Zwischen Hass und Haltung - Derviş Hızarcı - E-Book

Zwischen Hass und Haltung E-Book

Derviş Hızarcı

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als Vorsitzender der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus erlebt Derviş Hızarcı das, was nach den Ereignissen des 7. Oktober in Deutschland in Gang gesetzt wird, aus einer besonderen Perspektive. Seit Jahren kämpft er für gelebte Vielfalt, gegen Hass in Bildung und Schule in einem Land, das sich endlich als Migrationsgesellschaft zu verstehen beginnt, doch nun drohen wieder – genau wie nach dem 11. September – die altbekannten Gefahren: Vereinfachungen, Anschuldigungen, das Auslagern der Schuld, die gedankenlose Ausgrenzung seitens der Mehrheit. Wieder muss er sich stellvertretend für so viele einen Weg bahnen zwischen Hass und Haltung, muss ganz praktisch helfen dabei, die heftig auseinandertreibenden Emotionen und Identitäten zu versöhnen, um das Lernen zu ermöglichen und das Erinnern nicht zu gefährden.

Zwischen Hass und Haltung erzählt von einer besonderen Bildungsreise. Sie beginnt im postmigrantischen Berlin zu einer Zeit, in der jemand wie Derviş Hızarcı schmerzend selbstverständlich nicht dazu gehört. Und sie führt ihn schließlich in die Verantwortung, die Bedingungen für ein gelingendes, vielfältiges Zusammensein jeden Tag neu zu formulieren.

»Derviş schafft es, das Ich und das Wir so miteinander zu verbinden, dass man sich gesehen und gehört fühlt und daraus die Energie entwickelt, Brücken zu bauen zu anderen. Nur in dieser Ich-Wir-Verbindung wird das Gemeinsame auf Dauer gelingen. Ich bin froh, dass es Menschen wie Derviş gibt, die sich mit so viel Herz und Intelligenz dafür einsetzen.« Igor Levit

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 184

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover

suhrkamp nova

Titel

Derviş Hızarcı

Zwischen Hass und Haltung

Was wir als Migrationsgesellschaft lernen müssen

Suhrkamp

Impressum

Zur optimalen Darstellung dieses eBook wird empfohlen, in den Einstellungen Verlagsschrift auszuwählen.

Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

Um Fehlermeldungen auf den Lesegeräten zu vermeiden werden inaktive Hyperlinks deaktiviert.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5447.

Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Brian Barth

eISBN 978-3-518-78077-0

www.suhrkamp.de

Widmung

Für meine Kinder – für alle Kinder

Motto

»Komm, wer auch immer du bist, komm.

Ob du Ungläubiger, Feueranbeter oder Götzendiener bist, komm.

Unsere Tür ist nicht eine der Verzweiflung.

Selbst wenn du deine Gelübde hundert Mal gebrochen hast,

komm wer auch immer Du bist!«

– nach Rumi

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Was, wenn es klappt? – eine Einleitung

Zäsuren

Identitäten

Namen

Woher kommst du?

Ein Märchen

Ein Traumberuf

Identitätspolitik

Junge Muslime

Bildungen

Sauberes Deutsch

Kein Lehrer, sondern Türke

ndH

Klassenfahrt

Kein Lehrer, sondern Muslim

Sommerferien

Eine Kreuzberger Schule

Jude – ein Schimpfwort

Sprache und Gewalt – eine Methode

1. Reagieren

2. Einordnen

3. Diskutieren

4. Ergebnisse sammeln

5. Transparente Umgangsformen vereinbaren

6. Mögliche Sanktionen vereinbaren

Rassismus. Berlin. Rostock

Darf man das? – eine Methode

Willkommensklassen

Erinnerungen

Erinnern heute

Antisemitismus im Koffer

Turkish Passport

Holocaust Education – ein deutsch-türkischer Austausch

Ein Gerechter unter den Völkern

Die Thora-Rolle

Gesellschaft

Lippen und Bekenntnisse

Mensch ist Mensch – eine Schlussrede

Dank

Anmerkungen

Informationen zum Buch

Zwischen Hass und Haltung

Was, wenn es klappt? – eine Einleitung

Nasreddin Hodscha sitzt mit einem Löffel am Ufer des Akşehir-Sees und rührt mit irritierender Selbstverständlichkeit im Wasser. Ein Dorfbewohner beobachtet das Ganze mit großem Staunen und fragt:

