Zwischen Himmel und Hölle - Bexy Cameron - E-Book

Zwischen Himmel und Hölle E-Book

Bexy Cameron

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Beschreibung

Bexys Hippie-Eltern traten den Children of God bei, weil sie an die freie Liebe glaubten. Doch für Kinder bedeutet die Sekte nur harte Arbeit, drakonische Strafen, öffentliche Demütigungen und unendliche Kontrolle. Bexy ist erst zehn Jahre alt, als sie das dunkelste Jahr ihrer Kindheit durchlebt...
Als Erwachsene, längst aus der Sekte verstoßen, kehrt Bexy an die Orte ihrer Kindheit zurück. Sie will verstehen, wie Kinder in Sekten manipuliert werden, um Frieden zu schließen mit ihrer Vergangenheit.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16.Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel

Über dieses Buch

Bexys Hippie-Eltern traten den Children of God bei, weil sie an die freie Liebe glaubten. Doch für Kinder bedeutet die Sekte nur harte Arbeit, drakonische Strafen, öffentliche Demütigungen und unendliche Kontrolle. Bexy ist erst zehn Jahre alt, als sie das dunkelste Jahr ihrer Kindheit durchlebt … Als Erwachsene, längst aus der Sekte verstoßen, kehrt Bexy an die Orte ihrer Kindheit zurück. Sie will verstehen, wie Kinder in Sekten manipuliert werden, um Frieden zu schließen mit ihrer Vergangenheit.

Über die Autorin

Bexy Cameron ist Schriftstellerin, Regisseurin, Lehrende an der Universität und Aktivistin. Ihr globales Filmschaffen umfasst die Bereiche Kunst, Mode und Musik, mit einer Reihe von führenden Marken wie Nike, Adidas, Converse, YouTube, Google und Channel 4. Neben dem Schreiben und Regieführen von Werbespots für Fila, Airbnb, Lee Cooper und Fit Flop setzt sie ihr Talent für sozialen Wandel ein: Sie hat eine Serie für Channel 4 geschrieben und konzipiert sowie Filme über LGBTQI-Rechte im Commonwealth, religiöse Kulte, Fankultur, Gender, die Stärkung der Rolle der Frau, die globale Erwärmung und die Musikindustrie gedreht.

Bexy Cameron

Zwischen Himmelund Hölle

Meine Kindheit bei denChildren Of God und wie ichmich daraus befreite

Aus dem Englischen vonSimone Schroth

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2021 by Bexy Cameron

Titel der englischen Originalausgabe: »Cult Following«

Originalverlag: Manilla Press

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Beate DeSalve, Pulheim

Umschlaggestaltung: Thomas Krämerunter Verwendung von Motiven von © Boiko Olha/shutterstock, © D. Pimborough/shutterstock und © William Perugini/shutterstock

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-1498-3

luebbe.de

lesejury.de

Dieses Buch ist den Kindern gewidmet, mit denen ich aufgewachsen bin.

Denen, die seitdem aufgeblüht sind. Denen, die sich noch immer mit ihren Traumata auseinandersetzen müssen. Denen, die es schwer hatten. Denen, die es »geschafft haben«. Und jenen Seelen, die sich in ihrer Schönheit dafür entschieden haben, diese Welt und diesen Schmerz hinter sich zu lassen.

Wir sehen uns auf der anderen Seite.

Prolog

Erzähl mir alles: Fünfzehn Jahre danach

»Ach bitte, erzähl mir alles.«

Diese Aufforderung habe ich im Pub gehört, um vier Uhr morgens auf privaten Partys, am Schreibtisch im Büro. Von Freunden, manchmal auch von völlig Fremden. Sie kann von jemandem kommen, dessen Blick voller Mitgefühl ist, oder von jemandem, der vor Aufregung geradezu sabbert, mit einem ernsthaften Gesichtsausdruck gestellt werden oder sogar mit einem wohlmeinenden.

Die Worte »Erzähl mir alles« fallen, wenn die Leute erfahren, dass ich ein »Sex Cult Girl« bin, ein Mädchen aus der Sex-Sekte.

Und aus diesem Grund sitze ich jetzt hier, in diesem Truck, zwanzig Jahre nachdem ich die Children of God, DieFamilie, verlassen habe. Mein Truck parkt unter dem nächtlichen Sternenhimmel Arizonas. Deswegen bin ich in dieses riesige Wüstengebiet gefahren, deswegen höre ich gerade das Knackgeräusch eines abkühlenden Motors und die flachen Atemzüge der hinter mir schlafenden Sofi, meiner Freundin und Filmemacherkollegin. Deswegen habe ich mein Zuhause in London verlassen, meine Geschwister und meinen Job: Ich werde mich wieder in die Welt der religiösen Kommunen und Sekten begeben.

Bei den Worten »Erzähl mir alles« lädt mein Gehirn sofort Tausende von Bildern, sie lassen die Erinnerungen explodieren. Nach außen hin wirke ich dann jedoch abwesend und stumm. Nicht, weil ich Angst davor habe, das Dunkel oder meine Geschichte mit jemandem zu teilen, nicht einmal, weil jetzt vielleicht der Moment gekommen ist, in dem ich in den Augen des fragenden Menschen zu einer ganz anderen Person werde. Es ist einfach nur so, dass einem so eine Unterhaltung im Pub, in den frühen Morgenstunden nach der Party oder bei einer Tasse Kaffee oder Tee auf der Arbeit weder den Raum noch die Zeit noch die Tiefe bietet, jemandem »alles« zu erzählen.

Ich wurde in eine Umgebung hineingeboren, die ebenso banal wie unglaublich war, ebenso dramatisch, wie sie zu meinem Alltag wurde, ebenso komplex wie kontrolliert. Und vielleicht habe ich mit diesen Worten ja auch gerade einfach nur das Phänomen des »Erwachsenwerdens« beschrieben, vielleicht gibt es zwischen unseren unterschiedlichen Kindheiten mehr Ähnlichkeiten, als uns bewusst ist.

Und obwohl ich mehr erreicht habe, als sich mein fünfzehnjähriges Ich jemals hätte erträumen können, als ich die Tore einer Sekte hinter mir ließ, fühle ich mich noch immer wie eine Hochstaplerin. Vielleicht sogar jetzt mehr als jemals zuvor. Jetzt, wo ich hier sitze, über fünftausend Meilen weg von zu Hause, nachdem ich Yogakommunen, sich auf das Armageddon vorbereitende Stämme und Kosmologen in Sedona besucht, nachdem ich mit meinen Dämonen und mir selbst gekämpft habe. Seit vier Monaten befinde ich mich auf einer Reise, die alles andere als vorbei zu sein scheint.

Wenn ich Ihnen, meiner Leserschaft, jetzt also »alles« erzähle, was könnte ich Ihnen in fünf Minuten darüber vermitteln, wie es war, in einer »Sex-Sekte« aufzuwachsen?

Möchten Sie etwas über eine Generation von Kindern hören, die vom Vietnamkrieg angetrieben wurde und aufrichtig glaubte, das Ende der Welt stehe unmittelbar bevor? Oder über den charismatischen Führer, der ihnen einen Sinn schenkte, sie aus Familien rettete, in die sie nicht passten, aus der Drogenabhängigkeit oder vielleicht einfach nur aus dem Horror, der Mittelklasse anzugehören und normal zu sein?

Oder möchten Sie etwas über meinen Exorzismus erfahren? Darüber, wie die Mütter zu glorifizierten Prostituierten für Jesus wurden? Darüber, wie meine Eltern bei jedem Fernsehsender des Vereinigten Königreichs – und auch denen anderer Länder – auftraten, um eine Gruppe zu verteidigen, die Tausende von Kindern missbrauchte?

Oder würden Sie lieber etwas über die Sommer hören, in denen ich wie ein kleines wildes Tier jenseits der Zivilisation mit meinem Bruder in Afrika herumgerannt bin? Über die heißen, furchtbar heißen Tage, an denen ich in Indien auf kalten Fußböden geschlafen habe und dabei glaubte, mich in einer normalen Familie zu befinden? Würde es Ihnen helfen zu wissen, dass man dort, wo ich herkomme, meine Kindheit mit den Worten »Glück gehabt« einstuft, dass meine Schwestern und ich darüber reden, wie glücklich wir uns schätzen können, weil »unser Dad nicht pädophil ist«?

Könnten Sie sich durch irgendeine dieser Informationen tatsächlich vorstellen, wer ich bin oder in welcher Welt ich aufwuchs? Sie würden Splitter davon zu Gesicht bekommen, das sicher. Aber solche Splitter ohne Zusammenhang könnten Ihren Blick dafür trüben, wer ich wirklich bin und was eine Geschichte wie diese über unser menschliches Grundbedürfnis nach Verbindung mit anderen und nach Sinnhaftigkeit enthüllen könnte. Darüber, wie man eine Kindheit überlebt, darüber, was ein Traum einem schenken kann, und vielleicht, irgendwann, was wir, möglicherweise … hoffentlich … was ich selbst über Vergebung lernen könnte.

Doch während meine Finger diese sehr reale Tastatur berühren, die mir den Rahmen für dieses sehr reale Abenteuer quer durch Amerika verleiht, verstehe ich immer noch nicht ganz, wie all das mich hierhergebracht hat. Natürlich weiß ich, dass es darum geht, meine Eltern zu verstehen, herauszufinden, wie meine wirre Geschichte mit einer Sekte verlaufen ist, die so viel Schaden angerichtet hat, und mich meiner eigenen Wahrheit ein wenig mehr anzunähern. Trotzdem, so scheint es mir, während ich hier sitze, ist das eine ziemlich bekloppte Idee.

