2028 - Liebe, Macht und Bürgergeld - Hubert Anders - E-Book

2028 - Liebe, Macht und Bürgergeld E-Book

Hubert Anders

4,8

Beschreibung

Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst! Wir schreiben das Jahr 2028, Österreich hat vor fünf Jahren als erster EU-Staat das Bürgergeld eingeführt. Arbeitslosigkeit, Rezession und Hyperinflation beuteln das Land. Selbstfahrende Autos, Drohnen, Infotainment, virtuelle Realität und allgegenwärtige Überwachung prägen den Alltag. Begleiten Sie die Helden der Geschichte zwischen Wien und Waldviertel durch den Sommer 2028: Victor, der seine Arbeit verliert und das Leben vom Bürgergeld in allen Facetten kennenlernt; Fiona, die den Verlockungen der Medieninszenierung "Politik" nicht widerstehen kann; und die Ex-Städterin Carina, die eigentlich nur ihre Familie im idyllischen Waldviertel durchbringen will. Sie lernen außerdem einen schrulligen Rentner, einen französischen Diplomaten und seine entzückende Gattin, einen ziemlich merkwürdigen Staatspolizisten und viele andere Figuren kennen, die sich mit den immer schneller werdenden technologischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen ihrer Zeit auf ihre ganz persönliche Weise auseinandersetzen. Einerseits ein anekdotisches Kaleidoskop von miteinander verwobenen Geschichten über das ganz alltägliche Leben in nicht allzu ferner Zukunft; andererseits eine dystopische Parabel über die Lebenswirklichkeit einer desillusionierten, stagnierenden und perspektivlosen Gesellschaft im Europa des 21. Jahrhunderts. Das Buch wird durch einen Anhang ergänzt, in dem der Autor die - durchaus mit Absicht nicht ideal konstruierten - volkswirtschaftlichen und politischen Annahmen vorstellt, die der Handlung zugrunde liegen. Damit stellt sich das Buch bei allem Anspruch, der Unterhaltung des Lesers zu dienen, auch wissenschaftlicher Kritik, und sei es nur der, dass man es "eben nicht so machen dürfe, wie es hier vorgestellt wird".

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Inhalt

Widmung

Danksagung

Vorwort

Prolog

Eines langen Tages Reise

Eine Vertagung

Eine Begegnung

Eine Herausforderung

Ein Verdächtiger

Erkenntnisse

Ein Geständnis

Ein Bescheid

Eine Versuchung

Ein Wochentag

Im Zentrum der Macht

Ein Wochenende

Eine Entscheidung

Eine Chance

Ein Treuebruch

Wendungen

Ein Mittäter

Ein Sieg

Ein Abschied

Eine Abstimmung

In die Nacht

Epilog

Personenverzeichnis

Personen nach Vornamen

Institutionen, Medien alphabetisch

Topographische Bezeichnungen

Austriaka

Anhang: Theoretische Grundlagen und Annahmen

Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE, Bürgergeld)

Entwicklung und Verteilung der Kaufkraft

Reale Dystopie

Warnhinweise

Impressum

Widmung

Dieses Buch ist dem Vollender der2. Österreichischen Republik,

Dr. Bruno Kreisky

in ehrendem Andenken gewidmet.

Danksagung

Danke an Clara, Erik, Erika, Peter, Sabine, Thomas und - nicht zuletzt - Harald für die wertvollen Ideen und Anregungen, die das Buch zu dem gemacht haben, was es ist.

Nur bei dem „Fräulein, das die Schreibarbeit erledigte”, kann ich mich nicht bedanken. Es gab kein Fräulein, ich musste selber tippen.

Vorwort

Nein, Sie müssen es eh nicht lesen. Einmal umblättern, dann geht’s los.

Wenn Sie gern Warnungen und Hinweise zur sicheren Anwendung mögen, wie auf der Zahnpasta: Ganz hinten, letzte Seite. Wenn Sie das E-Book haben, können Sie auch hier klicken.

Und, bevor Sie fragen: Ja, der Titel spielt auf Orwell an.

Aber jetzt: Viel Vergnügen!

Hubert Anders, im August 2017

Prolog

„Wir Alle“, 29.11.2021

Regierung einig: Bürgergeld ist fix

Bild: Kanzler Kurt Bast und Vizekanzlerin Melanie Spar-Weinlaub, vor einer Österreich-Fahne.

Heute Vormittag erklärt die Regierung: Das Bürgergeld für alle ist fix. Ab 1.1.2023 erhält jeder erwachsene Österreicher 1000 Euro im Monat. Kinder bis 6 Jahre erhalten 200 Euro, Jugendliche bis 18 Jahre 500 Euro. Bestehende Löhne und Pensionen werden nur um 500 Euro gekürzt. Damit erhält jeder Arbeitnehmer um 500 Euro mehr als derzeit. Besonders Familien werden deutlich besser gestellt.

Kanzler Bast nennt die Maßnahme „einen mutigen Schritt, um alle sozialen Probleme mit einem Schlag zu lösen.“ Vizekanzlerin Spar-Weinlaub lobt, dass dabei die Wirtschaft nicht zu viel belastet wird. Auch das Defizit der Pensionsversicherung ist damit dauerhaft gelöst. Die Kosten für das Bürgergeld (BGE) werden durch Wegfall anderer Leistungen und Einsparungen bei den Beamten eingebracht.

„Die soziale Absicherung für alle ist damit fair und enkel-fit“, meint Spar-Weinlaub. Gleichzeitig werden Anreize für alle geschaffen, weiter zu arbeiten. Das zentrale Wahlversprechen des CFB und des AÖ ist damit eingelöst, betonen Kanzler und Vizekanzlerin in ihrer gemeinsamen Erklärung. (Red.)

