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Es ist sein Spiel, doch sie ändert die Regeln...
Der gefeierte Künstler Jared Rush besitzt einige der angesagtesten Nachtclubs in New York - und er hat eine Rechnung offen mit dem Sohn des Mannes, der seinen Vater in den Ruin getrieben hat. Jareds Plan: Seinem Gegenspieler beim Pokern so viel Geld aus der Tasche zu ziehen, dass er seine Schulden nicht begleichen kann. Doch der wahre Preis ist dessen Freundin, die ihm für eines seiner berühmten erotischen Gemälde Modell stehen soll. Jared ist es gewohnt, die Kontrolle zu haben und das tiefste Innere seiner Modelle zu zeigen. Doch bald schon stellt er fest, dass es Melanie ist, die auf den Grund seiner verwundeten Seele blickt und sein Herz nicht mehr loslässt ...
"Wunderbar romantisch und heiß zugleich." Feeling Fictional
Band 5 der 100-Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Lara Adrian
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Seitenzahl: 433
Titel
Zu diesem Buch
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Epilog
Die Autorin
Die Romane von Lara Adrian bei LYX
Impressum
LARA ADRIAN
100 Secrets
Illusion
Roman
Ins Deutsche übertragen von Firouzeh Akhavan-Zandjani
Jared Rush ist ein gefeierter Künstler, schwimmt im Geld und besitzt einige der angesagtesten Nachtclubs in New York. Doch er hat eine Rechnung offen: Vor Jahren wurde sein Vater von einem Betrüger in den Ruin getrieben – dessen zwielichtiger Sohn soll nun dafür bezahlen. Die Freundin des Mannes, Melanie Laurent, war Jared sofort aufgefallen, als sie einen seiner Clubs besuchte. Sein Plan: Dem Gegenspieler beim Pokern so viel Geld aus der Tasche zu ziehen, dass er seine Schulden nicht begleichen kann. Der wahre Preis: Melanie soll ihm Modell stehen für eines seiner tiefgründigen erotischen Gemälde. Jared ist es gewohnt, die Kontrolle zu haben und die intimsten Seiten seiner Modelle auf der Leinwand herauszuarbeiten. Doch er hat nicht damit gerechnet, dass Melanie mit ihrer einzigartigen Mischung aus Güte und Furchtlosigkeit den Spieß umdreht. Plötzlich ist sie es, die auf den Grund seiner Seele blickt, die seine innere Leere sieht und den Schmerz, der in ihm wütet. Es bedarf nur weniger Stunden in ihrer Anwesenheit, und Jared begreift, dass er sich im Netz seines eigenen Spiels verfangen hat – dass die Leidenschaft, die zwischen ihnen schwelt, mit nichts vergleichbar ist und tiefer geht als alles, was er jemals verspürt hat
Wie eine helle Fackel in dunkler Nacht sticht sie aus der Menge hervor.
Sie ist von lauter schönen Menschen umgeben – Hunderte von Leibern, die zu der Musik, die durch meinen Club Muse dröhnt, tanzen. Doch sie ist diejenige, an der mein Blick wie gebannt hängt.
Haar, das im strahlenden Rotton eines Sonnenuntergangs schimmert, ergießt sich in üppigen Wellen über ihren Rücken. Die langen Beine und der herrliche Hintern sind in eine weiße Jeans gehüllt. Ihre kleinen Brüste wippen beim Tanzen keck unter einer hellblauen Seidenbluse, seit sie vorhin mit einer ihrer Freundinnen hier angekommen ist.
Ich befinde mich zwei Stockwerke oberhalb der Tanzfläche und lasse sie nicht aus den Augen.
In der wogenden Menge schwarz gekleideter Clubbesucher, die wie ein ganzer Schwarm Drohnen um ihre Königin herumschwirren, ist sie schwerlich zu übersehen, während sie gar nicht zu bemerken scheint, wie mühelos sie die Energie und die Aufmerksamkeit des ganzen Raumes auf sich zieht.
Sie gehört hier nicht her. Sie ist wie ein heller Farbklecks in einem finsteren Abgrund.
Eine Unschuld in einem Sündenpfuhl.
Und ich, Jared Rush, bin der Verderbteste von allen.
Ich entschuldige mich nicht dafür und versuche mich auch nicht zu rechtfertigen.
Wie bei meinen Gemälden – dunkle, sinnliche Bilder, die mich zum König der avantgardistischen Kunstwelt und außerdem zu einem reichen Mann gemacht haben – schrecke ich vor meinen niederen Instinkten nicht zurück. Nein, ich mache sie mir sogar zunutze.
Ich schwelge förmlich in ihnen.
Und gerade jetzt brennen diese Instinkte vor Ungeduld und wollen von dieser jugendlich frischen Schönheit mit den goldbraunen Haaren kosten, die den Fehler gemacht hat, heute Abend in meine Höhle einzutreten.
Ich weiß nicht, wie sie heißt, doch das spielt keine Rolle.
Denn ich weiß, zu wem sie gehört.
Im Laufe der Jahre habe ich mir eine erkleckliche Zahl von Feinden gemacht, doch nur wenige sind es wert, einen Gedanken an sie zu verschwenden.
Und noch weniger sind es wert, dass man ihnen Wunden zufügt.
Sie bezwingt.
Sie vernichtet.
Die Frau hat nichts mit der Feindseligkeit zu tun, die seit Jahrzehnten an mir nagt. Doch während ich sie dabei beobachte, wie sie tanzt und mit ihren Freundinnen lacht, lässt mich nicht nur der Gedanke an eine sexuelle Eroberung hart werden – so stark der Drang, sie zu besitzen, auch sein mag. Ginge es mir nur darum, hätte ich keinerlei Zweifel daran, dass sie, ehe die Nacht vorbei ist, nackt unter mir läge.
Nein, mir steht der Sinn nach mehr als nur dem Stillen prosaischer Lust.
Es ist etwas Kaltes, das an mir nagt.
Ich denke an eine alte Sache, die noch nicht beglichen ist. Eine Sache, von der ich eigentlich dachte, dass sie längst begraben wäre.
Ich denke plötzlich an Vergeltung.
Und ich weiß auch schon, wie.
Sie spielt eine entscheidende Rolle dabei.
Zwei Wochen später …
Das Armband aus hellblauen Edelsteinen, das mein Handgelenk umschließt, funkelt im sanften Schein der Restaurantbeleuchtung. Ich kann nicht aufhören, abwechselnd bewundernde Blicke auf das unerwartete Geschenk zu werfen und mit einem strahlenden Lächeln den Mann anzusehen, der es mir soeben, während des Essens im GC – einem der besten Restaurants in ganz Manhattan –, überreicht hat.
»Es steht dir fantastisch«, sagt Daniel, während der Kellner die Dessertteller abräumt. »Ich habe es zufällig entdeckt, als ich letztens in Las Vegas war, und wusste, dass ich es für dich kaufen musste. Die Turmaline haben die gleiche Farbe wie deine Augen.«
Ich senke den Blick, und mein Lächeln wird etwas schmaler. Meine Augenfarbe wechselt und ist häufiger grau als blau. Es ist dumm von mir, auch nur ansatzweise darüber enttäuscht zu sein, dass er das nicht weiß.
Daniel Hathaway und ich sind erst seit drei Monaten zusammen. Ich kann nicht erwarten, dass er sich in der kurzen Zeit bereits jede Einzelheit bezüglich meiner Person eingeprägt hat. Schließlich ist er ein viel beschäftigter, fähiger Mann mit einem anspruchsvollen Beruf. Seine Arbeit als Architekt nimmt viel Aufmerksamkeit und Zeit in Anspruch.
Das war mir gleich von Anfang an klar, als wir begannen, uns miteinander zu verabreden. Tatsächlich war sogar Daniels beruflicher Tatendrang eine der Eigenschaften, die ich ganz besonders an ihm bewunderte, als wir uns kennenlernten – sein Tatendrang und seine Freundlichkeit.
Er ist ein guter Mann, und in den fünfundzwanzig Jahren meines Lebens habe ich nur wenige von dieser Sorte gesehen.