Ich fände es ganz großartig, wenn Sie mich für eine Kriegerin halten würden, die sich aus der Asche einer Sekte erhebt, oder für eine Heldin, die die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit geraderückt, oder für eine Filmemacherin mit einem fantastischen Plan. Ich wäre sogar schon damit zufrieden, wenn Sie glauben würden, ich wäre objektiv, in der Lage, unverzerrte Versionen dessen zu liefern, was ich sehe, von den Geheimnissen, die ich enthülle, oder von den Dingen, die ich erlebe. In Wirklichkeit habe ich jedoch nicht die leiseste Ahnung, was ich hier tue.

Das Knacken des Motors ebbt ab, der Benzingeruch wird schwächer, und mein Geist entschwebt dem Vordersitz des Trucks. Ich erhebe mich über mich selbst, über den in der Wüste geparkten Wagen, fliege höher und höher, bis mein Ford Pick-up nur noch ein winziger Punkt in einer sich unendlich erstreckenden Leere ist. Im Unbekannten. Hoch oben über einem Truck, bei dem es sich so anfühlt, als trüge er mich durch Zeit, Raum, Glauben, Trauma und Heilung. Über einem Gefährt, das mich auf einem Roadtrip der Zusammenbrüche und Nervenkrisen, der Meth-Köche, Mönche und seifensiedenden Armageddon-Jünger trägt.

Und das alles geschieht aus der Hoffnung heraus, dass ich Ihnen am Ende dieser Reise alles erzählen kann.

1. Kapitel

Propheten auf der Jagd nach Beute: 1968

Er war ein Prophet.

Er war pädophil.

Er war ein Diktator.

Er war Grandpa.

David Berg, Dad. Father David, Moses David. Der König … Das sind einige der Namen des Führers der Children of God, der Sekte, in die ich hineingeboren wurde und in der ich aufwuchs, bis ich fünfzehn war. Ich wusste nicht einmal, wie er aussah, bis ich ins Teenageralter kam. Die Kinder nannten ihn Grandpa, Großvater. Seine Identität war so geheim, dass wir nicht mit Fotos, sondern mit Zeichnungen von ihm aufwuchsen. Sie waren wie Comiczeichnungen. Wie in einer Diktatur waren wir umgeben und geführt von einem übermächtigen Herrscher, den man weder berühren noch sehen konnte. Wir lasen jeden Tag seine neuen Schriften. Alles, was er tat, wurde festgehalten: seine Träume, seine Erklärungen, sein Stuhlgang. Wirklich, man schrieb auf, wie und wann er scheißen ging, und dann lasen wir darüber.

Jetzt, wenn ich als Erwachsene zurückblicke, sehe ich ihn als dogmatischen, sexuell motivierten, Blödsinn redenden, narzisstischen, korrupten, gefährlichen Perversen. In meiner Kindheit jedoch war er für mich übermächtig, verwirrend, gleichzeitig jedoch auch langweilig. Es war wie bei einem Fisch, der nicht weiß, dass er im Wasser schwimmt: Er war unsere Normalität, er war überall, doch sein unsteter Geist konnte in einem einzigen Augenblick unser Leben verändern.

Es ist schwierig zu verstehen, wer er war. Er war kein gut aussehender Charles Manson, nicht einmal ein David Koresh. Er war ein in den 1920er-Jahren geborener Mann mit beginnender Glatze, mit grauen Haaren und tief liegenden Augen, dem es irgendwie gelungen war, Tausende davon zu überzeugen, ihr altes Leben aufzugeben und ihm nachzufolgen. Zu ihnen gehörten auch eine Frau aus einem winzigen Dorf im britischen Derbyshire und ein Mann aus einer Küstenstadt in Kent: meine Eltern. Ohne ihn hätten sie nicht geheiratet. Ohne ihn wäre ich möglicherweise gar nicht auf der Welt.

Was mir über David Berg bekannt war, hatte er erfunden; es gehörte zu den Geschichten, die er in pompös klingender Sprache über sich selbst verfasste. Es widerstrebt mir, diesem Stück Scheiße wertvolle Sendezeit zu schenken, nachdem es mir einen so großen Teil meiner Kindheit geraubt und vergiftet hat. Aber wenn ich jetzt in meiner Vergangenheit grabe und in die Geschichte meiner Eltern eintauche, muss ich mich zurück an die Quelle begeben, und die Quelle ist er. Um sie verstehen zu können – und in der Folge mich selbst –, muss ich versuchen herauszufinden, wie es ein gescheiterter, ganz offensichtlich gestörter Prediger schaffen konnte, eine internationale Bewegung ins Leben zu rufen, die zeitweise fünfundzwanzigtausend Mitglieder zählte.

Letzten Endes geht es wohl darum, dass ich wissen will, wie David Berg meine Eltern »reingelegt« hat.

***

Und hier beginnt diese Reise – und diese Geschichte –, lange vor meiner Geburt, in den 1960er-Jahren. Und obwohl das hier nicht die Geschichte meiner Eltern ist, und schon gar nicht die von David Berg, ist es der Anfang, ob mir das nun gefällt oder nicht. Als Kind brachte man mir bei, dass es sich dabei um den Augenblick handelte, in dem wir erschaffen wurden, um den Augenblick, in dem unsere Welt entstand. Die späten 1960er-Jahre waren ganz ohne Zweifel eine Zeit großer Veränderungen, und in diesem Jahrzehnt entstanden viele Sekten.

Vor einigen Jahren besuchte ich in London eine Ausstellung mit dem Titel »Revolution«. Ich wollte das Jahrzehnt aus einem neuen Blickwinkel wahrnehmen. Sofort nahm mich diese Welt der Liedzeilen und Bewegungen, der großen Veränderungen in Kunst und Kultur gefangen. Die Dichtkunst von Bob Dylan, Fotoaufnahmen der Rassenunruhen und der Song »Eve of Destruction«, der während meines Rundgangs durch die Kopfhörer dröhnte, reichten aus, um etwas tief in meinem Inneren zu bewegen. Dieser Scheißkerl! Raus aus dem Alltagstrott! Ein Rebell aus der Vergangenheit!

Obwohl meine Geschichte so stark davon geprägt war, konnte ich es spüren. Ein Film über Woodstock wurde auf sämtliche Wände projiziert. Leute aus der Medienszene und Touristen lagen auf Sitzsäcken herum und ließen die revolutionäre Atmosphäre auf sich wirken – Jimi Hendrix auf der Bühne, nackte Hippies in Ekstase, Janis Joplins schmerzerfüllte Auftritte. Jetzt, Jahrzehnte später, mitten in dieser Ausstellung, konnte ich die alles in Bewegung versetzenden Strömungen der Verwandlung spüren.

Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie wären wirklich dort gewesen, wären irgendwo auf dem Land in England aufgewachsen, in einer typischen Familie mit zweieinhalb Kindern, als Mitglied einer Kirchengemeinde, an einer reinen Jungen- oder Mädchenschule, und das im Kontrast zur Revolution. Stellen Sie sich vor, Sie wären in Mittelamerika, aufgewachsen in den Fünfzigerjahren, als es in der Werbung nur darum ging, das perfekte Heim für die Familie zu schaffen – das war am allerwichtigsten, und nach dem Krieg ging es überall darum, sich an die bestehenden Regeln zu halten.

Und dann, plötzlich: Vietnam, Bürgerrechte, Frauenrechte, die sexuelle Revolution. Eine Gegenkultur entwickelte sich rasend schnell und brachte rasch eine Generation hervor, deren Geist durch die Ungerechtigkeit geradezu gewaltsam geöffnet und von psychedelischen Einflüssen angetrieben wurde. In Kalifornien schossen LSD-Fabriken wie Pilze aus dem Boden – damit versorgte man Kinder, die die Nächstenliebe dem Bombardieren anderer Nationen vorzogen. Liebe und Frieden wurden zu Waffen; der Dichter Allen Ginsberg inspirierte die Menschen zu einer neuen Form des Aufstands, War for Peace, Krieg für Frieden. Junge Leute bewaffneten sich mit Guerilla-Theater und Blumen-Bomben. Der junge Aktivist Abbie Hoffman verkündete: »Der Schrei der Flower-Power hallt durch das Land. Wir werden nicht verwelken.« Die Revolution trug zunächst Knospen und dann Blüten.

Diese Generation forderte Veränderungen. Und für meine Eltern würden diese Veränderungen auf politischer, globaler oder lokaler Ebene nicht schnell genug eintreten. Als die Veränderungen, nach denen sie sich so sehr gesehnt hatten, sie erreichten, empfingen sie sie deshalb nicht nur mit offenen Armen, sondern waren sogar bereit, ihr Leben, ihre Identität und ihre emotionalen Bindungen aufzugeben, um daran teilzuhaben. Ein Teil von mir empfindet im Rückblick und mit dem Wissen um die späteren Ereignisse sogar Respekt für meine Eltern in dieser Zeit: für die Rebellion, die Ideologie und den Mut, der dazu gehört, alles hinter sich zu lassen.

Und bei diesem spirituellen Erwachen kommt der Führer der Children of God ins Spiel, geboren in der Rebellion, am Strand von Huntington Beach.