Aus dem Impressum von „Wir Alle“:

Es ist uns wichtig, dass „Wir Alle“ uns verstehen. Wir haben uns daher Regeln gegeben, wie wir für Sie schreiben wollen. Wenn Sie Probleme haben, einen Artikel zu verstehen, schreiben Sie doch an [email protected]. „Wir Alle“ lernen gerne dazu!

Pulkau im Weinviertel, 19.3.2022, 16:30

„Überlegen Sie es sich noch, aber zögern Sie nicht zu lange.“ Stefan und Carina Sperl-Krysa standen mit dem Makler in der Tür des alten, etwas heruntergekommenen Wohnhauses eines Gehöfts nahe Pulkau im Weinviertel. „Die Nachfrage steigt, ich kann Ihnen zu diesem Preis maximal noch eine Woche im Wort bleiben.“ Der Makler war schon lange im Geschäft. Er blickte Carina direkt an, als er sagte „Subsistenzwirtschaft und Selbstversorgung sind in diesen unsicheren Zeiten wieder stark im Kommen. Niemand weiß, wie sich das Bürgergeld auf die Jobsicherheit auswirken wird. Wer dann rechtzeitig vorgesorgt hat …“

Zwar hielt er das für ein wenig weit hergeholt, aber das war die Quintessenz dessen, was Carina Sperl die letzten drei Stunden ständig wiederholt hatte, während er dem Ehepaar das Anwesen in allen Einzelheiten gezeigt hatte. Und der Weg zum Abschluss führte über sie. Stefan Sperl-Krysa war Universitätsbeamter, so viel hatte er herausgefunden, und weder am Leben auf dem Land noch an Landwirtschaft interessiert. Was der Makler gut verstehen konnte, aber sein Job war nun mal, diesen verlotterten Hof an den Mann zu bringen, und die Bobos aus der Großstadt schienen momentan kein anderes Thema zu haben, als sich gegen welche-auch-immer drohenden Gefahren des Bürgergeldes wappnen zu müssen und ihre Kolonien aus den Gründerzeitvierteln der Großstadt in das angrenzende rurale Umland zu verlegen.

„Ich muss jetzt leider zum nächsten Termin“, verabschiedete er sich verbindlich, „es würde mich freuen, wenn Sie sich bald melden.“ Mit diesen Worten drückte er Carina noch einmal seine Karte in die Hand und fuhr nach Hause. Der Tag war schon lang, aber die Sache schien ihm nicht aussichtslos. Die Nachfrage aus der Großstadt stieg tatsächlich, wenngleich nicht so dramatisch, wie er jetzt übertrieben hatte. Viele gelangten dann doch rechtzeitig zu der Einsicht, dass sie das Bewirtschaften eines Hochbeetes im Wiener Augarten noch nicht zum Landwirt qualifizierte und sie ihr Glück doch lieber weiter in ihren erlernten, meist akademischen Berufen versuchen wollten. Man würde sehen, jedenfalls machte ihm diese Frau einen entschlossenen Eindruck, sie würde ihren Mann schon überzeugen.

Wien, 20.3.2022, 9:30

„Ich verstehe deine Ängste gut, Stefan, aber niemand zwingt dich doch, sofort Landwirt zu werden. Du hast einen Job hier in Wien, und jedenfalls können wir den Hof als Wochenend-Domizil nutzen. Das wird auch den Kindern gut tun, da lernen sie auch mal das Leben außerhalb der Großstadt kennen.“ Sie lag noch etwas schneller atmend in seinen Armen, auf seiner leicht behaarten Brust standen Schweißperlen. „Harry ist bald vier, es wird wieder Zeit“, dachte sie bei sich. Heute standen die Chancen nicht schlecht … „Zu diesem Preis können wir bald nicht mehr kaufen, derzeit reichen unsere Ersparnisse noch aus“, sagte sie und strich ihm dabei sachte über die Wange. – „Vielleicht hast du ja Recht.“ Stefan seufzte resignierend, er war alles Andere als in der Stimmung für eine Auseinandersetzung. „Ist das ein Ja?“ fragte sie neckisch und berührte ihn genau an jener speziellen Stelle, die sie wohl besser kannte als er selbst. „Ein guter Tag heute, ich hab ihn so gut wie herum, und was unser drittes Kind betrifft …“ – sie lächelte in sich hinein, als sie den Druck auf jene spezielle Stelle noch ein wenig verstärkte, sein Erschaudern zufrieden bemerkte und dabei das Kribbeln ihres Körpers genoss.

Am Mittwoch darauf wurde der Kaufvertrag unterschrieben. Ein paar Wochen später nahm sie bereits mit einem kleinen Verein namens „Wald- und Weinviertler Tauschinitiative“ Kontakt auf, in dem ein paar Dutzend Alternative unter einem puritanisch anmutenden Gleichheits-Dogma Dienstleistungen auf Tauschbasis aushandelten. Dank dem ihr eigenen Organisationstalent und einer gewissen Geschicklichkeit, kleine Pannen an Heim-PCs, Druckern und Internet-Routern zu beheben, hatte sie bald ausreichend Guthaben angesammelt. Schon kurz darauf herrschte buntes Treiben auf dem Hof, es wurde gebohrt, gehämmert, verputzt und gestrichen. Sie hoffte, schon den Sommer mit der Familie im Haus verbringen zu können.

Ende Juni teilte sie Stefan freudestrahlend mit, dass sie ihr drittes Kind erwarteten.

