Zwischen den Welten - Hadley Vlahos - E-Book

Zwischen den Welten E-Book

Hadley Vlahos

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Beschreibung

Der NEW-YORK-TIMES-BESTSELLER endlich auf Deutsch

»Sanft, erfrischend direkt ... Hilft dem Leser, sich mit dem großen Unbekannten auseinanderzusetzen – und vielleicht auch Frieden mit ihm zu schließen.« The New York Times

Was passiert am Lebensende? Sehen wir unser Leben wie »einen Film« vor unseren Augen ablaufen? Ist da ein Licht, auf das wir zugehen? Ein Tunnel? Hospizpflegerin Hadley Vlahos hat schon viele Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet und weiß: Wir sterben so individuell, wie wir gelebt haben. Aber es gibt da dieses Dazwischen, den Raum, in dem sich Leben und Tod berühren. Und was dort passiert, ist so unglaublich, so berührend, so tief bewegend, dass sie sich sicher ist: Der Tod ist nicht das Ende.

Da ist etwa Ms Glenda, die von ihren Liebsten »drüben« bereits erwartet wird, sie sieht sie neben ihrem Bett stehen. Oder Mr Carl, der sich erst am Lebensende von seinen Selbstvorwürfen frei machen kann, als immer wieder ein kleiner, vertrauter Vogel auftaucht und ihm signalisiert: »Lass los!« Und von Ms Sandra lernen wir: Vielleicht haben wir doch Kontrolle darüber, wann wir den Schritt hinüber in die Anderswelt wagen.

Hadley Vlahos erzählt eindringlich und nahbar von zwölf völlig unterschiedlichen Menschen auf dem letzten Weg, von zwölf unvergesslichen Erlebnissen zwischen den Welten.

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Seitenzahl: 370

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Was passiert am Lebensende? Sehen wir unser Leben wie »einen Film« vor unseren Augen ablaufen? Ist da ein Licht, auf das wir zugehen? Ein Tunnel? Hospizpflegerin Hadley Vlahos hat schon viele Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet und weiß: Wir sterben so individuell, wie wir gelebt haben. Aber es gibt da dieses Dazwischen, den Raum, in dem sich Leben und Tod berühren. Und was dort passiert, ist so unglaublich, so berührend, so tief bewegend, dass sie sich sicher ist: Der Tod ist nicht das Ende.

Da ist etwa Glenda, die von ihren Liebsten »drüben« bereits erwartet wird, sie sieht sie neben ihrem Bett stehen. Oder Carl, der sich erst am Lebensende von seinen Selbstvorwürfen frei machen kann, als immer wieder ein kleiner, vertrauter Vogel auftaucht und ihm signalisiert: »Lass los!« Und von Sandra lernen wir: Vielleicht haben wir doch Kontrolle darüber, wann wir den Schritt hinüber in die Anderswelt wagen.

Hadley Vlahos erzählt eindringlich und nahbar von zwölf völlig unterschiedlichen Menschen auf dem letzten Weg, von zwölf unvergesslichen Erlebnissen zwischen den Welten.

Aus dem amerikanischen Englisch von Elisabeth Liebl

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »The In-Between. Unforgettable Encounters During Life’s Final Moments« bei Ballantine Books, einem Imprint von Random House, einer Abteilung von Penguin Random House llc, New York.

Copyright © 2023 by Hadley Vlahos, rn. All rights reserved. No part of this book may be reproduced by any means, electronic or mechanical, or by any information storage and retrieval system, without permission in writing from the proprietor.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit konnte eine gendergerechte Schreibweise nicht durchgängig eingehalten werden. Bei der Verwendung entsprechender geschlechtsspezifischer Begriffe sind im Sinne der Gleichbehandlung jedoch ausdrücklich alle Geschlechter angesprochen.

Copyright © 2024 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: zero-media.net, München, nach einer Originalvorlage von Ballantine Books us

Umschlagmotiv: © FinePic®, München

Umschlagdesign: Barbara M. Bachmann

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

isbn 978-3-641-31947-2V002

www.koesel.de

Die Geschichten in diesem Buch beruhen auf meiner Arbeit als Hospizschwester. Zum Schutz ihrer Privatsphäre wurden die Namen aller Patienten und Begleitpersonen geändert sowie medizinische und andere Details, die eine Identifizierung ermöglichen würden. Ziel dieses Buches ist es, die Weisheit und die Einsichten, die meine Patienten mir geschenkt haben, mit dir zu teilen.

Für meine drei Kinder, die mich jeden Tag an die einfachen Freuden des Lebens erinnern.

Inhalt

Einleitung

1 Glenda

2 Carl

3 Sue

4 Sandra

5 Elizabeth

6 Edith

7 Reggie

8 Lily

9 Babette

10 Albert

11 Frank

12 Adam

Zu guter Letzt

Dank

Einleitung

Viele Menschen reagieren mit Bestürzung, wenn sie hören, dass ich Hospizkrankenschwester bin. Dann wollen sie wissen, wie ich es aushalte, Tag für Tag so eine schwierige, ja traurige Arbeit zu machen. Es stimmt schon, dass es in diesem Beruf eine Menge harter – sogar niederschmetternder – Momente gibt, aber ich kann dir versichern: Die schönen Momente überwiegen bei Weitem. Augenblicke der Ehrfurcht, in denen man innehält und sich fragt, wo der Sinn in all dem liegt. Augenblicke tiefer Liebe, erfüllt von einer Weisheit, die sich nur einstellt, weil man weiß, dass das Ende nah ist. Es mag für viele unverständlich sein, warum jemand diesen Beruf ausübt, ich aber schätze mich glücklich, in der Palliativpflege zu arbeiten.

Meine Arbeit beginnt, wenn die Ärzte davon ausgehen, dass ein Mensch seinem Ende nahe ist. Gewöhnlich wird dann die Krankenhausbehandlung eingestellt, und die Menschen werden nach Hause entlassen, damit sie ihre letzten Tage, Wochen oder Monate in der Geborgenheit ihres Zuhauses verbringen können, gemeinsam mit ihren Lieben. Als Hospizschwester sorge ich dafür, dass Patientinnen und Patienten und Angehörige diese Zeit so gut und schmerzfrei wie möglich erleben. Da die Phase der Palliativversorgung bis zu einem halben Jahr dauern kann, lerne ich dabei die Menschen, ihre Geschichten, ihre Lieben und sogar ihre Haustiere recht gut kennen.

Die Geschichten in diesem Buch erzählen, wie unerklärlich, intensiv und berührend diese Momente am Übergang von einer Existenz zur – wie auch immer gearteten – nächsten sein können (und ich glaube daran, dass danach etwas kommt). Ich erzähle diese Geschichten, weil es über den Tod und das Sterben so viele falsche Vorstellungen gibt. Was ich gut nachvollziehen kann. Auch ich habe nicht auf alle Fragen eine Antwort parat, auch wenn ich dem Tod so oft begegnet bin, dass ich eine ungefähre Vorstellung davon habe, was uns bei diesem Prozess erwartet.