Huntington Beach war für Südkalifornien wie Haight-Ashbury für San Francisco: das Epizentrum der Gegenkultur – Drogen, lange Haare, Sonnenschein und freie Liebe. Hier begann David Berg seine Predigten vor den Hippies, und die Geburt der Children of God nahm ihren Anfang. Unsere Schöpfungsgeschichte.Unser Urknall.

In meiner Kindheit erzählte man uns von diesem Augenblick so, wie ich mir vorstelle, dass andere Kinder von der Existenz des Weihnachtsmannes erfahren. Alles wurde uns vermittelt wie reine Magie, und so erschien es uns auch. Stellen Sie sich einen Mann über fünfzig vor, mit weißem Haar und einem weißen Bart, der an einem Strand Brote mit Erdnussbutter und Marmelade verteilt. Die Luft voller Sonnenschein und Meersalz, und dann die Botschaft des Christentums. Tag für Tag kamen die Hippies zurück, und die Gemeinschaft der langhaarigen Außenseiter, die nirgendwo dazugehörten, wuchs rasch. Die Children of God wurden aus der eingenommenen Perspektive, aus einer an Vergangenem orientierten Haltung und PR-Arbeit geboren.

Zumindest ist das die Geschichte, die man mir während meiner Kindheit und Jugend erzählt hat: Die Geschichte einer großartigen Vision eines großartigen Mannes, vom organischen Entstehen einer Bewegung in einer Welt, die reif für Veränderung war. Und gewiss ist das eine mögliche Version. Aber es ist nicht die einzige.

Es ist, als hätte man während des ganzen Lebens ein Gemälde vor sich gehabt; jeder Pinselstrich ist einem vertraut, jede Linie, jeder Farbton. Und dann kommt man in ein Alter, in eine Situation oder in einen emotionalen Zustand, in dem man daran zu kratzen beginnt … vielleicht, weil sich da immer irgendetwas nicht richtig angefühlt hat. Man kratzt an einer Ecke, und dann kommt etwas darunter zum Vorschein. Manche Farben sind dieselben, vielleicht überschneiden sich auch ein paar Linien, doch jetzt ist das Bild beschädigt. Man kratzt immer weiter, bis das Gemälde enthüllt wird. Düster, verzerrt. Man macht weiter, bis man einen Fingernagel dabei verliert, aber endlich erschließt sich der Sinn deutlicher.

Wenn man verstehen will, wie eine Bewegung ins Leben gerufen wird, besonders eine so rebellische oder potenziell extreme wie diese, reicht es nicht, sich nur mit dem Kontext der Situation auseinanderzusetzen. Es geht auch um den Kontext des Mannes dahinter, um die Mischung der Faktoren, die das Ganze so stark und mächtig gemacht haben.

Welches Bedürfnis konnte diese Gruppe für Leute wie meine Eltern erfüllen? Und, besonders im Falle der Children of God: Welches Bedürfnis, welche Sehnsucht oder welchen Zweck erfüllte die Gruppe umgekehrt für David Berg?

***

David Brandt Berg kam 1919 als Kind der Wanderevangelisten Hjalmer Emmanuel Berg und Virginia Lee Brandt zur Welt. Es war jedoch seine Mutter, die ihn am stärksten beeinflusste. Wenn ich meinen Gedanken einfach freien Lauf lasse, male ich mir eine Beziehung aus, die der von Mutter und Sohn in einem Hitchcock-Film ähnelt: eine gluckenhafte (kontrollversessene) Mutter, einen Ödipuskomplex, eine unheimliche Co-Abhängigkeit – das klassische Umfeld für einen Psychopathen. Aber solche Ausschmückungen braucht diese Geschichte wirklich nicht. (Obwohl das Bild dieser Beziehung aus einer der zahlreichen Geschichten stammt, die man uns als »Kindern« vorlas. In diesen Geschichten hatte Großvater geträumt, er habe eine »zärtliche und zugleich äußerst erregende« sexuelle Beziehung zu seiner Mama.)

Virginia gehörte zu den ersten erfolgreichen weiblichen Wanderevangelisten in den Vereinigten Staaten. Ich halte das für wichtig, weil David Berg dadurch ein Vorbild in dieser Welt fand. Virginia wusste immer, dass es David sein würde, der einmal in ihre Fußstapfen treten sollte. Unter ihren drei Kindern war er für sie das außergewöhnliche, das besondere, das auserwählte. Virginia gründete ihr eigenes Gebetszelt und veranstaltete dort riesige »Revivals« für eine Zuhörerschaft von bis zu siebentausend Menschen.

Stellen Sie sich vor, Sie wären Virginias Sohn gewesen, hätten von einer der improvisierten Holzbänke mit Tausenden von Anhängern aus zugeschaut, hätten gesehen, mit welcher Ehrfurcht die Menschen in das Gesicht dieser Frau blickten, aus einem Meer schwitzender frommer Männer heraus, hätten den Geruch nach Sägemehl und Körperausdünstungen wahrgenommen, der schwer in der Luft hing. Stellen Sie sich vor, Sie hätten aus Virginias Gesicht den Geist Gottes leuchten sehen, der in die Menge strömte. Wäre es Ihnen dann möglich gewesen, nicht zu ihr aufzuschauen und sie nachahmen zu wollen; nicht den Wunsch zu verspüren, die Macht des Allmächtigen zu imitieren und in sich aufzunehmen?

Und so stellte der heranwachsende David Berg seine Mutter auf ein Podest, und im wörtlichen Sinne stand sie auf einer Kanzel. Wenn man seinen Berichten Glauben schenken kann, tat sie das umgekehrt auch. Er war ihr ganz besonderer Junge, zu einem Leben »für den Herrn« und in der Öffentlichkeit ausersehen. Und sie sollte recht behalten.

In den späten 1930er-Jahren stellte sich David Berg, inzwischen über zwanzig, seiner Mutter an die Seite, wurde ihr Chauffeur, ihr Vorsänger und persönlicher Assistent. In den 1950er-Jahren übernahm er seine eigene Gemeinde, in einer Kirche namens Valley Farms. Und wieder gibt es von diesen Ereignissen zwei Versionen.

In beiden ist David Bergs Pastorat nur von kurzer Dauer und von unseligen Ereignissen bestimmt.

Erste Version: In Valley Farms lud David Berg amerikanische Ureinwohner ein, mit der ansonsten nur aus Weißen bestehenden Gemeinde Gottesdienste zu feiern. Die Schäfchen von Valley Farms gerieten außer sich, denn man wollte die »Indianer« nicht in der Kirche haben. David erklärte den Leuten, sie seien eine »Bande von Rassisten«, und dann verließ er sie, ohne sich weiter Illusionen darüber hinzugeben, in welchem Zustand sich die Christenheit befand und wie unmoralisch das System Kirche war. Er gibt an, damit hätten seine rebellische Einstellung und sein tiefes Misstrauen gegenüber dem Establishment begonnen. Diese Gefühle der Rebellion und der Desillusionierung seien im Zusammenhang mit der Welle der Revolution, die sich am Horizont aufbaute, entstanden – vielleicht auch als Vorbereitung darauf. Er habe den Finger genau am Puls der Zeit gehabt.

Diese Version passt ganz wunderbar zu dem Bild von David Berg als Mann aus dem Volk, einem Mann außerhalb der Gesellschaft, voller Überzeugungen – genug Überzeugungen, um die Kirche und alles andere hinter sich zu lassen, wofür er gearbeitet hatte und was er im Leben hatte erreichen wollen. So wird er zum Helden und Vorbild für unsere Hippies: Wenn er das schafft, können sie es auch.

Zweite Version (die von seiner Familie, die dabei war, eher als Wahrheit angesehen wird): David Berg verließ seine Gemeinde nicht aus einem tiefen Empfinden für Recht und Unrecht heraus. Das Ganze hatte nichts mit Rassismus oder Rebellion zu tun. Man verstieß ihn aus der Kirche, weil er sich ein sexuelles Vergehen mit einer Angestellten der Kirche hatte zuschulden kommen lassen. Und so, wie es einen aufhorchen lässt, wenn man das Skelett eines Katzenbabys in einem Garten findet, in dem ein Psychopath seine Kindheit verbracht hat, stellt dies für mich eines der frühen Warnzeichen für das Kommende dar. Es ist ein Hinweis auf die Veranlagung eines Mannes, der die Geschichte so neu schreiben konnte, dass sie seinen Bedürfnissen entsprach, und der seine eigene sexuelle Befriedigung über das Werk Gottes stellte. Für mich zeigt das seine Korruptheit und dass er schon vor der Gründung der Gruppe verdorben gewesen ist. Es deutet darauf hin, dass er nicht nur zuließ, dass die Macht ihn gefühllos machte, als er einmal ein messianischer Führer geworden war. Vielmehr zeigt es ihn als Mann, der diesen Plan schon immer hatte.

Und ich kratze weiter an dem Gemälde.

***

Zu Beginn der 1960er-Jahre hatten David Berg und seine Frau Jane mehrere Kinder, und sie hatten ihre eigene umherreisende christliche Band gegründet, die Teens for Christ. David war kein einsamer alter Mann, der an einem Strand herumschrie, Weltuntergangsszenarien entwarf und dazu Erdnussbutterbrote verteilte. Er hatte Hippies an seiner Seite. Gut aussehende Hippies. Seine Kinder.

Sie gründeten am Pier von Huntington Beach eine Mission namens The Light House, Leuchtturm. Dort sprachen sie in süßen Worten über Liebe, Zugehörigkeit, Aufnahme in den Himmel und das Erkennen des eigenen Lebenszwecks.