„Wir Alle“, 24.5.2022

BREXIT fix. Aus für Schengen und Arbeits-Migration

Bild: Freundlich lächelnder Grenzbeamter in österreichischer Uniform vor geschlossenem Grenzbalken, rot-weiß-rote Tafel „Republik Österreich“ auf dem Schranken, im Hintergrund verschwommen der Union Jack an einem Mast

Brüssel: Nach jahrelangem Tauziehen ist der BREXIT jetzt beschlossen. Die EU-Kommission teilt heute mit, dass England mit 1.7.2022 nicht mehr Teil der Europäischen Union ist. Der Austritt hat auch weit reichende Folgen für die anderen Staaten. Ab 1.1.2023 werden an allen inneren Grenzen wieder Pass-Kontrollen eingeführt. Länder sollen aber die Möglichkeit haben, unter einander einfachen Grenzübertritt zu vereinbaren.

Weiters wird das Arbeiten in anderen Ländern erschwert. Jedes Land kann wieder selbst entscheiden, für wen es seine Grenzen öffnet. Nur wer bereits länger als drei Jahre in einem anderen Land arbeitet, darf nicht mehr nach Hause geschickt werden. Der zollfreie Warenverkehr ist von dieser Regelung nicht betroffen. Auch zollfreier Handel mit England wird weiter möglich sein.

Kanzler Bast begrüßt die neuen Regelungen. Die neue Grenzabfertigung soll Österreichs Exporte in die wichtigsten Nachbarländer nicht behindern. Eine Arbeitsgruppe wird gemeinsam mit Deutschland und Italien neue Regeln festlegen. Auch die Pläne für einen Brenner-Basistunnel sollen wieder aus der Schublade geholt werden.

„Damit ist auch das laufende EU-Verfahren gegen Österreich wegen des Bürgergeldes vom Tisch“, gibt sich Bast zuversichtlich. „Es war immer klar: Wer legal hier arbeitet, soll auch Bürgergeld bekommen. Es kann aber für Menschen kein Bleiberecht geben, die hier nur vom Staat leben wollen.“

Österreichern empfiehlt er, künftig verstärkt Urlaub im eigenen Land zu machen. „Dann gibt es keinen Stau an der Grenze, und die Umwelt profitiert auch davon“, appelliert Bast an uns Österreicher. „Wir Alle“ startet dazu bereits ab nächster Woche die große Serie „Österreich ist schön“. Wir zeigen Ihnen die schönsten Regionen unserer Heimat. Es gibt Schnäppchen für unsere Leser und ein großes Gewinnspiel.

Wien-Donaustadt, 24.5.2022, 14:30

„Sehr gut“, brummte Franz Bartosch, der im Wohnzimmer seiner im 14. Stock gelegenen Gemeindewohnung die Zeitung auf dem riesigen TV-Schirm durchzappte, der wie ein Hausaltar auf einem niedrigen Phono-Möbel gegenüber der Sitzecke thronte. Zwei Knöpfe seines Uniformhemdes sprangen über seinem Bierbauch auf, als sich der kleine, rundliche Mann – er mochte Ende 30 sein – auf das Sofa setzte. Er schob sich sein schweißnasses schwarzes Haar aus der Stirn. „Wir lassen ja auch net jeden in unser Wohnzimmer, gell, Schatzl?“

Mit einem lauten Plopp öffnete er die Bierdose, die er sich auf dem Weg ins Wohnzimmer aus dem Kühlschrank mitgebracht hatte, und fluchte, dass der Schaum wieder einmal überlief und sich über den Fliesentisch ergoss. Er kümmerte sich nicht weiter darum und nahm einen tiefen Schluck. Nach zehn Stunden Dienst seit dem Morgengrauen im Führerstand hatte er sich das verdient, dachte er, während er gelangweilt auf einen Sportkanal umschaltete. Seine Freundin Sandra antwortete nicht, erschien nur kurz in der Küchentür und deutete auf ihr Handy. „Lass ihn schön grüßen, den alten Kommunisten“, sagte er halblaut in der zutreffenden Annahme, dass sie wieder einmal mit ihrem Bruder Victor telefonierte. Er bemerkte schon nicht mehr, dass sie ihm mit dem Finger auf dem Mund deutete, leise zu sein, und verfolgte das Fußballspiel der englischen Liga auf dem Bildschirm. „Kicken können‘s, die Briten“, sagte er halblaut und mehr zu sich selbst. „Und dass die aus dem Irrenhaus EU austreten, ist sicher net verkehrt. Die ham sich eh immer schon mehr dafür interessiert, was die Amis sagen.“ Er nahm noch einen großen Schluck aus der Dose, lehnte sich behaglich am Sofa zurück und war bald darauf eingeschlafen.

Sandra Csalodas kam ins Wohnzimmer, als sie das Telefonat beendet hatte. Obwohl sie schon auf die Dreißig zuging, wirkte die kleine zarte Frau in ihrem leichten Hauskleid immer noch eher wie eine Schülerin. Ihr blondes Haar war straff nach hinten frisiert und mit einem schlichten Haargummi zu einem Pferdeschwanz zusammengehalten, was ihre mädchenhafte Erscheinung noch unterstrich. Sie schaltete den Fernseher aus, holte ein Wischtuch aus der Küche und beseitigte die Bierpfütze, die immer noch auf dem Tisch stand. Dann setzte sie sich hin, betrachtete ihren schlafenden Lebensgefährten und dachte zum hundertsten Mal darüber nach, warum sie immer noch mit ihm zusammen war. Sie seufzte, als sie zu dem gleichen Schluss kam wie jedes Mal davor: Obwohl sie in der Schule nicht schlecht gewesen war, hatte sie mit 16, auf dem Höhepunkt ihrer Pubertät, das Gymnasium abgebrochen und sich seitdem zum Leidwesen ihrer Mutter mit Jobben in Burger-Restaurants, dem Verkauf von Selbstbaumöbeln und einigem Anderen durchs Leben geschlagen. Irgendwann war sie es leid gewesen, ihrem Bruder in der geräumigen Wohnung in Wien-Neubau den Haushalt zu führen, und war mangels Geld und Energie, sich ein eigenes Leben aufzubauen, zum nächstbesten Mann gezogen, der sich für sie halbwegs ernsthaft interessierte. Drei Jahre war das jetzt her, in denen sie sehr bald erfahren musste, dass das Leben bei ihm nicht wesentlich anders war als das zuvor.