Hospizarbeit oder der Tod sind ja nicht gerade Themen, über die wir häufig reden. Aber ich weiß, dass sich die Menschen dafür interessieren, weil man mir immer wieder viele Fragen dazu stellt. Manche treibt einfach die Neugier, andere fragen aus einem triftigen Grund: Meist geht es um einen Angehörigen, der von der Hospizpflege versorgt werden soll bzw. schon wird oder wurde. Manchmal steht dieses Thema auch beim Fragenden selbst an.

Eine der Fragen, die mir am häufigsten gestellt werden, ist die, wieso ich überhaupt Hospizschwester geworden bin. Das ist ganz normal, vor allem, weil ich ja noch relativ jung bin. Ich habe angefangen, an diesem Buch zu arbeiten, als ich dreißig war. Meine ersten Erfahrungen in diesem Beruf habe ich aber bereits mit vierundzwanzig gesammelt und war damit überall, wo ich gearbeitet habe, die Jüngste. Tatsächlich bin ich das immer noch. Und mein Weg zur Ausbildung in der Hospizpflege verlief überhaupt nicht geradlinig. Mein Kindheitstraum war es, Schriftstellerin zu werden. Als Studierende wäre es mir nicht im Traum eingefallen, dass ich einmal Krankenschwester werden könnte. Aber aus der Rückschau erkenne ich, dass es schon eine gewisse Abfolge von Ereignissen gab, die mich an diesen Punkt gebracht haben.

Für viele Menschen ist der Tod ein Tabu, das Ängste auslöst. In meiner Familie war das nicht so. Die Eltern meiner Mutter waren Bestatter und geprüfte Einbalsamierer. Meine Mutter wuchs sozusagen zwischen trauernden Familien und der Leichenhalle auf. Wenn du den Film My Girl – Meine erste Liebe gesehen hast, weißt du, wovon ich spreche. Es war für sie nichts Ungewöhnliches, ihre Hausaufgaben zu machen, während im Nebenraum jemand für die Bestattung hergerichtet wurde.

Da für unsere Familie der Tod buchstäblich Teil unseres Lebens war, war es nicht ungewöhnlich, dass beim Abendessen über das Sterben und alles, was damit zusammenhängt, gesprochen wurde. Ich wuchs mit der Vorstellung auf, dass der Tod etwas ganz Natürliches ist. Für mich fühlte er sich immer ganz normal an, nicht erschreckend oder geheimnisvoll.

Außerdem wuchs ich mit klaren Vorstellungen darüber auf, was nach dem Tod mit uns passiert. Bis zum Alter von zehn Jahren ging ich in Baton Rouge in Louisiana auf eine Privatschule der Episkopalkirche. Dann zog meine Familie um nach Destin in Florida, aber auch dort besuchten wir Kinder die örtliche Schule der Episkopalkirche. Meine Klasse verbrachte jeden Mittwochmorgen in der großen Kathedrale, zu der das Schulgelände gehörte. Alles, was wir lernten, hatte irgendwie mit der Bibel zu tun. Selbst in der Musikstunde sangen wir ausschließlich Lieder zum Lobpreis Gottes. Selbst unser Familienleben drehte sich hauptsächlich um die Kirche. Wir besuchten jeden Sonntag die Messe und nahmen natürlich auch am regen Gemeindeleben teil.

Ich glaubte jedes Wort von dem, was ich dort hörte. Ich glaubte an den Himmel, an die Hölle, an die Zehn Gebote und alles andere, was man mich lehrte. Ich stellte nichts infrage, ich glaubte eben und dachte auch nicht groß darüber nach.

Als ich fünfzehn war, nahm die Welt, wie ich sie kannte, dann ganz plötzlich ein Ende.

Es war ein normaler Freitagabend wie so viele in der Highschool. Wie meist am Freitagabend stand ich auf einer Metalltribüne und verfolgte das Footballspiel unserer Schulmannschaft. Ich hatte mir mein mit Sommersprossen übersätes Gesicht schwarz angemalt und hielt die Hand meiner besten Freundin Hannah. Gemeinsam schrien wir den Schlachtruf unserer Schule hinaus in die Abendluft. Ich sah, wie der Football durch die Luft segelte und in den Händen meines Freundes Taylor landete. Wir johlten noch lauter.

Und dann ging auf einmal alles ganz schnell. Zwei Spieler der gegnerischen Mannschaft nahmen Taylor in die Zange und drückten ihn aufs Gras, weshalb das Spiel unterbrochen wurde. Ich sah zu, wie er sich mühte, wieder aufzustehen. Sobald er auf den Beinen war, lief er ins Seitenaus.

»Irgendwas stimmt nicht mit ihm«, sagte Hannah und drückte meine Hand noch fester.

»Was? Nein, ihm geht’s doch prima!«, widersprach ich.

Ein paar Minuten später erschien ein Krankenwagen, und ich sah erschrocken zu, wie man Taylor mitnahm.

»Hadley, irgendetwas stimmt da nicht«, sagte Hannah nochmals.

»Wahrscheinlich hat er sich was gebrochen. Dann können wir megalustige Sachen auf seinen Gips schreiben.«

Hannah nickte, und wir verfolgten weiter das Spiel.

Danach ging ich mit zu ihr nach Hause, um dort zu übernachten. Wir blieben viel zu lange auf, lackierten uns die Nägel und legten Gesichtsmasken auf. Irgendwann steckte Hannahs Mutter den Kopf ins Zimmer und sagte: »Ab ins Bett. Sofort!« Hannah verdrehte die Augen, aber wir gehorchten natürlich.

Am nächsten Morgen nach dem Aufwachen schlüpften wir in unsere kurzen Sporthosen und T-Shirts und machten uns, immer noch müde vom Vorabend, auf zum wöchentlichen Autowaschtag an der Schule. Auf dem Parkplatz angekommen sahen wir, dass dort alle Menschen weinten. Ich blieb unvermittelt stehen und blickte meine Freunde verblüfft an.

»Er ist gestorben«, sagte meine Freundin Ashley und sah uns durch einen Tränenschleier an.

»Wer ist gestorben?«, fragte ich, immer noch verwirrt. Ich dachte, dass es jemandes Großvater oder -mutter war.

»Taylor Haugen«, antwortete sie mit halb erstickter Stimme.

»Taylor ist nicht tot«, sagte ich empört. »Es geht ihm gut. Ich habe ihn doch erst gestern gesehen. Ich habe ihm gerade geschrieben.«

Ich drehte mich um und machte ein paar Schritte von ihr weg. Dann hämmerte ich Taylors Nummer in mein Telefon. Gleich würde ich ihnen beweisen, dass das alles nur ein dummes Gerücht war. Aber das Telefon läutete und läutete, bis sich schließlich die Voicemail meldete. Ich drückte das Gespräch weg und rief Chase an, Taylors besten Freund. Er würde wissen, was los war. Sobald Chase sich meldete, platzte ich los: »Hier sagen alle, Taylor sei tot. Bitte sag mir, was wirklich passiert ist. Ich weiß doch, dass er nicht gestorben ist.«

Chase’ Stimme klang seltsam dünn. »Er ist gestorben. Letzte Nacht.«

Später erfuhr ich, dass Taylors Leber gerissen war, als die gegnerischen Spieler ihn in die Zange nahmen. Als er aufstand und an den Spielfeldrand ging, sah es noch so aus, als sei alles in Ordnung, aber das war es eben nicht. Ich verstand nicht, warum man Taylor nicht durch die Notoperation hatte retten können, die später im Krankenhaus durchgeführt wurde. Das sollten Mediziner doch tun, nicht wahr? Menschen retten. Vor allem junge, starke und gesunde Menschen wie Taylor.