In dieser Zeit verwandelte sich David Berg langsam in Father David. Er trug keine Anzüge mehr, sondern kleidete sich wie ein Hippie, ließ Bart und Haare wachsen, und er aktualisierte seine Predigten, sprach über das Establishment oder »das System«, damals der Kernbegriff für die Machtstrukturen, die für die Unterdrückung des Volkes, die Kontrolle der globalen Wirtschaftsbeziehungen und die Entstehung von Kriegen verantwortlich waren.

Ich versuche mir vorzustellen, ich wäre damals an diesem Strand gewesen … Vielleicht habe ich mich seit diesem letzten Streit über Präsident Nixon nicht mehr in meinem Elternhaus in der Vorstadt blicken lassen, vielleicht bin ich einfach nur erschöpft von dem ganzen Scheiß, den ich täglich auf der ganzen Welt sehe. Ich beiße von dem süßen und zugleich salzigen Brot ab, von dem billigen Weißbrot tun mir die Zähne weh, und währenddessen spricht jemand mit mir über mein Leben, meinen Daseinszweck, und zwar mit mütterlicher Zuneigung. Ich stelle mir vor, diese Güte nach einem LSD-Trip zu erleben (oder einfach nur nach einer langen Nacht, nach der ich mich verletzlich fühle). Vielleicht habe ich mich gerade am Vortag gefragt, was der Sinn des Lebens, der Arbeit – eigentlich der Sinn von allem – überhaupt ist. Und jetzt zeigt mir da jemand einen neuen Weg.

Vielleicht einen besseren Weg.

David Berg erklärte den Hippies, die die Mission besuchten, sie seien genau wie die ursprünglichen zwölf Apostel Christi – wie die allerersten Außenseiter und von der Gesellschaft Verstoßenen. Er verlieh ihrem Status eine Bedeutung. In einem Zeitalter des Trotzes machte er sich die Atmosphäre zunutze, indem er das jugendliche Bedürfnis nach Rebellion und Protest umleitete. Er benutzte und manipulierte die Heilige Schrift, um seine Vorstellungen davon zu untermauern, wie man dem Herrn und damit ihm zu folgen habe: »Und sie brachten die Boote ans Land und verließen alles und folgten ihm nach.« (Lk 5, 26)

Um eine so wichtige Bewegung gründen zu können, ist es wichtig, die Anhänger dazu zu bekommen, dass sie beweisen, dass sie alles andere dem großen Ziel »unterordnen« werden. Die Vorstellung, Vater, Mutter, Arbeit, Heimat, das eigene Land und jeden anderen gesellschaftlichen Einfluss hinter sich zu lassen war für Vollzeitmitglieder ganz entscheidend – und für David Bergs Plan unabdingbar. Die Bibel sagte das schließlich auch ganz eindeutig: »Darum kann keiner von euch mein Jünger sein, wenn er nicht auf seinen ganzen Besitz verzichtet.« (Lk 14, 33) Am Huntington Beach lag darin die Herausforderung, vor die David Berg und die Teens for Christ die Hippies stellten: »Kommt! Lasst alles zurück und folgt Jesus.« In gewissem Sinne hatten viele der Zuhörer das bereits getan, viele den ersten Schritt bereits vollzogen. Sie hatten ihre Familien, ihr Zuhause und ihre Arbeit schon verlassen. Jetzt brauchten sie nur noch die Richtung ihres Lebens ganz leicht zu verändern, und schon würden sie es um Jesu willen tun.

Und wenn man beweisen will, dass man glaubt, dass man würdig ist und dass man zum Club gehört – gibt es dann irgendetwas Effektvolleres, als alles aufzugeben? Wenn man eine Gemeinschaft gründen will, gibt es dann irgendetwas Verführerischeres als das Bewusstsein, dass jeder einzelne Jünger zu Anfang denselben Preis bezahlt hat?

Und damit sind wir bei unserem Urknall angelangt.

Im Falle David Bergs wurde dieser Augenblick von seiner damals zweiundzwanzigjährigen Tochter Deborah als »großer Durchbruch« beschrieben. In seinen Worten: »Die Hand des Herrn bewegte sich nun!«

Sein ganzes Leben hatte er darauf gewartet, und jetzt, im Alter von neunundvierzig Jahren, hatte er endlich seinen Lebenszweck gefunden. Jetzt ergab sich seine Chance zu beweisen, dass er etwas wert war, und sein natürlicher Hass auf die Kirche, die Regierung und die Welt, die ihn im Stich gelassen und in der er versagt hatte, verlieh seinen Predigten eine unmittelbare Authentizität. Seine Worte entsprangen einem sehr, sehr realen Gefühl. Sie waren mächtig und voller Leidenschaft. Seine Verbitterung der Kirche gegenüber, seine Ablehnung des sozialen Establishments, des kapitalistischen Systems, seine Verachtung gegenüber elterlicher Autorität – all das formte sich zu einem Evangelium der Rebellion.

Und es reichte aus, um seine eigene Revolution beginnen zu können.

Wenn David über Religion sprach, verband er seine eigene Ideologie geschickt mit den Überzeugungen der Jugend: »Die Eltern wollen, dass man ihnen in einer von Egoismus geprägten Wirtschaft nachfolgt, in der ein Mensch des anderen Menschen Wolf ist, wo man einander nicht nur umbringt, sondern ganze Nationen förmlich abschlachtet … Diese jungen Leute haben ein für alle Mal genug von dem, was, wenn man es genau betrachtet, eine heidnische, grausame, zuhälterische und falsche Auffassung des Christentums ist. Sie möchten zu den friedliebenden Religionen alter Zeiten zurückkehren, und das schließt das frühe Christentum ein, und davon wollen ihre Eltern nichts hören. Wer rebelliert hier also? Wenn man es so interpretiert, dass es sich um eine Rebellion gegen die Ansichten der alten Zeiten und gegen die Wirtschaft der alten Zeiten handelt, dann sind hier die Eltern die Rebellen.«

***

Als die Teens for Christ zu einer Gruppe von Hunderten von Leuten anwuchsen, zog man vom Light House in eine Ranch auf dem Land. Weil sie glaubten, das Weltende sei nahe, ergingen sich die Mitglieder in täglichen Prophezeiungen und redeten in Zungen. Sie trugen Gewänder aus Sackleinen, rieben sich die Gesichter mit Asche ein und riefen »Wehe!« in den Straßen, um die Welt vor dem herannahenden Ende zu warnen. Stellen Sie sich den Ruß in den Gesichtern vor, das kratzende, staubige Sackleinen, die zornigen »Wehe!«-Rufe aus Hunderten rauer Kehlen. Das war RADIKAL. Es herrschten Zeiten verstörender Gewalt und Unterdrückung, und die Lehren von Allen Ginsberg und Abbie Hoffman wurden vor einem sehr realistischen Hintergrund verkündet.

Das Ende der Welt stand unmittelbar bevor!

David Berg sagte voller Feuer und Stolz über seine Gefolgschaft: »Das hier ist die echte, die wahre und die einzige Revolution, die jemals überleben wird, denn das hier ist das revolutionäre Königreich Gottes und Jesu Christi!« Damit festigte er ihren Status als Endzeitpropheten. Die Gruppe nutzte Vans, um dieses Evangelium überall in den Vereinigten Staaten zu verbreiten. David gab dem Ganzen eine Gruppenstruktur, suchte sich die Leute mit Führungsqualitäten heraus und unterrichtete sie (er nannte sie seine Erzbischöfe) persönlich. Bereits zwei Jahre später hatte die Gruppe genügend Anhänger gesammelt und Schwung geholt, um ins Vereinigte Königreich zu reisen und dort die Revolution für Jesus als Bewegung ins Leben zu rufen.

Und damit beginnt die Geschichte meiner Eltern.

***

Meine Eltern traten der Gruppe 1972 bei. Als frischgebackene Rekruten wurden sie in einer Fabrik in Bromley angeleitet, hinaus in die Welt zu gehen und in Amsterdam, Paris sowie an weiteren Orten Missionarsarbeit zu verrichten. David Berg lebte zu dieser Zeit bereits in einem Versteck. Seit der Gründung der Gruppe in Huntington Beach waren erst vier Jahre vergangen. Wieder gibt es zwei Versionen der Ereignisse.

Version eins: In den Vereinigten Staaten erhielten das Jesus Movement und die Children of God allmählich negative Aufmerksamkeit in der Presse. Eltern erklärten, ihre Kinder seien einer Gehirnwäsche unterzogen, gekidnappt und hypnotisiert worden. David Berg fürchtete rechtliche Konsequenzen, deswegen zeigte er sich kaum noch in der Öffentlichkeit, für den Fall, dass sich die Situation zu seinen Ungunsten entwickeln sollte.

Version zwei zufolge standen die Dinge noch gar nicht so schlecht, doch David Berg, der sich in Moses David verwandelte und sich als dieser neu erfand, musste sich von seinen Anhängern distanzieren. Nach und nach schüttelte er die Leute ab, die ihn aus der Zeit kannten, bevor er sich selbst zum Propheten erklärt hatte. Offenbar hatte er realisiert, dass er sich mit einer Aura des schwer zu Fassenden und des Mysteriösen umgeben musste, wenn die Leute daran glauben sollten. Indem er seine Anhänger auf Abstand hielt, sodass sie »den Mann an sich« nicht sehen konnten, war es für ihn einfacher, sie an »den Propheten« glauben zu lassen. Wenn meine Eltern ihm begegnet wären, hätten sie vielleicht erkannt, dass er ein unheimlicher Mann mit einem Alkoholproblem war (so hat ihn seine Tochter beschrieben), kein Messias.