Manchmal frage ich mich, ob er nur ein Traum ist, den ich heraufbeschworen habe – ein Wunsch, den ich nie gewagt habe laut auszusprechen. Ich strecke den Arm über den Tisch und schiebe meine Hand in seine. »Das Armband ist wunderschön. Der ganze Abend ist wunderschön.«
»Das sollte er auch sein, denn wir haben ja was zu feiern«, erinnert er mich. Er streicht mir eine Locke meines offenen rotbraunen Haars hinters Ohr, und ein Lächeln erhellt sein gut aussehendes Gesicht. »Die Geschäfte sind noch nie besser gelaufen. Wenn das so weitergeht, könnte ich noch vor Ende des Jahres Partner in der Firma werden. Du bist mein Glücksbringer, Mel.«
Er lässt meine Hand los, um das exquisite Essen zu bezahlen und den dreihundert Dollar teuren Wein, den er bestellt hat, obwohl ich ihm noch einmal gesagt hatte, dass ich nichts trinken würde. Ich habe mir noch nie viel aus Alkohol gemacht. Angesichts meiner Familiengeschichte muss man das wohl als ein kleines Wunder ansehen.
Seit ich seit letztem Jahr wieder zur Uni gehe, um meinen Master in Betriebswirtschaftslehre zu machen, ist Kaffee das Stärkste, was ich zu mir nehme. Aber den werde ich noch nicht einmal heute Abend trinken, denn ich bin mitten in einem Zusatzkurs und schreibe darin morgen früh eine Prüfung. Da kann ich es überhaupt nicht brauchen, wegen einer Überdosis Koffein die halbe Nacht wach zu liegen.
»Wollen wir los, meine Schöne?« Als ich nicke, erhebt sich Daniel, um mir beim Aufstehen behilflich zu sein.
Er legt seine Hand in Taillenhöhe auf meinen Rücken und führt mich durch das voll besetzte Restaurant. Auf dem Weg nach draußen werden wir von Gavin Castille, dem gut aussehenden australischen Koch und Besitzer dieses beliebten Restaurants angehalten. Er plaudert kurz mit uns und erkundigt sich, ob uns das Essen geschmeckt habe. Mit seinem Charme und seiner offenen Art gewinnt Daniel immer sofort alle Herzen für sich. Auf jeden Fall war das seine Wirkung auf mich, als wir uns bei meinem Lieblingsimbiss in der Nähe der Uni kennenlernten, weil man unsere Bestellungen vertauscht hatte.
Ein Angestellter des Restaurants fährt mit Daniels Jaguar vor, und kurz darauf reihen wir uns in den lebhaften Dienstagabendverkehr dieses schönen Sommertags ein. Als wir die entgegengesetzte Richtung zu der Brücke, über die wir zu mir nach Hause nach Queens gelangen würden, einschlagen, nehme ich an, dass er ein oder zwei Stunden mit mir in seinem Apartment in Midtown schlafen möchte, um dem Abend einen krönenden Abschluss zu geben, ehe ich daran denken muss, nach Hause zu fahren.
Aber diesen Weg nimmt er auch nicht.
Ich werfe ihm einen verwirrten Blick zu. »Was ist los?«
Er lächelt. »Du siehst heute Abend einfach toll aus, und ich will mit dir angeben. Tatsächlich ist in den letzten paar Wochen alles so gut in der Firma gelaufen, dass ich das Gefühl habe, ich könnte es mit der ganzen Welt aufnehmen – vor allem mit dir an meinem Arm.«
»Daniel, wovon redest du überhaupt?«
Er zieht einen schwarzen Umschlag aus der Innentasche seines Jacketts und reicht ihn mir. Das Siegel ist gebrochen, trotzdem erkenne ich den Abdruck eines Monogramms aus den stilisierten Initialen J und R im altmodischen Siegellack.
Im Inneren befindet sich eine auf steifem Leinenpapier gedruckte Einladung. Zumindest nehme ich an, dass es sich um eine Einladung handelt.
Es stehen nur das heutige Datum und eine Adresse in Lenox Hill in der Upper East Side darauf.
Eine sehr teure Adresse.
»Ich verstehe nicht recht.«
Daniels Augen funkeln im Schein des Armaturenbretts. Sein Lächeln wirkt fast schon aufgedreht. »Das ist eine Eintrittskarte zu einer der Pokerrunden mit den höchsten Einsätzen in der Stadt. Sehr exklusiv. Man kommt nur mit Einladung rein.«
»Du nimmst mich zu einem Pokerspiel mit? Jetzt?« Unbehagen erfasst mich. Ich lasse die Einladung auf meinen Schoß sinken und sehe ihn an. »Ich wusste nicht, dass du spielst.«
»Das Thema hat sich wohl nie ergeben.« Er streckt die Hand aus, um meine Wange zu berühren. »Stört es dich?«
Ich zucke mit den Achseln und versuche zu erkennen, ob es das tut oder warum es das tun sollte. Bestimmt gibt es vieles bei Daniel, das ich erst noch entdecken muss. Aber irgendwie fühlt es sich so an, als hätte er es absichtlich verheimlicht, und zum ersten Mal, seit wir uns kennen, scheint der Boden, auf dem ich stehe, nicht mehr ganz so stabil zu sein wie noch vor einem Augenblick.
Ich begegne seinem besorgten Blick. »Ich bin nur … überrascht. Das ist alles.«
»Entspann dich«, sagt er sanft. »Es wird Spaß machen.«
Ich wünschte, ich könnte die gleiche Begeisterung aufbringen wie er. Plötzlich will ich nur noch nach Hause. »Vielleicht solltest du ohne mich hingehen. Du weißt, dass ich nicht gern spätabends unterwegs bin …«
»Solltest du dir Gedanken wegen deiner Prüfung morgen machen, lass es. Du bist hochintelligent, Melanie. Wenn du ein einziges Mal lange aufbleibst, wird das deinen Notendurchschnitt nicht in den Keller gehen lassen.«
»Das ist es nicht allein.«
Mein Studium ist mir wichtig, aber ich denke auch an die anderen Verpflichtungen, die mich zu Hause erwarten. Meine Mutter und meine sechsjährige Nichte leben mit mir zusammen, seit meine Schwester vor vier Jahren gestorben ist.
Auch wenn meine Mutter behauptet, sie würde nicht auf mich warten oder sich Sorgen machen, wenn ich ausgehe, weiß ich, dass das nicht stimmt. Und ich bemühe mich sehr, sie nicht zu enttäuschen.
Daniel ist erst ein paarmal bei mir zu Hause gewesen, aber er weiß, wie viel mir meine Familie bedeutet.
Er sieht mich mit einem verständnisvollen Lächeln an. »Wir werden nicht lange bleiben. Das verspreche ich dir.«
Er streckt die Hand nach der Einladung und dem Umschlag aus, die immer noch auf meinem Schoß liegen, und steckt beides wieder in sein Jackett. »Und das ist nicht nur eine Pokerrunde heute Abend, Mel. Es ist die Gelegenheit, alle, die Rang und Namen in dieser Stadt haben, kennenzulernen. Und mit ein bisschen Glück nehme ich ein paar von diesen stinkreichen Leuten aus, während ich dort bin. Davon abgesehen kann ich mich wohl kaum weigern hinzugehen, wenn der Gastgeber der neueste große Fisch ist, den die Firma am Haken hat – Jared Rush.«
Auch wenn ich den Mann nie kennengelernt habe, stockt mir doch ein wenig der Atem, als Daniel den Namen erwähnt.
Jared Rush, der wahnsinnig begabte Künstler, der bekannt ist für seine düsteren, provokanten Porträts, die selbst seine schönsten und viel gepriesenen Modelle bis auf den Grund ihrer gebrochenen Seelen entblößen, ist bereits seit einem Jahrzehnt eine Legende in der Kunstwelt.
Obwohl es schon eine Weile her ist, dass er etwas Neues geschaffen hat, bringen seine Gemälde immer Millionen. Und auch wenn seine Kunst verstört, würden nur wenige ihre raue, verführerische Schönheit leugnen.
Was eigentlich auch für den verheerend gut aussehenden, rebellischen Künstler selbst gilt.