Lange Zeit fühlte sich das Ganze für mich völlig irreal an. Ich wusste natürlich, dass so etwas passieren konnte, aber gewöhnlich passierte das anderen Leuten, nicht meinen Freunden. Es war wie ein böser Traum, völlig unbegreiflich und schockierend – jedes Mal, wenn mir bewusst wurde, dass Taylor nicht mehr da war – wenn er nicht mit mir zur fünften Stunde ging oder mit unserem Freundeskreis ins Kino. Wenn er mir keine Textnachrichten mehr schickte.*

Selbst nachdem sich der erste Schock gelegt hatte, hatte sich durch Taylors Tod etwas in mir verändert. Natürlich war mir der Tod geläufig, aber für mich war er immer etwas gewesen, was am Ende einer langen Reihe von Jahren geschieht – nicht an deren Beginn. Und nicht auf diese Weise. Im folgenden Jahr war ich auf jeden Menschen in meinem Umfeld schlecht zu sprechen – auf meine Freunde, weil die einfach weitermachten, als wäre nichts passiert; auf die Football-Spieler, die Taylor verletzt hatten; vor allem aber auf den Priester, der uns erzählte, wie sehr Gott uns liebt. Ich wusste, dass viele Menschen sich nach einem solchen Verlust ihrem Glauben zuwenden, aber ich konnte das einfach nicht. Ich hatte zu viele Fragen. Schluss mit meinem unhinterfragten Kinderglauben. Nun war er in den Grundfesten erschüttert. Jetzt brauchte ich Antworten. Ich fragte alle Menschen, die mir ihr Ohr liehen, wie Gott es zulassen konnte, dass Pädophile und Mörder weiter auf unserer Erde lebten, während mein gutherziger Freund sterben musste, noch bevor er seine Träume verwirklichen konnte. Die Leute in unserer Kirche versuchten, mich mit der Versicherung zu trösten, dass Taylor jetzt an einem besseren Ort sei. Ich verdrehte die Augen, während meine Mutter mich in den Arm zwickte und mir ins Ohr zischte, ich solle »höflich bleiben«.

Im Sommer nach meinem Highschool-Abschluss zog ich nach Tallahassee, um an die Florida State University zu gehen, drei Stunden Fahrzeit von meiner Familie entfernt. Dank der Studentinnenverbindung, der ich mich anschloss, wurde mir schnell klar, woher die Uni ihren Ruf als Spitzenparty-Hochschule hatte. Nach Taylors Tod war ich weiterhin in die Kirche gegangen, obwohl ich nicht mehr aus ganzem Herzen glauben konnte. Während des Studiums aber setzte ich keinen Fuß in eine Kirche. Ich war in einem streng religiösen Umfeld aufgewachsen, nun aber war ich endlich frei. Hier gab es keine Regeln, und ich konnte tun, was immer mir einfiel. Meist waren das durchzechte Nächte. Ich hatte enorme Schwierigkeiten, einen Sinn im Leben zu finden. Ein extrem strukturiertes Leben gegen völlige Freiheit und Selbstverantwortung einzutauschen, erwies sich für mich als Herausforderung. Wenn ich mit meiner Familie sprach, fühlte ich mich schuldig. Also erzählte ich nie, was ich da wirklich trieb, und tat so, als wäre alles bestens.

An der Uni datete ich jemanden, wie man das im ersten Jahr eben so macht. Wir waren jung und unbekümmert – und so wurde ich mit neunzehn schwanger, im Sommer vor meinem zweiten Studienjahr. In dem Moment, in dem ich den positiven Schwangerschaftstest sah, änderte mein Leben seine Richtung. Alles, was ich mir vorgenommen hatte, wurde mit einem Schlag umgekrempelt.

Meine Mutter unterstützte mich, als ich beschloss, das Baby zu bekommen. Aber außer ihr und meiner Freundin Hannah, die in Destin aufs Community College ging, hatte ich niemanden. Ich fühlte mich allein und hatte Angst. Während der Rest meiner Freunde fürs zweite Jahr an die Uni zurückkehrte, blieb ich in meinem Elternhaus und suchte nach einer Antwort auf die Frage, wie ich mich und mein Kind ernähren konnte. Meine Welt schrumpfte sehr schnell auf einen winzig kleinen Kreis zusammen. Ich sehe selbst jetzt, mit Anfang dreißig, noch ziemlich jung aus. Du kannst dir also vielleicht vorstellen, welche Blicke ich auf mich zog, als ich mit neunzehn Jahren meinen Schwangerenbauch vor mir herschob. Es war einfacher, das Haus erst gar nicht zu verlassen. Leute, die sich nie sonderlich für mich interessiert hatten, hatten nichtsdestotrotz eine ganz klare Meinung über mich und die Situation, in der ich mich befand. Und keine dieser Ansichten war hilfreich oder trug dazu bei, meine Ängste irgendwie zu lindern.

Aus einer ganz normalen Studierenden wurde eine werdende Mama. Ich konnte nicht zurück an die Uni und mein Traum, Schriftstellerin zu werden, würde mich und mein Kind nicht ernähren. Ich brauchte also einen neuen Plan – und zwar schnell.

Damit nahm mein Leben eine Wendung, die ich so nicht erwartet hatte. Ich recherchierte ein bisschen und fand heraus, dass Krankenschwester zu werden – was eine zweijährige Ausbildung voraussetzte und ungefähr 50000 Dollar Jahresgehalt einbrachte – mit Abstand die beste Möglichkeit war, für mich und das Kleine zu sorgen. Außerdem konnte man die Ausbildung am örtlichen Community College absolvieren. Schwanger und immer noch zutiefst verunsichert brachte ich also den Sommer damit zu, die Voraussetzungen für den Studiengang Krankenpflege Schritt für Schritt zu erfüllen. Im darauffolgenden Herbst begann das erste Semester.

Mein Sohn Brody kam am Heiligabend 2012 zur Welt. Die ersten Jahre verschwimmen vor meinem inneren Auge, denn ich arbeitete viel. Wie eine Jonglierkünstlerin versuchte ich, alle Bälle in der Luft zu halten: meinen Sohn erziehen, meinen Abschluss machen und den Einstieg ins Berufsleben schaffen. Die Tage waren lang und mühselig und intensiv, doch ich bewies mir, dass ich Dinge hinkriegte, die ich mir nie zugetraut hätte. Ich schloss pünktlich nach zwei Jahren meine Ausbildung ab und hatte damit nicht nur den Abschluss, sondern auch ein einjähriges Praktikum im örtlichen Krankenhaus gestemmt.