Außer Fußball hatte Franz keine erkennbaren Interessen. Ansonsten war er vollends damit zufrieden, im Schichtdienst 35 Meter lange Straßenbahngarnituren entlang der immer gleichen Strecken zu bewegen. Sandra nahm ihr Smartphone zur Hand und besuchte nicht zum ersten Mal die Seiten einer Abendschule. „Gleich im Herbst“, dachte sie, bevor sie das Gerät wieder zur Seite legte. „Wenn dann das Bürgergeld kommt, geht das sicher leichter.“ In einer Stunde begann ihre Abendschicht im nahe gelegenen Fast Food Laden, es würde eine lange Nacht werden. Widerwillig stand sie auf, um sich umzuziehen und für den Dienst fertig zu machen.

„Der Tellerrand“, 14.3.2026

Schwere Rezession in Österreich

Wien (Red.): Das Wirtschaftsforschungsinstitut (WFI) veröffentlichte gestern seinen Quartalsbericht über die Wirtschaftsleistung Österreichs. Die Wirtschaft schrumpft bereits das dritte Quartal in Folge, die Prognosen sind düster. Die Nachfrage nach dauerhaften Konsumgütern ist um nahezu ein Viertel eingebrochen. Am schwersten ist die Automobilbranche betroffen, die in Österreich in den letzten beiden Jahren einen Umsatzrückgang von nahezu 50 Prozent hinnehmen musste. Ursache ist neben einer immer restriktiveren Verkehrspolitik und der breiten Durchsetzung von Drive-on-Demand-Modellen vor allem der überschwemmte Markt für Gebrauchtfahrzeuge.

Zuletzt bezogen nach Schätzungen des WFI bereits mehr als 20 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung ausschließlich Bürgergeld. Da seit der Einführung des Bürgergeldes und der Schließung des AMS keine Arbeitslosenstatistik mehr vorliegt, sind diese Werte allerdings nur bedingt mit den bisher bekannten Arbeitslosenzahlen zu vergleichen. Unverändert Sorge bereitet auch die hohe Inflation. Experten führen diese auf die durch das Bürgergeld stark aufgeblähte Geldmenge bei gleichzeitig schrumpfender Realwirtschaft zurück. Noch für das erste Halbjahr wird ein weiteres Mahnschreiben aus Brüssel erwartet, in dem wohl deutlicher als zuletzt der Verbleib Österreichs in der Euro-Zone in Frage gestellt werden wird.

In einer ersten Reaktion forderte Stefan Stein (SED) neuerlich eine Abkehr vom offenkundig gescheiterten Experiment „Bürgergeld“, eine Rückkehr zu bedarfsorientierten Sicherungssystemen und eine groß angelegte Beschäftigungsinitiative. Angesichts der tristen Lage auf dem Arbeitsmarkt sei die Forderung des Finanzministers, einfach beim Bürgergeld nachzuschärfen und die Menschen „aus der sozialen Hängematte zu holen“, kurzsichtig und zynisch. Im Übrigen habe das Bürgergeld durch die galoppierende Inflation seit seiner Einführung bereits ein Drittel seines Wertes verloren. Er bot der Regierung neuerlich einen nationalen Schulterschluss an, um jenseits der ideologischen Barrieren rasch für nachhaltige Verbesserungen für die krisengebeutelte Bevölkerung zu sorgen. „Es gilt jetzt, Gräben zuzuschütten und Probleme anzupacken. Die Zeit für Experimente ist vorbei“, so Stein.

Horn, 10:30

Martha Csalodas legte die Zeitung zur Seite und nahm einen großen Schluck von ihrem mittlerweile nur mehr lauwarmen Sojamilch-Latte. Neben „Wir Alle“ war „Der Tellerrand“, in dem sie gerade geschmökert hatte, nach dem großen Zeitungssterben das einzig verbliebene Blatt, das noch täglich in einer gedruckten Ausgabe erschien. Auch wenn sie dessen redaktionelle Schlagseite nicht teilte: „Der Tellerrand“ war wenigstens noch nicht in dem abgefasst, was man neuerdings „leichte Sprache“ nannte und ihr von einem Leben mit Büchern geprägtes Sprachgefühl mit Füßen trat. Wieso man es „barrierefrei“ nannte, mittels bewusst reduzierter Grammatik und Wortwahl Denkbarrieren zu errichten, war ihr nicht recht klar. Hatte nicht bereits George Orwell darüber geschrieben?

Von ihrem Ecktisch aus ließ sie den Blick in dem großen neuen Cafe in der Altstadt Horns in die Runde schweifen, das vor einiger Zeit im ehemaligen Kassensaal der einst stolzen regionalen Kreissparkasse eröffnet hatte. Seit dem Tod ihres Mannes vor zehn Jahren lebte die Mindestrentnerin in einem bescheidenen Haus in Mold nahe der Bezirkshauptstadt. Nach der Einführung des Bürgergeldes war ihre Pension um fast ein Drittel höher als zuvor, was ihr den gelegentlichen Luxus eines Frühstücks im neu belebten Stadtzentrum ermöglichte. Zumindest, wenn man wie sie keine großen sonstigen Ansprüche an das Leben stellte und beim Einkaufen weiterhin genau auf die Preise achtete.