»Was tust du denn da, Hodscha?«

»Ich setze Joghurt an.«

»Wie soll denn in einem See Joghurt entstehen? Das ist unmöglich!«

»Ich weiß«, sagt der Hodscha, »aber was, wenn es klappt?«

Meine Familie stammt ursprünglich aus Zentralanatolien. Joghurt ist eine der wenigen Erfindungen, auf die die Menschen dort sehr stolz sind. Seit Jahrhunderten stellen sie ihn selbst her. »Meine Mutter macht den besten Joghurt« ist ein Satz, den man dort oft zu hören bekommt. Die Anekdote von Nasreddin Hodscha erzählt dementsprechend von der Kraft des Glaubens, der Zuversicht und dem Mut, Dinge anzupacken, auch wenn sie unmöglich erscheinen. Und das eben mit irritierender Selbstverständlichkeit.

Warum beginne ich mit einer Anekdote aus dem Morgenland? Gibt es hier keine ähnliche Geschichte? Gibt es hier keine tollkühnen Helden, die voller Hoffnung gegen Windmühlen kämpfen? Gewiss.

Ich habe mich für Nasreddin Hodscha entschieden, weil ich mit seinen Geschichten groß geworden bin und weil ich hier lebe. Mir ist bewusst, dass dieses »hier« immer ein Konstrukt ist. »Wir sind hier in Deutschland!«, brüllte mal eine Kollegin im Unterricht die Kinder an. Sie waren laut gewesen und störten. Und sie wollte ihnen zeigen, wo der Hammer hängt. In Deutschland!

Das »hier«, das ich zum Ausdruck bringen will, schließt Geschichten aus Zentralanatolien ebenso selbstverständlich ein wie solche aus dem antiken Griechenland, dem mittelalterlichen Italien, dem England der Neuzeit und aus dem Land, das einst das der Dichter und Denker war.

Die Geschichte vom Hodscha ist ein Teil von mir. Somit wird sie auch ein Teil von hier. Das ist die Realität der deutschen Migrationsgesellschaft. Mit »Migrationsgesellschaft« verwende ich einen Begriff, der uns präziser beschreibt als andere. Denn in Deutschland waren Migrationsbewegungen schon immer vorhanden. Diese Erkenntnis ist weder neu noch revolutionär. Das Besondere an dieser Feststellung ist nur, wie viel Abwehr sie auslöst.

Dass die Geschichten aus dem antiken Griechenland, aus Italien, Spanien bis zu dem England der Neuzeit hier zum Bildungskanon gehören, zeigt: Andere haben es auch »hierher« geschafft. Geben wir diesen Geschichten Raum, hilft uns das dabei, andere Kulturen, andere Identitäten zu begreifen und wertzuschätzen. Niemand verliert, wenn wir mehr von ihnen aufnehmen. Vielmehr gibt es allen Menschen die Möglichkeit, sich mit einem »hier« zu identifizieren, das Vielfalt einschließt. Und es schafft Vertrauen, baut Brücken, fördert gegenseitiges Verständnis. Das ist nicht nur für die »Neuen« – von Ruhrpolen in der neunten Generation über meine Eltern, die immerhin seit 1969 hier sind, bis zu den Geflüchteten aus der Ukraine der letzten Jahre – wichtig, sondern auch für die »Alten« – Vertriebene aus Schlesien, ostdeutsche Arbeitsmigranten der Wendezeit und Exilschwaben im Prenzlauer Berg.