»Du sprichst von dem Gramercy-Park-Projekt, von dem du heute Abend erzählt hast? Die Ausschreibung für das kleine Luxushotel mit Galerie, die deine Firma vor Kurzem gewonnen hat? Jared Rush ist der Kunde?«
Daniel wirft mir einen amüsierten Blick zu. »Sag das nicht so schockiert. Er soll eigentlich gar nicht so schlimm sein.«
Ich weiß, dass mein Blick skeptisch ist. Selbst wenn man noch nicht lange in New York City lebt, hört man unweigerlich von dem arroganten Künstler und seinem Werk.
Oder seiner angeblichen Fleischeslust.
Dieser Ruf ist es, den ich nicht ignorieren kann, sosehr ich mich auch bemühe.
Alles, was ich je über Jared Rush gehört habe – die Wörter, mit denen er beschrieben wurde –, stürmt im dunklen Wagen auf mich ein, während Daniel sich dem noblen Viertel in der Nähe des Central Parks nähert.
Schlecht.
Verdorben.
Abartig.
Gefährlich.
Daniel redet neben mir weiter und bemerkt mein wachsendes Unbehagen gar nicht. »Schon klar … hinter all dem aufgesetzten altmodischen Charme soll Rush ein richtiges Arschloch sein, doch ihn als Kunden zu gewinnen, war echt der beste Deal, den die Firma an Land ziehen konnte. Er hat mir das Projekt förmlich auf dem silbernen Tablett serviert, als ich ihn letzten Monat persönlich kennengelernt habe. Offensichtlich hat er in den letzten paar Jahren einen Teil seines beachtlichen Vermögens in Projekte aus dem Unterhaltungssektor gesteckt. Tanzclubs, Hotels, solche Sachen. Hört sich so an, als wüsste er, was er tut. Erst vor ein paar Wochen hat er im Meatpacking District einen neuen Club eröffnet, und der hat vom ersten Tag an dicke Gewinne abgeworfen.«
»Das Muse.«
»Was ist das?«, brummt Daniel.
»Der neue Club heiß Muse. Ich bin einen Abend mal mit Eve und Paige hingegangen, als du in Las Vegas warst.«
»Ach ja?« Er scheint verblüfft, das zu hören, und runzelt die Stirn. »Das hast du bisher nie erwähnt.«
Ich lächle, aber meine Gesichtszüge wirken angespannt, als ich ihm seine eigenen Worte zurückgebe: »Das Thema hat sich wohl nie ergeben.«
Und als wir in die East 63rd abbiegen und auf das vierstöckige Ziegelsteingebäude aus dem 19. Jahrhundert zufahren, zu dem wir wollen, verstärkt sich bei mir das Gefühl einer bösen Vorahnung.
Ich kann mich einfach nicht des Eindrucks erwehren, mich einem tiefen Abgrund zu nähern. Wir haben noch nicht einmal einen Fuß in das Haus gesetzt, und ich will eigentlich nur schon wieder weg.
Denn eine innere Stimme sagt mir, dass ich da vielleicht nie wieder rauskomme, wenn ich so dumm sein sollte, mich an diesen Ort zu wagen.
»Hatte ich dir nicht gesagt, dass es schön sein würde?«, flüstert Daniel mir leise ins Ohr, als er und die anderen Spieler sich zu einer kurzen Pause erheben, nachdem die zweite Runde gespielt worden ist.
Und er hat recht. Es macht mir wirklich Spaß.
Meine Vorstellung des heutigen Abends hätte nicht abwegiger sein können, als ich damit gerechnet hatte, in ein höhlenartiges, mehrere Millionen teures BDSM-Verlies voller halb nackter Frauen und ungehobelter, wollüstiger Männer zu treten, die in einem schummrigen, rauchgeschwängerten Raum am Pokertisch hocken.
Nachdem wir von einem höflichen Türsteher im Smoking in ein hell erleuchtetes, großes Foyer eingelassen worden waren und ein identisch gekleideter Angestellter sich des Jaguars angenommen und ihn weggefahren hatte, wurden Daniel und ich in einen eleganten Salon im ersten Stock geführt. Dort hatten sich bereits neun Männer, von denen einige in schöner männlicher oder weiblicher Begleitung waren, vor dem Beginn des Spiels zu Cocktails und raffinierten Hors d’œuvres versammelt.
Ich hätte mich beinahe verschluckt, als der weltgewandte, distinguierte Mann mit den silbergrauen Haaren, der das Treffen organisiert hat, Daniel fünfundzwanzigtausend Dollar in Form von Chips mit der Bemerkung reichte, er könne die Summe begleichen, wenn er nicht mehr mitspielen wolle.
Fünfundzwanzig Riesen.
Selbst jetzt zieht sich mir bei dieser Vorstellung noch der Magen zusammen. Das ist mehr, als ich im Jahr durch meinen Halbtagsjob in einem Büro und das Kellnern in einem Diner bei mir um die Ecke verdiene, wenn ich nicht gerade zur Uni gehe.
Die schwindelerregende Summe hatte Daniel überhaupt nicht aus der Ruhe gebracht. »Alles gut. Das ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein im Vergleich zur Provision, die ich durch das Rush-Projekt einstecken werde. Davon abgesehen werde ich heute Abend gewinnen. Das spüre ich.«
Und er gewinnt tatsächlich.
Nicht nur ein Spiel, sondern fast jedes.
Seit unserer Ankunft vor anderthalb Stunden hat er sein Spielgeld mehr als verdoppelt. Ich muss gestehen, dass ich beeindruckt bin. Daniel spielt wie ein Profi – gewandt und mit schlauen Bluffs, um im nächsten Moment den Einsatz so zu erhöhen, dass ich hinter ihm sitzend den Atem anhalte.
Nach der kurzen Pause zwischen zwei Runden kehren wir mit den anderen an den Spieltisch zurück. Selbst ohne die Cocktails, die alle anderen trinken, bin ich entspannt, und während ich meine Sorgen von vorhin wenigstens teilweise ablege, nehme ich mir einen Moment, um die kostspielige Umgebung auf mich wirken zu lassen.
Die Klänge klassischer Musik sind leise im Hintergrund zu hören. Hoch über unseren Köpfen funkeln die geschliffenen Kristalle des Kronleuchters wie Diamanten. In der Luft hängt der angenehme Geruch geölten und polierten Mahagoniholzes, der sich mit dem Duft des Blumenarrangements aus frischen Schnittblumen vermischt, welches in der Mitte des edel schimmernden Louis-XVI-Tisches steht und nur ein weiteres Detail des luxuriös eingerichteten großen Salons darstellt.
Wohin mein Blick auch schweift, sehe ich den erlesenen Stil und das Niveau der Alten Welt.
Wen ich aber heute Abend noch nicht gesehen habe, ist der Gastgeber dieser exklusiven Veranstaltung.
Bisher habe ich Jared Rush nur auf ein oder zwei Fotos im Internet oder in der Boulevardpresse gesehen. Ich ertappe mich dabei, dass ich die Männer im Raum mustere und nach dem einen Ausschau halte, an dessen Aussehen ich mich jetzt mit überraschender Klarheit erinnere. Schulterlanges, volles, sandbraunes Haar. Eine große, muskulöse Gestalt mit breiten Schultern. Gebräunte Haut, wache dunkelbraune Augen und ein schiefes Grinsen, das trotz seines guten Aussehens immer ein wenig zu amüsiert, zu unverschämt wirkt.
Aber er befindet sich nicht im Raum.
Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob er sich im Haus aufhält.
Ich weiß nicht, warum mich das so sehr erleichtert.
Als einer der Spieler beginnt, die Karten zu mischen, richtet sich meine Aufmerksamkeit wieder auf den Tisch, und ich beobachte, wie die Karten gleich darauf verteilt werden. Ich mache es mir bequem und schaue zu, wie das Spiel an der Stelle wiederaufgenommen wird, wo man es vor der Pause unterbrochen hat. Die Männer, die während des kleinen Imbisses vor ein paar Minuten noch geplaudert haben, schweigen jetzt mit ausdruckslosen Mienen, während die Karten fliegen und die Stapel mit den Jetons größer und kleiner werden.
Daniel hat nichts von seinem Selbstvertrauen verloren, aber das anfängliche Glück hat ihn verlassen.
