Zwischen zwei Meeren - Leif Lindholm - E-Book

Zwischen zwei Meeren E-Book

Leif Lindholm

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Beschreibung

Die bewegende Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft

Theo reist an den Ort, wo Nord- und Ostsee sich treffen: nach Skagen, den äußersten Zipfel Dänemarks. Die Schönheit und Kraft des Meeres haben ihn seit jeher fasziniert, als Meeresbiologe waren das Meer und seine Bewohner, die er bei aufregenden Tauchgängen erforscht hat, sein Leben – bis zu einem tragischen Unfall während einer Forschungsreise, seit dem er sich nicht mehr überwinden kann, ins Wasser zu gehen. Am Strand von Skagen trifft er den zehnjährigen Ben, der dort schwimmen lernen soll, aber ebenfalls große Angst vor dem Wasser hat. Ben zeigt Theo eine Nautilusschale, ein »Perlboot«, das er am Strand gefunden hat, und das Fragen aufwirft: Wie kommt das Perlboot, wo es doch in der Südsee beheimatet ist, an die dänische Küste? Theo und Ben wollen diesem Rätsel gemeinsam auf den Grund gehen – doch dazu müsssen sie ihre Angst vor dem Wasser überwinden …

Eine inspirierende Erzählung von einer ungewöhnlichen Freundschaft zweier Menschen, die sich an der Küste Dänemarks begegnen und gemeinsam ihre Angst vor dem Meer überwinden.

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Seitenzahl: 189

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Cover

Titel

3Leif Lindholm

Zwischen zwei Meeren

Mit Illustrationen von Marieke Nelissen

Insel Verlag

Impressum

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Mit Illustrationen von Marieke Nelissen

eBook Insel Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2024.

Erste Auflage 2024Deutsche Erstausgabe

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Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagillustration: Marieke Nelissen/www.lepetitstudio.nl

eISBN 978-3-458-77957-5

www.suhrkamp.de

Motto

5Geheimnisse sind die Knotenpunkte, die die Welt zusammenhalten.

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

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Zwischen zwei Meeren

71Ein Schild stand dort, an der Spitze. In Lebensgefahr begibt sich, wer zwischen den beiden Meeren schwimmen geht.

Die Macht der Kollision. Die Seeleute wussten es ja: Das Kap hatte es in sich, nicht nur wegen der starken Strömungen. Die Landspitze war als Schiffsfriedhof berüchtigt und unter Seefahrern gefürchtet. Man sagte, dass das Zusammentreffen der beiden Meere dem Ort eine besondere Energie verlieh.

Theo nahm diese Energie sofort wahr, als er am Grenen stand, an jenem Sommertag, als er den Jungen das erste Mal sah. Er war gerade in Skagen angekommen, und noch bevor er zu seinem Ferienhaus gefahren war, hatte er Halt am Strand gemacht.

Der Junge stand an der Stelle, wo die Wellen ausrollten. Türkisblau war das Wasser, das von Nordwesten sanft an den Strand spülte. Grünlich wie ein Dschungelfluss war es im Osten.

Doch der Junge wirkte, als gehörte er nicht hierher. Theo schätzte ihn auf etwa elf oder zwölf Jahre, vielleicht auch jünger. Er war recht schmächtig und trug ein blau-weiß gestreiftes Trikot eines deutschen Fußballvereins. Er hatte rötliches Haar, das in der Sonne stark glänzte, aber es war nicht die Haarfarbe, die Theo irritierte. Es war der Blick des Jungen, die Art, wie er auf das weite Wasser schaute. Theo kannte dieses Gefühl: das Ziehen, jene Sehnsucht, von der das Meer seit ewig kündet. Erst jetzt bemerkte Theo, dass der Junge zitterte.

8»Wer als Kapitän von der Nordsee in die Ostsee will oder umgekehrt, muss hier vorbei. Mit dem Segelschiff ist man in ein paar Stunden in Norwegen, dort drüben liegt Schweden …«, sprach Theo den Jungen an, um ihn zu beruhigen.

Der Junge erschrak und rannte weg. Vielleicht verstand er ihn nicht? Oder fürchtete er sich einfach vor Fremden, hätte Theo ihn lieber nicht ansprechen sollen? Theo blieb betroffen zurück und sah ihm nach.

Offensichtlich wollte er die sanften Dünen erreichen. Der Weg dorthin war weit, gut hundert Meter, über die topfebene Sandfläche.