Der Versuch, das Trennende zu betonen, immer wieder darzulegen, was vermeintlich nicht hierhergehört, ist zum Scheitern verurteilt. Damit hat sich Deutschland in seiner jüngeren Geschichte wieder und wieder verrannt. Auch wenn diese Sackgassen nichts Exklusives für Deutschland sind und Menschheitsverbrechen genauso von anderen und anderswo begangen wurden, so haben wir dennoch mit zwei Weltkriegen und dem Holocaust für grausame Einzigartigkeit und Präzedenzlosigkeit gesorgt.

Die Shoah ist ein unfassbarer Zivilisationsbruch. Diese größtmögliche Zäsur verpflichtet uns zur Auseinandersetzung mit den Geschichten der Opfer. Wir erinnern und gedenken an Menschen, die systematisch, brutal, maschinell, massenhaft gefoltert, ermordet, bis ins Letzte erniedrigt und entmenschlicht wurden. Doch es ist nicht so, dass wir im bisherigen Rahmen, den wir im Kontext der Erinnerungskultur gesetzt haben, ausreichend gut gefahren sind. Das belegt zum Beispiel die Studie der Körber-Stiftung, die herausfand, dass nur vier von zehn Jugendlichen ab vierzehn Jahren mit dem Begriff »Auschwitz« überhaupt etwas anfangen können.1 Die gegenwärtige Erinnerungskultur wird aus vielen Gründen in Frage gestellt. Denn sie schafft es nicht, alle einzuladen und einzubeziehen. Sie ermöglicht Jugendlichen nicht, sich zu erinnern, zu verstehen oder identitätsstiftende Haltungs- und Handlungsmaximen zu entwickeln.

In einer vielfältigen Migrationsgesellschaft kann Erinnerung nicht eindimensional gedacht werden. Wir können zwar den »herkunftsdeutschen« Manuel nach seinen familiären Bezügen zum Dritten Reich befragen. Bei Menschen mit sogenannten Migrationshintergründen geht das jedoch in den seltensten Fällen auf, da sie in ihren eigenen Familienbiografien keine Anknüpfung finden und von den gewohnten Zugängen ausgeschlossen werden. Geschichte und Erinnern muss multiperspektivisch betrachtet werden. Wir brauchen dringend andere Zugänge. Wir müssen die Geschichten derer mitdenken, die nicht hier geboren, nicht hier aufgewachsen sind.

Zwei wesentliche Zäsuren geben dieser Gebrauchsanleitung für eine funktionierende Migrationsgesellschaft den Rahmen:

Zum einen der 11. September, in dessen Anschluss Musliminnen und Muslime in westlichen Gesellschaften ins Fadenkreuz gerieten. Zunächst über Jahre wenig bis kaum beachtet, befanden »wir« uns plötzlich im Zentrum der Diskussionen. Und die Reaktionen auf die furchtbaren Anschläge in den USA hallen bis heute nach, haben mein Selbstverständnis als in Deutschland lebender Muslim nachhaltig geprägt. Musliminnen und Muslime wurden ab diesem Zeitpunkt zu einem Kollektiv gemacht. Aus Individuen wurde ein »ihr«, eine diffuse Gruppe, die unter Generalverdacht stand. Seither folgen auf Anschläge von radikal-islamischen Fanatikern immer dieselben Forderungen: »Distanziert euch!«, was für mich so viel bedeutet wie: »Ihr seid verdächtig.« Ob schuldig oder nicht, unser neuer Platz ist die Anklagebank. Und wer dort sitzt, rechtfertigt sich und versucht, seine Unschuld zu beweisen. Keine gesunde Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben auf Augenhöhe.