Nach dem Abschluss arbeitete ich einige Monate lang in der Intensivpflege und später ein Jahr lang in der Altenpflege. Ich würde ja gerne sagen, dass ich sofort zu einer wunderbaren, zugewandten Krankenschwester wurde, aber das wäre nicht ganz die Wahrheit: Ich erledigte einfach nur meine Arbeit und ging dann nach Hause. Erst als ich mit der Hospizpflege anfing, begann mein Leben, sich von Grund auf zu verändern.

Ich entschied mich vor sechs Jahren für die Palliativpflege. Aus der Rückschau erkenne ich, dass ich genau dort gelandet bin, wo ich hinsollte, in eben jener Tätigkeit, zu der ich berufen bin.

Aber natürlich gab es bis zu diesem Punkt einiges Hin und Her. Viele Erlebnisse haben mich an den Punkt geführt, an dem ich heute stehe.

Und ich freue mich, dass ich diese Erlebnisse und Geschichten mit dir teilen darf. Als ich mit der Hospizpflege anfing, war ich noch auf der Suche. Ich wusste nicht, ob ich noch an eine höhere Macht glaubte, an etwas, das über unser kleines Dasein hinausreicht. Ich habe immer noch nicht mal ansatzweise alle Antworten, eines aber kann ich dir versichern: Es gibt Dinge, die sich jeder medizinischen Erklärung entziehen. In diesem Reich zwischen den Welten, zwischen dem Hier und Jetzt und dem, was danach kommt, liegen enorme Kraft und tiefer Frieden.

Das habe ich immer wieder mit eigenen Augen gesehen.

* Taylors Eltern gründeten eine Stiftung in seinem Namen: die Taylor-Haugen-Foundation. Diese startete eine Kampagne: #PledgetoProtect stellt Rumpfpanzer bereit, um Footballspieler vor inneren Verletzungen im Bauchraum zu schützen. Mehr darüber auf: www.taylorhaugen.org.

Glenda

Meine Haare waren noch nass vom Duschen, als ich mit meinem Kaffeebecher mit dem Aufdruck »Beste Krankenschwester aller Zeiten« verschlafen vor dem Fernseher stand und mir die Nachrichten ansah. Ich nippte gerade an meinem Kaffee, da spürte ich, wie jemand an meinem Kasack zupfte. Ich sah nach unten. Brodys große blaue Augen schauten mich an.

»Saft, bitte«, sagte er und streckte mir mit den pummeligen Händen eines Dreijährigen seine Schnabeltasse entgegen. Ich lächelte, nahm ihn hoch und marschierte mit ihm seitlich auf der Hüfte in die Küche. Nachdem ich ihm seinen Saft gegeben hatte, griff ich nach meinem Handy, um nach der Zeit zu schauen. Ich musste um 7.20 Uhr aus dem Haus, um rechtzeitig um 8.00 im Büro zu sein. Jetzt war es 6.40 Uhr – also genug Zeit, um uns beiden was zu essen zu machen und den Tag zu beginnen.

Gerade wollte ich ein paar Eier aus dem Kühlschrank holen, als das Handy schrillte. Ich schaute aufs Display. Kristin, der Name meiner Fallmanagerin, die jede meiner Begleitungen individuell betreut, leuchtete auf. Sie rief sonst nie so früh an. Ich fragte mich, was da wohl nicht stimmte.

»Hallo«, meldete ich mich nervös.

»Hey du«, begrüßte sie mich munter. Offensichtlich hatte sie sehr viel mehr Kaffee intus als ich. »Ich möchte, dass du mit mir zu einer Patientin kommst. Ich schicke dir die Adresse per E-Mail. In circa zehn Minuten bin ich dort.«

Hektisch schaute ich die Adresse nach. Als ich sah, dass sie in einem sehr schönen Stadtteil lag, nur wenige Minuten von den wunderbaren weißen Sandstränden entfernt, für die Destin in Florida bekannt ist, stieg in mir die Panik auf. Ich hatte zwar einen großen Teil meiner späteren Kindheit in Destin verbracht, lebte jetzt aber in der Nachbarstadt, die ganz zu Recht Niceville hieß. Unser kleines blaues Haus hatte ich im selben Jahr für mich und Brody gekauft. Als junge alleinerziehende Mutter konnte ich mir nichts leisten, was größer oder näher am Strand gewesen wäre. Aber ich war trotzdem stolz auf dieses Haus, das ich nur wenige Monate, nachdem ich meinen ersten Job als Krankenschwester angetreten hatte, kaufen konnte.

»Ich brauche mindestens eine halbe Stunde dahin und muss vorher noch meinen Sohn in der Kita abliefern. Ist das in Ordnung?«, fragte ich vorsichtig nach. Ich fürchtete, dass diese Verzögerung Kristin vielleicht verärgern würde.

»Kein Problem!«, flötete sie fröhlich, bevor sie auflegte.

Jetzt hieß es schnell machen, und ich merkte, wie ich immer nervöser wurde. Ich stellte die Eier zurück in den Kühlschrank und beschloss, das Frühstück ganz ausfallen zu lassen. Dann drehte ich mein nasses Haar zu einem Knoten und zog meine Jacke über. Nachdem ich Brody den der Jahreszeit angemessenen Zwiebellook verpasst hatte (denn auch in Florida ist es im Winter kalt!), trat ich in die kühle Luft hinaus und fuhr los zu seiner Kita.

Brodys Erzieherin sah kaum vom Telefon auf, als ich ihn im richtigen Raum absetzte. »Es tut mir leid, Sie so früh stören zu müssen«, sagte ich schüchtern. »Ich konnte Brody heute Morgen leider kein Essen machen. Können Sie dafür sorgen, dass er ein Frühstück bekommt?«

Ohne Antwort verdrehte die Erzieherin die Augen und rief in die Küche, dass es zum Frühstück einen Kindermund mehr zu stopfen gab. Wieder spürte ich den nur zu bekannten Stich im Herzen, den es einem regelmäßig versetzt, wenn man sich als Mama zwischen mütterlicher Fürsorge und Beruf entscheiden muss und dabei nicht gewinnen kann. Eine der praktischen Seiten, die mir am Hospizdienst gefielen, war die Tatsache, dass dies normalerweise ein Job mit einer geregelten Arbeitszeit von acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags ist. Und das hieß für mich und Brody, dass ich zumindest immer einigermaßen planen konnte. Aber das galt natürlich nicht für jeden Tag, und heute war offensichtlich so ein Tag. Es war noch nicht mal sieben Uhr morgens, und ich kam mir schon jetzt als Rabenmutter vor, aber ich konnte mir nicht leisten, meine Arbeit zu verlieren. Ich war erst seit wenigen Wochen Hospizschwester und noch am Lernen. Das hieß, dass ich meine Tage damit zubrachte, erfahrene Pflegerinnen wie Kristin zu begleiten, wenn sie ihre Patientinnen und Patienten besuchten. Meine Arbeit zur Zufriedenheit meiner Fallmanagerin zu erledigen war daher oberste Pflicht für mich.

