben und herabgestürzt sein, doch sehen konnte Lian von seiner Position aus nichts.
Noch immer bebte die Erde unter ihm stärker, schien sich wie ein aus dem Schlaf erwachtes Tier zu schütteln. Nachdem er von den Thir-Ailith ausgewählt worden war, hatte er sich in das Unvermeidliche zu fügen begonnen und mit seinem Leben abgeschlossen. Eine Art Betäubung war an die Stelle der Angst getreten, aber jetzt loderte erneut Panik in ihm hoch. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie erlebt, und er konnte sich keinerlei Reim darauf machen, was das alles zu bedeuten hatte. Wie konnte toter Fels zum Leben erwachen? Oder war es gar nicht der Fels selbst, und die Erschütterungen rührten vom Rumoren irgendwelcher unsagbaren Ungeheuer oder Dämonen im Leib der Erde her? Nur eines stand fest: Dies war nicht das Schicksal, das man ihm und den anderen Zwergen zugedacht hatte. Die Thir-Ailith waren über das Geschehen ebenso erschrocken wie er selbst.
Weitere Gesteinsbrocken stürzten donnernd in die Tiefe, mittlerweile in nahezu ununterbrochener Folge. Einer der anderen Ausgänge brach polternd vollständig in sich zusammen, und auch der, den ihr Trupp angesteuert hatte, blieb nicht unversehrt. Knirschend löste sich der steinerne Zwergenschädel aus seiner Verankerung über dem Durchgang. Das Geräusch alarmierte die beiden Thir-Ailith, die direkt darunter standen, doch es war bereits zu spät zum Ausweichen. Mit einer Mischung aus Schrecken und grimmiger Genugtuung beobachtete Lian, wie der Stein einem von ihnen den Kopf zerschmetterte und auch den zweiten noch so hart traf, dass dieser zur Seite geschleudert wurde und reglos liegen blieb.
Ein weiteres, noch lauteres Bersten erklang in unmittelbarer Nähe. Lian wandte den Kopf und sah, wie nur wenige Meter entfernt der Fuß einer der gigantischen Säulen zerbarst. Das tonnenschwere Gebilde begann sich träge in seine Richtung zu neigen.
Ohne nachzudenken, rollte er sich zur Seite, so schnell er nur konnte, und begriff erst dann, dass er die Kontrolle über seinen Körper zurückgewonnen hatte. Gesteinstrümmer von der Decke und der zusammenbrechenden Säule regneten rings um ihn nieder. Einige verfehlten Lian nur um Haaresbreite. Mit dem Mut der Verzweiflung sprang er auf und hastete auf einen noch unbeschädigten Durchgang in der Wand zu, nicht weit von dem entfernt, der das Ziel ihrer Gruppe gewesen war.
Er kam nur drei Schritte weit, dann verlor er auf dem bockenden Untergrund erneut das Gleichgewicht und wurde zu Boden geschleudert.
Im gleichen Moment erschütterte ein ungeheurer Schlag den Boden, als die gigantische Steinsäule mit Urgetöse ein Stück neben ihm aufschlug und in mehrere Teile zerbarst. Der Lärm war unbeschreiblich, erreichte einen fast schmerzhaften Pegel – und dann herrschte plötzlich eine geradezu unnatürliche Stille. Mit kaum mehr als einem Knistern flogen Steinsplitter durch die Luft, und einige trafen ihn. Lian schrie auf, konnte aber nicht einmal seine eigene Stimme hören. Ein dumpfer Druck war in seinen Ohren zu spüren.
1SCHATTEN IN DER NACHT
»Was war das?« Alarmiert hob Dulon den Kopf, lauschte und blickte sich nervös um.
Thilus beschäftigte sich seit mehr als zehn Minuten damit, seinen ohnehin schon spiegelblanken Dolch zu polieren. Nun ließ er ihn sinken, hob stattdessen den Kopf und erstarrte einen Moment, um ebenfalls zu lauschen, aber das Geräusch wiederholte sich nicht. Nach wenigen Sekunden zuckte er die Achseln und fuhr fort, den Dolch mit dem Tuch zu bearbeiten. Dabei hielt er die Waffe in der rechten Hand und das Tuch mit den viel zu kleinen und zum Teil steifen Fingern seiner verkrüppelten Linken, die an einem Unterarm saß, der nicht einmal halb so lang war wie bei einem durchschnittlichen Zwerg.
»Nur ein Steinchen, das sich irgendwo gelöst hat«, sagte er gleichmütig.
Seine Erklärung schien den jüngeren Krieger nicht zu beruhigen, eher im Gegenteil. Weiterhin blickte Dulon sich misstrauisch um, obwohl der Lichtkreis der vor ihnen auf dem Boden stehenden Lampe kaum weiter reichte als bis zu den Rändern der kleinen Felsmulde am Berghang, in der sie vor dem schneidenden Wind Schutz gesucht hatten. Alles, was dahinter lag, wurde vom Schattentuch der Nacht verdeckt.
»Steinchen lösen sich nicht von alleine«, sagte er misstrauisch. Obwohl mit gerade einmal knapp siebzig Jahren noch ziemlich jung, war Dulon tapfer und hatte das Herz auf dem rechten Fleck, soweit Thilus ihn einschätzen konnte, aber er war auch ungeduldig und in mancherlei Hinsicht oft übereifrig.
Und – zumindest im Moment – ziemlich nervös.
Thilus seufzte, drehte seinen Dolch hin und her und begutachtete ihn einmal von allen Seiten, dann steckte er ihn mit einem zufriedenen Nicken in die Scheide an seinem Gürtel zurück.
»Nun hör auf, dich selbst verrückt zu machen«, sagte er. »Wahrscheinlich war es nur der Wind oder irgendein kleines Tier. Es gibt hundert harmlose Erklärungen dafür. Wenn du bei jedem Geräusch gleich das Schlimmste annimmst, fängst du noch an durchzudrehen.«
Er verstummte, als irgendwo in der Nähe ein Nachtvogel schrie: ein unheimlicher, furchteinflößender Laut, der selbst Thilus eine Gänsehaut über den Rücken trieb, weil er für ihn etwas völlig Ungewohntes darstellte. In der Tiefenwelt gab es keine Vögel.
»Außerdem würde sie es spüren, wenn Feinde in der Nähe wären«, fügte Thilus nach ein paar Sekunden hinzu und deutete dabei auf die Priesterin, die zwei Schritte von ihnen entfernt mit untergeschlagenen Beinen auf dem Felsboden saß und während der gesamten Wache bislang kein Wort mit ihnen gesprochen hatte. Er kannte nicht einmal ihren Namen. Zwar hatte sie die Augen geschlossen, wie er trotz des Schleiers vor ihrem Gesicht sah, aber er wusste, dass sie keineswegs schlief, sondern sich in Trance versetzt hatte. Obwohl sie sonst fast nichts wahrnahm, was um sie herum vorging, waren ihre magischen Sinne in diesem Zustand sogar besonders geschärft. Und allein darauf kam es an.