Zum anderen der fürchterliche Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023: Noch bevor wir auch nur den Hauch einer Chance hatten, die Monstrosität der Anschläge zu begreifen und einzuordnen, wurden ähnliche Forderungen laut: »Distanziert euch!« Das Holz der Anklagebank ist zu ungemütlich, als dass man es sich auf ihr gemütlich machen könnte. Erneut griffen dieselben Selbstverteidigungsreflexe. Natürlich kann ich verstehen, dass Menschen sagen: »Da passiert etwas Unfassbares! Also tut was!« Aber für wen passiert hier Unfassbares, warum sollten »wir« das anders greifen und was genau sollen wir denn tun, was nicht für uns alle gilt: Mitgefühl zeigen, zuhören, solidarisch sein.

Obwohl es in den letzten Jahren bereits vielfach gesagt wurde und daher droht, zu einer Phrase zu verkommen: »Die Muslime« existieren nicht. Und »der Muslim« übrigens genauso wenig. Ich zum Beispiel bin zwar Muslim, aber eben nicht nur. Ich bin auch Demokrat, auch Mann, ein Schwarzkopf (selbst wenn’s immer grauer wird), ein Fußballer (auch wenn immer häufiger auf der Ersatzbank zu finden), ein Neuköllner (der in Charlottenburg lebt), ein Lehrer (der nicht mehr an der Schule arbeitet), ein Exmann und ein Ehemann, ein Genusstrinker, um den man sich nicht zu sorgen braucht. Ich liebe Hunde, habe aber einen Kater. Und noch vieles mehr. Ein Label reicht mir nicht. Ein Label wird niemandem je gerecht. Und wenn es schon bei einer Person derart schwierig wird, wie soll es da für 1,9 Milliarden Menschen passen?

Und dennoch schreibe ich als Muslim: Ich glaube daran, dass Allah die Menschen in Vielfalt, also unterschiedlich – sprachlich, ethnisch, kulturell, geschlechtlich – erschaffen hat, damit wir einander kennenlernen.2 Nicht damit wir uns aus dem Weg gehen, uns ausgrenzen, hassen oder einander die Köpfe einschlagen, sind wir vielfältig. Sondern vielmehr sind wir es, damit es nicht langweilig wird, wir neugierig aufeinander bleiben und uns füreinander interessieren. Wir müssen Vielfalt im vielfältigsten Sinne – mehrsprachig, multiethnisch, interkulturell, transgeschlechtlich und alles daneben und dazwischen – erkennen und akzeptieren. Und wir dürfen den Glauben an das Wort und die Argumente nicht verlieren.

Wenn Nasreddin Hodscha den Wunsch hegt, den gesamten Akşehir-See in Joghurt zu verwandeln, dann hoffe ich – so viel Hybris sei mir erlaubt – mit diesem Buch unsere Gesellschaft zu verändern. Ein großes Unterfangen, fast unmöglich. Doch die Frage von Nasreddin Hodscha lässt mich nicht mehr los, seit ich sie als Kind zum ersten Mal gehört habe:

Was, wenn es klappt?

Zäsuren

»Justice must be done. But I caution this: while you feel that rage, don’t be consumed by it. After 9/​11, we were enraged in the United States. While we sought justice and got justice, we also made mistakes.« – Joe Biden3

Es ist ein ganz gewöhnlicher Tag. Ein Tag wie jeder andere. Es ist Samstag. Meine Kinder sind bei mir, langsam werden wir alle wach, wir beginnen, das Frühstück vorzubereiten. Während wir dann zusammensitzen, schaue ich auf mein Handy. Eine Flut an Nachrichten, Tickermeldungen, Push-Benachrichtigungen lassen meinen Bildschirm so voll aussehen wie lange nicht. Mein erster Gedanke: »Oh, fuck, jetzt kommt was Großes auf uns zu!« Ich erstarre, schaue paralysiert auf das Display. Und es hört nicht auf, mein Handy brummt und brummt und immer mehr Nachrichten und Tickermeldungen erscheinen.