Ich zucke zusammen, als er in ein paar wenigen Partien ein Viertel seines Spielgeldes verliert. Beim nächsten Spiel kann er wieder ein bisschen ausgleichen, aber ich erkenne an seiner angespannten Haltung, dass er nicht die Karten bekommt, die er sich wünscht.
Doch anstatt mit niedrigerem Einsatz zu spielen, wird er kühner … waghalsiger.
Schockiert beobachte ich, wie das Spiel rasend schnell Daniels Jetons verringert, bis er nur noch Spielgeld im Wert von ein paar Tausend Dollar vor sich liegen hat.
»Tja, wie gewonnen, so zerronnen«, scherzt er, als die letzte Karte umgedreht wird.
Die Mitspieler gehen mit leisem Gelächter und Anteilnahme auf seine Witzelei ein. Doch Daniels humorvolle Bemerkung ist nur Fassade. Ich kenne ihn gut genug, um das zu sehen.
Er stürzt den Rest des Bourbons, der vor ihm steht und von dem er während des Spiels immer nur genippt hat, in einem Zug herunter und sieht mich dann mit einem wenig überzeugenden Zwinkern in den Augen an. Er winkt den Floor-Manager zu sich, der sich uns bei unserer Ankunft schlicht als Gibson vorgestellt hat.
»Was kann ich für Sie tun, Mr Hathaway?«, fragt der ältere Herr mit diskret gesenkter Stimme.
Ich hoffe, dass Daniel ihm sagen wird, er möchte aus dem Spiel aussteigen, und mich dann nach Hause bringt, ehe er auch noch die letzten beiden Riesen von den fünfundzwanzigtausend Dollar verliert, mit denen er den Abend begonnen hat.
Doch das tut er nicht.
»Könnte ich heute Abend wohl noch ein bisschen mehr anschreiben lassen?«
Der ältere Herr neigt den silbergrauen Kopf. »Ich bin mir sicher, dass das kein Problem ist. An wie viel haben Sie gedacht?«
Daniel zögert noch nicht einmal eine Sekunde. »Fünfzig.«
Allmächtiger! Ich schaffe es gerade noch, den Mund nicht vor Entsetzen aufzureißen.
»Sehr wohl, Sir.« Gibsons Miene bleibt völlig ausdruckslos. »Ich werde mich sofort darum kümmern.«
Sobald der Mann fort ist, ziehe ich Daniel vom Tisch weg. Entsetzen macht sich in mir breit und verwandelt sich immer mehr in nackte Angst. »Lass uns jetzt gehen. Bitte.«
»Gehen?« Er sieht mich an, als wäre ich hier diejenige, die sie nicht mehr alle hat. »Liebling, ich bin mitten in einem Spiel.«
Ich schüttle den Kopf. »Du hast bereits gespielt. Du hast bereits sehr viel Geld verloren. Und jetzt redest du davon, noch mehr zu riskieren. Fünfundsiebzigtausend Dollar, Daniel?«
»Ich kann es zurückgewinnen. Ich brauche nur die Geldmittel, um es zu versuchen.« Während meine leise Stimme ganz erstickt klingt, hört er sich überlegt und entschlossen an. Er umfasst mein Gesicht mit beiden Händen und haucht einen Kuss auf meine angespannten Lippen. »Ich hab alles unter Kontrolle. Vertrau mir.«
Ihm vertrauen. Er weiß gar nicht, was er da von mir verlangt – wie schwer es mir fällt, jemandem mein Vertrauen zu schenken, insbesondere einem Mann.
Doch ich vertraue Daniel. In drei Monaten hat er mir nie auch nur den leisesten Grund gegeben, an ihm zu zweifeln. Er hat mich nie enttäuscht, kein einziges Mal.
Gibson kommt mit einem Tablett zurück, auf dem fünf Reihen mit Jetons liegen. Er nickt Daniel zu und stellt die zusätzlichen Stapel vor ihn auf den Tisch.
»So, und jetzt gib mir noch einen Kuss und wünsch mir Glück.«
Halbherzig gebe ich nach, hebe den Kopf und gebe ihm einen Kuss. »Viel Glück!«
Erneut nimmt er seinen Platz am Tisch ein, und die Männer beginnen wieder zu spielen. Mir fehlt der Mut, weiter zuzuschauen. Ich habe das Gefühl, als hätte ich einen ganzen Schwarm Bienen in meiner Brust. Meine Haut spannt, brennt und kribbelt vor Angst.
Ich muss aus diesem Zimmer raus.
Am liebsten würde ich ein Taxi rufen und auf direktem Wege nach Hause fahren. Aber ich kann Daniel nicht allein lassen. Das würde ich nie tun, und vor allem dann nicht, wenn es plötzlich um so hohe Einsätze geht.
Aber wenn ich mich nicht ein bisschen bewege und frische Luft schnappe, kippe ich womöglich um.
Das Spiel ist bereits in vollem Gang, als ich mich Gibson nähere, der neben der Bar steht. »Könnte ich mich irgendwo frisch machen?«
»Natürlich.« Er verlässt mit mir zusammen den Salon und deutet den Flur entlang. »Die dritte Tür auf der linken Seite, Miss.«
»Danke schön!«
Die Tür ist abgeschlossen. Ich warte einen Moment, bis sich die reich verzierte Tür öffnet und zwei wunderschöne Frauen in meinem Alter, die dünn wie Models sind, zusammen herauskommen. Ich hatte die beiden schon im Salon bemerkt. Es sind die deutlich jüngeren Begleiterinnen von zwei Männern mittleren Alters, die mit Daniel Karten spielen.
Sie kichern, als sie in ihren hautengen Kleidern und den Designerschuhen an mir vorbeigehen. Ihre leicht verächtlichen Blicke, als sie mein schlichtes schwarzes, A-linienförmiges Kleid und meine Schuhe mit den Kitten-Heel-Absätzen mustern, entgehen mir nicht. Als Daniel mich heute Abend zum Essen abholte, habe ich mich hübsch gefühlt. Doch jetzt könnte ich ebenso gut Jeans und T-Shirt tragen.
»Entschuldigung«, sagt eine der Frauen nach einer kleinen Weile.
Ihre Freundin kichert nur und fährt sich mit dem Zeigefinger unter der Nase entlang, um Reste von Kokain wegzuwischen, die wie Staub an ihren Nasenlöchern hängen.
Ich trete in das riesige Bad und schließe hinter mir ab. Ausgestattet mit edlen holzgetäfelten Wänden und schimmernden Messingarmaturen, ist sogar dieser Raum luxuriös. Das warme goldene Licht mildert meine angespannten Gesichtszüge, die mir in dem großen Spiegel entgegenblicken.
Ich weiß nicht, wie lange ich in dem Raum verweile und kaltes Wasser ins Marmorbecken laufen lasse, während ich mit leerem Blick in den Spiegel schaue und mich frage, was zum Teufel ich hier eigentlich mache.
Nicht nur heute Abend, sondern mit meinem Leben.
Ich gehöre nicht hierher.
Weder an diesen Ort noch zu diesen Leuten.
Und zu Daniel auch nicht.
Ich will nach Hause. Jetzt. Falls er nicht mitkommen möchte, wird er Verständnis dafür haben müssen, dass ich ohne ihn gehe.
Ich kehre in den Salon zurück und sehe, dass er mit Gibson unter vier Augen spricht. Er ist aschfahl und steht gebeugt da. Besiegt. Vernichtet.
»Alles in Ordnung?«, frage ich, als ich zu ihm trete, obwohl es offensichtlich ist, dass das noch nicht einmal ansatzweise zutrifft.
Hinter Daniels hängenden Schultern geht das Pokerspiel weiter – ohne ihn und zwei weitere Spieler, die die Runde anscheinend verlassen haben.
Mir wird ganz bang ums Herz. Ich brauche ihn nicht zu fragen, ob er die fünfundzwanzigtausend zurückgewonnen hat – oder die zusätzlichen fünfzigtausend, die er sich geborgt hat, um weiterspielen zu können.