»Vielleicht hast du recht«, murmelte Dulon. Es klang nicht richtig überzeugt, aber wenigstens entspannte er sich ein wenig und hüllte sich fröstelnd wieder fester in seinen Mantel. »Das alles fängt allmählich wirklich an, mich verrückt zu machen. So was ist doch kein Leben für einen Zwerg, ich hasse die Außenwelt! Woche um Woche vegetieren wir hier nun schon dahin, anders kann man es ja wohl nicht nennen. Soll das etwa ewig so weitergehen? Lieber würde ich bei dem Versuch sterben, Elan-Dhor zurückzuerobern, als auf Dauer so zu leben.«
Thilus lächelte flüchtig, aber es wurde eher eine humorlose Grimasse. Worte wie diese hatte er in den letzten Wochen wieder und wieder gehört. Zu oft und aus zu vielen Mündern, und er nahm sie sehr ernst.
»Warst du bei der Schlacht am Tiefenmeer dabei?«, fragte er.
»Nein.« Dulon schüttelte den Kopf, doch in seine Augen trat plötzlich ein Glanz, der Thilus ganz und gar nicht gefiel. »Dafür aber bei der letzten Verteidigung des Südtores. Wir waren noch längst nicht geschlagen und hätten es noch lange halten können, daran gibt es keinen Zweifel. Aber was geschieht stattdessen?« Er schnaubte verächtlich. »Rückzug! Statt unsere Heimat mit allem, was wir haben, zu verteidigen, geben wir die Stadt diesen Ungeheuern preis und fliehen schmachvoll. Unsere Vorfahren hätten einen König, der einen solchen Befehl erteilt, samt seinen Beratern an die Tore des Palastes genagelt, und was tun wir? Wir folgen diesen Verrätern an unserem eigenen Volk auch noch bereitwillig!«
Thilus seufzte erneut. Er konnte bis zu einem gewissen Punkt verstehen, was in dem jungen Krieger vorging, und er wusste, dass vor allem unter den jüngeren Zwergen viele so dachten wie er. Ruhm und Ehre galten nicht nur innerhalb der Kriegerkaste mehr als alles andere, doch darum ging es nicht allein. Dulon war ein junger, heißblütiger Spund mit einem fast kindlichen Gesicht und einem dünnen, noch nicht einmal fingerlangen Bart von der gleichen hellen Sandfarbe wie sein Haar. Vermutlich hatte er erst vor wenigen Jahren seine Ausbildung in den Kasernen abgeschlossen und noch so gut wie keine praktische Kampferfahrung sammeln können. Selbst die letzten der großen Schlachten stellten für ihn und seine Altersgenossen nur noch Erzählungen aus tiefer Vergangenheit dar. Sie waren in einer Zeit relativen Friedens geboren und im Glauben an die militärische Stärke und Unbesiegbarkeit des Zwergenvolkes aufgewachsen, das diesen Frieden mit Gnomen, Goblins oder anderen ihnen unterlegenen Völkern der Tiefenwelt garantierte.
Aber das war vor der Entdeckung der Dunkelelben gewesen.
Rund drei Monate war es mittlerweile her, dass ein Expeditionstrupp von Elan-Dhor, der letzten großen Zwergenstadt, tiefer als jemals zuvor in den Leib der Erde hinabgestiegen und dabei auf einen bislang gänzlich unbekannten Teil der Tiefenwelt gestoßen war. Wie sich inzwischen herausgestellt hatte, waren vor Äonen Abtrünnige des Elbenvolkes, die nach Macht über die jüngeren Völker strebten, nach einem langen, erbitterten Kampf von den siegreichen Hochelben dorthin verbannt worden. Alle Zugänge waren durch magische Siegel verschlossen worden, und selbst das Wissen um diese Ereignisse war im Laufe der Jahrtausende verloren gegangen. Aber wider alle Wahrscheinlichkeit hatten die Abtrünnigen abgeschnitten von der Außenwelt nicht nur auf noch unbekannte Art und Weise überlebt, sondern waren sogar erneut zu ungeheurer Macht erstarkt.
Unwissentlich hatte der Expeditionstrupp eines der Siegel gebrochen und das Verderben damit ausgelöst. Plötzlich hatte sich das Volk der Zwerge mit einem schrecklicheren Feind als jemals zuvor konfrontiert gesehen; Abkömmlingen des einst mächtigsten Volkes der Welt, die nach ihrer langen Gefangenschaft nur noch von Rachsucht, Mordlust und dem Hass auf jegliches andere Leben beseelt schienen. Diese Dunkelelben, wie sie mittlerweile genannt wurden, waren nicht nur unglaublich starke Krieger, sie verfügten auch über magische Kräfte, die alles bisher Bekannte in den Schatten stellten. Vor allem verlieh diese Magie ihnen die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, wodurch es fast unmöglich war, sich gegen ihre scheinbar aus dem Nichts erfolgenden Angriffe zu verteidigen. Nur die ebenfalls magisch begabten Priesterinnen der Zwergengöttin Li’thil vermochten diese Unsichtbarkeit wenigstens teilweise aufzuheben.
Am Tiefenmeer hatte sich das Volk der Zwerge den unheimlichen Angreifern zur Entscheidungsschlacht gestellt, aber weder die Unterstützung durch die Priesterinnen noch ausgefeilte Verteidigungsstellungen und -strategien, und auch nicht die unerwartet zu Hilfe eilenden Goblins hatten eine vernichtende Niederlage gegen die nicht nur mächtigeren, sondern auch ungleich zahlreicheren Feinde aus der Tiefe verhindern können. Im Anschluss daran hatte es nur noch Rückzugsgefechte gegeben, um Zeit für eine Evakuierung des Zwergenvolkes an die Oberfläche, die Außenwelt, zu gewinnen. Weder tödliche Fallen noch die Sprengung eines Teils der Minen hatten das weitere Vordringen der Dunkelelben verhindern können, bis sie schließlich auch den Kern Elan-Dhors erreicht und erobert hatten – die Stadt mit den Wohnbereichen.
