Zwischen den Sternen - Gregor Johannsen - E-Book

Zwischen den Sternen E-Book

Gregor Johannsen

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Beschreibung

Der Roman folgt den seltsamen Wegen einer Sie und eines Er. Jeder einzelne von ihnen und auch beide zusammen wären durchaus in der Lage, andere Wege zu gehen als die verfassten. Es bleibt dennoch immer ein wenig Geheimnis über die konkreten Wenden. Ebenso geheimnisvoll wie wir sind, ohne es zu wissen. Dieses Buch ist der Versuch, das, was wir fortwährend treiben, dem geheimen Bezug zu der in China umfallenden Schaufel, nachzuspüren. G. Johannsen

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Inhaltsverzeichnis

1. Wie es begann

2. Kinder bekommen Kinder

3. Als die Russen einmarschierten

4. Atemschlag

5. Die neue Welt

6. In jenen Jahren

7. Frieden kriegen

8. Wenn die Zeit vergeht

9. Aus der Kindheit entlassen

10. Wie es sein konnte

11. Die neuere Welt

12. Ein anderes Leben

13. Die andere Stadt

14. Ein gefährliches Schokoladenmädchen

15. Als man wer war

16. Der Käfig im Käfig

17. Neuland

18. Unter einem Kreuz

19. Papier wartet geduldig

20. Der Weg, den niemand sah

21. Trance

22. Vitamin B

23. Ordensuche

24. Großvater Jacob

1. Wie es begann:

Es begann damit, dass in jener Nacht, wie auch an jedem Tag und zu allen Zeiten, das erste Licht eines bis dahin unbekannten Sternes eintraf. Zur selben Zeit endete das letzte Licht eines anderen und somit dessen Anblick, sofern jemand zu ihm aufschaute.

Unter einem solchen Himmel des ewigen Kommens und Gehens von Sternen liegt die kleine Stadt schon über 700 Jahre.

Seit Tagen schaufelten die Einwohner den Schnee. Die schmalen Straßen waren zu weißen Schluchten verwandelt und die Kälte schwebte zum Eis des Flusses, der die Stadt wie einen Köder an der Aalschnur umfloss.

Die Frau trug den schweren Bauch voran, während er die Tasche mit dem Nötigen trug. Vor dem Eingang des Entbindungshauses umarmten sie sich, soweit und so vorsichtig es möglich war. In jenem Haus würde mit der Geburt ihres Kindes eine Tradition enden. Nach ihm sollten dort keine Einwohner mehr geboren werden. Eine neue Zeit war wieder einmal angebrochen, obwohl niemand einen neuen Stern bewundert hatte. Die künftigen Kleinstädter würden weit entfernt in einer modernen Klinik das Licht der Welt erblicken. Die Gebürtigen begannen auszusterben.

Ich habe uns sicher eine Wohnung gefunden, wenn ihr heimkommt, sagte er leise.

Ja, so wird es am besten sein, sprach sie, die granitenen Stufen zur Tür hinaufsteigend.

Die Worte bekamen im hohen Schnee einen seltsamen Klang, so, als ob einem leeren Raum das Dach fehle. Er, der Vater des Kindes, dass seine Frau soeben in die Entbindungsstation trug, stand eine Weile vor der mit brauner Lackfarbe bemalten Tür und schaute auf das Oberlicht.

Es schimmerte zwischen den weiten Schwingen eines hölzernen Storchenreliefs und färbte den Schnee der Straße gelblich. Unter den Stiefeln knirschte es, als er sich auf den Heimweg machte. Nur wenige Straßenlaternen säumten die Straße. Deshalb waren die Worte Posthof-Pommern auf der beleuchteten Milchglasscheibe des Gasthauses deutlich zu lesen.

Warte, warte nur ein Weilchen, dann kommt…, die zuschlagende Wirtshaustür ließ das Lied unvollendet in die klare Nacht fließen.

Dann kommt auch das Glück zu Dir, summte er vergnügt. Ihm war leicht ums Herz und er konnte es sich nicht erklären. Er war arbeitslos, sie hatten keine eigene Wohnung, wohnten bei seiner Mutter, Caroline Jessen. Sie wussten nicht, wie es mit Kind werden würde und brauchten dringend die Hilfe der alten Frau, seiner Mutter. Er hatte nach einem Ausweg gesucht und keinen gefunden, der es erlaubte, ohne die Vorschriften der Alten zu leben.