Viel hatte sich hier in den letzten Jahren verändert, viele junge Familien waren aus der Stadt hierher gezogen und gaben der Gegend ein ganz neues Flair. Der Platz zwischen den Tischen war an diesem Mittwochmorgen verstellt mit Kinderwägen, die größeren Kinder liefen unbeschwert im Lokal herum. Waren es anfangs vorwiegend die Mütter gewesen, die hier ihre Vormittage verbrachten, war das Bild nun zunehmend auch von Vätern geprägt. Sie nutzten hier die Möglichkeit, aus der Abgelegenheit der revitalisierten Höfe, Winzerhäuser und ehemaligen Zweitwohnsitze ein wenig auszubrechen, in ihrer neuen Nachbarschaft Kontakte zu knüpfen und dafür zu sorgen, dass das Cafe neben grünlichen Gemüsesäften und parfümiertem Wasser mit bunten Steinen im Krug auch weiterhin Coca-Cola und das Bier einer lokalen Brauerei vom Fass ausschenkte. Für den Sojamilch-Latte war Martha allerdings dankbar, seit ihr Hausarzt ihr eröffnet hatte, dass Laktose-Intoleranz nicht nur ein Life-Style-Accessoire von Mitt-Dreißigerinnen war, sondern auch die Ursache ihrer chronischen nächtlichen Beschwerden, was sie mittlerweile aus eigener Erfahrung bestätigen konnte.

In einem Nebenzimmer des Cafes schien eine geschlossene Veranstaltung stattzufinden. „WWTI – Vorstandssitzung, bitte nicht stören“, sagte das Pappschild an der geschlossenen Tür, nur der Kellner eilte von Zeit zu Zeit mit Tabletts voll frischen Getränken in den Raum. Es schien hitzig herzugehen, zeitweise konnte man von Marthas Platz in der Nähe des Einganges lautstarke Stimmen hören. Immer wieder fiel der Name Carina. Hatte sie den nicht unlängst auf einem Flugblatt in ihrem Postkasten gelesen? – Egal, sie hatte es wohl rasch weggeworfen. Das war ihrer Meinung nach mehr etwas für die Jungen, die neu Zugezogenen.

„Wo wird das alles noch hinführen“, dachte sie bei sich, Marthas Gedanken wandten sich ihrem Sohn Victor zu, der sich in der Großstadt mehr schlecht als recht durchschlug. Zum Glück war es nach dem Tod des Vaters gelungen, die billige Friedenszins-Wohnung in Wien-Neubau auf ihn zu überschreiben, sodass er wenigstens eine fixe Bleibe hatte. Seit ihrem letzten Besuch bei Victor verspürte sie keinerlei Lust mehr nach weiteren Reisen in die Stadt. Ihr kam vor, dass die Straßen, Plätze und Parks auch unter Tags so voll von Menschen waren wie nie zuvor, und bei der Rückkehr von ihrem Ausflug in die Innenstadt hatte sie über eine Stunde an der U-Bahn-Station warten müssen. Zum Glück funktionierte die uralte Limousine noch, die ihr Mann in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts gekauft hatte – die meiste Zeit überließ sie Victor den Wagen, der sie dafür regelmäßig besuchen kam und ihr gelegentlich auch schwerere Einkäufe erledigte.

Sie seufzte – es gab wenig, was sie sonst für ihn tun konnte. Schwer stand sie auf, zahlte am Ausgang und bahnte sich ihren Weg zur Bushaltestelle am anderen Ende des Platzes, durch die achtlos mitten in der Fußgängerzone abgestellten Fahrräder, E-Bikes, Scooter und Elektrowägelchen, mit denen die meisten Gäste hier her gekommen waren. „Begegnungszone“ nannte man das neuerdings, alles durfte hier jetzt wieder fahren, solange es keinen Verbrennungsmotor hatte. Sie musste sich beeilen, wollte sie noch vor dem späten Nachmittag wieder nach Hause kommen. Beinahe wäre sie über eines der zahllosen Kabel gestolpert, die auf dem Pflaster kreuz und quer zu den Ladesäulen gespannt waren.

Einem Fahrrad, das ihren Weg laut klingelnd kreuzte, konnte sie gerade noch ausweichen. Kopfschüttelnd erreichte sie den Bus und setzte sich schwer atmend auf einen der freien Sitzplätze. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie die Zeitung, die sie zu Hause hätte zu Ende lesen wollen, im Cafe vergessen hatte. Sie seufzte wieder; sie hätte das saugfähige Zeitungspapier auch im Haushalt noch gut brauchen können.

Eines langen Tages Reise

Wien-Döbling, Redaktionsgebäude von „Wir Alle“, 31.3.2028, 10:45

Mit einem leisen „Klack“ schloss sich zum letzten Mal die Türe des Redaktionsgebäudes hinter Victor Csalodas. Er hatte noch einmal die Runde bei den Kollegen gemacht, zahlreiche „mach’s gut“, „meld dich einmal“ und „wirst sicher bald was finden“ abgeholt, auch dem sich verlegen windenden Chef der Graphik- und Layoutabteilung seinen Abschied nicht erspart („Du weißt ja, die Umstände, aber wenn sich etwas ergibt … ich habe ja deine Telefonnummer“), Dienstausweis und Zutrittskarte in der Portierloge abgegeben („Was is das für eine Zeit? – Mach‘s gut, Bua, mit‘n Bürgergeld kommst amal a Weile durch“) und stand jetzt auf dem großen freien Platz vor dem Gebäude. Er atmete tief durch. Die noch frühlinghaft schwache Sonne wärmte ihn nur wenig, er zippte seine Jacke zu und machte sich ohne Eile auf den Fußweg zur etwas entfernt gelegenen Station der U-Bahn.