Theo sah, wie der Junge immer wieder stoppte. Schließlich erreichte er die kleinen Sandhügel, auf denen spärlich Gras spross. Mit einem Sprung verbarg er sich hinter dem ersten Hügel und spähte zwischen den Grashalmen zu Theo hinüber.

Theo stand noch immer da und blickte zu den Dünen. Schließlich drehte er sich wieder in Richtung Meer und ließ sich langsam auf dem Boden nieder.

Aus der Jackentasche holte er einen Block und einen Bleistift hervor. Er wollte mit seiner ersten Zeichnung beginnen. Aus der Ferne spürte Theo in seinem Nacken den Blick des Jungen. Was hatte ihn so aufgewühlt?

92Als er hinter seiner Vermieterin das kleine Ferienhäuschen betrat, kam es Theo so vor, als würde er im Inneren einer Sanduhr ankommen. Die Holzdielen waren mit einer feinen, knirschenden Schicht überzogen, in den Ecken hatten sich Sandhäufchen gebildet.

»Da drüben, sehen Sie?« Die Vermieterin zeigte aus dem Fenster. »Die Düne. Das ist keine normale Düne. Es ist eine Wanderdüne. In ein paar Monaten hat sie das Haus erreicht. Deshalb will es keiner haben.«

Theo gefiel das niedrige Häuschen mit rotem Ziegeldach auf Anhieb. Das Innere einer Sanduhr. Der Gedanke gefiel ihm. Wie war er nur hierher, so hoch in den Norden gekommen, wo er doch eigentlich südliche Gefilde bevorzugte? Er war dem Nordlicht gefolgt. Vielmehr dem Ruf des Lichtes, das diesem Ort vorauseilte, er wollte es sehen und einfangen, dieses Licht, das Generationen von Malern inspiriert hatte.

»Ich nehme das Haus.«

»Bis wann?«, fragte die Frau, die ein tadelloses Deutsch sprach.

»Das weiß ich noch nicht. Vielleicht, bis die Düne anklopft.«

Beide schmunzelten. Theo schätzte seine Vermieterin auf Ende sechzig. Sie trug einen Bubikopf und wirkte sehr agil. Das kam wohl von der guten Seeluft, dachte Theo. Er griff zur Brieftasche.

»Soll ich schon mal anzahlen?«

11Er sah, wie die Frau mit sich kämpfte. Ohne ihre Antwort abzuwarten, zog er vier Eintausend-Kronen-Scheine heraus und reichte sie ihr. Sie wollte schon abwehren, griff dann aber schnell und beherzt zu.

»Das müsste, wenn ich richtig gerechnet habe, für fünf Tage reichen?«

Sie nickte. Sie schauten in den kargen Raum, den schon länger keiner mehr betreten hatte. An einer Wand hing ein Leuchtturm aus Keramik an einer Kordel.

»Sie müssen wissen, früher war es mal ein Fischerhaus. Es war das Haus meines Großvaters.«

»Ihres Großvaters?«

»Ja. Draußen, da, wo jetzt der Sand liegt, da standen die Spaliere, wo ich meinem Großvater geholfen habe, den Fisch zu trocknen. Früher lebten hier alle Familien vom Fischfang. Heute leben wir vom Tourismus. Es verändert sich eben alles, so wie die Düne.«

Sie schien kurz zu überlegen.

»Soll ich Ihnen mit Ihrem Gepäck behilflich sein?«, fragte sie schließlich.

»Ist nicht so viel«, meinte Theo abwehrend, trat aus dem Haus und öffnete die Heckklappe seines Autos. Er hatte nur eine Reisetasche dabei, seinen Laptop und – natürlich – die Staffelei, den Holzkoffer mit Farben und Paletten und den Skizzenblock.

Die Frau war ihm gefolgt und blickte ihm über die Schulter.

»Sie malen?«

Theo lachte. Es war ein leises, etwas resigniertes Lachen.

»Ich versuche es, aber ich bin nicht wirklich gut«, gestand er.

»Sagen Sie das nicht. Wir haben hier ein kleines Künstlerdorf.« Sie zeigte vage in Richtung Norden.