»Oh mein Gott, Daniel!«
Er sieht mich nicht an. Seine Stimme ist ganz leise, und die Worte sprudeln aus seinem Mund, während er Gibson flehend anschaut. »Nur noch eine Aufstockung. Das ist alles, worum ich bitte. Noch einmal zwanzig, damit ich noch eine Chance bekomme. Himmel, ich würde sogar zehn nehmen und dann nichts mehr sagen.«
Seine Verzweiflung schockiert mich. Sie macht mich verlegen. »Daniel, bitte.«
Ich habe das Gefühl, als wäre ich unsichtbar für ihn – so fest hat ihn die Panik im Griff. »Kommen Sie, Gibson. Sie müssen mir helfen, Mann.«
Die Miene des älteren Mannes ist ernst und strahlt eine unerschütterliche Ruhe aus. Doch dann atmet er tief durch. »Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.«
Er zieht sein Handy aus der Tasche und verlässt ruhig den Salon.
»Bist du wahnsinnig?«, zische ich, als Daniel und ich außer Hörweite der anderen Gäste sind. »Du bist doch nicht ernsthaft so verrückt und leihst dir weiter Geld, um es zu verspielen. Was ist bloß mit dir los?«
»Ich hab es nicht.« Seine Antwort klingt tonlos, gebrochen. »Ich kann die fünfundsiebzigtausend von heute Abend nicht zahlen. Ich muss meine Verluste und noch einiges mehr wettmachen, sonst bin ich erledigt.«
Ich trete zurück und schüttle stumm den Kopf. »Du sagtest, du hättest es unter Kontrolle. Du sagtest, das Geld, das du durch das neue Projekt erhalten würdest, reiche aus, um das Risiko zu decken.«
»Tut es ja auch. Oder besser würde … aber erst, wenn das Projekt anläuft. Wenn ich Jared Rush das Geld von dem Spiel heute Abend nicht zurückgeben kann, wird es vielleicht gar kein Projekt geben.«
Oh Gott!
Ich kann nicht glauben, was ich da höre. Ich kann nicht glauben, dass das gerade passiert.
Gibson kehrt zurück. Seine beherrschte Miene gibt nichts preis. Er steckt das Handy wieder ein und deutet dann mit einer förmlichen Geste auf den Ausgang des Salons. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Mr Hathaway.«
Ich weiß nicht recht, ob ich mitgehen soll oder nicht. Ich habe auch keine Ahnung, wohin sie gehen, aber ich will auf gar keinen Fall allein zurückbleiben und im Salon oder irgendwo sonst an diesem seltsamen Ort auf Daniel warten.
Davon abgesehen habe ich ihn noch nie so entnervt und ängstlich erlebt.
So aufgebracht ich auch über sein dummes Verhalten heute Abend sein mag, mache ich mir doch auch Sorgen um ihn.
Ich mache mir um uns beide Sorgen.
Ich schiebe meine Hand in seine und gehe mit ihm den Flur entlang, ohne zu wissen, was uns am anderen Ende erwartet.
Wir werden mit einem Fahrstuhl ins dritte Stockwerk des vierstöckigen Gebäudes gebracht.
Daniel füllt die kurze Fahrt nach oben mit nervösem Geplapper über schlechte Karten, die während des letzten Spiels an ihn ausgeteilt worden seien, und nachträgliche Gedanken darüber, wie er die Partie zu seinen Gunsten hätte drehen können, wäre er nur in der Lage gewesen, noch ein paar Runden weiterzuspielen.
Er scheint Gibsons Schweigen gar nicht zu bemerken und redet immer noch so, als würde er eine letzte Chance bekommen, sich wieder an den Tisch zu setzen, um erneut zu versuchen, seine Verluste mit noch mehr von Jared Rushs Geld zurückzuholen.
Ich gebe mich keinen derartigen Illusionen hin.
Gibson tritt mit uns zusammen aus dem Fahrstuhl auf einen opulenten Korridor. Dieses Stockwerk hat eine persönlichere Note und wirkt anheimelnder als jenes, in dem wir gerade waren. Ich wäre vielleicht versucht, voller Ehrfurcht das Vermögen in gerahmter Kunst anzustarren, das an den Wänden hängt, oder die wunderschönen Möbelstücke, die überall stehen und auch in einem Museum ihren Platz finden könnten, doch ich bin kaum in der Lage, mich auf irgendetwas zu konzentrieren. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Jede Faser meines Körpers ist vor Sorge angespannt.
Gibson bleibt mit uns am Ende des Korridors vor einer hohen doppelflügeligen Tür stehen, und ich habe das Gefühl, als würden wir aufs Schafott geführt werden.
Seine nächsten nüchtern gesprochenen Worte bestätigen meine Befürchtungen.
»Mr Rush hält es für sinnvoll, die Angelegenheit mit Ihnen persönlich zu besprechen«, sagt er zu Daniel.
»Oh, mir war gar nicht klar, dass er hier ist.« Daniel schluckt, und seine Hand, die meine hält, wird ein bisschen feucht.
Gibson nickt kurz, ohne etwas dazu zu sagen. »Er erwartet Sie da drinnen, Sir.«
Daniel räuspert sich und nimmt eine etwas straffere Haltung an. »Ah ja. Okay, danke.«
Als Gibson die antiken Türgriffe nach unten dreht und die Tür langsam aufschwingt, wirft Daniel mir mit bleichem Gesicht einen kurzen Blick zu.
»Vielleicht solltest du draußen warten, Mel. Das ist eine Sache zwischen Rush und mir.«
Ehrlich gesagt gibt es nichts, was ich lieber täte, als mich dem Moment zu entziehen, der im Raum auf uns wartet. Aber ich bin unangenehmen Situationen noch nie aus dem Weg gegangen, und sosehr ich es auch schätze, dass Daniel versucht, mich nicht in seine Probleme hineinzuziehen, bin ich doch anders gestrickt.
Wir sind ein Paar, und somit sind seine Probleme auch meine Probleme.
Ich schüttle den Kopf und schiebe meine Hand noch fester in seine. »Alles gut. Wir sind zusammen hergekommen, also gehe ich auch zusammen mit dir da rein.«
Gibson folgt uns nicht, als wir den Raum betreten, sondern schließt die Tür mit einem leisen Klicken, das wie Kanonendonner in meinen Ohren dröhnt, sodass wir ohne ihn in dem Arbeitszimmer, dessen Einrichtung eine eindeutig männliche Note aufweist, stehen.
Wir sehen auf einen riesigen Schreibtisch aus Walnussholz, der direkt aus einem englischen Landsitz zu stammen scheint. Das große Möbelstück dominiert den schwach erleuchteten Raum, doch der ausladende Stuhl dahinter ist leer.
Aber mein Blick verweilt nicht lange da, sondern wie all meine anderen Sinne richtet sich auch mein Blick auf einen anderen Punkt in dem riesigen Raum.
Und zwar auf die Stelle, wo Jared Rush auf einem blutroten, abgesteppten Ledersofa sitzt.
Er ist sogar noch faszinierender, als irgendein Foto abbilden könnte.
Die obersten beiden Knöpfe des schneeweißen Hemds, das er zu seinem dunklen Anzug trägt, sind aufgeknöpft, sodass man seinen gebräunten Hals sehen kann. Er sitzt zurückgelehnt auf dem schimmernden Ledersofa und hat einen Knöchel auf das Knie des anderen Beines gelegt. Mit seinen langgliedrigen Fingern hält er eine Zigarre, von der würziger Rauch aufsteigt.
Obwohl er in unsere Richtung schaut, reagiert er kaum auf unser Eintreten.
Keine Begrüßung, ja, er heuchelt noch nicht einmal Freundlichkeit.
»Hallo, Jared. Danke, dass Sie mich empfangen«, sagt Daniel ein bisschen zu fröhlich. Er tritt weiter vor und zieht mich an der Hand hinterher. »Das ist aber auch ein Teufelsspiel, das da unten abgeht. Es ist verdammt hart zu gehen, wenn mehr als eine Million in Jetons auf dem Tisch liegen und nur darauf warten, gewonnen zu werden.«
Sein nervöses Lachen wird mit einem langen Schweigen quittiert.