»Barlok wusste ganz genau, was er tat«, behauptete Thilus. »Jedes weitere Blutvergießen wäre völlig sinnlos gewesen und hätte die Erstürmung der Stadt nicht verhindern können.«
»Barlok, der große Heerführer«, sagte Dulon verächtlich. »Er war einst ein gewaltiger Krieger, das will ich gar nicht bestreiten, vielleicht einer der größten Helden, die unser Volk je hervorgebracht hat. Aber mittlerweile steht offensichtlich auch er unter dem Bann dieser Priesterin, die die Macht an sich gerissen hat. Die Hexe hätte niemals den Thron besteigen dürfen, damit hat doch das ganze Unheil begonnen«, ereiferte er sich und gestikulierte dabei wild mit den Händen.
»Das Unheil begann mit dem Brechen der Siegel, die die Dunkelelben gebannt hatten«, korrigierte Thilus und zwang sich, ruhig zu bleiben. Obwohl die Ereignisse gerade erst drei Monate zurücklagen und die Tatsachen jedem noch gut im Gedächtnis hätten sein sollen, wurden sie schon demagogisch verfälscht und uminterpretiert, was ihn zornig machte. »Und das geschah noch unter König Burian, weil er zu gierig seine Hände nach dem in der Tiefe ruhenden Gold ausstreckte. Das wurde zu unserem Fluch, und dafür wurde er abgesetzt. Tharlia hat nur sein Erbe übernommen, und sie hat es immerhin geschafft, unser Volk erst einmal vor dem drohenden Untergang zu retten.«
»Aber zu welchem Preis! Sie hat den Dunkelelben einen einzigen halbherzigen Kampf geliefert, dann hat sie unsere Heimat diesen Bestien preisgegeben und uns in die Verbannung geführt, ins Exil.« Verachtung mischte sich in Dulons Stimme. »Wenn du mich fragst, dann muss sie den Hohen Rat mit ihren Zauberkräften beeinflusst haben, nur so ist zu erklären, dass man ausgerechnet eine Hexe zur Königin gewählt hat. Elan-Dhor besteht seit Jahrtausenden, aber kaum hat sie den Thron bestiegen, fällt die Stadt. Das kann doch kein Zufall sein! Ich jedenfalls sehe darin ein Zeichen der Götter, vielleicht sogar Li’thils selbst, weil ihre Hohepriesterin sich von ihr abgewandt hat, um die Herrschaft zu übernehmen. Aber da ist noch etwas.« Dulon warf einen raschen Blick zu der meditierenden Priesterin neben sich und senkte seine Stimme, als er hinzufügte: »Wer weiß, vielleicht macht diese Tharlia ja sogar gemeinsame Sache mit den Dunkelelben. Diesen Hexen ist alles zuzutrauen, das habe ich schon immer -«
»Jetzt reicht es aber mit diesem Unsinn!«, zischte Thilus scharf, funkelte ihn an und bemühte sich noch stärker, seinen Zorn nicht allzu sehr hochkochen zu lassen. Wie die meisten Zwerge besaß er ein aufbrausendes Temperament, das bei ihm jedoch besonders ausgeprägt und neben seiner verkrüppelten Hand einer der Gründe war, weshalb er innerhalb der Kriegerkaste nie höher aufgestiegen war. Mit aller Macht kämpfte er jedoch in letzter Zeit dagegen an und bemühte sich, seine Zornausbrüche unter Kontrolle zu halten. Dennoch zuckte Dulon zusammen und verstummte sichtlich erschrocken.
»Du würdest nicht so reden, wenn du am Tiefenmeer dabei gewesen wärst und wüsstest, wovon du sprichst«, fuhr Thilus fort. »Das war kein halbherziger Kampf, auch wenn er nur wenige Stunden dauerte. Die Dunkelelben haben unsere Stellungen durch ihre schiere Masse regelrecht überrannt, begreifst du überhaupt, was das bedeutet? Weder Feuer noch Stahl konnten sie aufhalten! Wir hatten keine Chance gegen sie, absolut keine, und am Südtor wäre es nicht anders gewesen. Jeder Versuch, es länger als unbedingt nötig zu verteidigen, hätte nur zu einem sinnlosen Massaker geführt. Und am Ende wäre es dennoch gefallen.«
»Im Kampf zu fallen wäre auf jeden Fall ehrenhafter gewesen, als einfach so alles aufzugeben, was unser Volk in Jahrtausenden aufgebaut hat«, widersprach Dulon, aber mit weitaus weniger Selbstsicherheit und mehr Trotz in der Stimme. »Wir hätten -«
»Ihr hättet euer Leben ohne jeden Nutzen weggeschmissen und durch weitere Tote das Leiden unseres Volkes nur noch vergrößert«, fiel Thilus ihm abermals ins Wort. Zwar war das Streben nach Ehre eine wichtige Triebfeder gerade für jüngere Krieger, aber er hasste es, wenn es zu einer reinen Phrase verkam, mit der man Dummheit und mangelnden Weitblick zu rechtfertigen versuchte. »Aber was noch schlimmer ist – die Dunkelelben scheinen so zahlreich zu sein, dass sie über nahezu unbegrenzte Reserven verfügen. Jeder Tote auf unserer Seite hingegen wird uns bei einem Gegenschlag fehlen, wenn der Tag kommt, an dem wir Elan-Dhor zurückerobern werden.«
»Zurückerobern, aber sicher doch«, sagte Dulon mit bitterem Spott. »Und daran glaubst du wirklich? Verschanzt hinter jahrhundertealten Toren und Mauern aus meterdickem Stein und Stahl, wo alle Vorteile auf unserer Seite lagen, sind wir geflohen, aber du glaubst das Märchen, dass wir Elan-Dhor zurückerobern werden? Wie denn? Wir müssen ja schon aufpassen, dass die Dunkelelben nicht irgendein Loch entdecken, durch das sie ins Freie gelangen und uns sogar hier angreifen.«
Das war der Grund, warum sie genau wie einige andere Posten diese nächtliche Wache an den Hängen des Tharakol schoben. Das Zarkh-Tahal, das große Tor des Ostens, das Elan-Dhor mit der Außenwelt verband, war ebenso wie alle anderen bekannten Zugänge zur Tiefenwelt durch künstlich ausgelöste Lawinen unter Tonnen von Stein begraben worden. Aber in den vergangenen Wochen war es den Dunkelelben gelungen, einige dieser Zugänge wieder freizulegen oder weitere zu entdecken, die nicht einmal den Zwergen vorher bekannt gewesen waren.