Schlechte Nachrichten aus Israel bin ich leider gewohnt. Spätestens seit der zweiten Intifada Anfang der 2000er vergeht keine Jahreszeit ohne Schreckensnachrichten aus der Region. Der »Israel-Palästina-Konflikt« ist ein besonderer Konflikt. Was ihn so besonders macht, ist die Tatsache, dass er so viele Menschen triggert. In Deutschland leben zehntausende Israelinnen und Israelis und zehntausende Palästinenserinnen und Palästinenser. Hier leben hunderttausend Jüdinnen und Juden und Millionen Musliminnen und Muslime. Und zusätzlich empfinden Millionen Deutsche, auf die ein oder andere Weise, eine besondere Verbundenheit. Das, was da unten passiert, schafft es immer auch nach Deutschland.

Ich kenne das schon und fühle mich eigentlich vorbereitet. Doch heute, am Morgen des 7. Oktober 2023, ist es anders. Die ersten Bilder wirken surreal. Allein deswegen, weil ich sie nicht wahrhaben will. Terroristen, die mit Fallschirmen in Israel einfallen, mit dem Ziel, möglichst viel Schaden anzurichten. Keinen Sachschaden natürlich, sondern brutale Gewalt, Zerstörung, Tod und Leid. Es ist nicht wie sonst, keine gewaltvolle Auseinandersetzung an einem Grenzübergang oder einem Militärstützpunkt, wenngleich auch das schon schlimm genug ist. Es ist purer Terror gegen die Zivilbevölkerung. Unter den Opfern junge Menschen, die einfach nur feiern wollten, Familien in ihren Häusern, alte Menschen in Heimen. Am Ende über 1200 Todesopfer, weit über 5000 Verletzte und hunderte Geiseln, von denen viele heute noch in Gefangenschaft sind. Ich mache mir Sorgen um die Menschen dort, habe Angst, und Verzweiflung kommt in mir hoch. Mich überkommt dasselbe Gefühl wie vor vielen Jahren am 11. September.

Damals kam ich an einem ganz gewöhnlichen Tag von der Schule nach Hause, der Ranzen flog als Erstes in die Ecke, rauf aufs Sofa, Fernseher an. Und ich betrachtete dann diese ersten Bilder, fühlte mich in einen amerikanischen Science-Fiction-Film versetzt: New Yorks Skyline, die Zwillingstürme, Rauch, der Einschlag der zweiten Maschine. Wir waren alle geschockt von den Bildern, konnten unseren Augen kaum trauen, wollten nicht glauben, was sich dort Schreckliches abspielte.

Genauso fühlt sich der Morgen des 7. Oktober für mich an. Wahllos beginne ich einfach denjenigen zu schreiben, die mir sofort einfallen. Freunde in Israel. Jüdische und israelische Freunde in Berlin und Deutschland. Ich schreibe SMS, Whatsapps im Stakkato. Geht es allen gut? Der Familie? Den Freunden, ihren Freunden, deren Familien? So verbringe ich den gesamten Morgen. Mir wird geantwortet, dass es den Menschen, denen ich schreibe, »gut« geht. Sie berichten mir, dass sie entweder im Haus oder in der unmittelbaren Nachbarschaft Sicherheitsräume aufgesucht haben. Alle sprechen von unfassbar großer Angst und sie erzählen mir, dass sie Menschen kennen, die vermisst werden.

Wie am 11. September kann ich mich vor der Flut an Informationen und Bildern nicht retten. Die Aufnahmen vom Nova Music Festival mit 360 Toten, die fliehenden, verzweifelten Menschen, die wackeligen Handyclips in den gestürmten israelischen Gebieten. Bilder jubelnder Massen in Gaza folgen, von verschleppten und geschändeten Frauenkörpern, entstellten Leichen, erste Berichte über massenhafte Folter, Vergewaltigungen, die Flut an Eindrücken, sie ist nicht auszuhalten. Ich zähle mich selbst eigentlich eher zu den Optimisten, doch die Ohnmacht obsiegt, meine Hoffnung schwindet an diesem Samstag im Oktober.