Selbst hier heraußen, weder eine typische Wohngegend noch mit sonstigen Attraktionen gesegnet, der Gehweg eingekeilt zwischen Schnellstraße und Donaukanal, fielen ihm die vielen Menschen auf, die um diese Tageszeit unterwegs waren. Scheinbar ziellos, bald schlendernd, bald innehaltend, manche mit starrem Blick in das Wasser des Kanals, manche wieder mit einem plötzlichen Ruck, als folgten sie einem imaginären Ruf, rasch voraneilend, nur um nach vielleicht fünfzig oder hundert Metern wieder innezuhalten. Die Choreographie ihrer Bewegung war ganz anders als das, was er üblicherweise im Früh- und Nachmittagsverkehr kennengelernt hatte, wo die Berufstätigen zielstrebig unterwegs waren, die Aktentaschen in der Hand oder trendige Rucksäcke an einem Gurt umgehängt, das Handy am Ohr, stets auf ein Ziel hin orientiert und immer in Eile. Er brauchte eine Weile, sich in das Muster einzufinden und nicht ständig Gefahr zu laufen, jemanden anzurempeln.

So sahen sie also aus, die Menschen, von denen Finanzminister Glockner nicht müde wurde zu behaupten, es gehe ihnen zu gut, als dass sie sich ernsthaft um Arbeit bemühten. Seit gerade eben gehörte er wohl auch zu ihnen. Wenn es irgendwo einen blühenden Arbeitsmarkt gab, dann hielt sich der jedenfalls vor Victor gut verborgen. Das österreichische Arbeitsmarktservice (ehemals Arbeitsamt) hatte ja schon vor Jahren geschlossen („Mehr Privat, weniger Staat“), auf den spärlichen Inseratenseiten seines ehemaligen Arbeitgebers fanden sich hauptsächlich unbezahlte Praktikantenstellen, und die privaten Arbeitsvermittler, die er kontaktiert hatte, hatten außer ein „lassen Sie uns doch Ihr Profil zukommen, wir melden uns, sobald wir etwas Passendes für Sie haben“ noch nicht viel für ihn tun können. Vor diesem Hintergrund wunderte es ihn ja nicht wirklich, dass sein Chef vor zwei Monaten an ihn herangetreten war und ihn vor die Wahl gestellt hatte, entweder als Praktikant weiterzumachen („Schau, Wickerl, ich hätt dich gern weiter im Team, du weißt, wie der Laden läuft, aber ich hab halt auch meine Vorgaben“) oder gekündigt zu werden. Nach einigen Tagen Bedenkzeit hatte er das Angebot abgelehnt. Wenn er schon nichts verdiente, wollte er wenigstens Zeit haben, sich nach neuen Gelegenheiten und Chancen umsehen zu können, statt die immer gleichen, in „leichter Sprache“ gehaltenen Artikel mit den immer selben Bildern zu dekorieren, bei denen ihm meist bereits beim Lesen kalte Schauer über den Rücken liefen.

Erstaunlich, wie viele Menschen bereit waren, für die scheinbar billigen Upsell-Abonnements der Online-Ausgabe von „Wir Alle“ Geld auszugeben, um mit den neuesten Neuigkeiten zu Sport, Tratsch und Sex and Crime versorgt zu werden, während sie im redaktionellen Teil des gleichen Blattes täglich verhöhnt wurden. Wahrscheinlich lasen den die meisten erst gar nicht, dachte er mit einer gewissen Bitterkeit.

Victor merkte, dass er auch in der Jacke zu frösteln begann, und legte den restlichen Weg zur U-Bahn-Station zügig zurück. Rein aus Gewohnheit ließ er die Schlange der Wartenden links liegen und strebte der menschenleeren Absperrung mit dem blauen Balken darüber zu. „Nur für Berufstätige“, stand in ordentlichen weißen Lettern im blauen Feld, zur Unterstreichung der Botschaft stand ein junger Mann in der Uniform einer privaten Security-Firma an der Barriere. „Wir Alle“ hatte wiederholt breit darüber berichtet: Die rapide steigende Arbeitslosigkeit …

Arbeitslosigkeit? – Offiziell gab es dieses Wort nicht, es gab nur „Bürgergeldbezieher“, umgangssprachlich „BGE-ler“. Was auch wieder ungenau und vereinfachend war, Bürgergeld bekam ja jeder, egal ob berufstätig oder nicht. Daher wurden auch keine Arbeitslosenzahlen mehr veröffentlicht, die ja auf den administrativen Daten des mittlerweile geschlossenen Arbeitsmarktservice beruht hatten. Wie viele solche reine „BGE-ler“ es gab … nun, man konnte sich nur schwer vorstellen, dass die Finanzverwaltung das nicht auf Knopfdruck herausfinden konnte. Offiziell wusste man es aber nicht, da die Anzahl „nicht erhoben wurde.“ Finanzminister Glockner erklärte auf Anfragen seit Jahren, man arbeite daran, eine moderne und den Bedürfnissen entsprechende neue Statistik über den Arbeitsmarkt zu schaffen. So etwas müsse aber natürlich auf Europäischer Ebene abgestimmt werden, da man mit dem BGE absolutes Neuland betreten habe …