»Du vergisst anscheinend Warlon«, erwiderte Thilus mit mühsam erzwungener Ruhe. Er strich sich über seinen dichten, bis fast zum Gürtel reichenden Bart, der ebenso schwarz wie seine langen, unter dem Helm hervorquellenden Haare war. »Wenn es ihm und seinen Begleitern gelingt, bis zu den Elben zu gelangen und sie um Beistand gegen ihre dunklen Brüder zu bitten, wird es uns mit ihrer Hilfe gelingen.«
»Wenn, wenn, wenn«, echote Dulon. »Wenn er bis zu den Elben gelangt, wenn er ihnen die Gefahr begreiflich machen kann, und wenn sie tatsächlich bereit sein sollten, uns zu helfen … Das sind viel zu viele Wenns, als dass wir ernsthafte Hoffnungen darauf setzen sollten. Warlon ist ein großer Krieger, ich habe schon unter seinem Kommando gekämpft. Aber die Hochelben haben sich in die unwirtliche Einöde des Nordens zurückgezogen, die Belange anderer kümmern sie nicht mehr. Ich glaube nicht, dass wir von ihnen Hilfe erwarten können, selbst wenn Warlon das fast Unmögliche schafft und sich bis zu ihnen durchschlagen kann. Unsere Völker sind niemals Freunde gewesen und …«
Er verstummte, als erneut das Kullern eines Steins zu hören war, dann eines weiteren. Einen Moment lang hatte Thilus das Gefühl, der Boden unter ihnen würde leicht zittern.
»Was -«
Erschrocken sprang er auf. Er hatte sich nicht getäuscht, das Gestein unter seinen Füßen hatte zu vibrieren begonnen. Es war, als würde der gesamte Boden schwanken, und die Erschütterungen verstärkten sich rasend schnell. Ein heftiger Stoß hätte Thilus um ein Haar von den Beinen gerissen.
»Ein … ein Erdbeben!«, keuchte er entsetzt. »An die Felswand, schnell!«
Während Dulon mit schreckverzerrtem Gesicht ebenfalls aufsprang, packte Thilus die Priesterin an den Schultern und schüttelte sie heftig.
»Wacht auf!«
Durch den Schleier hindurch konnte er erkennen, wie sie die Augen aufschlug. Ohne darauf zu warten, dass sie vollends zu sich kam und die Situation erfasste, zog er sie hoch und zerrte sie mit sich unter einen kleinen Vorsprung in der Felswand, eine kaum einen halben Meter tiefe Höhlung im Gestein, in der auch Dulon mittlerweile Zuflucht gesucht hatte. Geistesgegenwärtig hatte der junge Krieger sogar die Laterne ergriffen und mitgenommen.
Keine Sekunde zu früh. Außer kleinen Kieseln prasselten inzwischen auch größere Gesteinsstückchen von der Höhe des Berges herab und rissen dabei weitere mit sich. Ein Sturzbach aus Geröll unterschiedlicher Größe ergoss sich nur wenige Meter von ihnen entfernt die Bergflanken herab, und noch immer zitterte und bebte der Boden wie ein bockendes Tier. Es schien, als wäre der gesamte Tharakol aus einem langen Schlaf aufgeschreckt und versuche nun die Reste seiner Müdigkeit abzuschütteln.
»Was … was ist das? Was geschieht hier?«, kreischte die Priesterin mit sich überschlagender Stimme.
»Ein Erdbeben«, presste Thilus noch einmal hervor.
Da Zwerge ihre Städte stets unterirdisch anlegten, wurden Erdbeben bei ihnen mehr gefürchtet als alles andere. Anders als in der Nähe der feuerspeienden Vulkanberge tief im Süden ereigneten sie sich in dieser Gegend glücklicherweise extrem selten. Trotz seiner mehr als zweihundert Jahre hatte Thilus bislang noch keines selbst erlebt, aber er hatte von einigen gehört, die in früheren Zeiten verheerende Verwüstungen in Elan-Dhor angerichtet hatten. Er konnte die Angst der Priesterin gut verstehen, musste selbst gegen eine Panik ankämpfen. Immer wieder warf er furchtsame Blicke zu dem Fels über ihren Köpfen, doch schien dieser äußerst massiv zu sein.
Die Sekunden schienen sich zu nicht enden wollenden Stunden zu dehnen, in denen sie sich zitternd an die Wand pressten, während Felsen mit Urgetöse an ihnen vorbei ins Tal donnerten. Ein Brocken mit gut einem halben Meter Durchmesser stürzte genau in die Mulde, in der sie zuvor gesessen hatten und blieb dicht vor ihnen liegen, dann endlich ließen die Erdstöße, die den Boden erschütterten, nach, und der Fels kam wieder zur Ruhe. Trotzdem löste sich noch vereinzelt Gestein und fiel krachend in die Tiefe, sodass sie noch mehrere Minuten warteten, bis sie es wagten, den Schutz der kleinen Einbuchtung in der Felswand zu verlassen.
Die Dunkelheit breitete einen gnädigen Mantel über die Verwüstungen, das schwache Licht des hinter Wolken verborgenen Mondes und der Lichtschein der Laterne reichten gerade aus, die unmittelbare Umgebung zu erkennen. Von dem Weg, der vom Tal bis hinauf zum Zarkh-Tahal führte, war nichts mehr zu sehen, er war vollständig unter Geröll begraben.
»Das … das war das Schrecklichste, was ich je erlebt habe«, stammelte die Priesterin. Noch nie hatte Thilus ein Mitglied ihres Ordens in einem solchen Zustand erlebt. Gewöhnlich waren gerade die Priesterinnen für ihre Selbstbeherrschung bekannt, mindestens ebenso sehr wie die Krieger. »Li’thil sei Dank, dass wir bislang von solchem Grauen verschont blieben, und die Göttin möge uns auch künftig davor schützen.«
»Wir müssen ins Tal hinunter und nachsehen, wie groß die Verwüstungen dort sind«, stieß Dulon hervor. »Nicht nur in der Garnison, sondern vor allem in der Stadt selbst. Bestimmt hat es Tote und Verletzte gegeben. Wir -«
»Nein!«, fiel Thilus ihm ins Wort. »Wir können noch nicht gehen. Wir müssen unsere Wache fortsetzen und den Berghang absuchen.«
»Aber meine Familie! Meine Frau und Kinder -«
»Nein!«, sagte Thilus noch einmal scharf, obwohl ihn die gleichen Ängste wie den jungen Krieger peinigten. Er besaß weder Frau noch Kinder, aber anders als Dulon gehörte er keinem der großen Häuser an, sondern war allein für die Versorgung zweier jüngerer Schwestern verantwortlich, von denen eine ihren Mann beim Kampf gegen die Dunkelelben verloren hatte, sodass sie und ihr erst zwölfjähriger Sohn dringender denn je auf ihn angewiesen waren.