Zu dieser Zeit hatte er bereits seine erste Frau Jane (die man als »Mutter Eva« präsentiert hatte) abgeschüttelt und ein junges Mädchen an seine Seite geholt, das halb so alt war wie er. Sie hieß Karen Zerby (später sollte sie als »Mama-Maria« bekannt werden) und war seine Konkubine, auch wenn es eine schmerzerfüllte fünfjährige Übergangszeit gab, in der beide Frauen bei ihm lebten. Bis zu seinem Tod sollte sie sich in den Dienst von ihm und der Gruppe stellen. Tatsächlich führt sie die Children of God, die inzwischen The Family International heißen, bis heute an.

Worin auch immer der Grund bestand – während meine Eltern in der Fabrik in Bromley neue Namen erhielten und eine Wiedergeburt erlebten, trafen sie Moses David nie, obwohl sich dieser nur zwei Meilen entfernt aufhielt. Er inszenierte die Revolution von einem kleinen Einfamilienhaus in einer ruhigen Sackgasse aus. Ich weiß nicht, wie lange er im Vereinigten Königreich lebte, doch Moses David verbrachte sein gesamtes restliches Leben in einem Versteck.

Im Jahr 1972 zählten die Children of God über zehntausend Mitglieder in hundertdreißig Kommunen, und ich möchte gern glauben, dass es sich beim Großteil von ihnen um gute Menschen handelte, was meine Eltern einschließt. Um Menschen, die positive Veränderungen erreichen wollten oder nach einem wirklichen Sinn in ihrem Leben suchten. Dass sie sich keiner Sekte mit dem Motto »Anschaffen Gehen für Jesus« oder »Kindesmissbrauch ist in Ordnung« anschlossen, sondern einer Revolution.

Doch das Abrutschen in einige völlig gestörte Lehren geschah rascher, als es mir überhaupt bewusst wurde, während ich aufwuchs. 1973 wurde das »Flirty Fishing« als Methode in Bergs innerem Kreis eingeführt, und die Gruppe musste es 1974 praktizieren, nur zwei Jahre nach dem Beitritt meiner Eltern. »Flirty Fishing« bedeutete, dass Frauen loszogen und neue Jünger anwarben, ihnen die Liebe des Herrn nahebrachten (durch Sex) und dann die Früchte ernteten (nämlich Geld). Sie waren »Menschenfischer«, genau wie es Jesus seinen Jüngern befohlen hatte.

Noch verstörender: 1977 wurde das Konzept der »Kindsbraut« öffentlich gemacht.

Wenn man das Ganze als Gehirnwäsche bezeichnet, liegt das also möglicherweise an der Perspektive: Sind zwei Jahre eine lange Zeit, wenn es darum geht, Frauen so zu konditionieren, dass sie bereit sind, »für Gott anschaffen zu gehen«? Sind vier Jahre eine lange Zeit, wenn es darum geht, die eigenen Anhänger zu desensibilisieren und für die Einstellung zu öffnen, man dürfe Kinder sexuell missbrauchen und sie zu »Kindsbräuten« machen? Wenn man sich vor Augen führt, dass die Bekehrung meiner Mutter nur fünf Stunden in Anspruch nahm, wird vielleicht verständlich, dass einige Jahre in einer solchen Umgebung denselben Effekt haben können wie Jahrzehnte.

Eins wird mir jedoch klar, wenn ich mir David Berg ansehe: Er war von Anfang an durch und durch verdorben, vielleicht aber nur im Geheimen. Selbst wenn es Zeit kostete, seine Anhänger so abstumpfen zu lassen – schon damals war er ein Missbrauch ausübender, alles kontrollierender Mann mit pädophilen Neigungen.

Und dann kratzen wir weiter am Gemälde und gelangen zu einer anderen Entdeckung, die meine Knochen wie eine Rasierklinge durchfährt. Im Jahr 1968, als alles begann, verstarb David Bergs Mutter Virginia. Dieses Ereignis stellte einen Wendepunkt dar, denn nach Ansicht vieler Menschen, unter anderem seiner Tochter, war seine Mutter die letzte verbleibende Kraft, die seinem Leben eine moralische Orientierung verlieh.

War es also ihr Tod, der ihn zum Handeln veranlasste? War das der Katalysator? War dies der Tag, auf den er gewartet hatte?

Jedenfalls legte er nach ihrem Tod sämtliche Hemmungen ab. Nachdem sie gestorben war, machte er sich an die Zusammenstellung der Gruppe, die in seinem und in Jesu Namen unaussprechliche Taten vollbringen sollte.

Und damit beginnt unsere Geschichte: die meiner Familie und meiner Kommune. Meine Geschichte.

2. Kapitel

Eine einzige einfache Frage: Zwölf Jahre danach

Sie weckt mich mit einem Schlag.

Ein Schock. Ein Stromstoß durchzuckt meinen Körper. Es ist kein sanftes Erwachen. Ich fühle mich nicht benommen, sondern bin sofort hellwach.

Die beschissene Schlaflosigkeit. Den Kampf gegen sie kann ich nicht gewinnen. Schlaflosigkeit sorgt für ständigen Juckreiz, jede Position wird unbequem. Sie macht jedes Geräusch in der Nacht unglaublich laut: die Heizung, die elektrisch geladene Luft, die gluckernden Rohre.

Leuchtend rote Zahlen scheinen mich vom Nachttisch aus zu verspotten: 3:45 Uhr nachts.

»Scheiße, na wunderbar!«

Schlafen kann ich jetzt vergessen. Ich würde mich nur mit dem Gedanken an noch nicht erledigte Arbeit herumwälzen, und irgendeine dumme Bemerkung aus der letzten Woche wird sich durch meine Gedanken graben, meine geistige Gesundheit annagen. Die Angst, als die Hochstaplerin entlarvt zu werden, die ich bin, flüstert in meinem Kopf, dann murmelt sie, schließlich schreit sie mich an. All das, was ich tagsüber zum Schweigen bringen kann, wenn ich so schrecklich viel zu tun habe. Denn viel zu tun zu haben bringt das hier zum Schweigen. Die Schlaflosigkeit tritt sozusagen die Tür ein, sie öffnet die Tore und lässt auf grausame Weise alles eindringen.

»Scheiße!«

Beim Aufstehen erhasche ich einen Blick auf mein Spiegelbild. Die verspiegelte Wand ist das Einzige, was ich beim Hauskauf nicht verändert habe; jetzt gehört mir diese ehemalige Sozialwohnung mit zwei Schlafzimmern im Osten Londons. Sie ist mein Zuhause, die Sicherheit, nach der ich mich so verzweifelt sehnte, während ich bis zu dem Alter, in dem ich offiziell eine Packung Zigaretten hätte kaufen dürfen, in dreißig Kommunen auf vier Kontinenten lebte. Die junge Frau da im Spiegel ist eine dürre Siebenundzwanzigjährige mit wilden Haaren. Sie braucht definitiv Schlaf und vielleicht auch etwas Gesundes zu essen. Gebt dem Mädchen doch mal ein bisschen Kokoswasser, ein paar Vitamine, etwas Gemüse vielleicht. Jemand sollte ihr sagen, dass es nicht gut ist, so hart zu arbeiten und so wild zu feiern, dass es auch mit weniger als achtzig Arbeitsstunden pro Woche geht, dass sie vielleicht vier (okay, lieber sechs) Abende in der Woche keinen Alkohol und keine Drogen konsumieren soll.

Was dachtest du denn, wie du aussiehst? Frisch und munter?

Es ist 3:46 Uhr morgens, und ich habe bereits eine Sinnkrise.

»Scheiße, na WUNDERBAR!«

Diese Spiegelwand muss einfach weg.

***

Ich krieche die Treppe hinunter und versuche meine Mitbewohnerin Roxy nicht zu wecken. Das Haus liegt in einer ruhigen Sackgasse in Bethnal Green; nachts ist es hier ziemlich ruhig. Außergewöhnlich für London. Die lauten Nachbarn in der Straße sind wir selbst.

An den meisten Wochenenden (und manchmal auch unter der Woche) kommen die Leute von der Gemeinde zu uns, weil es Beschwerden wegen des Lärms gibt. Wir heben ihre offiziellen Schreiben mit Magneten am Kühlschrank auf, als wären sie ein gutes Schulzeugnis, ein Ehrenzeichen. Vielleicht hoffen wir ja, dass uns Besucher danach fragen. Im aktuellen Schreiben steht, dass wir eine Strafe von zweitausendfünfhundert Pfund bezahlen müssen und »die Anlage konfisziert wird«. Ich habe mir diese Anlage auf der Arbeit »ausgeliehen«. Sie ist teuer, hat ganz schön viel Power und soll eigentlich auf Musikfestivals zum Einsatz kommen, deswegen lassen wir die Sache fürs Erste ein wenig ruhiger angehen.

Sind wir eine Generation der furchtlosen Rebellen: ungehemmt, laut und ohne Gewissensbisse? Oder nur ein Klischee der Jugend: verletzt, unstet und lächerlich?