Dennoch, hier auf der Straße, die sich wie ein heller Hohlweg bis zum Postberg hinaufzog, waren alle Sorgen verflogen. Klare Luft, die den Atem gefror, das Glitzern aus dem dunklen Himmel und das Geräusch des Schnees, welches jeden seiner Schritte begleitete, wärmten ihn. Sie schwebte leicht, wie der Flaum eines Federkleides in ihm auf und er war plötzlich mutvoll, ja glücklich. Es würde alles gut werden, davon war er nun überzeugt, als wenn es jemand geweissagt hätte, dessen Weissagungen unfehlbar waren. Für einen Augenblick war er versucht zur Ziegenhütte außerhalb der Stadt zu gehen. Dort am Rande wohnte die Wahrsagerin mit Katzen und Ziegen unter einem Dach. Ihre Besprechungen und Prophezeiungen gingen stets in Erfüllung, so erzählten die Alten. Das war der Grund, weshalb die Ziegenminna trotz des seltsamen Lebens nicht verlacht wurde. Sogar dann nicht, wenn sie mit den beiden Katzen, wohlverwahrt in der Igelittasche, einkaufen ging. Es geschah zwar selten, dass sie in der Stadt war, aber die Nachricht ihrer Anwesenheit verbreitete sich geschwind.

Er verwarf den Gedanken, die Hexe in jener Nacht aufzusuchen. Seine wärmende Zuversicht benötigte keine Bestätigung. Alles würde gut werden.

2. Kinder bekommen Kinder

Kinder bekämen Kinder, mit diesen Worten empfing sie die Hebamme, die ein letztes Mal ihres Amtes in jenem Haus, das sich Entbindungsstation nannte, walten durfte.

Ja, sie war so zierlich trotz des großen Bauches, wie ein Mädchen nur zierlich sein konnte. Dennoch hatte sie vor wenigen Tagen den zweiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Eigentlich war es keine richtige Feier, da der Tag jedes Jahr unmittelbar vor dem Weihnachtsfest lag. Ein Kuss von Ihrem Mann, eine Kerze auf dem Küchentisch und eine Tüte roter Bonbons, die sie so liebte, waren neben dem schlichten Glückwunsch ihrer Schwiegermutter die Besonderheit des Tages. Am Nachmittag kam der Vater und brachte ein geschlachtetes Kaninchen. Er hustete ständig und sein dürrer Leib bäumte sich zum Luftholen wie ein Pumpenschwengel, der einen Augenblick gebeugt verharrte, um dann das Brunnenwasser aus der Tiefe zu saugen, um es mit einem holen Pfeifton auszuspeien. Mutter hatte sie gewarnt, sich nicht mit dem Halbjuden der Brasins einzulassen. Caroline Jessen und Jacob Brasin waren nicht verheiratet, hießen aber immer die Brasins.

Er habe eine Menge Blut seines Vaters im Leib und der war sogar noch in den ersten Kriegsjahren, als den Juden angeraten war sich ja nicht zu mucksen, ein unbarmherziger Geldeintreiber.

Es hatte damals das Einschreiten Carolines bedurft, als die Familie nicht wusste, womit sie dem Juden Brasin, die Ladung Feuerholz bezahlen sollte. Aber sie brauchten es nötig, das Holz, denn der Winter würde so sicher wie das Amen in der Kirche kommen.

Schließlich gab sich der Fuhrunternehmer Brasin und das auch nur durch Zureden seiner Frau Caroline, mit drei Kaninchen zufrieden, die noch am gleichen Tag geschlachtet und den Brasins überbracht wurden.

Doch so bescheiden die Verhältnisse auch waren, unter denen das Anna aufwuchs, erhielt sie dennoch Klavierunterricht. Es sah grotesk aus, wenn sie sich an das Klavier setzte, welches zwischen den beiden Ehebetten der Eltern stand. Die riesigen mit Stroh gefüllten Bettsäcke rahmten es ein und wenn sie die Noten auf eines der Betten legte, knisterte es darin. Kaum waren die ersten Töne auf dem Klavier angeschlagen, gesellten sich die Nachbarn ans Fenster des Katens, das die Mutter Annas weit öffnete, sobald Anna zu spielen begann und lauschten dem, was die zarte Anna aus dem Klavier hervorzauberte.

Sie erinnerte sich des Beifalls all der seltsamen Einwohner aus der Randsiedlung. Niemals ließ Mutter die Frage aufkommen, ob man das Klavier verkaufen solle. Auch nicht, als Vater wegen seines Asthmas die Arbeit aufgab.

Nun war Anna von Karl Jessen dem Sohn Jacob Brasins und Caroline Jessens geschwängert und hatte sich in die Obhut der einzigen Hebamme, die seit Menschengedenken allen Einwohnern des Städtchens in das Leben am Fluss verholfen hatte, begeben.

Die Wehen nahmen zu und die Hebamme, bereitete die Entbindung vor.