Also, nochmal: Die rapide steigende Zahl von „BGE-lern“, denen die Wiener Stadtverwaltung gegen zwangsweisen Abzug von 20 Euro pro Monat einen Freifahrausweis zuerkannte, führte zu einem enormen Anstieg der „Beförderungsfälle“ bei den Wiener Linien, die diesem Ansturm in keiner Weise gewachsen waren. Man sah daher keinen anderen Ausweg, als Berufstätigen Vorrang einzuräumen, bei den U-Bahnen eigene Bahnsteigsperren und in manchen Zügen auch eigene, mit blauen Balken gekennzeichnete Abteile einzurichten. Nun war zwar der Stadtverwaltung bekannt, dass diese Diskriminierung EU-rechtswidrig war, doch waren private Securities an den Sperren positioniert, um die Fahrgäste dazu zu veranlassen, sich „freiwillig“ an die neue Regelung zu halten. Sie hatten Anweisung, stichprobenartig zu kontrollieren und mit einem gewissen Nachdruck auf deren Einhaltung zu pochen. Meist entlud sich bei den bewusst lautstark abgeführten Beanstandungen der Volkszorn derart heftig über den überführten Übeltäter, dass dieser es vorzog, gleich ganz das Weite zu suchen oder zumindest ein paar Minuten abzuwarten, bis er sich in die richtige Warteschlange einreihte.

Victor zauderte also und überlegte, da sah ihn der junge Security-Mann, der hier meist Dienst versah, und winkte ihn zu sich. „Was is los, Dienstausweis vergessen? Is ja net so schlimm, i kenn Ihna eh“, sagte er aufmunternd. „Danke“, gab Victor zurück. Er würde sich noch schnell genug an die Warterei gewöhnen müssen, und sehr wahrscheinlich würde er ohnehin nicht mehr so bald zu dieser Station zurückkehren.

Im großen Regionalbahnhof Wien-Mitte, an dem er umsteigen musste, funktionierte das natürlich nicht mehr. Dort war offenbar gerade „Planquadrat“ an der blauen Sperre (Victor fragte sich zwar, was das um 11:30 Vormittag für einen Sinn haben sollte, hatte andererseits aber dafür Verständnis, dass man so etwas nicht gerade in der Früh- und Abendspitze machte und damit den Berufsverkehr auch noch zum Erliegen brachte) und reihte sich geduldig in die Schlange der Wartenden ein. 20 Minuten, so sollte er bald herausfinden, war eine gute Richtzeit, in der Regel musste man drei bis vier Züge abwarten, bis man an die Reihe kam. Denn natürlich war der Zustrom je Station kontingentiert, um auch in nachfolgenden Stationen ein Zusteigen zu ermöglichen. Was für ein Aufwand, dachte er, während er in der Schlange langsam vorrückte und versuchte, die Gesprächsfetzen der Umstehenden zu ignorieren.

Endlich war Victor im Zug. Das Abteil war brechend voll, er musste stehen, die Luft war stickig. Einzig eine Gruppe japanischer Touristinnen schien gute Laune zu haben; als diese im Stadtzentrum ausstiegen, legte sich eine Atmosphäre düsteren Schweigens über den Wagen, im eigenartigen Kontrast zu den grellbunten Bildern und frohen Botschaften, die über die überall angebrachten Werbebildschirme flackerten. „Vorrang für Berufstätige“, konnte man gefühlt alle 30 Sekunden lesen, dazu ein unerträglich gut gelaunter Mann mittleren Alters, der im Anzug auf die blaue Sperre zueilte, während ein kleines Grüppchen lächelnder Menschen (offenbar eine Pensionistin, ein junger Mann in Shorts und ein Vater mit einem Vorschulkind an der Hand) geduldig auf ihren Einlass warteten. „Bei uns hätt‘ das eine Frau sein müssen, sonst hätt‘ die Ministerin wieder interveniert“, dachte er bei sich. Ein klein wenig war er schon auch froh, dass es jetzt mit dieser Arbeit vorbei war.

Von der Station Neubaugasse waren es nur wenige Schritte zu dem Gründerzeithaus, in dem seine Wohnung lag. Er stieg bedächtig die Stufen zum ersten Stock hinauf, der, der irrationalen Logik dieser Gebäude folgend, im dritten Stock lag, und wunderte sich zum vielleicht tausendsten Mal – er war ja hier aufgewachsen – über die mittlerweile schon mehrfach mit weißer Malerfarbe überstrichenen Metallprägeschilder. „Hochparterre“ stand auf dem einen, „Mezzanin“ auf dem zweiten, an dem er schon leicht keuchend vorbeikam, bevor ihn die dritte Runde durch das Stiegenhaus zu der Doppelflügeltür seiner Wohnung Nr. 7 führte. Aus Angst vor Einbrechern hatte seine Mutter hier in besseren Tagen mehrere Schlösser installieren lassen, sodass es einer kleinen Weile und mehrerer kompliziert aussehender Schlüssel bedurfte, die Wohnungstür zu öffnen. Aus reiner Sentimentalität versperrte er immer noch jedes Mal alle. „Sonst zahlt die Versicherung net“ – diese mütterliche Mahnung hatte sich wohl unauslöschlich in seine Synapsen eingebrannt. Victor kickte seine Schuhe achtlos unter die im Vorzimmer befindliche Kommode, warf die Jacke ebenso achtlos auf einen dort stehenden Lehnstuhl – das mit dem Einbrennen in die Synapsen hatte wohl nicht bei allen mütterlichen Mahnungen so gut funktioniert – und setzte sich schwer auf das bequeme abgewetzte Sofa, das im riesenhaften Wohnzimmer etwas verloren an einer Wand stand, seit er sich erinnern konnte.