»Ah, die Nachfolger der berühmten Skagen-Maler«, erwiderte 12Theo, und die Frau strahlte. »Ich fürchte, ich kann mich nicht mit ihnen messen.«

»Noch nicht, vielleicht«, versicherte die Frau, »aber wenn Sie sich hier von dem Licht und den Farben inspirieren lassen, dann sind Sie auf einem guten Weg.«

Theo ließ den Blick schweifen. Hinter ihm ragte die weiße Wand aus Sand in die Höhe und vor ihm lag diese eigenartig karge und doch grüne Heidelandschaft, übersät von niedrigen Büschen, die sich eng aneinanderschmiegten und nur selten einmal von einem moorigen Tümpel unterbrochen wurden. Doch nicht das inspirierte ihn – er wollte zurück ans Meer, am besten dorthin, wo sich die Meere treffen.

»Was wollen Sie denn malen?«, fragte die Frau.

»Na ja«, entgegnete Theo, »das Meer?«

»Wenn Sie Sonnenaufgänge mögen, dann müssen Sie den Weg nur zwei Kilometer da lang nehmen«, wies sie ihn ein, »und wenn Sie Sonnenuntergänge lieber haben, dann müssen Sie über die Düne, etwa einen Kilometer.«

Theo lächelte über die Bemühungen der Frau, ihm die Himmelsrichtungen zu erklären. Doch sie kam nun zu praktischeren Dingen.

»Vorne an der Straße ist ein kleiner Supermarkt, da bekommen Sie alles, was Sie brauchen. In Skagen finden Sie am Hafen einige sehr gute Fischrestaurants … und wenn Sie sonst noch etwas brauchen, können Sie jederzeit bei mir vorbeikommen, ich wohne gleich da drüben. Das blaue Häuschen da hinter der Düne.« Sie zeigte Richtung Küchenfenster, als könnte man durch den Sandberg dahinter schauen. »Ich heiße übrigens Trude.«

»Trude«, wiederholte Theo.

»Trude, Trude Eriksen, sagen Sie Trude zu mir. Wir sind hier nicht so förmlich.«

13»Theo.«

Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er schüttelte sie vorsichtig. Sie wiegte noch ein wenig den Kopf hin und her.

»Ja, dann … dann mache ich mich mal ans Auspacken.« Er nahm die Reisetasche und den Laptop und schlug den Kofferraum zu. Die schwereren Malsachen würde er später ausladen.

»Vielleicht sehen wir uns ja die nächsten Tage mal.«

»Oh, das wäre nett. Meine Tür ist immer offen, kommen Sie einfach rein.«

Sie deutete ein kleines Winken an, er winkte zurück und verschwand im Haus.

Drinnen stellte er seine Sachen ab und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Stille. Er lauschte, wie er es so oft tat. Er vernahm ein Rieseln. Der Sand.

143Von fern hörte Ben ein Rufen. Es galt ihm. »Ben! Be-en!« Es war Trude. Ben richtete sich vorsichtig auf, kaum höher als zu einer Hocke. Dann versuchte er, so schnell wie möglich in Richtung der Stimme zu laufen, immer zwischen den Dünen Deckung suchend.

Er sah sie schon von weitem. Sie stand auf dem Nordstrandvej, einem sandigen Pfad, der sich wie ein Hohlweg durch die Dünen zog. Kurz bevor er Trude erreichte, stoppte er abrupt. Er nahm ihre gerunzelte Stirn und den ernsten Zug um die Mundwinkel wahr.

»Ben, was habe ich dir gesagt?«

Verlegen blickte er zu der schlanken Frau mit dem eisgrauen Bubikopf auf. Sie hatte sich einen meerblauen seidenen Schal um den Hals geschlungen.

»Ich soll in der Nähe des Hauses bleiben.«

Trude schien unschlüssig, ob sie erleichtert sein oder ihm erst mal den Kopf waschen sollte.

»Du weißt doch, die Strömung ist hier besonders gefährlich. Selbst Leute, die schwimmen können, dürfen hier nicht …«

»Ich geh ja nicht ins Wasser!«, unterbrach Ben sie.

»Und wenn jetzt Hendrik Bloemsvik einen Strandspaziergang gemacht hätte?«, fragte sie tadelnd. »Er führt hier jeden Tag seine Hunde aus, und wenn er mitkriegt, dass du dich hier ohne mich herumtreibst, dann hätte er wieder allen Grund, uns Är15ger zu machen. Ben, verstehst du nicht? Solange du bei mir bist, habe ich die volle Verantwortung für dich. Leider mögen hier nicht alle, dass ich Kinder wie dich im Sommer aufnehme und ihnen schwimmen beibringe. Da sind in der Vergangenheit mal ein paar Sachen vorgefallen, und jetzt schauen sie eben genau hin.«

»Und wenn schon, ich kann doch viel schneller laufen als der.«

Trude kniff die Augen zusammen und fixierte ihn scharf.