Kinder bekämen Kinder, mit diesen Worten klatschte ihre Hand auf das soeben Neugeborene. Es war der erste Schlag, der ihm ins Leben verhalf.

Als die Hebamme das Kind zur Mutter legte, streichelte sie die Narbe Annas am Oberschenkel. Diese Narbe hatte für lange Zeit dem Städtchen als Gesprächsstoff gedient.

3. Als die Russen einmarschierten

Als die Russen einmarschierten, hatte der Vater Annas das Gewehr bereits im Fluss versenkt. Er war trotz des Alters als letzte Reserve zur Verteidigung des Reiches bewaffnet worden. Doch die Reserve des Jahrgangs zog es vor, zu desertieren. Die Frau versteckte ihn die wenigen Tage bis zum Einmarsch der Russen zwischen den Kaninchenställen und dem Brennholzstapel im Garten.

Die Russen wären da, riefen die Kinder überflüssigerweise, denn das Grollen des vielen Eisens, dass sie begleitete, erfüllte das Flusstal. Die grauenvolle Zeit, die als Weissagung den Besatzern vorauseilte, würde nun beginnen. Doch dem benachbarten Dorf, kaum einige Kilometer Flussaufwärts, erging es schlimmer. Als die Leichen im Fluss heranschwammen, war deutlich, dass das Grauen sich erfüllen würde. Dennoch blieb das Städtchen von einem solchen Massensuizid verschont.

Des Wiesenbauer Knecht, der wegen seiner Eigenheiten zu den Stadttrotteln gezählt wurde, war auf den Kirchturm geklettert, als die Panzer ins benachbarte Dorf feuerten. Er hatte ein weißes Tuch mit der langen Monstranzenstange dem Feind entgegen geschwenkt.

So berichtete die Schwester des Küsters später.

Sie fand ihren Bruder und den Knecht, der hin und wieder kleine Kirchdienste leistete, auf den Stufen der Treppe zum Glockenturm, als das Symbol der Kapitulation bereits aus dem letzten Fenster unter dem Glockengalgen wehte. Der Küster saß weinend ohne antworten zu können, während der Knecht auf ihre Frage, ob er das Tischtuch dort herausgehängt hatte, nickte.

Dank der weißen Botschaft aus dem Kirchturm zwangen die fremden unheimlichen Soldaten alle verfügbaren Leute, statt sie zu erschießen, die Holzfabrik zu demontieren. Doch bevor der Abriss der einzigen Fabrik des Städtchens beginnen sollte, hatte der Kommandant die verängstigten Einwohner am hohen Schornstein des Heizhauses versammeln lassen. Er drückte Anna, damals fast noch ein Mädchen, die Fahne mit Hammer und Sichel in die Hand, wies lachend auf die Spitze des Schornsteins und stieß sie zu den Sprossen. Die waren vom Sockel bis zum Kopf in die Ziegel des Schlotes eingelassen.

Geschickt, wie eine Katze, kletterte das Mädchen hinauf und befestigte die Fahne in der Höhe. Eine Fahne, die das Symbol ihrer Vorgängerin, ein gebrochenes Kreuz, durch eines aus Hammer und Sichel ersetzte. Die Grundfarbe des Fahnentuchs war die gleiche geblieben. Die Soldaten begleiteten den Abstieg des Mädchens mit Salven aus den unförmigen Maschinenpistolen. Zunächst spürte sie keinen Schmerz und dachte, sie wäre von der letzten Sprosse abgerutscht. Doch dann lief das Blut unter dem Rock hervor. Der Kommandeur deutete auf einen der umstehenden Arbeiter, es war der Sohn Jacob Brasins, Karl Jessen, und befahl ihm, das Mädchen ins Lazarett zu tragen. Sie hatte einen Durchschuss und die Wunde heilte schwer, aber sie heilte.

Auch wenn Annas Mutter Karl nur widerwillig einließ, dennoch besuchte der junge Mann Tag für Tag das Mädchen. Als sie wieder gehen konnte, lud er sie in das Tanzlokal der Stadt ein. Es war das HJ- Heim, in welchem die Kommandantur einmal im Monat ein Tanzfest duldete. Ein neuer Name war für dieses Haus noch nicht gefunden.

Die Einwohner des Städtchens nannten es also HJ- Heim, so, wie sie es seit seiner Erbauung nannten, ohne weiter über die Abkürzung nachzudenken. Das hölzerne Hakenkreuz war zwar vom Giebel über dem Eingang entfernt worden, doch die Sonne hatte die darunterliegenden Bretter nicht wie den übrigen Teil des Giebels ergrauen können. Die Musikanten der Tanzkapelle waren ehemalige Postbeamte. Sie spielten Musik der Filme, die einst die Frauen, deren Männer irgendwo in der Welt ihrem Soldatenhandwerk nachgingen, im Kino mit Namen Elysium trösten sollte. Traurig schöne Lieder der Zarah Leander verwandelten sich in zärtliche Melodien, die aus der Ungewissheit über die Besatzer und die kommende Zeit eine kleine Hoffnung sprießen ließen.