»Wenn ihnen etwas zugestoßen ist, werden andere sich um sie kümmern«, fuhr Thilus nach einer kurzen Pause fort. »Unsere Aufgabe liegt hier, jetzt mehr denn je. Durch die Erdstöße können sich Risse im Gestein gebildet haben, die bis in die Tiefenwelt reichen. Öffnungen, durch die die Dunkelelben ins Freie gelangen könnten. Dieses Risiko dürfen wir nicht unterschätzen.«
Dulon rang einen Moment lang mit sich, nickte dann aber, als er erkannte, dass diese Gefahr keineswegs an den Haaren herbeigezogen war.
»Du hast recht, wir müssen unsere Pflicht erfüllen«, murmelte er widerstrebend und schauderte, anscheinend weil ihm bewusst wurde, welche schrecklichen Folgen ein ohne Vorwarnung erfolgender Überfall der Dunkelelben auf den nur schwach befestigten Militärstützpunkt am Fuße des Tharakol hätte. Wenn die Garnison fiel, weil sie oder die anderen auf den Berghängen verteilten Wachen ihre Posten verließen und ein Entkommen der Dunkelelben deshalb nicht rechtzeitig bemerkten, dann stand dem Feind der Weg zur Stadt offen, die rund einen Tagesmarsch weiter nördlich im Entstehen begriffen war und dem Zwergenvolk zumindest vorübergehend eine neue Heimstatt bieten sollte.
Er warf einen Blick zu den fernen, winzig kleinen Lichtern unten im Tal, nickte noch einmal und zog sein Schwert, dann ließ er seinen Blick an der Flanke des Berges emporwandern. »Aber wo sollen wir anfangen?«
»Bei den Dämonen der Unterwelt, das bringt doch überhaupt nichts«, murrte Dulon, lehnte sich gegen einen Felsen und stellte die Laterne vor sich auf den Boden. Gut eine Viertelstunde war seit ihrem Aufbruch aus der Mulde verstrichen, in der sie den ersten Teil ihrer Wache verbracht hatten, aber sie hatten sich bislang kaum mehr als zwei Dutzend Schritte davon entfernt. »Hier können wir suchen, bis wir schwarz werden.«
Thilus musste sich widerwillig eingestehen, dass sein Begleiter nicht ganz unrecht hatte. Ihre Suche glich der nach einem Goldkörnchen in einer riesigen Geröllhalde. Der Felshang war zerklüftet und von unzähligen Rissen und Schründen durchzogen. Selbst wenn die gesamte Kriegerkaste dazu eingeteilt würde, würde es Monate dauern, jeden Spalt zu untersuchen, der groß genug war, dass ein Dunkelelb möglicherweise hindurchschlüpfen könnte.
»Und was schlägst du stattdessen vor?«, fragte er und lehnte sich ebenfalls an einen Felsen. Um ein Haar wäre es seine letzte Bewegung gewesen. Der massive Brocken stand so wackelig, dass das zusätzliche Gewicht ausreichte, ihn über eine Felsnase stürzen zu lassen. Wild begann Thilus mit den Armen zu rudern und konnte mit knapper Not das Gleichgewicht halten. Dulon sprang hinzu und wollte ihn packen, aber da hatte Thilus bereits wieder festen Stand gefunden. Schaudernd blickte er dem in die Tiefe polternden Felsen nach, der auf seinem Weg weiteres Gestein zermalmte und mit sich riss.
»Da hast du es! Wenn wir weiter ziellos hier herumirren, werden wir uns noch alle zu Tode stürzen«, behauptete Dulon. »Das hat doch alles überhaupt keinen Sinn. Unter der Erde dürften die Auswirkungen des Bebens noch viel schlimmer als hier sein. Wahrscheinlich haben diese Elbenmonster zurzeit ganz andere Sorgen, als sich einen Weg an die Oberfläche zu suchen.«
»Wir werden uns trotzdem weiter umsehen«, ergriff erstmals seit ihrem Aufbruch die Priesterin mit fester Stimme das Wort. Von der Panik, die sich ihrer während des Erdbebens bemächtigt hatte, war nichts mehr zu merken, sie sprach mit ruhiger, selbstbewusster Stimme. »Ich werde spüren, wenn sich Dunkelelben in der Nähe befinden oder es einen offenen Durchgang gibt, der bis zu ihnen führt.«
»Aber …« Dulon brach ab, schüttelte den Kopf und warf noch einmal einen fast sehnsüchtigen Blick zu den Lichtern unten im Tal, verzichtete aber auf jeden weiteren Protest.
Auch Thilus war sich nicht sicher, was er von der Behauptung der Priesterin halten sollte. Er hatte selbst erlebt, dass die Hexen, wie man sie im Volksmund abwertend nannte, die Gegenwart der Unsichtbaren spüren und sie sogar zumindest teilweise sichtbar machen konnten, allerdings nur, wenn diese sich in unmittelbarer Nähe befanden. Insofern zweifelte er nicht daran, dass auch ihre Begleiterin über diese Fähigkeit verfügte, schließlich befand sie sich aus genau diesem Grund bei ihnen. Zweifel hegte er lediglich daran, ob sie tatsächlich auch eine bis in die Tiefenwelt hinabreichende Verbindung erkennen könnte, solange sich keine Dunkelelben in der Nähe befanden.
Dennoch behielt er seine Skepsis für sich. Ob die Priesterin ihre Fähigkeiten überschätzte oder nicht, sie boten in jedem Fall die größte – vielleicht einzige – Aussicht auf einen Erfolg.
Weiter ging die halsbrecherische Kletterei. Wie gefährlich jede unbedachte Bewegung sein konnte, hatten sie gerade erst erfahren müssen, und entsprechend vorsichtig waren sie nun bei jedem Schritt. Es würde noch Tage, vielleicht Wochen oder gar Monate dauern, bis sich das Gestein wieder so weit beruhigt hatte, dass sie nicht befürchten mussten, bei der leichtesten Berührung neue Gerölllawinen auszulösen. Wenigstens verzogen sich nach und nach die Wolken, die bislang den Mond verdeckt hatten, sodass er genug Licht spendete, dass sie nicht mehr allein auf den Schein der Laterne angewiesen waren, um sich zu orientieren.
Mehr als eine Stunde verstrich ereignislos, bis die Priesterin plötzlich so abrupt stehen blieb, dass Thilus fast gegen sie geprallt wäre.
»Was ist los?«, erkundigte er sich alarmiert. Es dauerte mehrere Sekunden, bis er eine Antwort bekam.
»Da ist etwas«, stieß die Priesterin hervor und blickte sich in alle Richtungen um. »Ich … spüre etwas.«
Thilus zuckte erschrocken zusammen. Zwar waren die Kreaturen aus der Tiefe der Grund für ihre Wache und auch für diese Suche, dennoch hatte er freilich mit aller Inbrunst gehofft, dass ihre Vorsicht unnötig sein würde und es zu keinem Kampf mit diesem schrecklichsten aller Feinde käme.