»Du hättest dich also einfach umgedreht und wärst weggelaufen?«

»Klar!«, erklärte Ben großspurig.

»Und wer steht dann später vor meiner Haustür? Hendrik Bloemsvik!«

Es hieß, Bloemsvik stamme aus einer Skagener Fischerfamilie und sei früh zum Militär gegangen. Er sei Elitesoldat und später bei der Kongelige Livgarde, der Palastwache in Schloss Amalienborg, gewesen. Seit seiner Rückkehr war er der Leiter des Heimatmuseums, und ihm war das soziale Engagement von Trude ein Dorn im Auge. Vor allem, seit ihr letzter junger Feriengast eine exotische Muschel aus dem Museum hatte mitgehen lassen. »Dafür mache ich dich persönlich verantwortlich, Trude!«, hatte Bloemsvik getönt. Dabei hatte der Junge die Muschel auf Trudes Geheiß hin unversehrt und reumütig zurückgebracht.

Ben ließ den Kopf sinken. Trude ging in die Hocke und strich ihm liebevoll übers Haar.

Schließlich nahm sie ihn an der Hand und meinte: »Keine Trübsal blasen. Ich mach dir jetzt erst mal einen leckeren Kakao.«

Zwanzig Minuten später saß Ben an Trudes Küchentisch. Vor ihm stand eine große dampfende Tasse, in der Ben herumrührte. Trude machte gerade den Abwasch.

16»Sieh mal, Ben, du bist hier, um schwimmen zu lernen. Und natürlich, damit du mal rauskommst aus eurer kleinen Wohnung in Hamburg. Deine Mutter kann ja leider nicht mit dir in den Urlaub fahren, sie braucht Ruhe. Das ist unsere Vereinbarung. Schwimmen ist eine wunderbare Sache, weißt du? Es ist wichtig, es zu können … für dein Leben, verstehst du?«

»Gab es schon mal Kinder, die es nicht geschafft haben?«, fragte Ben und zerdrückte mit dem Löffel ein Kakaoklümpchen.

Trude zögerte mit ihrer Antwort, aber Ehrlichkeit war ihr immer wichtig. »Ja, da gab es mal ein oder zwei Kinder, die hatten sehr große Probleme, mit anderen Dingen …«

»Aber ich habe doch auch große Probleme!«

»Wer sagt das?«

»Alle! Alle sagen das! Auch, dass meine Mama Probleme hat.«

Davon wusste Trude. Deswegen hatte sie Ben aufgenommen.

»Nun, Probleme sind da, um gelöst zu werden. Und ich finde, du bist hier, um eines deiner Probleme zu lösen: nämlich, dass du mit zehn Jahren noch nicht schwimmen kannst!«

Ben wurde jetzt trotzig: »Ich will aber nicht! Das Wasser ist auch so kalt!«

Trude seufzte. »Schau mal, viele Schwierigkeiten entstehen dadurch, dass wir etwas nicht können. Oder eben meinen, es nicht zu können. Du kannst es aber, wenn du nur willst! Ich kann dich natürlich nicht zwingen. Aber wenn du dich nicht bereit erklärst, schwimmen zu lernen, muss ich dich früher nach Hause schicken. Du bist jetzt schon seit einer Woche bei mir und weigerst dich immer noch, auch nur die Badehose anzuziehen.«

»Ich muss ja sowieso wieder hier weg, ob gleich oder in vier Wochen ist doch egal!«

Trude wusste, was er meinte, und es traf sie. Sie kannte den Vorwurf, auch von den anderen Kindern, die sie während der Som17merferien bei sich aufgenommen hatte. Aber Trude war erfahren genug, um das Thema zu wechseln. Sie setzte sich zu Ben an den Küchentisch.

»Was hast du denn heute erlebt, du kleiner Ausreißer, erzähl mal!«

Ben schmollte. Trude legte den Kopf zur Seite.

»Da war dieser Mann …«, erwiderte Ben nur zögerlich.