In jenem HJ- Heim wurde ehrerbietig dem jungen Paar, Anna und Karl, der Weg zur Tanzfläche freigemacht, da sie beide als Symbol des Wohlwollens des Kommandanten mit der Stadt galten. Sie eröffneten den Abend mit einem englischen Walzer. Sie, das wunderschöne schwarzhaarige Mädchen, welches wegen seiner Schönheit den Makel, den ihr bislang eine Zigeunervorfahrin mitgegeben hatte, mehr und mehr in Bewunderung verwandelte und er, das Halbblut des Jacob Brasin, dem die nun anbrechende Zeit den Makel des Nichtariers in den Köpfen der Einwohner zu löschen begann.

Dagegen wagte der Knecht des Wiesenbauern sich nicht in das Lokal hinein. Er war weder Zigeuner, noch war er Jude, er war Arier, aber einer, der eigentlich nach Kükenmühl gehörte. Kükenmühl war eine Irrenanstalt, die es nirgends gab. Deshalb wurden diejenigen, die etwas eigenartig waren, nach Kükenmühl gewünscht. Es gab wohl niemanden im Städtchen, dem man noch nicht den Einzug in diese Anstalt empfohlen hatte.

Der Knecht des Wiesenbauern fühlte, dass ihn die Kapitulationsfahne vor Hänseleien schützte aber auch, dass er niemals Ihresgleichen im Städtchen sein würde. Das Leben hatte ihn gelehrt, dass seine Unsichtbarkeit das beste Mittel sei, zu leben. Wenn es dunkel geworden war, stand er auf einer Stiege vor dem erleuchteten Fenster des HJ- Heimes und schaute dem Tanzvergnügen zu. Er war nicht traurig darüber, denn er kannte ein Geheimnis, welches ihm ganz allein gehörte und doch die ganze Stadt betraf. Würde er es offenbaren, müsste ihre Geschichte neu geschrieben werden.

4. Atemschlag

Du wirst schreien wie alle, die ich entbunden habe, sagte die Hebamme zu dem Blauen etwas, welches sie an den Füßen hielt. Dann klatschte ihre Hand auf den soeben Geborenen. Sie tat das Richtige und hatte recht. Wie eine Knarre, die man an den Buden des Jahrmarktes losen konnte, der stets zu Johanni auf dem Platz vor dem Rathaus für eine ganze Woche einzog, legte der Kleine los. Sein Gesicht rötete sich schnell. Die Hebamme gab das Baby der Mutter in den Arm und wusch sich die Hände: Genau wie mein Kläuschen, der wollte auch nicht atmen.

Nun, da sie ein Kind habe, sagte Caroline, die Schwiegermutter, müsse sie endlich kochen lernen. Mit dem Kinderwagen zu flanieren und den Leuten Klavier vorzuspielen, mache das Baby nicht groß.

Ihr Sohn Karl überhörte den Satz und warf ein, dass Adenauer Deutschland gar nicht einigen könne. Die große Zeitung, verdeckte ihn am Küchentisch. Ihr Name „Freie Erde“ war auch noch vom Herd zu lesen, an dem die Alte stand.

Die Schwiegertochter hatte die Tränen zurückgehalten, bis sie beide in ihrem Zimmer allein waren. Vor dem Fußende des Bettes schlief der kleine Thomas in einem ausstaffierten Wäschekorb. Es war still und das Schurren des Feuerhakens, mit dem Caroline den Herd vorbereitete, drang aus der Küche bis durch das Kissen der jungen Mutter. Sein Versprechen, eine eigene Wohnung zu finden, war nicht eingelöst.

Wenige Tage danach schloss er mit überfreudigen Augen eine Tür auf. In der Decke der künftigen Wohnstube klaffte ein riesiges Loch. Anna erschrak still in sich hinein, sodass er nicht bemerkte, wie sie auf dem einzigen Stuhl, den die Flüchtlinge hinterlassen hatten, versank. Dennoch richteten sie sich in der neuen Wohnung über den Gaststuben des Wirtshauses Zum Posthof ein. Es war ein großes Wohnzimmer und es hätte ein Klavier hineingepasst. Das aus der Tagelöhner Siedlung hatten die Eltern nun doch dem Küster verkauft. Ein Klavier zu kaufen, wäre das Letzte in diesen Zeiten, antwortete die Schwiegermutter kopfschüttelnd. Manchmal gingen Anna und Karl am Sonnabend in die große Wirtsstube hinab, die neben dem kleinen Ausschankzimmer lag und in dem ein Klavier stand. Anna spielte dann die Wünsche der Gäste und Karl spielte Billard. Es war ein Lochbillard für vier Spieler. An einem dieser Abende entstand der Entschluss nach Aue zu gehen, um im Bergbau gutes Geld zu verdienen. So kam es, dass Großmutter Jessen, entgegen der ursprünglichen Absicht der Eltern, den Kleinen aufzog.