Ich bin stolz auf meine Arbeit und gut in dem, was ich mache. Glaube ich. Na ja, zumindest widme ich dem Ganzen meinen vollen Einsatz. Ich habe einen kreativen Job in der Musik- und Filmabteilung einer großen Musikwebseite. Roxy macht etwas ganz Ähnliches. Es gibt also keine Erwachsenen im Haus, die uns ermahnen würden, wir sollten uns doch ein bisschen »zurückhalten«. Alle wissen, dass ich so lebe, das ist normal. Wir kümmern uns später darum, wenn wir Langweiler werden und in die Vorstadt ziehen, wenn wir über Anbauten und Wohngegenden mit guten Schulen für die Kinder sprechen.

Den größten Teil meines Sommers verbringe ich unterwegs: bei Gigs, auf Musikfestivals, schlammbedeckt, bei Interviews mit Musikern, und dabei besaufe ich mich ganz himmlisch (schrecklich). Danach sitze ich endlos mit einem Kater im Büro. Auf die Uhr schaue ich gar nicht, so ein Job ist das nicht; ich arbeite einfach immer weiter, bis irgendwann jemand sagt: »Die anderen sind schon alle im Pub.« Zwölf-bis-fünfzehn-Stunden-Tage sind normal, Schlafen in der Abstellkammer für das Merchandising-Material auch – und dass man sich auf dem Weg zur Arbeit Klamotten kauft, weil man mal wieder die Nacht durchgemacht hat.

Was wir auf der Arbeit tun, ist so wichtig! Wir gehen mit dem Dringlichkeitsbewusstsein der Leute vor, die die Welt retten wollen, werfen uns förmlich der Erschöpfung in die Arme. Irgendwann sagt jemand mit gespielter Arroganz: »Es ist doch nur eine Webseite«, um die Stimmung ein wenig aufzuhellen. Ach, verpiss dich doch, Typ! Als ob wir nicht wüssten, dass eigentlich nur diejenigen so viel arbeiten sollten, die wirklich Leben retten.

Und vielleicht nicht einmal die.

Ich sitze in meinem Wohnzimmer und bin ganz zappelig, so hellwach bin ich, umgeben von den Postern der »geheimen Shows« von der Arbeit. Kunstwerke für die Band The Gossip hängen an der Wand. Ich habe dieses Poster für den Gig gemacht, darauf ist der Ausschnitt einer Frau zu sehen, und man hat ihr den Brustkorb aufgerissen, sodass ein schwarzes Herz aus ineinander verwachsenen Unkrautranken sichtbar wird. Schwarz und dick sind sie, sie ersticken einander. Jetzt beunruhigt mich mein Kunstwerk, ich greife mir ans Herz, weil ich spüren kann, dass es schmerzhaft schlägt.

Du bist ja gestört, sage ich zu mir selbst.

Mein Bildschirm erwacht zum Leben, der Lichtschein meines Laptops erhellt den Raum. Ich spüre die Versuchung, jetzt mit der Arbeit zu beginnen – dann habe ich morgen früh schon einen »Vorsprung«. Aber ich weiß, dass es so nicht wirklich funktioniert.

Ich öffne einen digitalen Ordner mit dem Namen »Nächtliche Aufzeichnungen« – das ist die neueste Methode, mit der ich mitten in der Nacht die Zeit herumzubringen versuche: Ich schreibe Geschichten aus meiner Kindheit auf. Dunkel, amüsant und abartig sollen sie sein.

»So viel gestörte Scheiße ist passiert, als wir Kinder waren«, sage ich dann mit einem Lachen zu meinen Freunden. »Daraus könnte man eine ganz großartige Comedyserie machen.«

Hin und wieder gebe ich abends im Pub eine kurze Anekdote aus meiner Kindheit zum Besten. Ganz nonchalant, wie hingeworfen, mit vielen LOLs. Nichts, womit man die ganz düsteren Elemente preisgeben würde. Denn wenn man über etwas hinweg ist, kann man darüber lachen, das Lustige an der schlimmen Zeit sehen. Oder?

Ehrlich gesagt tun mir die Kinder leid, mit denen ich aufgewachsen bin. Diejenigen, die ständig wegen dem herumblöken, was passiert ist. Über das Traurige, den Schmerz, die ganze Scheiße, die wir durchgemacht haben. Stimmt, wir haben sie durchgemacht, und jetzt ist sie vorbei. Ich bin stolz auf mich, weil sie keinen Einfluss auf mich hat, und ich verachte die Leute, die ich kenne und die es immer noch nicht geschafft haben, sich aus dem Sumpf der Sekte herauszuziehen.

Lass. Es. Hinter. Dir. Du bist da jetzt raus – fang an, richtig zu leben.

Ich schaue mir meine Dateien an. Bisher habe ich keine einzige dieser Geschichten zu Ende geschrieben. Normalerweise bleibe ich irgendwo auf der ersten Seite stecken. Aber so ist das mit dem Schreiben, oder?

Vielleicht ist ja der Computer das Problem. Vielleicht muss man solche Geschichten mit der Hand schreiben.

Ich gehe in die Küche, um mir meinen Notizblock zu holen. Die Spuren unseres Lebensstils sind in dem winzigen Raum verteilt: Der Altglasbehälter ist voller Alkoholflaschen, im Abtropfgitter liegen Aschenbecher und auf der Anrichte Schmerztabletten wie bei anderen Leuten die Kekse. Eine Packung Mentholzigaretten schaut mich provozierend an.

»Mentholzigaretten rauchen doch nur Babys«, meint Roxy.

Ich fühle mich versucht, mir eine anzuzünden. Gibt es einen Teil von mir, dem die Vorstellung gefällt, im Dunkel der Nacht dazusitzen, mit einer Zigarette im Mund und beim Versuch, etwas zu schreiben?

»Ein solcher innerer Kampf.« Ich schüttele den Kopf.

Dann öffne ich den Notizblock und schaue mir meine Liste mit Ideen an: »Beverly – lustige Geschichten über Prostitution«, »Joel und Jeremiah – Rotzblasen bei der Anbetung«, »Wie die Spielzeuge der Nachbarn gestohlen wurden, nachdem sie bei einer bewaffneten Razzia umgekommen waren«, darunter die Worte »Mein Guardian«.

Mein Guardian. Diese Geschichte habe ich schon ein paarmal erzählt, sie Freunden anvertraut, die ein wenig mehr über meine Vergangenheit wissen – über die richtige Vergangenheit, aus der diese Geschichten stammen.

Mein Guardian hat den Verlauf meines Lebens entscheidend verändert, als ich ein Kind war. Da ging es um Großes, Wichtiges. Solange ich denken kann, habe ich diesen Mann zu meinem Idol erhoben.

Als ich zehn Jahre alt war, hat er mit einer einzigen Frage meine ganze Welt um hundertachtzig Grad gedreht. Er hat mir gezeigt, dass meine Zukunft vielleicht doch nicht vorherbestimmt war. Er hat mich erleuchtet, mir Hoffnung geschenkt, auf einen Riss in der Wand gedeutet, durch den ich eines Tages vielleicht würde entkommen können.

Ich nehme meinen Stift in die Hand und fange an zu schreiben.

»Der Guardian kommt.«

Alle Kinder sagen es immer wieder. Der Journalist vom Guardian kommt. Wir wissen nicht, wer das sein wird oder wie diese Person aussieht, es könnte irgendjemand sein. Aber eines wissen wir: Das hier ist sehr wichtig. Die Erwachsenen bereiten sich seit Wochen darauf vor. Wir müssen einen guten Eindruck machen. Wir hatten so viele zusätzliche Arbeiten zu erledigen: Wir mussten die heruntergekommenen Teile des Hauses streichen, den Rasen mähen, alles wegräumen, was nicht gebraucht wird oder in den Augen eines Außenstehenden nicht gut aussehen würde. Wir haben die Grafiken und Zeitpläne abgenommen und tagelang geputzt. Alles muss perfekt sein, denn »der Guardian« kommt.

Wir hatten eine Anbetungssitzung, in der man uns erklärt hat, das hier sei eine »wichtige Gelegenheit« und »ein Test, um herauszufinden, ob wir vielleicht nicht länger versteckt leben müssen, sondern unser Licht leuchten lassen können«. Eine »riesengroße Verantwortung«.

Vor allem müssten wir das Ganze »ganz extrem ernst nehmen«.

Zum ersten Mal werden wir jemanden von draußen in unserem Heim haben. Einen Angehörigen des Systems, der hier wohnt und schläft. Das ist aufregend, aber auch gefährlich. Deswegen bestand ein wichtiger Teil der Vorbereitung darin, dass wir lernten, wie wir die Fragen zu beantworten haben, denn einige von uns Kindern werden wirklich mit dem Guardian sprechen. Einige Kinder wurden dafür ausgewählt. Und ich gehöre zu ihnen.

Ich lege die Arme auf ein frisch gestrichenes Fensterbrett, atme die Emulsionsdämpfe ein, sauber und chemisch. Von hier aus habe ich freie Sicht auf die Auffahrt.

Ein Auto bewegt sich langsam durch die Tore, und meine Eltern winken eifrig. Er steigt aus dem Wagen, meine Eltern schütteln ihm die Hand. Obwohl ich sie nur von hinten sehen kann, weiß ich, dass sie jetzt lächeln. Der Guardian lächelt auch. Ich bin überrascht, denn er ist alt. Älter als meine Eltern, vielleicht im Alter von Großeltern. Sein komplett weißes Haar reicht ihm bis kurz hinters Ohr, und sein Gesicht wirkt gütig. Er ist hochgewachsen und dünn, sieht anders aus als die Erwachsenen hier.