Im Laufe des Tages, nachdem der erste Schock vergangen ist, vermengen sich die Gefühle von Verzweiflung, Wut, Mitleid und Schmerz zu einer diffusen Angst. Nicht vor Krieg, nicht vor den Folgen, die ohnehin nicht in Worte zu fassen sind. Es ist eine Angst um meine Kinder. Nach dem 11. September war ich und mit mir eine ganze Generation von Muslimen Stigmatisierungen und Schuldzuweisungen ausgesetzt. Wir wurden wegen unserer Herkunft, unseres Glaubens oder unseres Äußeren in die Nähe von Terroristen gerückt. Ich denke an meine Kinder und kann mich dieser Sorge nicht erwehren.

Am Sonntag, einen Tag nach dem Hamas-Massaker, gehe ich zum Brandenburger Tor zur Solidaritätskundgebung. Dort sind viele Menschen, die ich kenne. Freundinnen und Freunde, Weggefährten, Mitstreiterinnen. Die Reden dort lösen in mir Widerstand aus. Sie sind einseitig. Politisch. Geben wenig Raum für Trauer. Der Schmerz ist frisch. Ich erinnere mich an Verluste in meinem Umfeld, meiner Familie. Mit dreizehn Jahren habe ich meine Schwester verloren. Die Tage, Wochen und Monate danach bildeten eine dunkle, tiefe Schmerz- und Trauerphase.

Ich stehe am Brandenburger Tor. Wir zeigen Solidarität. Können es alle nicht fassen, welches Leid die Hamas gestern über Israel gebracht hat. Nach und nach kommen Freunde und Bekannte auf mich zu. Wir umarmen uns, reden leise miteinander. Einige haben Fragen. »Derviș«, werde ich gefragt, »Was wird morgen sein?«; »Was passiert morgen in den Schulen, was wird dort los sein?«. Ich weiß natürlich keine genaue Antwort. Aber ich habe eine Ahnung. Zu manchen sage ich vorsichtig: »Ja, das wird knallen morgen.«

Und Montag knallt es dann tatsächlich. An einem Gymnasium in Neukölln kommt es sogar zu Gewalt zwischen Lehrern und Schülern. Schon am Wochenende, als wirklich noch niemand die Tragweite des Massakers in Gänze erfasst hatte, liefen bereits Aktionen pro-palästinensischer Menschen in Berlin. Sie sind nicht nur pro-palästinensisch, sondern auch ganz klar antisemitisch. Israelhasser. Über tausend Menschen sterben, unzählige werden entführt, Kinder, Jugendliche, Frauen, Alte und Junge. Die Hamas macht vor nichts und niemandem Halt. Und in Neukölln stehen Menschen auf der Straße und verteilen aus »Freude« über das Massaker Baklava. Sie gehören zur inzwischen verbotenen Gruppierung »Samidoun«.

Als Mensch, als Vater, als Muslim, als Berliner und insbesondere als Neuköllner mit gewissem Bezirkspatriotismus spüre ich Scham, Erschütterung, Wut im ganzen Körper angesichts dieser Bösartigkeit. Als gläubiger Muslim, der sich freitags »Gott ist groß« rufend auf den Gebetsteppich niederwirft, halte ich das nicht aus. Die »Allahu Akbar«-Rufe auf der Sonnenallee genauso wenig wie die der Männer, die geschändete Frauenkörper auf Trucks durch Gaza fahren. Die Positionierung der Türkei lässt mich ebenfalls verzweifeln. Die Haltung des Staates, den ich zu meiner Heimat zähle, beschämt mich. Die fehlende Anteilnahme, die ausbleibende Solidarität im Angesicht schrecklichster Verbrechen und unendlichen Leids sind für mich einfach unerklärlich.