»Was für ein Mann?«

»Na ja, ein Mann eben, ein Deutscher. Er hat mich angesprochen.«

»Was hat er denn gesagt?«

»Irgendetwas von Schiffen und der Nordsee und der Ostsee. Hab ich nicht so ganz verstanden.«

»Und dann?«

»Dann bin ich weggelaufen und hab mich in den Dünen versteckt.«

»Und der Mann?«

»Ist stehen geblieben. Dann hat er sich auf den Boden gesetzt und irgendwas gemacht.«

»Was denn?«

»Geschrieben, gemalt, so etwas halt.«

»Ach!«, rief Trude nun erleichtert aus, »der war das!«

»Wer?«

»Na, der Deutsche, der Großvaters Haus drüben gemietet hat. Theo heißt er. Wahrscheinlich ein Künstler. Einer dieser Maler, die immer wieder hierherkommen.«

»Und warum kommen Maler hierher?«

»Man sagt, es sei das Licht.«

»Aber Licht ist doch überall, wenn es nicht gerade Nacht ist.«

Trude lachte auf. Es war ein glockenhelles, fröhliches Lachen.

»Maler sehen das ein bisschen anders. Tatsächlich ist das Licht nicht überall gleich. Bei euch daheim in Hamburg, also in je18der Großstadt, da ist das Licht anders. Da gibt es mehr Luftverschmutzung. Die verändert das Licht.«

Ben legte die Stirn in Falten und dachte angestrengt nach.

»Ja, es ist irgendwie anders … heller. Und wenn es ganz heiß ist, dann wird das Licht flüssig.«

»Flüssig?«, fragte Trude verblüfft und hob die Augenbrauen.

»Ja, wirklich. Von ganz weit weg sieht das aus wie Wasser.«

»Ach so. Jetzt weiß ich, was du meinst. Eine Luftspiegelung. In der Wüste kommt das oft vor. Manchmal, aber sehr selten, auch hier am Strand. Dafür muss es aber wirklich heiß sein.«

Ben schaute sie an und meinte dann mit tiefem Ernst: »Du weißt so viel. Du bist die klügste Frau, die ich kenne.«

Wieder lachte Trude ihr glockenhelles Lachen.

»Vielen Dank, du kleiner Charmeur, aber es gibt sicher noch ein paar klügere als mich. Ich war nur eine bescheidene Lehrerin.«

»Warum bist du keine Lehrerin mehr?«

Trude schaute Ben freundlich an.

»Ich bin zu alt.«

Ben war empört.

»Du bist doch nicht zu alt. Wer sagt das?«

»Mein Pass«, meinte sie trocken. »Ich bin zweiundsiebzig und deshalb schon, wie man so schön sagt, im wohlverdienten Ruhestand.«

»Zweiundsiebzig, so alt?«, fragte Ben ungläubig.

»Ich hab dir gesagt, du darfst mich alles fragen. Aber sei vorsichtig. Es gilt als unhöflich, eine Dame nach ihrem Alter zu fragen.«

»Oh, Entschuldigung …«, sagte Ben schnell.

»Papperlapapp. Woher sollst du es auch wissen? Deswegen sag ich es dir ja. Es ist wichtig, dass der Mensch jeden Tag lernt, nicht nur lesen, schreiben und das kleine Einmaleins.«

19»Wärst du gerne weiter Lehrerin geblieben?«

»Oh, ja, aber wenn die Zeit gekommen ist …«

Sie kniff ein Auge zusammen.

»Und weißt du, die Sache hat ja auch etwas Gutes. Ich bin jetzt deine Schwimmlehrerin. Ist doch nicht schlecht, oder?« Und nach einer kurzen Pause: »Möchtest du noch einen Kakao?«

Ben nickte.

204Theo öffnete die Reisetasche und nahm das Buch heraus, das ganz oben lag. Warum er es mitgenommen hatte, wusste der Teufel. Wollte er sich selbst quälen? Seine Finger fuhren über den Titel des Schutzumschlages: Wenn die Ströme wärmer werden von Professor Dr. Theobald Scherzinger. Jahrelang hatte er daran gearbeitet. Es war ein riesiger Erfolg geworden, hatte ihn über die akademischen Kreise hinaus bekannt gemacht und ihm sogar Geld eingebracht – und doch hatte dieses Buch ihm letzten Endes mehr geschadet, als dass es ihn weitergebracht hätte.