Ich fuhr also zum Haus der Patientin und kam dabei an wunderschönen Strandhäusern vorbei wie dem, in dem auch ich aufgewachsen war. Ich bog links nach Coral Cove ab und sah Kristins Hyundai Sedan in der Einfahrt eines Strandbungalows mit grünen Fensterläden stehen. Den vorderen Garten säumten meisterhaft arrangierte Palmen. Das Haus war nicht so protzig, wie ich befürchtet hatte. Auf der Veranda versetzte der Wind zwei Schaukelstühle in sachte Bewegung. Die Lichter im Haus schienen warm und einladend. Ich holte tief Luft.

Kristin wartete vor dem Haus auf mich. Ihr schön gelocktes blondes Haar umrahmte ein Gesicht, das selbst zu dieser frühen Stunde perfekt geschminkt war. »Ready, Freddy?«, fragte sie und setzte ihr ebenso perfektes Lächeln auf. Ich lächelte zaghaft und nickte. Ich fühlte mich unsicher mit den immer noch klammen Haaren und ganz ohne Make-up.

In Wahrheit fühlte ich mich keineswegs bereit. Als Hospizschwester wusste ich natürlich, dass jede Beziehung zu unseren Patienten durch deren Tod beendet wurde. Doch selbst erlebt hatte ich das noch nie. Und ich hatte das Gefühl, dass es bei dieser Patientin etwas anders sein würde.

Während wir noch die betonierten Stufen hinaufgingen, öffnete uns schon eine entnervte Frau um die vierzig mit roten Haaren die Tür, bevor wir hätten klopfen können. Sie sah aus, als sei sie gerade erst aufgestanden, habe aber die ganze Nacht kein Auge zugetan.

»Kommen Sie rein, kommen Sie rein«, rief sie und winkte uns ins Haus. Kaffeeduft schlug uns aus der Küche entgegen, während ein Zwergpudel bellend auf uns zustürzte und kurz an meinen neuen Sneakern schnüffelte, die meine Mutter mir zur Feier meines neuen Jobs geschenkt hatte.

»Sie redet also mit ihren verstorbenen Lieben?«, fragte Kristin Maria, die Tochter der Patientin, die währenddessen versuchte, den Hund in den Waschraum neben der Küche zu dirigieren. Als ich das hörte, runzelte ich kurz die Stirn. Ich hatte also richtig vermutet. Das war kein »normaler« Besuch. Der Alltag einer Hospizschwester besteht – anders als Kino oder Fernsehen die Leute gewöhnlich glauben machen – in erster Linie darin, dass wir von Hausbesuch zu Hausbesuch fahren und jeweils dreißig bis sechzig Minuten damit zubringen, die Patientinnen und Patienten zu versorgen und der Pflegeperson jede notwendige Hilfestellung geben, damit das Wohl der Patienten sichergestellt ist. Und Maria brauchte offensichtlich Hilfe, aber wohl nicht auf die übliche Art, bei der wir die Medikation ihrer Mutter überprüften und kontrollierten, ob sich ihre Symptome verschlechtert hatten oder sie sich wund gelegen hatte.

»Wenn Sie das so nennen wollen«, gab Maria zurück und nahm einen Kaffeebecher aus der Anrichte. »Ich nenne das: den Verstand verlieren. Sie redet die ganze Zeit mit ihrer Schwester, die gestorben ist, bevor ich auf die Welt kam. Bitte sorgen Sie dafür, dass dieser Quatsch aufhört. Ich kann nicht mehr schlafen.« Und wie um ihre Worte zu unterstreichen, nahm Maria einen großen Schluck Kaffee aus der Tasse. Während sie trank, sog ich den Duft des Kaffees ein, um mich zu erden, weil es in meinem Kopf drunter und drüber ging.

»Sie redet ohne Unterbrechung. Sie müssen doch Medikamente haben, um sie ruhigzustellen. Wenn nicht, hole ich den Notarzt.«

»Okay. Hadley und ich werden uns das ansehen«, meinte Kristin, um Maria zu beruhigen.

Wir gingen den Flur hinunter, und ich vernahm die leise Stimme einer Frau. Wir betraten das Schlafzimmer, das eine Schiebeglastür hatte, die es mit dem Innenhof verband. Neben einer Massivholzkommode und dem dazu passenden Nachtschränkchen sah ich einen kleineren Tisch, auf dem mehrere Stapel Bücher aufgeschichtet waren. Darüber hing ein wunderschöner, kunstvoll verzierter Leuchter. Mein Blick wanderte durch den Raum und blieb schließlich an Ms Glenda hängen, deren weiße Locken ihr Gesicht weich umrahmten. Sie brach in lautes Gelächter aus, obwohl außer uns kein Mensch zu hören oder zu sehen war.

Ich sah Ms Glenda ungläubig an, als sie weiterhin lachte und mit dem Finger vor sich in die Luft deutete. Offensichtlich hatte sie Kristin und mich nicht bemerkt.

»Nein, nein, nein!«, rief sie aus. »Das habe ich nicht gesagt. Du bist mir vielleicht eine Nummer!« Ihr Lachen erfüllte den ganzen Raum.

Kristin trat ans Bett und berührte die Frau sachte am Arm. »Hallo, Ms Glenda! Ich bin es, Kristin, und Hadley, eine unserer neuen Schwestern.« Ich trat ebenfalls an Bett und winkte ihr zögernd zu.

»Oh, hallo«, begrüßte uns Ms Glenda. »Sie müssen mich entschuldigen, aber wir haben uns jahrelang nicht unterhalten.«

»Mit wem haben Sie sich jahrelang nicht unterhalten?«, fragte Kristin.

»Oh! Entschuldigung. Wie unhöflich von mir«, meinte Ms Glenda in ihrem breiten Südstaatenakzent. »Das ist meine Schwester. Müssen Sie jetzt meinen Blutdruck messen, Liebes?«

Kristin nickte und holte die Manschette aus ihrer Schwesterntasche. Ich stand daneben, irgendwie erschüttert, weil Kristin mit keinem Wort darauf einging, dass wir gerade der unsichtbaren, verstorbenen Schwester »vorgestellt« worden waren. Bevor ich Hospizschwester wurde, hatte ich in einem Altenpflegeheim gearbeitet. Dort hätte man Ms Glenda ein Antipsychotikum verabreicht, noch bevor sie ihren Satz hätte beenden können.

Nachdem Kristin Ms Glendas Vitalparameter überprüft hatte (die alle gut waren), ging sie zu Maria. Für einen Augenblick war ich nun mit Ms Glenda allein im Zimmer. Ich war nicht sicher, was ich tun oder sagen sollte, daher sah ich sie nur mit einem halben Lächeln an, während ich verlegen mit dem Reißverschluss meiner Pflegetasche spielte. Glücklicherweise war Kristin nur kurz weg. Kaum war sie mit Maria zurück, erklärte sie uns den »Schlachtplan«.