»Man hat mir gesagt, Sie hätten heute Abend etwas Pech gehabt.«
Der tiefe Bariton, in dem ein leichter Südstaatenakzent mitschwingt, stellt dies mit gelassener Stimme fest. Sein Haar ist lang, eine sandbraune Mähne, die bis über die breiten Schultern reicht und dem exquisiten Schnitt des Jacketts etwas Ungezähmtes gibt. Der Tag ist bereits weit fortgeschritten, und so liegt ein leichter Bartschatten auf dem kantigen Gesicht.
Auf Fotos strahlt Jared Rush immer etwas Wildes aus, als wäre er ein Mensch, der eher in einer rauen Berglandschaft oder in weiten, kargen Ebenen zu Hause ist als im Asphaltdschungel Manhattans mit all seinen Wolkenkratzern.
Wenn man ihm leibhaftig gegenübersteht, merkt man, dass er der Berg ist. Allein durch seine Gegenwart wirkt alles andere plötzlich viel kleiner.
Wie auch Daniel, der immer mehr in sich zusammenzufallen scheint. »Leider war mir das Glück plötzlich nicht mehr hold. Aber am Anfang des Abends lief es sehr gut, nicht wahr, Mel?«
Ich zucke zusammen, als er meinen Namen nennt. »Äh, ja.«
Ich glaube, bis zu diesem Moment habe ich mir erfolgreich eingeredet, ich wäre unsichtbar – zumindest für Jared Rush.
Jetzt spüre ich seinen Blick auf mir ruhen, als er mich mit seinen dunklen Augen förmlich durchbohrt. Er taxiert mich quer durch den ganzen Raum, und er scheint eine Stunde zu brauchen, um jeden einzelnen Zentimeter von mir zu mustern. Ich habe das Gefühl, als berührte mich eine Hand, eine unerlaubte Liebkosung seiner Augen, die meinen Atem beschleunigt und mich wünschen lässt, ich wäre draußen geblieben.
Vielleicht hat auch Daniel bemerkt, dass die Aufmerksamkeit seines Gegenübers ganz woanders ist. Besitzergreifend drückt er meine Hand fester und tritt einen Schritt vor, sodass ich zur Hälfte hinter seinem Rücken verschwinde.
»Kommen Sie näher, und setzen Sie sich«, sagt Rush weniger einladend denn auffordernd. Es klingt fast wie ein Befehl. »Es besteht kein Grund, dass Sie und Ihr hübsches Rendezvous den ganzen Abend rumstehen.«
»Ich bin nicht Daniels Rendezvous. Ich bin seine Freundin.«
Die Worte rutschen mir heraus, ehe ich sie zurückhalten kann.
Warum um Himmels willen fühle ich mich bemüßigt, ihm gegenüber etwas klarzustellen?
Wer ich bin, geht Jared Rush nichts an. Und auch nicht, in welcher Beziehung ich zu Daniel stehe. Aber instinktiv habe ich das Gefühl, es sei wichtig, hier eine Grenze zu ziehen, auch wenn ich mich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass dieser Mann Grenzen nicht nur missachtet, sondern sie auch überschreitet.
»Darf ich vorstellen … Melanie Laurent«, sagt Daniel, als wir uns dem Sofa nähern und uns in die Sessel vis-à-vis von Jared Rush setzen.
Jetzt, wo wir uns ihm direkt gegenüber befinden, scheint Rush es gar nicht mehr eilig zu haben, den Blick von mir abzuwenden. »Ms Laurent, es ist mir ein Vergnügen.«
Ich nicke nur, sage aber nichts und will nichts mehr, als dass diese Unterhaltung und der ganze Abend ein schnelles Ende nehmen.
Daniel räuspert sich. »Schauen Sie, Jared. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so laufen würde. Ich weiß nicht, ob Gibson es Ihnen bereits erklärt hat, aber …«
»Das hat er. Ich habe Sie heute Abend in mein Haus zu einem privaten Spiel mit meinen Freunden eingeladen. Sie haben ein paar schlechte Karten auf die Hand bekommen, ein Darlehen in nicht unbeträchtlicher Höhe durchgebracht, und jetzt sind Sie hier, um sich noch mehr Geld von mir zu leihen. Korrigieren Sie mich, wenn ich etwas vergessen habe.«
Daniel rutscht unruhig in seinem Sessel herum. »Ich stelle fest, dass das eine sehr unangenehme Situation ist.«
»Nicht für mich.« Rushs tiefe Stimme hat einen gleichmütigen, völlig ausdruckslosen Klang. »Für Sie mag es unangenehm sein und für Ihre Freundin ganz bestimmt auch.«
»Ich bitte doch nur um eine Chance, einen Teil meines Geldes zurückzugewinnen.«
»Und zwar mit noch mehr von meinem Geld.«
Rush beugt sich vor, um seine Zigarre in dem schweren Kristallaschenbecher auszudrücken, der vor ihm auf dem Couchtisch steht. Würzig duftender Rauch steigt aus dem Gefäß auf. Ein Glas mit Whiskey steht neben einer geöffneten Flasche eines teuren schottischen Single Malt. Er greift nach dem Glas und leert es auf einen Zug.
Er hat elegante Finger. Künstlerfinger, die zu großen, starken Händen gehören, welche zu mächtig aussehen, um einen Pinsel zu schwingen. Er ertappt mich dabei, dass ich seinen Bewegungen folge, als er das Glas wieder absetzt, und einen nervenaufreibenden Moment lang treffen sich unsere Blicke.
Ich schaue als Erste weg, und mir steigt eine unangenehme Hitze ins Gesicht.
»Ich neige nicht dazu, anderen zu trauen«, sagt er. »Am allerwenigsten, wenn es um mein Geld geht. Deshalb sieht man mich auch nie am Spieltisch sitzen. Ich richte gern Spiele im privaten Rahmen – und andere Zerstreuungen – für Freunde aus. Aber wir sind keine Freunde, Mr Hathaway. Bis vor ein paar Wochen waren Sie nur ein Name auf einer Visitenkarte.«
»Und jetzt arbeiten wir zusammen«, wirft Daniel ein. »Ich werde nichts tun, was unsere Beziehung oder das Projekt gefährdet.«
»Das ist beruhigend. Die Ehre mancher Menschen ist deutlich weniger wert als fünfundsiebzigtausend Dollar.« Rush greift nach dem Handy, das neben der Whiskeyflasche liegt. »Ich werde Gibson rufen. Nachdem Sie und er eine Überweisung für morgen früh autorisiert haben, um die derzeitigen Schulden zu begleichen, werde ich Ihnen weitere fünfundzwanzigtausend zur Verfügung stellen, damit Sie sich dem Spiel wieder anschließen können.«
»Äh.« Wieder räuspert sich Daniel, und ich kann seine wachsende Panik fast körperlich spüren. »Eine Überweisung ist etwas problematisch.«
»Problematisch? Entweder Sie haben’s oder nicht.«
Ich werfe Rush wieder einen schnellen Blick zu, als seine tiefe Stimme mein Inneres vibrieren lässt. Ich habe mich geirrt, als ich dachte, er würde nicht ins mörderische Manhattan passen. Gerade jetzt, wo sein schönes Gesicht völlig ausdruckslos ist, kann man die Gefahr, die dieser Mann ausstrahlt, deutlich erkennen.
»Ich, äh, ich muss finanziell ein bisschen umdisponieren, das ist alles«, weicht Daniel aus. »In ein paar Tagen kann ich Ihnen alles zurückzahlen.«
»In ein paar Tagen.« Es ist keine Frage, und man müsste schon taub sein, um nicht die Drohung zu hören, die in der ruhigen Antwort mitschwingt. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie heute Abend zum Spielen hergekommen sind und wussten, Sie könnten Ihre Verluste nicht decken?«
»Ein bisschen was hab ich.« Daniel hält die Hände zwischen seinen gespreizten Knien umklammert, als würde er beten. Ich hoffe inständig, dass er tatsächlich betet, denn ich habe keine Ahnung, wie er sonst aus dieser Sache rauskommen will. »Ich schwöre Ihnen, dass ich kreditwürdig bin, was die Summe, die ich Ihnen schulde, angeht.«
»Genauso wie Sie für den Schuldschein über neunzigtausend kreditwürdig sind, den Sie letztens in Las Vegas ausgestellt haben?«
»Was?« Es ist nicht Daniel, der ihm gerade förmlich ins Wort fällt, sondern ich. Schockiert und verwirrt sehe ich Daniel an. »Wovon redet er da? Stimmt das?«
Aber ich brauche nicht zu fragen. Die Wahrheit steht ihm ins Gesicht geschrieben.