Sie waren viel zu jung, um ohne Caroline auszukommen. Außerdem lag Aue am Ende der Welt und es gab nur die sichere Nachricht, die bis in die Billardstube des Wirtshauses gedrungen war: Man verdiene gutes Geld bei der Wismut Aue.

Niemand im Städtchen wusste, und schon gar nicht in der Wirtsstube war bekannt, was Wismut bedeutet. Selbst wenn, hätte das Wort nicht aufgeklärt. Die geringe radioaktive Strahlung, die von dem Element Bismut ausging, sei ungefährlich, sagten die dortigen Fachleute. Das so bezeichnete Risiko hinderte Anna und Karl nicht, der riesigen Wismut SDAG zu vertrauen.

Sie, die junge wunderschöne Frau und er, der Sohn des Juden Jacob Brasin stiegen mit zwei Koffern aus fester Pappe in den frühen Zug, der das Städtchen mit der Welt verband. Der Kleinstadtzug mit Namen Paul brachte die beiden, in seinen knarrenden Holzwagen, so wie einst Vater Jacob zu dem weit entfernten Anschlussgleis. Von dort führten die Schienen in die weite Welt.

Einst folgte Jacob Brasin von dort dem Deportationsbefehl nach Warschau so wie später das junge Paar Jahre später dem Ruf der Befreier des Warschauer Ghettos nach Aue. Noch bevor der Kleine eingeschult wurde, kamen sie zurück und brachten seltsame Kristalle und einen Erzpickel mit. In dessen Stiel war ein Wappen eingebrannt und die alte Frau las dem kleinen Thomas vor, was in dem Wappen stand: SDAG Wismut Aue. Seitdem spielte er im Kindergarten Bergbau. An der Mauer zum Friedhof, neben dem der Kindergarten lag, fanden er und sein Freund Klaus einen alten verkohlten Balken. Den trugen sie von einem Ende des Spielplatzes zum anderen und entdeckten ihren Schatz unter großer Gefahr und im Finsteren der Erde stets aufs Neue. Zu der Zeit ahnte niemand, dass die imaginäre Gefahr, unter der die spielenden Kinder den Balken bargen, ein Abbild derjenigen von Aue war. Auf der anderen Seite der Friedhofsmauer hatte Großmutter Caroline eine Grabstelle gekauft. Sie lag neben dem Grab des Mannes, der nach seiner Rückkehr aus dem KZ, schon vom Trittbrett des Waggons der auf dem Bahnhof wartenden Caroline verkündet hatte, dass Jacob Brasin, ihr Mann, lebe und bald wieder bei ihr sein werde. Jener Rückkehrer, Joseph Lafin verstarb wenige Jahre nach dieser Ankündigung, ohne dass sie wahr wurde. Während die ankommende Lokomotive Paul unzählige Male pfiff, stieg Jacob niemals die hölzernen Stufen des Waggons hinab, um die Erde des Städtchens wieder zu berühren und von der wartenden Frau, die inzwischen allabendlich allein auf dem Bahnsteig stand, umarmt zu werden.

5. Die neue Welt

Der Vater schnitt das Menjoubärtchen sehr sorgsam vor dem Spiegel, der in der Küche über dem Ausguss hing. Doch an jenem Sonntag ließ er noch mehr Sorgfalt walten, da er und seine Frau am nächsten Morgen zur Bank gehen würden. Sie hatten etwas Geld gespart,- das Vermögen, dass sie in Aue erschürft hatten. Großmutter Caroline blieb mit dem Jungen allein in der Küche zurück.

Sie legte Holz in das Feuerloch und er spürte, dass eine Last ihr Tun verlangsamte.