»Ich weiß, dass Sie jetzt müde sind und sich wegen Ihrer Mutter Sorgen machen«, sagte sie zu Maria. Und zu Ms Glenda gewandt: »Und Sie, Ms Glenda, haben Leute, mit denen Sie einiges nachzuholen haben. Daher machen wir es ab jetzt so, dass wir jeden Tag kommen, um Sie zu versorgen – wenn das für Sie beide in Ordnung ist.«

Die kontinuierliche Pflege setzt dann ein, wenn das Familienmitglied, das bis jetzt die Pflege übernommen hat, damit überfordert ist. Praktisch heißt das, dass rund um die Uhr eine Pflegerin oder ein Pfleger vor Ort bleibt, bis der Patient mit den Symptomen wieder besser zurechtkommt oder wir aus anderen Gründen nicht mehr gebraucht werden. Ich hatte so etwas noch nie gemacht, daher war ich gespannt darauf, wie das ablaufen würde und welche Antipsychotika das Hospiz geben würde.

Maria nickte, und Kristin fuhr fort: »Hadley wird hierbleiben, bis ihre Schicht endet. Dann übernimmt eine andere Pflegerin und dann wieder eine andere, bis die Dinge für alle wieder besser laufen.«

Entsetzt guckte ich Kristin mit großen Augen an. Ich schüttelte leicht den Kopf, um ihr zu bedeuten, dass ich keine Ahnung hatte, wie man mit so stark wirkenden Medikamenten umging. Sie lächelte mir aufmunternd zu und signalisierte mir wortlos: »Darüber reden wir gleich.« Ich versuchte, ihr Lächeln zu erwidern, aber ich war fertig mit den Nerven. Ich konnte das nicht! Wieso glaubte das Hospiz bloß, dass das hier der richtige Platz für mich wäre?

Als Kristin auf den Flur hinaustrat, winkte sie mich zu sich. Ich versuchte, so ruhig wie möglich zu wirken, aber ich erklärte ihr, dass ich keinerlei Erfahrung mit Psychopharmaka für Hospizpatienten hätte.

Ich sah, dass Kristin sich ein Lächeln verkniff, als sie mich beruhigte: »Keine Sorge! Du musst ihr keine Medikamente verabreichen, wenn alles so bleibt wie jetzt. Wenn nicht, rufst du mich oder den Arzt an.«

Verwirrt fragte ich, wie ich das verstehen sollte. Wieso bekam Ms Glenda keine Medikamente? Sie hatte doch schwere Halluzinationen?

»Sie hat keine Halluzinationen«, erklärte mir Kristin. »Sie macht sich für den Übergang bereit und sieht ihre verstorbene Schwester. Du musst nur an ihrer Seite bleiben und aufpassen, dass sie sich nichts tut, damit ihre Tochter ein bisschen Ruhe bekommt.«

Ich nickte beflissen, als hätte ich alles verstanden, aber dem war eigentlich gar nicht so.

Während meines Ausbildungsabschnitts auf der Intensivstation war ich mit Tod und Sterben bereits konfrontiert worden, aber dort wurde das ganz anders gehandhabt. Ich wusste, worum es bei der Hospizarbeit ging, aber ich fand es merkwürdig, dass wir nichts taten, um solche Symptome zu lindern. Auch war die Umgebung sehr ruhig und still. Der Tod im Krankenhaus war immer ein fieberhaftes, traumatisches Ereignis. Chaos, Hektik, gut fünfzehn Leute in einem Raum, die herumrennen, versuchen, den Patienten wiederzubeleben, und aufgeregt warten, ob der Herzschlag wieder anspringt. Die Familie ist nicht dabei, und wenn jemand anwesend ist, wird er sofort hinausgeschickt. So lange, bis der Patient gestorben ist, dann holt man die Angehörigen wieder herein, damit sie sich verabschieden können. Wenn alles gesagt und getan ist, kehren die Pfleger und Pflegerinnen an ihre Plätze zurück und versorgen den nächsten Patienten, die nächste Patientin.

Es war ja nicht so, dass diese Sterbefälle mich kaltgelassen hätten. Aber die Krankenschwestern, die ich auf der Intensivstation am meisten bewunderte, waren jene, die von Tod zu Tod gingen, als wäre das das Normalste auf der Welt. Am meisten bewundert wurden jene Ärzte und Pfleger, die genau das konnten. Ich wollte so sein wie sie und auch bewundert werden. Aber mir war es immer schwergefallen, innerlich Distanz zu halten zu dem Menschen, der vor mir lag.

Das hier war ganz anders – viel persönlicher und intimer. Ich war in Ms Glendas Haus, und Ms Glendas Tochter hatte sich auf das Sofa am Ende des Flurs gelegt, um endlich eine Mütze Schlaf zu bekommen. Es war unglaublich ruhig, fast friedlich. Kein Chaos, das einen abgelenkt hätte, und kein Zeitfenster, auf das man sich einstellen musste.

Einige Minuten später war Kristin weg und ich … immer noch da.

Ich kehrte also in Ms Glendas Zimmer zurück, nahm einen der Stühle, die neben dem Tisch standen, und fragte, ob ich mich zu ihr setzen dürfte. Ms Glenda nickte, ohne jedoch ihren Blick von der Decke abzuwenden. Nachdem ich eine Zeit lang still dagesessen war und mir nichts Besseres einfiel, begann ich, auf dem Tablet im Mitarbeiterhandbuch meines Arbeitgebers zu lesen.

Ungefähr zwanzig Minuten später sprach Ms Glenda mich zum ersten Mal an. »Sie glauben wahrscheinlich, ich bin verrückt, oder?«, fragte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Die Idee schien sie zu amüsieren.

Erschrocken antwortete ich: »Aber nein, gar nicht!«

»Das ist schon in Ordnung«, fuhr sie fort. »Meine Tochter hält mich auch für verrückt.«

Ich antwortete nicht, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Ms Glenda hielt kurz inne und legte sich bequemer hin, bevor sie weitersprach: »Ich bin aber nicht verrückt. Meine Schwester steht direkt neben Ihnen.«

Instinktiv wandte ich mich in die Richtung, die Ms Glenda andeutete, aber ich sah nur den Nachttisch. Trotzdem nickte ich.

Als Ms Glenda einschlief, wurde das ganze Haus mucksmäuschenstill. Mir wurde klar, dass meine Ausbildung mich auf so etwas nicht vorbereitet hatte. In den zwei Jahren an der Schwesternschule hatten wir genau einen Tag, der sich mit häuslicher Pflege bzw. Hospizarbeit beschäftigte. Und das sind zwei grundverschiedene Fachgebiete. Und ich hatte häusliche Pflege belegt. Man betreut zwar auch Patientinnen und Patienten bei ihnen zu Hause, aber sie liegen nicht im Sterben. Und das ist natürlich ein Unterschied zu Hospizpatienten. 