Dass er noch nicht einmal versucht, es zu leugnen, lässt Übelkeit in mir aufsteigen. Bis vorhin hatte ich noch nicht einmal gewusst, dass er pokern kann. Und jetzt muss ich erfahren, dass er Spielschulden in Höhe von hundertfünfundsechzigtausend Dollar hat.
»Wie gesagt«, fährt Jared fort. »Die Männer unten sind Freunde. Ich kenne ihren Wert sowie ihre Fähigkeit, ihre Schulden zu bezahlen, und weiß, dass sie das auch tun. Sie dagegen waren ein Unbekannter. Ich lade niemanden ein, ohne als Erstes zu überprüfen, wie groß mein Risiko ist.«
Sosehr ich mich auch über Daniel ärgere, bedenke ich jetzt auch Jared Rush mit einem wütenden Blick. »Dann wussten Sie also, dass er ein Spielproblem hat, und trotzdem haben Sie ihn heute Abend eingeladen?«
»Er ist ein großer Junge, Ms Laurent. Es ist nicht mein Job, auf ihn aufzupassen. Das gilt übrigens für alle anderen auch.«
»Na, dann mal herzlichen Glückwunsch! Sie haben heute Abend auch gewürfelt, und jetzt sind Sie fünfundsiebzigtausend Dollar los.«
»Melanie, bitte.« Daniel greift sichtlich erschrocken nach meiner Hand. »Um Himmels willen, ich will nicht, dass du für mich kämpfst.«
»Sie ist loyal«, sagt Rush und zieht damit wieder meinen Blick auf sich. »Sie ist loyal und eine Kämpferin. Ich möchte wetten, Sie können das nicht abstellen, so wenig jemand es auch verdient.«
Ich starre ihn an und bin verblüfft, wie genau er mich einschätzt. Ich bin erst seit ein paar Minuten mit ihm in einem Raum und habe bereits das Gefühl, dass er versucht, mich zu sezieren, um alles über mich zu erfahren.
Durchdringt er auf diese Weise seine Modelle, die er für seine Gemälde auf die Leinwand bannt?
Ich entziehe mich seinem durchdringenden Blick und drehe den Kopf weg.
»Daniel, ich glaube, wir sollten jetzt gehen.«
Ich stehe auf, doch er bleibt sitzen.
»Er weiß, dass er nicht gehen kann, Ms Laurent. Denn wenn er es tut, verliert er das größte Projekt, das seine Firma seit mehr als einem Jahr an Land gezogen hat. Und was wird dann aus ihm? Kein Job. Keine Möglichkeit, seine Schulden bei mir und den Kredithaien zu begleichen, die ihm sicherlich bereits im Nacken sitzen. Daniel weiß, dass ihm nichts mehr bleibt, wenn er jetzt aus diesem Zimmer geht. Vielleicht verliert er sogar Sie.«
Ich verkneife mir eine empörte Erwiderung, denn tief im Innern weiß ich, dass Jared Rush recht hat. Daniel hat einen großen Fehler gemacht, als er heute Abend hergekommen ist. Ein Fehler, der sich mit dem summiert, was er in Las Vegas verloren hat.
Doch der weitaus größere Fehler wäre es zu denken, er könnte vor diesen Problemen davonlaufen.
»Also, was soll ich meinen Freunden unten erzählen?«, lässt Rush nicht locker. »Ich glaube nicht, dass diese Männer, die an der Spitze der größten Banken und Firmen der Stadt stehen, Schuldscheine von Ihnen annehmen werden. Und Ihre Partner in Vegas werden auch nicht mehr viel länger warten.«
Daniel stößt einen leisen Fluch aus. »Nein, werden sie nicht. Das weiß ich.«
»Ich habe die Mittel, beide Summen zu decken, aber meine Großzügigkeit ist nicht umsonst. Sie wird Sie was kosten.«
Daniels Kopf kommt mit einem Ruck hoch, und Hoffnung blitzt in seinen Augen auf. »Nennen Sie den Preis. Ich werde alles tun. Ich verzichte auf meine Provision bei dem Projekt. Ich trete meine Wohnung ab, mein Auto, alles, was Sie wollen.«
Jared Rush lehnt sich zurück, während er Daniels Flehen zuhört. Aber es ist unmöglich zu erkennen, was er denkt. Seine Augen liegen im Dunkeln, doch in der starren Haltung des großen Mannes spüre ich die Verärgerung, die er ausstrahlt.
»An all diesen Dingen bin ich nicht interessiert.« Seine tiefe Stimme zuckt wie das Knurren eines Tiers durch die Stille. »Ich kann nicht erkennen, dass Sie irgendetwas von Wert besitzen, was ich tatsächlich haben will, Mr Hathaway.«
Er beugt sich vor, sodass wieder Licht auf sein Gesicht fällt. Sein Blick richtet sich auf mich, und ich spüre die Aufmerksamkeit, die sich nun auf mich konzentriert, genau wie ich es fühlen würde, wenn er mich unerlaubterweise berührte. Mein ganzer Körper ist in Alarmbereitschaft.
»Andererseits«, fährt Jared Rush mit gedehnter Stimme fort, »stimmt das vielleicht nicht ganz.«
»An was denken Sie?«
In Daniels Stimme schwingt plötzlich wieder Hoffnung mit. Ich merke, wie sich seine Haltung ändert, wie ihn Erleichterung durchströmt und wie sehr er sich danach sehnt zu erfahren, was von ihm erwartet wird, um aus seiner prekären Situation herauszukommen.
Ich wünschte, ich könnte auch sagen, dass ich Hoffnung und Erleichterung verspüre.
Doch ich spüre nur Jared Rushs sengenden Blick, der nach wie vor auf mir ruht.
Er starrt mich weiter unverwandt – unverfroren – an, während Daniel gar nicht schnell genug nach dem Köder greifen kann, der vor ihm baumelt.
»Sagen Sie mir, was Sie wollen, Jared. Ich weiß, dass wir uns einigen werden.«
»Das hoffe ich.« Der glühende Blick aus dunkelbraunen Augen lässt nicht eine Sekunde von meinem Gesicht ab. »Letztendlich wird es von Ms Laurent abhängen.«
»Melanie?« Daniel dreht den Kopf in meine Richtung. »Was hat sie damit zu tun?«
»Ich will sie malen.«
Mir stockt der Atem. Ich habe nicht recht gewusst, was er wohl sagen würde, doch dies ist das Letzte, was mir in den Sinn gekommen wäre.
Ich will davonstürzen. Ich will, dass Daniel meine Hand packt und mit mir aus dem Zimmer rennt, aus dem Haus raus – weg von Jared Rush –, so schnell wir können.
Das ist es, was ich will, aber meine Füße sind wie festgefroren.
Und Daniel rührt sich ebenfalls nicht. »Was meinen Sie damit, Sie wollen sie malen?«
»Habe ich mich unklar ausgedrückt? Ich möchte, dass Ms Laurent für mich Modell sitzt … in meinem Atelier.«
Jared Rush will mich malen?
Bilder seiner berüchtigten Kunstwerke schießen mir durch den Kopf. Ich bin beileibe keine Expertin, wenn es um Kunst geht, aber ich habe genug Zeit in der Nähe von Manhattan verbracht, um zumindest ein paar seiner provokanten Akte zu sehen, die entweder in Galerien und Museen hängen oder Schlagzeilen bei exklusiven Auktionen machen.
Mir ist auch bewusst, dass es schon einige Zeit her ist, dass er etwas Neues geschaffen hat. Seither sind locker ein paar Jahre ins Land gegangen. Dass er ausgerechnet mich als sein nächstes Modell sieht, wäre lächerlich, hätte seine Miene nicht diesen außerordentlich ernsten Ausdruck.