»Dunkelelben?«
»Ich bin … nicht sicher. Die Ausstrahlung ist nur sehr schwach und …« Sie verstummte und zuckte die Schultern, lauschte noch einmal einen Moment in sich hinein und deutete dann nach rechts. »Es kommt von dort.«
Genau wie Dulon zog Thilus sein Schwert, auch wenn die Kletterei dadurch für ihn noch gefährlicher wurde, da es ihm im Notfall kaum gelingen würde, sich allein mit seiner verkrüppelten Linken irgendwo festzuhalten. Glücklicherweise war das Gelände an dieser Stelle jedoch einigermaßen eben, aber wenn der schlimmstmögliche Fall eintrat und sich Dunkelelben in der Nähe befinden sollten, die einen Weg an die Oberfläche gefunden hatten, wäre es völliger Wahnsinn, ihnen unbewaffnet gegenüberzutreten.
Sie überquerten ein von Geröll übersätes, mehrere Dutzend Meter durchmessendes Plateau, dann deutete die Priesterin auf einen der zahllosen Risse in der Felswand, gerade breit genug, dass ein Zwerg sich mit Mühe seitlich hindurchquetschen könnte.
»Was ich spüre, kommt von dort. Eine fremde Aura. Da ist …« Sie stockte einen Moment. »Etwas kommt rasch näher. Es ist da!«, fügte sie dann mit sich plötzlich fast überschlagender Stimme hinzu. Gleichzeitig presste sie ihre Fingerspitzen vor der Brust gegeneinander und murmelte dann einige fremdartige, kehlig klingende Wörter.
Inmitten der Dunkelheit der Felsöffnung schienen mit einem Mal Schatten zu wabern, dann löste sich eine nur als undeutlicher, finsterer Schemen erkennbare Gestalt daraus und raste wie ein schwarzer Blitz auf Thilus zu.
Im letzten Moment riss dieser sein Schwert in die Höhe und schaffte es, die Klinge zur Seite zu schlagen, die auf seine Brust zielte. Klirrend traf Stahl auf Stahl, glitt mit einem markdurchdringenden Kreischen aneinander entlang. Funken stoben auf. Die Wucht des Zusammenpralls trieb Thilus einen Schritt zurück, doch sofort fand er wieder festen Stand.
Neben ihm schrie Dulon auf. Zwar riss auch er sein Schwert hoch, ließ aber gleichzeitig vor Schreck die Laterne fallen. Glücklicherweise zerbrach sie beim Aufprall auf dem Boden nicht, sondern brannte weiter. Von der Großspurigkeit, mit der der junge Krieger Elan-Dhor vorhin noch notfalls bis zum Tod hatte verteidigen wollen, war nicht mehr viel übrig geblieben. Es war eben doch etwas anderes, als Teil starker Verteidigungsstreitkräfte auf einer massiven, hohen Mauer zu stehen und Speere und Brandsätze auf die als gesichtslose Masse heranbrandenden Dunkelelben zu schleudern, als im direkten Kampf einer der unheimlichen Kreaturen gegenüberzustehen, die überhaupt nur durch die magischen Kräfte der Priesterin wenigstens schemenhaft sichtbar geworden war.
Offenbar zu spät hatte der Dunkelelb erkannt, dass seine Unsichtbarkeit ihm keine Tarnung mehr bot und sein vermeintlicher Überraschungsangriff deshalb keiner mehr war, doch jetzt bewies er, dass er keineswegs allein auf feige Heimtücke angewiesen war. In einer unglaublich schnellen und präzisen Bewegung riss er sein Schwert herum, ließ es erst gegen Dulons Klinge krachen, dass diesem die Waffe fast aus der Hand geprellt worden wäre und er mehrere Schritte zurücktaumelte, dann führte der Elb aus der gleichen Bewegung heraus einen erneuten Angriff gegen Thilus, den dieser nur mit knapper Not parieren konnte.
Er war ein altgedienter, erfahrener Krieger, der bereits zahlreiche Kämpfe ausgefochten hatte, aber wie schon während der Schlacht am Tiefenmeer bekam er jetzt ein weiteres Mal zu spüren, welche furchtbaren Feinde die Dunkelelben waren; absolute Meister der Schwertkunst und in keinster Weise zu vergleichen mit Gnomen oder Goblins oder den anderen Bedrohungen, die in der Tiefenwelt lauerten.
Wieder zuckte das Schwert vor, eine Bewegung, die Thilus mehr erahnte, als dass er sie wirklich sah, da auch die Klinge nur ein undeutlicher Schemen war; zudem so schnell, dass kein Blick sie einzufangen vermocht hätte.
Aber der Schwertkampf war Thilus’ Metier, und er war nicht allein auf die manchmal trügerischen Wahrnehmungen seiner Augen angewiesen. Seine Bewegungen wurden zu einer bizarren Art von Tanz. Von Instinkten geleitet ließ er seine Klinge wie ein Berserker wirbeln, parierte Schläge und Stiche, duckte sich unter Hieben hindurch oder wich zur Seite aus, suchte dabei nach einer Lücke in der Abwehr seines Gegners.
Gleichzeitig musste er aufpassen, dass er auf dem unebenen, mit Geröll bedeckten Boden nicht das Gleichgewicht verlor. Ein einziger Fehltritt würde zweifellos seinen Tod bedeuten.
Der Kampf währte gerade erst zwei, drei Sekunden, doch durch die blitzartigen Bewegungen kam es Thilus viel länger vor. Sein Schwertarm begann bereits zu schmerzen, und obwohl es noch nicht so weit war, dass seine Kraft nachließ, begriff er doch, dass er den Kampf nicht mehr lange durchstehen würde. Seine einzigen Vorteile waren seine Erfahrung und die große Kraft, die seine angeborene Stämmigkeit ihm verlieh, dafür war ihm sein Gegner an Wendigkeit und Geschick überlegen.
Und jeden Moment konnten weitere Dunkelelben aus dem Felsspalt hervorquellen …
Eine Gelegenheit für einen Konter ergab sich endlich, als Dulon erneut hinzusprang. Für einen Sekundenbruchteil war der Elb abgelenkt, als er den Angriff des jüngeren Zwergs parierte, doch diese Zeit reichte Thilus. Er entdeckte die Lücke in der Verteidigung seines Gegenübers, stieß blitzschnell sein Schwert vor und rammte ihm die Klinge tief in die ungeschützte linke Seite.