Was Hospizpflege wirklich bedeutet, lernte ich bei meiner vorausgegangenen Beschäftigung im Altersheim. Dort gab es ein Programm, das wir »Atempause« nannten. Das Heim nahm Hospizpatienten für fünf Tage auf, damit in dieser kurzen Zeit die mit der Pflege befassten Angehörigen sich ein bisschen erholen konnten. Ich gab zwar Medikamente aus, hatte aber ansonsten nichts mit diesen Patienten zu tun. Ich sah nur die Hospizschwestern, die sich um sie kümmerten. Ich fand diese Menschen großartig, denn sie schienen sich um ihre Patienten auf eine Weise zu kümmern, die mir nicht geläufig war. Und das gefiel mir. Hospizpfleger und -pflegerinnen kümmern sich gewöhnlich um zwölf bis achtzehn Patienten gleichzeitig. Aber sie können sich zu ihnen setzen und ein wenig Zeit mit ihnen verbringen. Das gehört zu unseren Aufgaben. Im Pflegeheim dagegen hatte jede Schwester vierzig Patienten zu versorgen. Ich witzelte manchmal, ich käme mir vor wie ein PEZ-Spender, denn meine einzige Beschäftigung bestand darin, die verordneten Tabletten zu verteilen. Während ich von Zimmer zu Zimmer eilte, um die Medikamente an den Mann oder die Frau zu bringen, saßen die Hospizschwestern am Bett ihrer Patienten und plauderten mit ihnen. Auch da strahlten sie so viel Ruhe und Frieden aus, dass ich unwillkürlich dachte, es müsse schön sein, so eine enge Beziehung zu den eigenen Patienten zu haben.

Hin und wieder kam eine der Hospizpflegerinnen auf mich zu, erklärte mir, was ihr Patient hatte, und erzählte, was sie sich für ihn überlegt hatte. Wann immer ich eine der Hospizpflegerinnen fragte, ob wir einen Arzt alarmieren sollten, war die Antwort nur, das sei nicht nötig. Das sei bereits geschehen und ansonsten sei alles unter Kontrolle. Auch das war ganz anders, als ich es bis dahin kannte. Bei uns hieß es immer: alle Mann an Deck, Patienten retten. Die Hospizpfleger versuchten nicht, auf Teufel komm raus das ganze Arsenal an möglichen Behandlungen aufzufahren. Sie fragten vielmehr ihre Patientinnen und Patienten, was sie tun konnten, um in der noch verbleibenden Zeit ihre Lebensqualität zu verbessern. Ich sah, wie die Patienten Zeit mit ihrer Familie verbringen konnten, statt von einem Termin zum nächsten geschoben zu werden. Ich sah, dass die zuständigen Schwestern alles taten, um die Schmerzen ihrer Patienten zu lindern, sie aber ansonsten in Ruhe ließen. Und ich hatte das intensive Gefühl, dass Medizin in diesem Stadium genau so praktiziert werden sollte.

Je öfter ich die Hospizschwestern bei ihrer Arbeit beobachtete, desto reizvoller schien mir diese. Und so beschloss ich, Augen und Ohren offen zu halten, ob sich vielleicht eine entsprechende Gelegenheit ergäbe. Auf einige der spärlichen Anzeigen bewarb ich mich sogar, allerdings ohne Erfolg. In meiner Region gab es zu jener Zeit nur drei Hospizdienste und jeder beschäftigte nur drei Krankenpfleger und -pflegerinnen. Völlig abgesehen von der Tatsache, dass überall einschlägige Berufserfahrung gefordert war, die ich natürlich nicht hatte. Letztlich war es eine Reihe von (für mich) glücklichen Zufällen, die mir zu diesem Job verhalf.

Ich arbeitete noch im Pflegeheim, als es damals leise an meine Tür klopfte.

Ich rief: »Herein!«, und sah mich einer besorgt aussehenden Frau gegenüber. Sie erklärte, sie sei die Tochter von Tim, dem Patienten in Zimmer 404. Er hatte einen Gehirntumor, und es ging ihm immer schlechter. Die Mitarbeiter des Hospizes sollten ihn schon vor einer Stunde abholen, aber bislang war noch niemand gekommen. Ich lächelte sie an und sagte, ich würde bei der Hospizverwaltung anrufen. Gleichzeitig spürte ich, wie der Ärger in mir aufstieg. Es war offensichtlich, dass diese Frau sich verletzlich fühlte und sich hier über niemanden beschweren wollte. Aber die Situation, in die man sie gebracht hatte, war wirklich schlimm. Bislang hatten alle Patienten nur sehr gute Erfahrungen mit diesem Unternehmen gemacht, aber das hier war nicht in Ordnung.

Sobald die Frau fort war, griff ich zum Telefon und rief beim Hospizdienst an. Das Telefon klingelte mehrmals, bevor sich eine Frau namens Kristin meldete. Ich erklärte die Situation und sagte auch, dass es mich ärgerte, wie man mit Tim und seiner Familie umginge. Ich hatte an dem Tag einfach sehr viel Kaffee getrunken und nicht genug geschlafen, daher war ich wohl etwas unverblümter, als es sonst meine Art ist. »Wenn man in den Hospizdienst muss, ist das sicher ein schreckliches Gefühl. Und wenn man dann noch den Eindruck hat, dass man nicht einmal mehr für diese Menschen zählt, dann wird alles nur noch schlimmer. Ich bin sicher, es gibt dafür einen guten Grund, aber es ist nicht in Ordnung, dass Tim so behandelt wird.«

Kristin erklärte, dass am Wochenende zuvor eine Hospizschwester Knall auf Fall hingeworfen hatte und daher organisatorisch alles durcheinandergeraten sei. »Aber ich kann selbst kommen und Tim aufnehmen«, bot sie an.

Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie so angeblafft habe«, sagte ich noch, bevor Kristin auflegte.

Eine Stunde später brachte man Tim ins Hospiz. Die Familie sah zufrieden aus, als sie Kristin – die wie versprochen gekommen war – ein letztes Mal umarmten. Als sie sich später im Flur die Hände desinfizierte, trafen sich unsere Blicke, und sie kam auf mich zu.

»Sind Sie Hadley?«, fragte sie mich.

»Ja. Es tut mir echt leid.«

»Das geht schon in Ordnung«, meinte Kristin. »Ich finde es bewundernswert, dass Sie sich so für Ihre Patienten engagieren.« Sie machte eine winzige Pause, bevor sie fortfuhr. »Sagen Sie mir, wenn ich mich täusche, aber kann es sein, dass ich Ihren Namen schon einmal auf einer Bewerbung bei uns gelesen habe?«

Ich blickte mich um, ob auch keine meiner Kolleginnen mich hörte, als ich antwortete: »Ja, vor ungefähr sechs Monaten. Aber ich habe die Stelle nicht bekommen.«

»Sind Sie immer noch interessiert?«, hakte Kristin nach.

»Absolut«, gab ich zur Antwort und gab mir Mühe, dass meine Stimme nicht zu piepsen anfing, wie das immer passiert, wenn ich aufgeregt bin.

»Hätten Sie nach der Arbeit Zeit für ein Vorstellungsgespräch?«

»Heute Nachmittag um fünf Uhr bin ich bei Ihnen.«

Ich war so froh, als ich diesen Job bekam. Und ich war immer noch froh, ihn zu haben. Aber als ich mit Ms Glenda im Zimmer saß, fühlte ich mich massiv überfordert. Ich fragte mich, ob ich für die Hospizarbeit wirklich geeignet war. Während mir all diese Gedanken durch den Kopf gingen, hörte ich es neben mir auf einmal rascheln. Ms Glenda hatte ihre Augen geöffnet und sah mich an. »Hallo«, sagte ich mit einem Lächeln.