»Ich bin kein Modell«, platze ich heraus. »Und ganz bestimmt keins von denen, die Sie immer malen.«
Er sieht mich mit einem schrägen Blick an; das volle Haar, das seine Schultern umspielt, streift dabei den schneeweißen Kragen. Die Andeutung eines Lächelns spielt um seine Mundwinkel. »Sie sind mit meinen Arbeiten vertraut?«
»Ich weiß genug.« Meine Antwort klingt spröde und missbilligend. Vielleicht ist das auch meine Meinung zu seinen Bildern, doch es ist eher mein mir plötzlich bis zum Halse schlagendes Herz, welches meine Worte so scharf klingen lässt.
Aber anscheinend bringt ihn das alles überhaupt nicht aus der Fassung. »Wenige der Frauen, die ich gemalt habe, waren professionelle Modelle. Die interessieren mich auch nicht.«
Das erklärt immer noch nicht, warum er an mir interessiert ist. Aber das ist er tatsächlich. Der glühende Blick, mit dem er mich unter gesenkten Lidern anschaut, lässt daran kaum einen Zweifel.
Ich frage mich, ob es so offensichtlich ist, dass sogar Daniel es jetzt spürt. Er räuspert sich. »Ich glaube nicht, dass mir die Richtung gefällt, welche unser Gespräch gerade nimmt. Melanie ist nicht Bestandteil dieser Angelegenheit, Jared.«
»Einhundertfünfundsechzigtausend Dollar«, wiederholt Rush nur gleichmütig. »Sie kann die ganze Summe auf einen Streich begleichen. Ich werde mich persönlich um Ihre Spielschulden kümmern und sowohl die von heute Abend als auch die, die Sie in Las Vegas gemacht haben, ablösen. Im Gegenzug bitte ich um ein paar Stunden Zeit, die mir Ms Laurent für ein Gemälde sitzt.«
»Nackt«, gebe ich zu bedenken, und allein das Wort laut auszusprechen gibt mir das Gefühl, als hätte ich bereits keine Kleidung mehr an. Ein Schauer läuft mir über den Rücken – kein kalter, sondern ein warmer. Ein viel zu warmer. Hitze steigt in mir auf und lässt mich von Kopf bis Fuß rot werden. Ich verschränke die Arme vor der Brust. Es ist der einzige Schild, den ich habe, um die Hitze abzuwehren, die dieser Mann in mir entzündet.
Man merkt Daniel an, dass ihn die Sache mit Unbehagen erfüllt. »Ich kenne einige Ihrer Arbeiten, Jared. Über was für eine Art von Gemälde sprechen wir in Bezug auf Melanie?«
»Über die einzige Art, die ich gerne male.« Seine dunklen Augen lassen mich nicht los, während er spricht. »Ich male reale Dinge. Dinge, die ich schön finde … provokant … unretouchiert. Alles andere betrachte ich als Verschwendung meiner Zeit und – ehrlich gesagt – auch meines Talents.«
Himmel, welch eine Arroganz! Ja, er hat sich ein Gutteil daran verdient. Seine Gabe und sein kritischer Ansatz als Künstler haben ihn zu einem extrem reichen Mann gemacht. Seine Macht und sein Ruhm in dieser Stadt stehen außer Frage. Aber das Gleiche gilt für seinen Ruf, ein sittlich vollkommen verdorbener Mensch zu sein. Ich weiß nicht recht, woran ich mich mehr stoße.
Jared Rush trägt sein Selbstvertrauen mit der gleichen Selbstverständlichkeit zur Schau wie seinen teuren Anzug und das offen stehende Hemd. Bestimmt ist er daran gewöhnt, dass Frauen ständig um seine Aufmerksamkeit buhlen, weshalb ich mich aufs Neue frage, warum er ausgerechnet mich malen möchte. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich es überhaupt wissen will. Ich habe jedoch ganz sicher nicht die Absicht, es herauszufinden.
Ich werfe einen Blick in Daniels Richtung und rechne eigentlich damit, dass er diese ganze lächerliche Unterhaltung beendet. Doch stattdessen rührt er sich nicht, und an seiner Wange zuckt ein Nerv.
Ich bekomme einen Schreck, und mein Herz fängt an zu rasen. Er kann doch unmöglich meinen, dass das ein ernst zu nehmender Vorschlag ist, oder? Aber Daniel scheint offensichtlich seine Zunge verschluckt zu haben, was nicht gerade zu meiner Beruhigung beiträgt.
Jared Rush dagegen ist die Ruhe in Person – eine Naturgewalt, selbst wenn er einfach nur auf dem großen Chesterfield-Sofa sitzt. Aber natürlich ist er nicht ruhig – nicht einmal ansatzweise. Er ist wie ein Tiger kurz vor dem Absprung. Er ist das wilde Tier, das ich in dem gleichen Moment gespürt habe, als ich den Raum mit ihm darin betrat.
Am wissenden Ausdruck, der auf seinem Gesicht liegt, erkenne ich, dass er sich all meiner Reaktionen auf ihn bewusst ist. Da man mir immer sofort alles ansieht, wird er auch meine Empörung über seinen dreisten Vorschlag bemerkt haben.
Herausfordernd hebe ich das Kinn. »Sie haben ja eine sehr hohe Meinung von Ihrer Arbeit, Mr Rush. Aber wenn Sie mich fragen, zeigen Ihre Werke sadistische Züge, ganz abgesehen davon, dass Sie eine verstörende Vorstellung von Schönheit haben.«
»Mel, nicht …«, flüstert Daniel mit angespannter, erstickter Stimme.
Er hat Angst vor Jared Rush. Nach dem heutigen Abend hat er auch guten Grund dazu.
Fünfundsiebzigtausend Gründe, um genau zu sein. Ganz abgesehen von dem anderen Geld, das er jemandem in Las Vegas schuldet.
Als ich wieder an die riesige Summe denke, wird mir ganz schlecht. Ich komme aus ärmlichen Verhältnissen und musste mich – seit meinem dreizehnten Lebensjahr ältere von zwei Töchtern einer alleinerziehenden und hart arbeitenden Mutter – immer abstrampeln. Ich weiß nicht, wie das ist, so viel Geld beim Spielen zu verlieren. Bis heute Abend hätte ich nie gedacht, dass Daniel so leichtsinnig und dumm sein könnte. Ich weiß, wie viel er arbeitet, wie viele Stunden täglich er seinem Job widmet. Was zum Teufel hat er sich dabei gedacht, Spielschulden anzuhäufen, die sich insgesamt auf fast die Höhe meines Studiendarlehens belaufen?
In der ganzen Zeit, die wir uns kennen, bin ich noch nie so wütend auf ihn gewesen. Doch so ärgerlich ich auch bin, habe ich auch Angst um ihn, denn ich hab ihn gern.
Leute, die ich gernhabe, lasse ich nicht im Stich, und so gern ich das jetzt auch täte, werde ich doch heute Abend nicht damit anfangen.
Ich möchte zwar nicht alles noch schlimmer für Daniel machen, aber ich kann mich auch nicht hinstellen und so tun, als würde mich Rushs Vorschlag nicht bestürzen. Und ich werde den Teufel tun, das vor diesem arroganten Mann zu verbergen.
Genauso wenig wie ich mich dazu herablassen werde, für ihn Modell zu sitzen.
»Erzählen Sie mir, was Sie sonst noch über meine Kunst denken, Ms Laurent.« Er beugt sich vor und verschränkt die Finger beider Hände zwischen den weit gespreizten Knien. »Es interessiert mich, Ihre ganze, unverblümte Meinung zu hören. Man merkt deutlich, dass Ihnen nichts lieber wäre.«
Daniel holt laut zischend Luft, und das sollte mir eigentlich Warnung genug sein, meine Zunge im Zaum zu halten. Das würde es wahrscheinlich auch, wäre da nicht das herausfordernde Funkeln in Jared Rushs Augen.
Ich zwinge mich dazu, ihm, ohne zu zwinkern, fest ins Gesicht zu sehen. »Ihre Gemälde sind Meisterwerke. Das kann keiner bestreiten. Aber sie sind auch grausam. Ich sehe überhaupt nichts Schönes in ihnen.«
»Ach ja?«