Die schattenhafte Kreatur krümmte sich. Thilus riss sein Schwert mit aller Kraft hoch, ließ es niedersausen und schlug ihr den Kopf ab, noch bevor sie Zeit fand, auch nur einen Schrei auszustoßen.
Dieser erscholl stattdessen nur Augenblicke später hinter ihm.
»Vorsicht, es ist noch -«, kreischte die Priesterin. Weiter kam sie nicht.
Alles schien plötzlich gleichzeitig zu geschehen. Thilus fuhr herum und sah einen Schatten auf sie zuspringen, dann wurden die weiteren Worte der Priesterin in einem schrecklichen Gurgeln und Blubbern erstickt, als sich ihr Mund mit Blut füllte, das ihr über die Lippen quoll. Noch während sie zusammenbrach, zerfaserte der nur für Sekundenbruchteile hinter ihr sichtbar gewordene Schatten wieder, der sie mit seiner Klinge durchbohrt hatte, denn mit dem Tod der Hexe erlosch auch ihre Magie und der Mantel der Unsichtbarkeit umhüllte den Gegner erneut.
Dulon ließ sein Schwert dort niedersausen, wo sich der Dunkelelb gerade noch befunden hatte, doch seine Klinge traf ins Leere. Gleich darauf wirbelte sein Schwert durch die Luft, zusammen mit dem Arm, der es gehalten hatte, und kaum eine halbe Sekunde später traf etwas mit ungeheurer Wucht seinen Helm, schnitt durch den massiven Stahl und spaltete seinen Kopf bis zum Hals hinab.
Panik wallte in Thilus hoch. Er stand allein gegen mindestens einen Dunkelelb. So tragisch Dulons Tod war, ungleich verhängnisvoller – vor allem für ihn selbst – war der der Priesterin. Sie allein war in der Lage gewesen, die Tarnung der Kreatur aufzuheben.
Wild ließ Thilus sein Schwert nach allen Seiten wirbeln, doch retten würde ihn auch das nicht, dessen war er sich bewusst. Er schloss mit seinem Leben ab. Wie sollte er gegen einen Unsichtbaren kämpfen, gegen ein Wesen, das praktisch überall sein und sich ihm unbemerkt aus jeder Richtung nähern konnte? Es war einfach unmöglich, wie schon die Erfahrungen beim ersten Zusammentreffen mit den Ungeheuern in der Tiefenwelt gelehrt hatten.
Mit der verkrüppelten Hand griff Thilus nach dem an seinem Gürtel befestigten Horn. Vielleicht gelang es ihm wenigstens noch, ein Alarmsignal zu blasen, um die anderen zu warnen, dann wäre sein Tod wenigstens nicht sinnlos.
Von links ertönte ein kaum wahrnehmbares Geräusch. Thilus vergaß das Horn, als er die winzige Chance erkannte, die sich ihm bot. Kraftvoll trat er zu. Sein Stiefel glitt scharrend über den Boden, ließ Staub aufwirbeln und schleuderte einen Hagel aus winzigen Steinchen in die Richtung, aus der das Geräusch ertönt war, das die Position des Dunkelelben zumindest ungefähr erahnen ließ.
Statt sein Horn zu ergreifen, ließ Thilus gleichzeitig seine Hand ein Stückchen weiter am Gürtel entlangwandern, packte den Griff seines Dolches und schleuderte die Waffe seinem Gegner entgegen.
Er traf.
Der Dolch schien mitten in der Luft stecken zu bleiben. Ein schriller, durch Mark und Bein gehender Schrei ertönte. Erneut wurden die Umrisse der Kreatur undeutlich sichtbar, als die Verletzung und der dadurch hervorgerufene Schmerz ihre Konzentration für einen Moment beeinträchtigten und sie ihre Unsichtbarkeit nicht mehr in der bisherigen Perfektion aufrechterhalten konnte.
Dieser Moment genügte Thilus. Entschlossen sprang er vor, führte zwei, drei wuchtige Schwerthiebe gegen die Klinge seines Gegners, duckte sich seinerseits unter einem Streich hindurch und rammte der Kreatur mit aller Kraft den Stahl durch die Kehle.
Helles, nahezu farbloses Blut sprudelte aus der Wunde. Tödlich getroffen brach der Dunkelelb zusammen, starrte ihn noch einige Sekunden lang voller Hass an und versuchte vergeblich, ein letztes Mal sein Schwert zu heben und nach ihm zu schlagen.
Dann starb er, und im Tode verlor seine Magie vollends ihre Wirkung. Das Glühen seiner Augen erlosch, und ebenso wie sein Artgenosse zuvor wurde er zur Gänze sichtbar.
Thilus starrte auf die reglos vor seinen Füßen liegende Gestalt hinab, die deutlich größer war als ein Zwerg, etwas größer sogar noch als die meisten Menschen, und dabei so schlank, dass sie geradezu hager wirkte. Gekleidet war sie von Kopf bis Fuß in eine Art Uniform aus eng anliegendem schwarzen Leder. Die Haut des Elben war ebenso gespenstisch bleich wie sein langes, glatt fallendes Haar, das seinen Kopf im Tode wie ein Strahlenkranz umgab und seine spitz zulaufenden Ohren enthüllte.
Tot verlor die Kreatur viel von ihrem Schrecken, wirkte auf eine bizarre Art sogar beinahe ästhetisch, wie eine Erscheinung aus einer fremden Welt. Und in gewisser Hinsicht war sie das ja auch, doch handelte es sich um eine Welt, die allein vom Grauen beherrscht wurde.
Hasserfüllt versetzte Thilus dem Leichnam einen Fußtritt, dann bückte er sich, zog den Dolch aus seiner Brust und wischte die Klinge ebenso wie die des Schwertes an der Kleidung des Toten sauber.
Erst dann wurde ihm wieder bewusst, dass die Gefahr noch keineswegs gebannt war. Es war durchaus möglich, dass sich noch andere Dunkelelben in der Nähe herumtrieben, und selbst wenn nicht, konnten jeden Moment weitere durch den Riss im Fels an die Oberfläche gelangen. Erschrocken fuhr er zusammen und holte endlich nach, was er zuvor schon hatte tun wollen: Er löste sein Horn vom Gürtel und blies kräftig hinein; dreimal kurz und einmal lang, das vereinbarte Alarmsignal. Laut und klar schallte das Signal durch die Nacht, hallte machtvoll von den Berghängen wider, wurde von ihnen zurückgeworfen und noch verstärkt.