Langsam fiel sein bisheriges Leben von ihm ab, als er bis in den Nachmittag hinein nahezu bewegungslos dort sitzen blieb, meist an die Decke starrend, unfähig zu klaren Gedanken. Erst der stärker werdende Druck auf seine Blase riss ihn aus seiner Lethargie. „BGE-ler“, dieses neue Selbstverständnis formierte sich und legte sich wie ein leichter grauer Schleier über seine Seele, während er sich auf den Weg zum kleinsten Raum seines Zuhauses machte.

„Arbeitslos“, hätte sein Vater noch gesagt. Und „Sic transit gloria mundi“, womit er – wiewohl sprachlich nicht ganz zutreffend – unabänderliche Wechselfälle des Lebens zu kommentieren pflegte.

Wien-Heiligenstadt, 19:50

Es war bereits dunkel, als Victor den Motor des großen alten Wagens startete, ihn ein wenig warmlaufen ließ und bedächtig aus dem großen Parkhaus am Rande der Stadt rollte. Ein paar Gassen, dann war er schon auf dem Zubringer zur Nordbrücke, einer der neuralgischen Donauquerungen Wiens. Es ging langsam dahin, die zahlreicher werdenden autonomen Fahrzeuge veränderten den Verkehrsfluss. Victor hielt zu diesen Fahrzeugen einen gehörigen Respektabstand, bei Unfällen mit ihnen konnte man nur verlieren. „Pace Cars“ wurden sie im Volksmund genannt, von ungeduldigeren Zeitgenossen, die noch heute überkommene Vorstellungen vom Autofahren hatten, auch schlicht „Hindernisfahrzeuge“.

Victor betrachtete das eher gelassen, die alte Limousine mit ihren 55 PS konnte mit den leistungsstarken Autos, die das Straßenbild prägten, ohnehin nicht mithalten. Er hielt sich auf Autobahnen mehr an die kilometerlangen LKW-Kolonnen, die auf der rechten Spur mit konstant 80 dahin rollten und dem alten Wagen meist bereitwillig Unterschlupf in ihren Reihen gewährten. Bald nach Passieren der Brücke konnte er sich auf der Stockerauer Autobahn in einen solchen Pulk einreihen, passte den Tempomaten dem Tempo der Kolonne an und rollte zum Klang einer „Rolling Stones“-Aufnahme entlang der Donau. Seine Strategie war gut gewählt, schon Kilometer vor der Ausfahrt Korneuburg war der Verkehr auf den linken beiden Spuren vollständig zum Erliegen gekommen. Grund war wieder einmal ein A-Taxi, dessen Abstandregeln ihm ein Spurwechseln vor der Ausfahrt Korneuburg-Ost nicht ermöglichten und das dann – den Vorschriften zur Bildung einer Rettungsgasse folgend – einfach auf der Leitlinie zwischen den ersten beiden Spuren angehalten hatte. Die Passagiere solcher Fahrzeuge litten oft Todesängste, weil sie sich schutzlos mitten auf der Autobahn befanden, während einen Meter rechts von Ihnen eine LKW-Kolonne über den Pannenstreifen vorbeibrauste und Fahrzeuglenker rund um sie versuchten, mit waghalsigen Manövern an ihnen vorbeizukommen.

Victor war nun voll konzentriert. Es galt, den Abstand zum vorherfahrenden LKW exakt zu halten, sodass keiner der Fahrer, die bereits mit voll eingeschlagener Lenkung auf der mittleren Spur warteten, versuchen würde, in die Lücke hinein auszuscheren. Das Fernsehen zeigte immer wieder hässliche Bilder der Konsequenzen, was aber einige nicht abhielt. – Endlich war er an dem stehenden Fahrzeug vorbei. Von hinten hörte er schon die Sirenen der Einsatzfahrzeuge, die sich durch die Rettungsgasse zwischen zweiter und dritter Spur ihren Weg bahnten. Da man in die Fahrprogrammierung von A-Taxis nicht eingreifen konnte, musste vermutlich die ganze rechte Spur gesperrt werden – und selbst dann war es ungewiss, ob das Fahrzeug die Fahrt wieder aufnehmen würde. Manche mussten auch abgeschleppt werden, die Herstellerfirmen hüllten sich zu diesen Vorfällen in Schweigen.

Ab hier ging es zügig voran, sodass er kurz vor 21:30 Uhr den Wagen vor dem Haus seiner Mutter in Mold abstellte. Er stieg aus, hielt einen Moment inne und sog die kühle frische Landluft tief in seine Lungen. Die Großstadt, der lange Tag, die Zukunftssorgen: All diese Gedanken fielen von ihm ab, machten bereitwillig den Erinnerungen aus Kinder- und Jugendtagen Platz. Er nahm seinen kleinen Koffer, schloss den Wagen sorgfältig ab und ging langsam den mit Betonplatten belegten Weg zur Haustüre. Als er diese aufschloss, seine Mutter umarmte, den vertrauten Geruch nach Bodenwachs und angebranntem Kaffee wieder in der Nase hatte, stellte sich das wohlige Gefühl ein, nach Hause gekommen zu sein.

„Du musst hungrig sein.“ Mit diesen Worten führte Martha Csalodas ihren Sohn in das kleine Wohnzimmer, wo schon Tee und ein paar belegte Brote auf ihn warteten. Sie drehte den Fernseher ab, setzte sich zu ihm, ließ ihm Zeit, ungestört ein paar Bissen zu machen, und fragte dann erst: „Na Wickerl, wie geht’s dir denn? Warst ja schon lang nicht mehr da.“