Ab dem 9. Oktober lässt mir mein Handy keine ruhige Minute mehr. Stunden um Stunden an Telefonaten und Interviews. Wenn ich nicht am Handy bin, beantworte ich nonstop Beratungsanfragen per Mail. Ich besuche Schulen, spreche mit Schulleitungen, der Schulaufsicht und pädagogischem Personal. Mit Familien betroffener Menschen spreche ich. Mit Kindern und Jugendlichen. Gleichzeitig versuche ich, Leute zu erreichen und miteinander zu vernetzen, von denen ich mir erhoffe, dass sie gemeinsam deeskalierend wirken können. Menschen, die politisch, journalistisch und auch auf Social Media Einfluss und Reichweite haben. Mein Telefon ist mein stetiger Begleiter in diesen Tagen, bis ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Sehnenscheidenentzündung bekomme. Der Arzt sagt, damit ich es auch verstehe: »Diagnose Tennisarm«.

Die Hamas ruft kurz nach dem Massaker zum »Tag des Zorns« auf. In Berlin haben alle Angst, befürchten Schlimmes. Aus Sorge über Anschläge drohen öffentliche Veranstaltungen abgesagt zu werden. Am gleichen Tag spielt meine Fußballmannschaft, TUS Makkabi Berlin, ein jüdischer Traditionsverein. Wir machen uns Gedanken, ob wir auflaufen sollen. Am Ende stehen wir auf dem Platz. Wir wollen uns dem Terror nicht beugen, wollen solidarisch mit den Opfern der Hamas sein und ein sichtbares Zeichen setzen. Polizeibeamte schützen das Spiel, ich stehe mit meinem Sohn verletzungsbedingt an der Seitenlinie. Makkabi Chai!

Ich stehe viel in diesen Tagen. Auf Mahnwachen, auf Kundgebungen, während der Gedenkminuten. Wer jetzt keine Haltung zeigt, der hat kein Rückgrat. Wer jetzt nicht fähig ist zu Empathie, verrät die Menschlichkeit. Und doch sind all das eher Gesten der Hilflosigkeit. Gesten, die oft nicht mehr als das sind, was sie halt sind: Gesten.

Nur wenige Tage vergehen, kaum bleibt Zeit für Trauer, Raum für Schmerz und Tränen, da sind die Forderungen wieder da. Forderungen nach Bekenntnissen, der Bekenntniszwang. Und ringsherum Einseitigkeit. Trauerveranstaltungen, stilles Gedenken, weinen, Kerzen anzünden und Blumen niederlegen? All das weicht Veranstaltungen, auf denen politische Forderungen laut werden. Die alten antimuslimischen Ressentiments werden mit neuem Leben gefüllt. Man hat den Eindruck, es geht mehr um Muslime als Problem in Deutschland als um eine tatsächliche Solidarität mit Israel. Wir reden und viele von uns hetzen über Eingewanderte, sind sich nicht zu schade, Schülerinnen und Schüler zu dämonisieren. Es geht wieder viel um Neukölln. Schnell taucht der Begriff des »importierten Antisemitismus« auf. In Schulen werden Forderungen nach Verboten laut. Palästina-Flagge: Verbieten! Kufiya: Verbieten! Es sind populistische Auswüchse enormer Ahnungs- oder Hilflosigkeit, untersetzt von Rassismus und Diskriminierung. Nur wenige kommen auf die Idee zu sagen »Stopp mal, ergeben diese Maßnahmen überhaupt Sinn?«

Zeitgleich vernimmt man in all dem Chaos und Wirrwarr der Ideenlosigkeit ständig »Staatsräson Israel«. Die einzig richtige, notwendige deutsche Haltung zum Staat Israel, erwachsen aus deutscher Schuld, deutscher Vergangenheitsbewältigung und deutscher Verantwortung. Nur leider haben wir es zuvor nie geschafft, diese Haltung von der politischen Bekenntnisbühne durch eine adäquate Vermittlungs- und Kommunikationsleistung in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Und so bleibt die Idee von der »Staatsräson Israel« auch in diesen Tagen vor allem Teil des politischen Schauspiels. Sie wird zwar gerne staatstragend vorgebracht, aber bedauerlicherweise in weiten Teilen der Gesellschaft nicht unterstützt. Statt zu problematisieren, dass viele die Staatsräson nicht mittragen, müssten wir den Spieß eigentlich umdrehen und ehrlich fragen: Warum sind wir daran gescheitert, die deutsche Staatsräson in der Gesellschaft zu verankern? Warum schaffen wir es nicht, dass alle mitmachen und verstehen, weshalb diese Haltung mit Merkels Worten »alternativlos« ist?