Was immer noch geschehen mochte, wenigstens waren die Zwerge in der Siedlung unten im Tal nun gewarnt und würden keine ahnungslosen Opfer eines aus dem Verborgenen geführten Angriffs werden. Darüber hinaus würden sie Verstärkung heraufschicken, doch Thilus wusste, dass seine Pflicht auch damit noch nicht erfüllt war. Es würde mindestens eine Stunde dauern, bis die Verstärkung eintraf, angesichts der größtenteils durch die Steinschläge verschütteten und unter Tonnen von Geröll begrabenen Wege vermutlich sogar eher zwei Stunden. Mehr als genug Zeit für die Dunkelelben, um eine komplette Streitmacht zu sammeln. Dazu durfte es unter keinen Umständen kommen, solange sich ihm auch nur die geringste Chance bot, es zu verhindern.
Tapfer kämpfte er gegen seine Furcht an und unterdrückte sie, aber es blieb dennoch mehr als nur ein beklommenes Gefühl zurück. Thilus musste all seinen Mut zusammennehmen, um die Laterne aufzuheben und sich langsam dem Riss in der Felswand zu nähern. Sein Unterbewusstsein gaukelte ihm Geräusche und Bewegungen vor, und obwohl er wusste, dass es sich nur um Einbildung handelte, rechnete ein Teil von ihm doch jeden Moment damit, dass ihn aus dem Nichts ein tödlicher Schwertstreich treffen würde. Mit zum Zerreißen gespannten Nerven drang er weiter vor. Bei jedem Schritt scharrte er mit den Füßen über den Boden, um kleine Wolken aus Sand und Staub hochzuwirbeln, aber wenn irgendwo in unmittelbarer Nähe eine Bedrohung lauerte, so konnte er sie zumindest nicht erkennen.
Seine Hoffnung steigerte sich, dass die beiden Dunkelelben vielleicht nur eine Art Vorhut gewesen waren, so etwas wie Späher, die erkunden sollten, wohin der Spalt führte. Oder vielleicht waren sie auch die bislang Einzigen, die ihn durch puren Zufall entdeckt hatten, was Thilus mit Abstand am liebsten gewesen wäre.
Unbeschadet erreichte er den Riss, doch der schlimmste Teil seiner Aufgabe stand ihm nun noch bevor. Thilus stellte die Laterne unmittelbar vor der Öffnung ab, steckte sein Schwert in die Scheide zurück und zog dafür zwei Beutelchen mit Sprengpulver aus einer Tasche seines Lederwamses. Sein Herz hämmerte, als wolle es aus seiner Brust brechen.
»Bei den Dämonen der Unterwelt, warum gerade ich?«, murmelte er. »Li’thil, gib mir Kraft!«
Er atmete ein paar Mal tief durch, führte sich noch einmal vor Augen, wie viel vom Erfolg seines Tuns abhing, und versuchte sich zur Ruhe zu zwingen, dann betrat er beherzt den Riss in der Felswand.
Im Gegensatz zu den geradezu dürren Dunkelelben war Thilus wie die meisten Zwerge stämmig und ein wenig untersetzt. Nur mit Mühe konnte er sich seitlich in den Spalt zwängen und Stück für Stück weiter vorwärtsschieben. Zugleich war er in dieser Position bei einem Angriff vollkommen hilflos, aber es gab keine andere Möglichkeit, wenn er den Durchgang verschließen wollte. Zündete er das Sprengpulver direkt am Eingang, würde die Wirkung zum größten Teil verpuffen. Die Gefahr wäre zu groß, dass er lediglich einen kleinen Steinschlag verursachte, der leicht wieder aus dem Weg zu räumen wäre und die Dunkelelben kaum aufhalten würde.
Stück für Stück schob er sich mit immer noch hämmerndem Herzen weiter vorwärts. Erst als er gut drei Meter weit in den Spalt vorgedrungen war, entschied er, dass dies weit genug war. Jede Sekunde konnte er entdeckt und sein Vorhaben dadurch vereitelt werden – es wäre töricht gewesen, sein Glück weiter auf die Probe zu stellen. Außerdem war die Stelle ideal, da hier ohnehin bereits zahlreiche feine Risse den Fels durchzogen, sodass eine große Wahrscheinlichkeit bestand, dass bei einer Sprengung alles in sich zusammenbrechen und der Spalt über eine Länge von vielen Metern so komplett verschüttet werden würde, dass es den Dunkelelben nicht gelingen würde, ihn noch einmal freizulegen.
So schnell und geschickt er es mit nur einer Hand vermochte, verstaute er die beiden Beutelchen in einem Loch im Fels, versah sie mit einer Zündschnur und setzte diese mit seinen Feuersteinen in Brand. Knisternd fraß sich die Flamme daran entlang.
Thilus hatte die Zündschnur reichlich bemessen, dennoch blieben ihm nur knapp zwei Minuten, um sich in Sicherheit zu bringen. So schnell er nur konnte, schob er sich wieder seitlich auf den Ausgang zu. In Gedanken zählte er dabei die Sekunden.
Es gab einen grauenvollen Schreckmoment, als er auf halbem Weg plötzlich feststeckte. Sein Lederwams war an einem kleinen Felsvorsprung hängen geblieben. So gut es ihm in der drückenden Enge möglich war, nestelte er daran herum, wich schließlich wieder einen halben Schritt tiefer in den Spalt hinein und konnte sich endlich befreien, aber alles hatte ihn wertvolle Sekunden gekostet; Sekunden, die über Leben oder Tod entscheiden mochten.
Mehr als die Hälfte der knappen Frist war bereits verstrichen, als er den Ausgang erreichte. Hastig raffte er die Laterne vom Boden an sich und begann zu laufen, so schnell seine kurzen Beine ihn trugen. Zwerge besaßen eine enorme Kraft und Ausdauer, deutlich mehr als beispielsweise die meisten Menschen, aber für schnelle Wettläufe waren sie von ihrem Körperbau her nicht unbedingt geschaffen. Zum ersten Mal wünschte er sich, längere Beine zu haben wie die Menschen, oder wenigstens die Flinkheit anderer Bewohner der Tiefenwelt, der Gnome oder Goblins, zu besitzen.
Als er das Ende des Plateaus erreichte, blieben ihm seiner Zählung zufolge noch knapp fünfzehn Sekunden, doch entweder hatte er die Länge der Zündschnur in der Enge und Dunkelheit falsch bemessen, oder er hatte sich verzählt, denn bereits in diesem Moment ertönte ein lauter Donnerschlag hinter ihm, gefolgt von dem Bersten zusammenbrechender Felsmassen. Aus den Augenwinkeln nahm er ein grelles Licht wahr, dann quoll eine Wolke aus Staub aus dem Spalt, durchsetzt mit Steinbrocken, die durch die Wucht der Explosion herausgeschleudert wurden und wie tödliche Geschosse meterweit durch die Luft wirbelten.