»Ich hatte soeben den allerschönsten Traum«, seufzte sie glücklich. »Ich bin mit meinen Eltern über ein riesiges Feld voller Blumen geflogen. Meine Mutter sah so schön aus. So jung. Ich habe so viel Glück und Frieden verspürt.«

»Das hört sich toll an«, sagte ich. Tat es ja auch.

Ms Glenda atmete tief ein und aus. Dann richtete sie ihren Blick auf den Tisch voller Bücher, der neben mir stand. »Ich sehe, dass meine Schwester immer noch da ist. Sie sagt, sie bleibt bei mir, bis es Zeit ist zu gehen.«

Ich schaute zum Tisch, aber außer Büchern konnte ich dort nichts entdecken. Neugierig wollte ich wissen, wo sie denn hingehen würde.

»Ich weiß nicht«, antwortete sie und hob ihre Decke an. Dann ließ sie sie wieder los. Ein paar Minuten später kam Maria herein. Sie trat ans Bett und küsste ihre Mutter auf die Stirn. Seufzend sagte sie, sie fühle sich viel besser, jetzt, da sie geschlafen habe.

»Ich auch«, gab Ms Glenda strahlend zurück.

»Siehst du immer noch deine Schwester?«, wollte Maria wissen.

Ich wappnete mich für Ms Glendas Antwort, denn ihre Tochter würde sie sicher nicht gerne hören wollen.

»Nein. Ich glaube, ich war einfach nur müde«, antwortete sie und sah mich dabei an. Ihr Blick bohrte sich in den meinen, als wolle sie mich herausfordern, ihr zu widersprechen. Aber ich sagte nichts.

Maria atmete sichtlich erleichtert aus und ergriff die Hand ihrer Mutter. Dann wandte sie sich mir zu und dankte mir, dass ich ihre Mutter »in Ordnung gebracht« hätte. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, also blieb ich stumm.

Ich tat so, als überprüfe ich Ms Glendas Daten auf meinem Tablet, beobachtete sie aber weiter. Mir fiel auf, dass sie immer zu dem Tisch neben meinem Stuhl guckte. Dort, wo sie ihren Worten zufolge ihre verstorbene Schwester sah. Auch ich schaute in diese Ecke, aber ich sah überhaupt nichts. Ich fragte mich, was Ms Glenda da wohl wahrnahm.

Mittags meinte Ms Glendas Tochter, dass es in Ordnung sei, wenn ich jetzt gehen würde. Kaum saß ich im Auto, rief ich auch schon Kristin an.

»Hallo! Ms Glenda und ihre Tochter meinen, es würde jetzt wieder gehen. Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll.«

»Großartig! Hat sie irgendetwas gebraucht?«

»Nein. Sie hat nur geschlafen, und als sie wieder wach war, sagte sie mir, dass sie immer noch ihre verstorbene Schwester sehen würde. Aber das hat sie ihrer Tochter nicht erzählt.«

»Sie scheint sich ihrer Umgebung sehr bewusst zu sein, auch der Gefühle ihrer Tochter, wenn du mich fragst. Ist schon verrückt, dass am Ende unsere Lieben kommen, um uns abzuholen, nicht wahr?«

»Ist das normal?«, fragte ich ungläubig.

»Oh ja, das passiert ständig«, meinte Kristin leichthin. »In diesem Fall solltest du deine Zeit nicht als kontinuierliche Pflege abrechnen, da wir ja nichts Besonderes machen müssen. In unserer Gebührenordnung steht, dass zu kontinuierlicher Pflege mindestens einmal pro Stunde Symptommanagement gehört. Das war ein guter Fall, weil das ja nicht nötig war. Wir verbuchen es daher als längeren Krankenbesuch.«

Nach diesem Telefonat saß ich noch eine Weile im Auto und starrte die Einfahrt des Hauses an. Es war doch wohl unmöglich, dass Ms Glenda tatsächlich ihre Schwester sah? Ich zog mein Tablet heraus und las mir durch, was der Arzt zuletzt über sie geschrieben hatte: Eine sechsundachtzigjährige Frau mit einem metastasierten Melanom, die sich eine weitere Behandlung verbittet, nachdem man ihr zu einer Operation geraten hat. Nach ausführlichen Gesprächen mit der Patientin, die wach und gut orientiert ist, haben wir beschlossen, sie der Hospizpflege zu übergeben.

Hautkrebs führt nicht zu Verwirrung oder Halluzinationen. Ich sah mir die letzten Aufnahmen der Positronen-Emissions-Tomografie (PET) an und suchte nach einer anderen Erklärung. Ich fand eine Aufnahme, die erst eine Woche alt war. Im Bericht dazu hieß es: Massive Ansammlung von Knoten an der Leberpforte, dazu klare unregelmäßige Verdickungen der Dünndarmwand im Bereich der linken Fossa iliaca mit resultierender luminaler Ausweitung. Keine Anzeichen von Intussuzeption.

Der Krebs hatte also auf ihren Gastrointestinaltrakt übergegriffen – aber auch das erklärte nicht ihre Verwirrtheit. Ich starrte immer noch ungläubig aus dem Fenster. Das Ganze machte einfach keinen Sinn.

Ich stellte mir vor, dass es dafür eine Erklärung geben musste, die ich bloß noch nicht kannte. Die Ausbildung zur Hospizpflegekraft beginnt mit einem einwöchigen Computerkurs. Darauf schließt sich die praktische Ausbildung unter Anleitung einer erfahrenen Pflegekraft an. In dieser Praxisphase durchläuft man als Neuling einen weiteren Computerkurs und bekommt ein Lehrbuch. Ein großer Teil der Ausbildung dreht sich um die Führung der Patientenakte, die einen wichtigen Teil der Hospizpflege ausmacht. Schließlich müssen ja auch die Richtlinien der Kranken- und Pflegeversicherungen beachtet werden. (Und diese sind wirklich komplex. Ich würde sagen, ich habe etwa drei Jahre gebraucht, bis ich diese intus hatte.) Danach lernt man eigentlich nur noch durch die Anleitung anderer Hospizpfleger und -pflegerinnen, die einen, so wie Kristin mich an diesem Tag, begleiten. Das klingt vielleicht nach Schmalspurausbildung, aber meiner Ansicht nach ist diese Form absolut angemessen. Eine Hospizschwester bekommt es mit so unterschiedlichen Szenarien zu tun, dass kein Buch oder Kurs sie jemals wirklich da-rauf vorbereiten kann. Das hierfür nötige Wissen kann man nur aus erster Hand erwerben, indem man erfahrenen Leuten zuschaut. Und dann übernimmt man Schritt für Schritt dieselben Aufgaben.

Für den Rest des Nachmittags sollte ich mich einer anderen Pflegerin namens Amanda anschließen. Seufzend legte ich mein Tablet weg und fuhr zum Haus ihrer Patientin, wo ich Amanda bei ihrer regulären Visite begleitete. Danach fragte ich sie, ob sie Ms Glenda kenne.