Dennoch kauften die Eltern von den greisen Wirtsleuten die kleine Schänke Zum Posthof, die unter ihrer Wohnung lag. Der alte Wirt des Posthofes war ein unheimlicher Mann. Er hatte nur ein Bein, da das andere aus Holz bestand. Es war mit Leder überzogen und knarrte bei jedem Schritt. Oft lehnte er im Hof des Gasthauses an der Ziegelwand. Die Sonne wärmte die Mauer und die wiederum ihn. Während er unablässig an einem dicken Zigarrenstummel sog, wartete er darauf, seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen zu können. Sie bestand darin, die Hunde, die manchmal mit den Gästen kamen, zu ärgern. Einmal stieß er einen kleinen Terrier mit dem Straßenbesen, bis der Hund sich wütend in dessen Borsten verbiss. Thomas und Klaus, sein Freund, standen im Eingang des Hinterhauses und schauten von Angst gebannt dem Treiben zu. Als der Hund außer sich vor Angriffslust über den Hof raste, trat Klaus ihm entgegen und wollte den Hund fangen. Der sprang an ihm hoch, biss sich in seiner Wange fest. Die Narbe behielt der Freund lebenslänglich und die Kinder nannten ihn fortan statt Klaus, Wolfsblut. Sein richtiger Name geriet in Vergessenheit.

Die Gaststätte Zum Posthof veränderte das Leben der Familie von heut auf morgen. Die Abende, die sie bisher gemeinsam verbrachten, wurden seltener, bis es sie nicht mehr gab. An solchen Abenden hatten sich die Eltern auf ein Kissen ins Fenster gelehnt, so, wie es alle anderen taten und davor deren Eltern und davor wiederum deren Eltern auch getan hatten. Sie sahen den spielenden Kindern der Straße zu. Sobald der Schrankenwärter die zischende Dampflok mit Namen Paul den letzten Wagen über die Straße gezogen hatte und der Wärter die Schranken mit einem weit hörbaren Klingeln hochdrehte, war es so weit. Er kam mit der Schalmei unter dem Arm nach Hause. Der Stuhl stand bereits im Hauseingang und die Frau setzte sich neben ihn. Er stellte das Blasinstrument und die kleine Signalfahne sorgfältig in den Türrahmen und begann den wartenden Kindern zu erzählen. Er sprach laut, dass es die Erwachsenen in den Fenstern der umliegenden Häuser mithören konnten. Unzählige Kriege und Abenteuer hatte er bestanden, Löwen besiegt und mit Eingeborenen gekämpft, Panzer geknackt und den Hungertod überlistet. Manchmal lachten die auf die Kissen gelehnten Eltern und riefen, dass sie diese oder jene Geschichte anders erinnerten. Doch der alte Bahnbeamte winkte unbeeindruckt ab und verdichtete seine Erzählungen fort und fort. Das waren die Abende, an denen die Sonne die Ziegelmauern noch warm hielt. Aber mit jenem Sommer, da die Eltern den Posthof in Besitz nahmen, schauten sie nicht mehr dem Treiben auf der Straße zu.

Nunmehr standen sie am Zapfhahn und schauten den Biertrinkern zu. Doch auch die kleine Gaststube war eine Idylle, schien einem Spitzweggemälde entsprungen, das aus dem Rahmen trat und in der kleinen Gaststube zu leben begann.

Dort saß der Kohlefahrer und Pferdefleischer am Ofen unter dem Zigarrenbord. Letzterer war von einem Hufschlag an der Stirn tief geprägt. Er war wohlhabend und feilschte, wenn die Zigeuner in den Ort zogen, um deren Pferde. Sie, die Zigeuner, schlugen jedes Jahr ihr Lager in der Sandgrube der Stadt auf. Das war für alle Kinder des Städtchens eine der zwei Attraktionen, die sich jedes Jahr wiederholten. Die eine war das Eintreffen des Zirkus von der später noch berichtet wird und die andere Attraktion waren die Zigeuner. Thomas saß gern im Zigeunerlager auf der Treppe eines der Wohnwagen und schaute gebannt in das Innere. Die Tür stand stets auf und das Geheimnis eines solchen Wagens, es musste dort ein Geheimnis geben, verbarg sich weit hinten im undeutlichen Schummer der Tiefe. Manchmal setzten sich die Zigeunerkinder zu denen des Städtchens und schlugen die Kastagnetten, sprangen auf, drehten sich in einer Weise, wie Thomas es noch nie zuvor gesehen hatte.

Wenn eines der Mädchen sich nah zu ihm beugte und ihn arglos anschaute, dann sah er die Tiefe des Nichts. Ihre Augen waren so dunkel und die Tiefe der Dunkelheit ließ all jene unerklärlichen Gedanken, ja all die Gefühle urplötzlich in ihm erwachen, die dem Anblicke des Nachthimmels im Winter glichen. In ihren Augen fand sich kein Ende, kein Grund, kein Ziel, bis ein Lächeln und ein buntes Tuch im Takt der Kastagnetten davonwehte. Die ungestümen Pferde der Zigeuner wieherten, als wenn sie in den Tanz einstimmen wollten, da sie vielleicht ahnten, dass in dem Städtchen ein neuer Besitzer auf sie warten würde.