»Willkommen!«, kann ich sie gerade so sagen hören.

Ich renne durchs Haus, und zwar so, dass ich durch die Fenster sehen kann, wie sie näher kommen. Mein Vater redet laut, während er den Mann draußen herumführt.

»Wie Sie sehen, gibt es hier keine Wächter, die irgendjemanden am Gehen hindern würden, keine Rottweiler und keinen Stacheldraht«, kommentiert meine Mutter lachend. »Die Leute können kommen und gehen, wie es ihnen gefällt.«

Dieses Haus liegt mitten auf dem Land, in einem Radius von mehreren Meilen um uns herum gibt es gar nichts. Ich frage mich, wohin man denn überhaupt gehen sollte.

Wir setzen uns an den Mittagstisch. Eine besondere Mahlzeit – Würstchen mit Kartoffelbrei, Besteck auf den Tischen, Kannen mit Saft. Heute ist es, als wären wir Könige und Königinnen.

»Nun, das sieht sehr lecker aus«, sagt er. »Man hat mich davor gewarnt, mit Ihnen zu essen, denn Sie könnten mich ja vergiften und dann zum Bleiben überreden.« Das sagt er augenzwinkernd und schmunzelnd. »Aber wie sollte man solchen Kaventsmännern mit Kartoffelbrei widerstehen können?«

»Solche Kaventsmänner …« Ich spüre, wie ich das Wort vor mich hin flüstere, damit ich es nicht vergesse.

Mein Dad lacht. »Ich bin sicher, Sie haben viele solcher lächerlichen Dinge über uns gehört. Deswegen freuen wir uns ja so sehr, dass Sie hergekommen sind und unser Leben selbst kennenlernen wollen.«

Während des Essens erzählt er uns Geschichten über seine Kinder – sie sind unheimlich gern draußen, schauen aber trotzdem viel zu viel fern. Er erzählt uns, dass er überall auf der Welt herumgereist ist und mit Leuten über ihr Leben gesprochen hat. Meine Eltern erzählen ihm auch von unseren Reisen.

»Wir haben dem Herrn in Indien gedient, in Afrika, in …« Mein Dad nimmt seine Finger zu Hilfe, um alles aufzuzählen, dann fügt er mit stolzgeschwellter Brust hinzu: »Unsere Kinder haben ein sehr vielfältiges Leben in vielen verschiedenen Kulturen erfahren.«

Damit meint er bestimmt die verschiedenen Klimazonen, in denen wir gelebt haben – da hat er recht, davon kennen wir viele.

Wenn der Guardian spricht, schaut er uns dabei in die Augen. Er schaut wirklich hin, als wäre er davon überzeugt, dass wir etwas Interessantes sagen werden, fast, als wären wir genauso wichtig wie die Erwachsenen. Er lächelt oft, er lacht, und wenn er einen dabei erwischt, wie man ihn anstarrt, zwinkert er einem zu, damit man sieht, dass es okay ist. Das weiß ich, weil er mich beim Starren erwischt hat.

Der Guardian gibt einem das Gefühl, dass man ausatmen darf, nachdem man lange die Luft angehalten hat. Aber sie, meine Eltern, haben uns gewarnt, das würde er vielleicht machen: Er würde uns vermitteln, dass wir uns entspannen können, aber wir wissen, dass das nicht stimmt. Denn der Guardian könnte versuchen, unserer Gruppe oder unserer Lebensweise zu schaden. Wenn wir einen Fehler machen, etwas Falsches sagen, weil wir uns entspannt fühlen, weil er freundlich lächelt und uns zuzwinkert, könnte er etwas Negatives über uns schreiben, und dann kommen wir vielleicht alle ins Gefängnis.

Meine Mom kommt mich holen. Ich soll jetzt mit ihm sprechen.

In meinem Bauch wird es unruhig. Ich gehe durch die Wohnzimmertür und sehe ihn auf der Couch mit dem Blumenmuster sitzen, die ich erst vor zwei Tagen geschrubbt habe, um die Flecken herauszubekommen. Ich habe die aufgestickten Blüten sauber gemacht, weil er kommen würde. Licht strömt durch das Fenster und fällt auf sein weißes Haar. Es leuchtet, wie bei einer Pusteblume, wenn man sie in die Sonne hält.

»Hallo, Bexy.«

»Hi.«

»Wie geht es dir heute?«

»Sehr gut, vielen Dank.«

Ich lasse mich in einem Sessel nieder.

»Also, Bexy, du weißt jetzt ein paar Dinge über mich, weil ich schon etwa einen Tag hier bin, aber ich weiß nicht viel über dich, oder?«

Ich schüttele den Kopf. »Wäre es also in Ordnung, wenn ich dich ein paar Dinge frage, um ein wenig mehr über dich herauszufinden?«

Ich nicke. »Ja.«

Es ist, als würde ich mich in seinem Blick spiegeln. Um seine Augen herum gibt es Hautfältchen, die tiefer werden, wenn er lächelt.

Als Erstes fragt er mich, wie alt ich bin.

»Fast elf«, antworte ich.

Er fragt mich, wo ich geboren bin. Er fragt mich nach meinen Geschwistern, ich soll ihre Namen und ihr Alter nennen. Er sagt, dass es schön sein muss, so eine große Familie zu haben.

Ich sage: »Ja, das stimmt.«

Er fragt mich nach unseren Lieblingsspielen, und ich erzähle ihm, was wir immer gespielt haben, bevor wir nach England gekommen sind. Dabei wurde eine Kartoffel versteckt – wir nannten das Spiel »Kartoffel! Kartoffel!« Er lacht und meint, das klinge ja lustig, und er würde es gern mal ausprobieren.

»Das Gute daran ist, auch wenn man ansonsten nicht so viel hat, kann man normalerweise irgendwo eine Kartoffel auftreiben«, erkläre ich. Dann fühle ich mich dumm, weil ich das gesagt habe.

Die Fragen, mit denen die Erwachsenen gerechnet haben, stellt er mir nicht: die über das Armageddon, über Moses David, über das »Flirty Fishing«. Er scheint sich vor allem für Dinge zu interessieren, über die ich nie rede, über die niemand etwas von mir wissen will. Dann kommt sie, diese eine Frage, die sich so anfühlt, als klopfe jemand an eine Tür, von der ich nicht gewusst habe, dass ich sie öffnen kann.

»Bexy, was möchtest du einmal werden, wenn du groß bist?«

Als ich das höre, halte ich den Atem an. Ich spüre, wie sich meine Augen weiten, während die Frage in meinem Kopf größer und größer wird. Sie durchdringt meinen ganzen Körper – ich kann fühlen, wie sie in meinen Adern kribbelt, als wäre es elektrischer Strom, ich kann sie in meinem Herzschlag spüren.

Die Zimmerdecke über ihm öffnet sich, sie brennt mit dem Feuer des Armageddon, da sind schwarze Wolken und Schwefel. Ich kann den Heiligen Geist, Jesus, Gott und Moses David in ihren leuchtend weißen Gewändern dastehen sehen, Schwerter in der Hand, und ein Heer aus Engeln, ganze Legionen von ihnen erfüllen den Himmel mit Szenen der Gewalt.

Während die Erde brennt, habe ich blitzartige Visionen von dem, was kommen wird. Ich sehe mich als Jugendliche, wie ich die Soldaten des Antichristen bekämpfe. Ich sehe meinen Tod, den Tod, auf den wir alle uns vorbereitet haben. Ich sehe die verschiedenen möglichen Szenarien meines Todes: durch einen Schuss ins Herz, an einem Baum erhängt, nackt an einem Kreuz verblutend, geköpft mit meinen Geschwistern um mich herum, und immer weigern wir uns, Moses David abzuschwören.

Seine Stimme durchdringt die Vision, die Zimmerdecke schließt sich. Und da gibt es wieder nur uns beide:

mich und den Guardian.

»Na, ist dir was eingefallen? Was möchtest du gerne werden, wenn du groß bist?«

Ich versuche, die Lüge in seinem Gesicht zu lesen; ich suche nach Unehrlichkeit, vielleicht nach einem Witz, aber ich finde nichts dergleichen. Es ist eine aufrichtige, ehrliche und vielleicht auch eine ganz normale Frage. Also gibt es diese Möglichkeit vielleicht. Vielleicht werde ich ja eines Tages groß?

Weil mir nichts anderes einfällt, sage ich zu ihm: »Ich möchte Journalistin werden, ich möchte jemand werden wie Sie.«

Meine Worte laufen wie Blut über die Seite, wie Aquarellfarben, blaue Buchstaben vermischen sich miteinander. Ich wische mir über die Augen, bevor meine Tränen größeren Schaden anrichten oder diesen Moment auslöschen können. Die Blaue Stunde hat gerade begonnen und durchflutet den Raum mit ihrem sanften Licht. Meine Sicht verschwimmt, und ich betrete die Welt meines Schreibens. Das hier ist ein Teil von mir, es ist aus mir herausgeflossen und hat dieses Haus gefüllt, dieses Zimmer, das Zuhause, das ich mit so viel Mühe gefunden habe, das Zeug, mit dem ich es fülle, das Leben, von dem ich nicht zu hoffen gewagt hatte, es wäre möglich. Und während ich in dieser ganzen Bläue dasitze, in diesem Augenblick aus der Vergangenheit, der mich zu einer anderen Person gemacht und mir das Leben ermöglicht hat, das ich jetzt führe, begreife ich, dass ich den Guardian finden und ihm danken muss.