Beantworten wir diese Fragen nicht, riskieren wir, gesellschaftlich noch weiter auseinanderzudriften. Wir riskieren Brüche. Muslimische Menschen, die kollektiv zu Sündenböcken, Antisemiten und nun auch wieder zu Staatsfeinden erklärt werden, kann man nicht integrieren. Sie laufen Gefahr, aufgrund dieser rassistischen und stigmatisierenden Fremdzuschreibungen mit unserer Gesellschaft zu brechen. Und dann verlieren wir Menschen. An Rattenfänger. Sie werden angezogen von denen, die Massaker mit Baklava feiern.

Deutsche Jugendliche haben sich schon einmal radikalisiert und sind in Syrien und im Irak in den Krieg gegen den Westen gezogen. Auch der Umgang mit Musliminnen und Muslimen in Deutschland nach dem 11. September schuf die Voraussetzungen, dass Terrororganisationen wie der sogenannte »Islamische Staat« Menschen aus unserer Mitte rekrutieren konnten. Wir als Gesellschaft trugen zweifelsohne unseren Teil bei. Brechen Kinder und Jugendliche wegen Stigmatisierung und Diskriminierung mit Deutschland, gefährden wir nicht nur die »Staatsräson Israel«, sondern wir gefährden die Demokratie, die diese Staatsräson trägt.

Ich behaupte nicht, dass Diskriminierungserfahrungen den alleinigen Grund für Radikalisierungen darstellen. Dafür braucht es mehr. Doch die Erfahrung der Andersmachung, Ausgrenzung und Herabwürdigung liefert wichtige Anknüpfungspunkte extremistischer Propaganda. Wir spielen mit unserem Hass und der Intoleranz den Hassern in die Hände. Als ich selbst nach dem 11. September vom Umgang der Medien mit Muslimen angewidert war, zogen mich antisemitische Verschwörungserzählungen stark an. Meine gewaltige Erklärungs- und Behauptungsnot gegenüber Lehrerinnen, Nachbarn, Dozenten, so ziemlich allen, überwältigte und ermüdete mich. Wie viele andere Muslime konnte ich mir unsere unendliche Ohnmacht nur mit einer Übermacht erklären: den Juden! Wir waren offensichtlich Opfer. Also musste es Schuldige, musste es Täter geben.

Und so diente die jüdische Verschwörung als Erklärung für alles. Zwar schafften es die Rattenfänger nicht, mich und die Menschen um mich herum für ihre Sache zu gewinnen. Dennoch hinterließ der Antisemitismus seine Spuren. Er war in dieser Zeit allgegenwärtig. Im Netz kursierten zahllose Filme und vermeintliche Dokus. Die Al-Nur-Moschee in meiner Neuköllner Nachbarschaft war einer der islamistisch-extremistischen Hotspots. Unmöglich, sich alldem zu entziehen. Manche meiner Freunde besuchten die Moschee auch außerhalb der Gebetszeiten, hörten sich die Predigten an. Deso Dog, eigentlich Denis Cuspert, der bekannte Rapper und spätere IS-Propagandist, war in unserer Nachbarschaft unterwegs und man grüßte sich. Es war eine unglaublich aufgeheizte Zeit. Al Qaida, zweite Intifada, Mohammed-Karikaturen, Anschläge auf Bali, in London, Madrid, Mumbai, Thilo Sarrazin, die Taliban, Irak, Afghanistan, Osama bin Laden, Guantanamo, George W. Bush … Es war viel. Einfach zu viel.