Der Bierkutscher kam stets mit Frau in die Skatrunde. Er hatte eine unterhaltsame Frau, die die Männer am Tisch mit allerlei Geschichten belustigte. Der Baumschäler, meist angetrunken, drängte sich stets spät in die Gaststube.

Immer dann, wenn die anderen Gäste wegen der Polizeistunde an den Aufbruch dachten. Doch die atemraubenden Erlebnisse, die er von der Jagd erzählte, wollten alle gern hören und vor allem glauben. Am liebsten hörten sie die Geschichte von dem Eber, auf dem er geritten war und mit bloßen Händen niedergerungen hatte. Mit jenen Worten holte er stets zwei große Hauer hervor, die auf keinen Bierdeckel passten und alle verstummten ehrfurchtsvoll.

Doch die Idylle hatte eine Schattenseite. Wenn all die Fröhlichkeit verflogen und der Torweg, der auf den Hof der Schänke führt, ein letztes Mal aufgesucht war, da er als Pissoir diente, dann kratzte bei so manchem Gust Lippert an der Tür. Gust Lippert war ein Geist, der in der kleinen Stadt umging und wenn es so weit war, dem Unglück die Tür öffnete. Er bevorzugte die Finsternis, deshalb ging zu so später Stunde niemand mehr bis zur Latrine, die in einer entfernten Ecke des Hofes lag und schon am Tage unheimlich wirkte, sondern man suchte den Torweg auf, der direkt auf die spärlich beleuchtete Straße führte.

Der Schuster, der im Krieg ein unbekanntes Gas eingeatmet hatte, war dennoch sehr alt geworden. Der letzte scharfe Abschiedsschnaps, den er sich jeden Abend im Posthof genehmigte, schüttelte ihn so sehr, dass er hinauslief und den ganzen Unrat aus der Lunge spie.

Manchmal ging der Schädlingsbekämpfer hinterher und erzählte dem Hustenden, dass das Ei in der Brust seiner Frau wachse und wachse, und niemand wüsste einen Rat.

Selbst die Ziegenminna, die mit ihrem Gemurmel vieles gutsprach, konnte nicht helfen. Er wisse sich keinen Ausweg und ein Mann sei er schon lange nicht mehr. Sobald die Gäste aufgebrochen waren und die Gaststube sich leerte, flüsterte die Frau des Bierkutschers der jungen Wirtin, dass sie noch immer nicht zahlen könne und die Zeche solle bis zur nächsten Löhnung angeschrieben werden. Für die Kinder nahm sie noch eine Tüte Milchbonbon mit. Dann schwankten sie und ihr Mann Arm in Arm aus der Schankstube. Die Gläser wurden geputzt, das Geld gezählt und das Licht gelöscht. Wie gesagt, in einer solchen Nacht, da der Himmel so dunkel zwischen den Sternen war, kratzte Gust Lippert an die eine oder andere Tür des Städtchens und hin und wieder wurde ihm Einlass gewährt.

Doch am Morgen, da der Fluss der Glut der aufgehenden Sonne zu entspringen schien und der schwarze Gust sich in den schnauzbärtigen Ausrufer des Rates der Stadt verwandelt hatte, da stand der Schädlingsbekämpfer bereits am geöffneten Fenster vor dem Posthof und trank einen Magenschnaps. Der Pferdehändler hatte den Wagen angespannt, um seiner Arbeit nachzugehen, die der Ausrufer der Stadt mit einem dreimaligen Läuten seiner großen Messingglocke an allen vier wichtigen Plätzen der Stadt verkündete: Der Rat der Stadt gibt bekannt, dass die Abfuhr der Asche nunmehr am Montag und am Donnerstag erfolgt. Das war die Zeit, da die Abfalltonnen noch Aschtonnen hießen, denn etwas anderes als Asche gab es kaum zu Entsorgen.

Ja er war inzwischen wer, der Ausrufer. Als er noch Knecht des Wiesenbauern war, schlich er sich durch die Gassen des Städtchens, immer in der Hoffnung unbemerkt zu bleiben. Damals, beim Hissen der weißen Fahne ahnte er noch nicht, dass man sich irgendwann an ihn erinnern und diese Erinnerung ihm zur Ehre gereichen würde. Es war nicht einfach für den Rat der Stadt Einwohner zu finden, die der Vergangenheit getrotzt hatten. Jacob Brasin war für tot erklärt worden und Josef Lafin war verstorben. So fiel die Wahl auf den Retter des Städtchens. Er bekam die ehrenvolle Aufgabe alle wichtigen Nachrichten der Bürgermeisterei den Einwohnern kundzutun. Man versah ihn mit einer Messingglocke, an der der Tischler des Ortes einen hölzernen Griff befestigte und unterwies ihn im Ausrufen. Jetzt ging er stolz durch die Straßen der Stadt. Niemand kam auf die Idee seinen Spott mit ihm zu treiben. Im Gegenteil, er wurde ungeduldig erwartet, wenn er mit dreimaligem Läuten wichtige Informationen verkündete, etwa die, dass in der Zeit zwischen dreizehn und vierzehn Uhr der Strom abgeschaltet werde.