Ihm war etwas gelungen, von dem viele seiner Kollegen träumten: ein wissenschaftliches Buch mit steiler These, doch so zugänglich geschrieben, dass es auf der Bestsellerliste landete. Mit seinen Vorhersagen zum Klimawandel hatte er einen Nerv getroffen. Doch die Anfeindungen der Leugner des Klimawandels hatten nicht lange auf sich warten lassen, diese Leute hatten ihn zu einer Symbolfigur des Bösen stilisiert, in einem Ausmaß, mit dem er nicht gerechnet hatte. Man hatte ihn massiv bedroht, und nicht nur ihn, sondern auch seine Mitarbeiter am Institut, das er leitete.

So euphorisch die wissenschaftliche Welt ihn anfangs gefeiert hatte, so beharrlich suchten seine Neider Unstimmigkeiten in seinen Forschungsergebnissen – und fanden sie. In immer neuen Artikeln wurden vermeintliche Fehler in seinen Daten dargelegt. Am Anfang hatte Theo noch die Kraft gehabt, sich 21dagegen zu wehren. »Jetzt erst recht«, hatte er sich gesagt. Menschen, die ihm viel bedeutet hatten, hatte er vor den Kopf und von sich weggestoßen, Hilfsangebote in den Wind geschlagen und schließlich bemerkte er, dass er ganz allein im Elfenbeinturm saß, verlassen von allen. Am Anfang glaubte er noch an die große Verschwörung gegen ihn, bis ihm schmerzlich und ausgerechnet von seinem ältesten und einzig verbliebenen Freund klargemacht wurde, dass er es selbst verbockt hatte. Sein Stolz und sein Ehrgeiz hatten es nicht zugelassen, Hilfe anzunehmen. So war er zum Außenseiter geworden – so, wie er es schon zu Schulzeiten gewesen war. Das Gefühl kannte er.

Im Laufe der Zeit ließ seine Kraft immer mehr nach. Er wurde unkonzentriert, machte Fehler, wurde gereizt und dadurch noch unkonzentrierter und machte noch mehr Fehler.

Und dann machte er seinen größten. Ausgerechnet auf Bali, an einem Traumstrand, wo er einige Tage mit einem Forschungstrupp war, den er leitete. Nie hätte er diesen Tauchgang trotz schwieriger Strömungsverhältnisse durchsetzen dürfen. Sein Leichtsinn hatte zwei Menschen das Leben gekostet.

Danach bat er im Institut um unbefristeten, unbezahlten Urlaub. Kollegen mutmaßten, er arbeite bereits an einem neuen Buch. Sie konnten falscher nicht liegen. Er war ja kaum fähig, mehr als einen sinnvollen Satz zu schreiben.

Theo verschwand. Er verkroch sich. Er begann, alte Filme zu schauen, die ihn von dem ganzen Ärger ablenkten und in deren Nostalgie er sich wohlig fallenlassen konnte. Klassiker mit Schauspielern, deren Name zum Mythos geworden war, Humphrey Bogart, Kirk Douglas, Gregory Peck, Spencer Tracy. Schauspielerinnen, die das Wort Diva noch als Auszeichnung und nicht als Makel trugen – Sophia Loren, Elizabeth Taylor, Ingrid Bergman, Katharine Hepburn. Citizen Kane fesselte ihn, bei Casablanca sprach er die Dialoge laut mit, er litt 22mit Gregory Peck in Wer die Nachtigall stört – und dann kam Kirk Douglas in Lust for Life, in dem Douglas den Maler Vincent van Gogh verkörpert. Der Bruder von Vincent hieß Theo – und er begriff. Das war es. Die Malerei. Das Malen hatte ihn schon damals in der Schule, als alle ihn ständig wegen seiner guten Noten hänselten, gerettet. Wenn er gezeichnet hatte – wilde Haie, riesige Kalmare, leuchtende Korallenriffe – versank er ganz in dieser fremden Welt der Tiefsee. Und schon damals war in ihm der Wunsch laut geworden, ganz in dieser Welt aufzugehen.

Tags darauf machte er sich auf den Weg und kaufte Pinsel und Farben. Erst begann er einfach draufloszumalen. Dann besorgte er sich Bücher, verbiss sich in sie wie einst in seine wissenschaftlichen Werke, lernte den richtigen Einsatz von Licht und Farben und wie er Perspektive und Proportionen berücksichtigen musste.