***

Seit einer Woche suche ich jetzt nach dem Guardian. Meine Freundinnen Jess und Selina kommen zum Abendessen.

»Kleine Kreatur! Du hast gekocht?« Jess ist beim Hereinkommen erstaunt. Die beiden haben mir vor einigen Jahren den Spitznamen »Kleine Kreatur« gegeben (»weil du aussiehst wie so ein kleines wildes Tier«), und ich bin entschlossen, das als Kompliment zu nehmen.

»Ich kann kochen«, gebe ich zurück. »Als Kind habe ich ständig gekocht.«

»Ja, aber das klang ziemlich eklig, zumindest deinen Erzählungen nach.«

»Ach, schade aber auch! Ich habe nämlich ein Sekte Spezial für uns gekocht …«

»Opferlamm Gottes?«, macht Selina mit.

»Echt?«, fragt Jess nach.

»Nein. Scharfe Reisnudeln, du Dummkopf!« Ich lege ein paar Kissen um einen niedrigen Tisch auf den Boden und öffne dann eine Flasche Wein für meine Gäste.

»Sehr elegant«, meint Selina.

»Nur für euch beide. Ihr wisst doch, das Zeug bekommt mir nicht«, sage ich.

»Du hältst drei Nächte hintereinander auf einem Rave durch, aber ein paar Schlucke Wein hauen dich immer noch um?«, entgegnet Selina.

»Schon ein Schluck ist zu viel«, sage ich mit einem Lächeln.

»Du wärst wirklich eine beschissene Katholikin! Weizen verträgst du nicht, und Wein auch nicht«, kommentiert Jess.

»Ich würde sofort in die Hölle kommen!«, stimme ich ihr lachend zu.

Wir schlürfen das scharfe, wohltuende Essen in uns hinein und sprechen direkt über alles Mögliche. Jess ist weggezogen, dafür wird Selina bald in meiner Nähe wohnen, und sie hat jetzt mit dem Dating angefangen. Jess ist meine erwachsenste Freundin – sie hat letztes Jahr geheiratet.

»Woran arbeitest du denn zurzeit? Gibt es irgendwelche Gigs, zu denen wir kommen sollen?«

»Yeah, sicher … Na ja, irgendwelche Gigs gibt’s ja immer.« Dann wechsle ich unauffällig das Thema. »Ich habe euch doch von diesem Journalisten vom Guardian erzählt, oder?«

Jess und Selina gehören zu den Menschen, die von meiner Kindheit wissen. Nicht alles, aber doch so viel, dass ihnen klar ist, welche Auswirkungen die Begegnung mit dem Journalisten und »diese eine Frage« auf mich hatten.

»Klar, natürlich«, bestätigt Selina.

»Warum denn? Ist was passiert?«, will Jess wissen.

»Ich habe beschlossen, ihn zu suchen und mich bei ihm zu bedanken«.

»Großartig, einfach großartig!« Selina klatscht in die Hände.

»Wie willst du das denn machen?«, fragt Jess.

»Na ja, ich habe ein bisschen recherchiert und konnte das Ganze schon eingrenzen. Ich habe herausgekriegt, wer damals für den Guardian gearbeitet hat, aber ich kann den Artikel nicht finden, den er über uns geschrieben hat …«

»Bexy, du weißt doch, dass Zachs Eltern beide für den Guardian geschrieben haben, oder?«, fragt Jessica.

»Nein, ich hatte keine Ahnung, was Zachs Eltern machen«, gebe ich zurück.

»Wir können sie doch vielleicht fragen, ob sie diesen Mann kennen. Sie sind schon seit Jahren beim Guardian, sie können dir sicher helfen.«

Zach ist ein Freund von uns. Ich kenne ihn seit Jahren, wir sind sogar ganz kurz miteinander ausgegangen.

»Ach, das wäre ja großartig«, sage ich, und es fühlt sich so an, als könnte das Ganze real werden.

»Wie heißt denn der Typ, nach dem du da suchst?«, erkundigt sich Jess.

»Walter … Walter Schwartz«, sage ich.

»Du willst mich wohl verarschen!« Jess springt auf.

»Was denn?«

»WILLSTDUMICHVERARSCHEN???«

»Wieso denn?«

»Bexy, Walter Schwartz ist Zachs Dad!«

***

Wir fahren übers Land nach Greenacres. Zach sitzt am Steuer, seine Freundin Laura auf dem Beifahrersitz und Selina mit mir auf dem Rücksitz.

»Ich kann es ganz einfach immer noch nicht glauben«, meint Zach.

Dass ich in einem Nachtclub jemanden kennengelernt habe, der sich als der Sohn des Journalisten entpuppt, der mein Leben verändert hat, ist einfach bizarr. Zach hat mir bei unserem ersten Date gesagt, er würde mich sehr gerne seinem Vater vorstellen. Ich fand das gleichzeitig merkwürdig und direkt – damals wusste ich noch nicht, dass sein Vater merkwürdige Geschichten und Leute sammelte. Jetzt ergibt das Ganze mehr Sinn.

»Walter hat dich also kennengelernt, als du ein Kind warst? In der Sekte? Das ist ja total verrückt!«, meint Laura.

»Wenn man sich vorstellt, dass wir uns schon lange kennen … Ich meine, das ist wirklich völlig verrückt«, fügt Zach hinzu.

»Völlig verrückt!«, stimmt ihm Laura zu.

Das Ganze ist völlig verrückt, denke ich.

»Ich kann den Augenblick gar nicht abwarten, wenn ihr euch gleich seht«, meint Laura. »Was willst du denn zu ihm sagen?«

Ich werde langsam nervös. Die Erwartungen sind zu hoch.

»Das hier ist doch keine Comedy oder so was. Ich werde einfach Hallo sagen. Außerdem habe ich ihm neulich eine E-Mail mit allem geschrieben, was ich ihm sagen will, also weiß er, was ich empfinde, und das ist auch gut so! Ich wüsste nicht, wie ich das alles in der Realität sagen sollte.«

Ich hatte mich direkt nach dem Abendessen mit Selina und Jess hingesetzt.

Hi Walter!

Das hier ist wahrscheinlich eine der seltsamsten E-Mails, die ich je in meinem Leben geschrieben habe. Ich wollte eigentlich damit anfangen, dass ich nicht so richtig weiß, was ich schreiben soll, aber ich habe so viel darüber nachgedacht, dass ich tausend Dinge zu sagen habe. Ich weiß bloß nicht so richtig, wie ich anfangen soll.

Zuallererst: Ich erwarte nicht, dass Sie sich an mich erinnern. Ich kann mir vorstellen, dass Sie in Ihrem Leben eine Million Interviews geführt haben, und ich war nur eines davon. Aber vielleicht ist das auch gar nicht wichtig, denn ob Sie sich erinnern oder nicht, die Begegnung mit Ihnen hatte eine gewaltige Wirkung auf mich. Und das wollte ich Ihnen eigentlich nur sagen.

Vielleicht klingt das ja übermäßig dramatisch, aber die meisten meiner Freunde kennen die Geschichte über »meinen Guardian-Journalisten«, und sie wissen, dass sich für mich an dem Tag, an dem ich mit Ihnen gesprochen habe, alles geändert hat.

Wahrscheinlich sollte ich Ihnen ein paar Hintergrundinformationen über mich geben. Meine Eltern waren Gideon und Rachel Scott, sie haben mehr oder weniger die ganze PR für die Familie übernommen. Unter all den Familien wurden wir ausgewählt – wahrscheinlich weil wir diejenige waren, die nach außen hin am normalsten wirkte.

Nach dem Interview mit Ihnen habe ich viele, viele weitere gegeben, und die meisten davon sind zu einer riesigen Frage-und-Antwort-Sitzung verschmolzen, aber das Interview mit Ihnen war ganz anders.

Ich gehe davon aus, dass Sie ziemlich viel über die Lehren der Sekte wissen, aber als wir aufwuchsen, sagte man uns, wir würden in einer »Endzeit« leben. Im Großen und Ganzen sei ich dazu bestimmt, als Märtyrerin zu sterben, und ich würde nie älter als vierzehn werden.

Deshalb hatte ich damals noch nie über meine Zukunft nachgedacht. Viele Kinder in der Familie lebten in Hoffnungslosigkeit: Wir glaubten, unser Schicksal sei vorherbestimmt. Schule brauchte man nicht, denn was hätten wir mit Bildung anstellen sollen, wenn wir doch umkamen, bevor wir sie hätten gebrauchen können?

Während unseres Interviews haben Sie mich gefragt, was ich einmal werden möchte, wenn ich groß bin. Das hat sich für mich angefühlt, als hätte sich eine Tür in eine andere Welt geöffnet, in der ich die Möglichkeit haben würde, etwas zu sein, wenn ich groß wäre.

Seit meinem zehnten Lebensjahr habe ich Ihnen danken wollen – es tut mir leid, dass ich bis heute gebraucht habe, um Sie zu finden.

Bexy

Innerhalb einer Stunde hatte ich eine Antwort von ihm. »Warum kommen Sie dieses Wochenende nicht nach Greenacres?«

Selina hält meine Hand. Kann sie spüren, wie aufgeregt ich bin? Sie lächelt sanft.

»Was auch immer passiert, das wird ein ganz besonderer Moment«, meint sie.