Thomas hielt sich oft bei Großmutter auf. Sie war nicht mit ins Wirtshaus gezogen. Sie war es, die ihn zur Einschulungsfeier begleitete und ihn bereits am ersten Schultag vor der Wut der Mitschüler beschützte. Sie war es, die auf ihn am Flussbad aufpasste und später die Wünsche nach Schlaghosen und Pepitahemd mit Hilfe der Singernähmaschine, deren Wippbrett er begeistert trat, bis sie rief, dass die Nähnadel brechen würde, erfüllte. Seine Freiheit schien grenzenlos, sodass sie sich ihm nicht als solche zu erkennen gab. Wenn Vater und Mutter an ihrem freien Tag, an dem die Alte für alle das Mittag zubereitete, davon redeten, dass es in der Stadt üblich war, bestimmte Familien einzuladen, um alte Traditionen fortzusetzen, verstand der Junge nicht, wovon sie redeten. Als er einige Jahre später erfuhr, dass Verlobungspläne besprochen worden waren und die Tochter des Pferdeschlachters, die in seiner Gegenwart immer öfter erwähnt worden war, die für ihn Erwählte sein sollte, fragte er sich, warum es alles anders werden sollte.

Damals erreichte ihn das Gehörte nicht. Es war ihm derart unwichtig und es war ihm unvorstellbar, dass etwas ohne seine Zustimmung geschehen könne. Er stellte sich sogar vor, mit dem Mädchen, dass er nicht besonders mochte, Hand in Hand zum Postberg zu spazieren. Die Frau des Tischlers würde mit ihrem spitzen roten Mund freundlich grüßen, der Kürschner in der Tür seiner Werkstatt stehen und ihnen Nachschauen. Ja selbst der Ausrufer der Stadt, der immer am Sonntag in dem kleinen Park am Postberg saß und den Kindern von seiner Ruhmestat berichtete, würde für einen Augenblick unterbrechen und ergeben die Mütze lüften. Eine solche Fantasie belustigte ihn, je genauer er sie spinnen konnte. Je farbenreicher das Gespinst von dem Mädchen an seiner Seite wurde, umso selbstverständlicher war, dass es eine flüchtige Fantasie war.

Aus der Gewissheit dieses Widerspruchs entsprang eine Freude, die er bis in die Zehenspitzen verspürte.

Seine Großmutter Caroline wohnte allein im Erkerzimmer eines Hauses, welches sich nicht mehr an ein anderes anlehnen konnte. Es war das letzte vor dem Fluss. Er kam nie auf die Idee, dass seine Großmutter, die weder fragte, noch tadelte und deren Rat er doch befolgte, seine Großmutter sei. Die Erinnerung daran, dass sie ihm Schutz gab, als die anderen Mitschüler am ersten Schultag ihre Wut an ihm auslassen wollten, hatte ihn tief mit der alten Frau verwurzelt. Dabei war alles nur kindlicher Fantasie entsprungen. Sie, diese Fantasie gaukelte ihm zur Einschulungsfeier vor, dass sich das Jabot, welches den Busen der künftigen Klassenlehrerin berüschte, öffnen würde. Es konnte gar nicht anders sein. Die Lehrerin stand vor der Bühne der Turnhalle und der weiße Vorhang ihres Dekolletés musste eine Puppenbühne verbergen. Er würde sich öffnen und der Kasper hervorspringen seine Beine über den Bühnenrand schwingen und ein unbekanntes wunderschönes Märchen ankündigen. Die Kinder seiner Schulklasse erwarteten fieberhaft den ersten Unterrichtstag, der mit dem Theaterspiel auf den Brüsten der Lehrerin beginnen sollte, so hatte er es allen versprochen, ihnen von dem wundersamen Puppenspiel so bildhaft erzählt, dass alle voller Spannung in den Holzbänken saßen, als die Lehrerin hereinkam. Die bald einsetzende Enttäuschung wandelte sich in Wut gegen den Propheten. Die Großmutter kam in höchster Not, als ihn die ersten Schläge auf dem nach Hause Weg zu Boden warfen.