2029 - Sissi und die Dritte Republik - Hubert Anders - E-Book

2029 - Sissi und die Dritte Republik E-Book

Hubert Anders

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Beschreibung

Lesen Sie, wie eine starke junge Frau nach der Macht in Österreich greift! 2029: Es ist Wahljahr. Und Kanzler Kurt Bast ist nicht nur durch seine Vizekanzlerin Fiona Fayot in Bedrängnis, die ihn medial an die Wand spielt. Aber was hat das mit Sissi zu tun? - Nun, das war ein Einfall ihrer Wahlkampfmanager. Fiona heißt mit zweitem Vornamen Élise, daraus wurde flugs eine Sissi. Mit Doppel-s, so wollte es "Wir Alle", die auflagenstärkste Zeitung des Landes. Einen Franz gibt es auch, aber der spielt nur eine Nebenrolle, schließlich sind wir im 3. Jahrtausend. Dieses Buch ist die Fortsetzung von Hubert Anders' Erfolgswerk "2028 - Liebe, Macht und Bürgergeld". Treffen Sie auch Victor Csalodas, Carina Sperl und die anderen liebenswerten Charaktere wieder, die ihren Alltag im 21. Jahrhundert zu mehr oder weniger gut bewältigen. Und nein, das ist kein Sissi-Roman, und es geht auch nicht um die gute alte Zeit!

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2029

Sissi und die Dritte Republik

Der zweite Roman von Hubert Anders

Inhalt

Widmung

Danksagung

Vorwort

Prolog

Einschub: um was geht es hier eigentlich?

Im Keller

Auf dem Berg

Geheime Nachrichten

Am Telefon

Zu Dreikönig

Frost im Wald- und Weinviertel

In der Loge

Franz und Sissi?

Ein Mann und zwei Frauen

Eine Entscheidung

Ein Begräbnis

Aussprachen

Eine Zusage

Ein Beschluss

Eine Staatshochzeit

Erleichterung

Schach der Regierung

Eine laue Sommernacht

Nicht nur ein Neubeginn

Eine Konfrontation

Eine geschäftliche Begegnung

Wahltag

Analysen

Spekulationen und ein Auftrag

Wendungen

Eine Bundeskanzlerin

Ein Fest der Liebe

Epilog

Personenverzeichnis

Personen nach Vornamen

Institutionen, Medien alphabetisch

Topographische Bezeichnungen

Austriaka

Bezeichnungen

Transkriptionen wörtlicher Reden

Anhang: Sachliche Erläuterungen

Zum Begriff der „Dritten Republik“

Das österreichische Wahlrecht

Die erste Bundeskanzlerin der Republik

Warnhinweise

Impressum

Widmung

Dieses Buch ist„Unserem Herrn Bundespräsidenten“ 1974 - 1986,

Dr. Rudolf Kirchschläger

in ehrendem Andenken gewidmet.

Danksagung

Danke an Clara, Erik, Johannes Melitta und Peter, die Rezensenten der ersten Stunde; Sabine und Thomas für ihre Anregungen; und nicht zuletzt nochmals Peter, der sich darüber hinaus der Mühe akribischen Korrekturlesens unterzog und zahlreiche inhaltliche Anmerkungen beisteuerte.

Ein „Fräulein, das die Schreibarbeit erledigte”, habe ich auch für meinen zweiten Band nicht gefunden …

Vorwort

Zwei Jahre sind seit dem Erscheinen von „2028 – Liebe, Macht und Bürgergeld“ vergangen. Zwei Jahre, in denen die österreichische Innenpolitik sich in erstaunlich vielen Aspekten in eine sehr ähnliche Richtung entwickelt hat, wie ich es damals schon vorhergesehen habe. Denken Sie an Kanzler Kurt Bast oder die Marginalisierung der Sozialdemokratie.

Mein zweiter Roman beschäftigt sich mit einem anderen Thema: Mit der Ablöse demokratisch legitimierter Politik durch eine Showveranstaltung, von Oligarchen gelenkt, die selbst nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen. Austauschbare Marionetten besorgen die mediale Inszenierung, während an ihnen von oben, vom Schnürboden gezogen wird.

Wie schon im ersten Roman, interessiert mich auch hier vor allem eines: Wie wirkt sich dieser Paradigmenwechsel auf die Menschen aus: die Akteure, ihre Marionetten und – am Wichtigsten – diejenigen, die davon betroffen sind und ihr Leben danach einrichten müssen.

Lesen Sie selbst, wie es unseren Helden 2029 ergangen ist. Oder ergehen wird. Je nachdem halt.

Hubert Anders, im August 2019

P.S.: Die Warnhinweise zur sicheren Anwendung muss ich Ihnen noch ans Herz legen. hier entlang, wer mag …

Prolog

Wien-Neubau, 26. Oktober 2028, 7:30

Es war bereits 7.30 Uhr, als Katharina aufwachte. Sie hatte Kopfschmerzen und – wie ihr ein rascher Blick in den verspiegelten Kleiderschrank neben ihrer Bettseite verriet – tiefe Ringe unter den Augen. Victor schlief friedlich neben ihr. Sie drehte sich um, betrachtete ihn eine Weile, und die Erinnerung an die vergangene Nacht zauberte ihr ein liebevolles Lächeln auf die Lippen. Sie widerstand der Versuchung, ihn jetzt zu wecken – die zweite Stunde, die sie an ihrer Schule jeden Donnerstag zu halten hatte, machte ihr schon so Bauchweh genug, sie wollte sich nicht auch noch hetzen müssen. Leise schlüpfte sie aus dem Bett, verließ das Schlafzimmer und schloss die schön lackierte zweiflügelige Tür. Sie verfluchte, dass sie Victor so unvorbereitet ins Haus gefallen war und machte sich auf die Suche nach dem Badezimmer. Sie duschte ausgiebig unter dem angenehm warmen weichen Strahl der Regenwaldbrause, die über der Badewanne an einem gebogenen Rohr thronte wie eine Krone, wartete, bis durch die entspannende Wärme die pochenden Kopfschmerzen nachließen, und machte sich dann rasch und konzentriert an die Morgentoilette. Nach einigen Mühen war sie halbwegs mit dem Erreichten zufrieden, hüllte sich notdürftig in das einzige, viel zu kleine Handtuch, das sie finden hatte können, und lief zurück in das große Wohnzimmer.

Zu ihrer Überraschung war Victor schon auf. Es war ein Moment beiderseitiger Befangenheit, als sie einander wieder begegneten, Katharina wusste nicht recht, wohin mit ihren Blicken, doch Victor grinste sie einfach breit an, ging mit einem „guten Morgen“ auf sie zu, fasste sie locker um die Hüfte, wodurch das Handtuch zu Boden fiel, und küsste sie selbstverständlich auf den Mund. „Kaffee?“, fragte er dann, ohne sich sonderlich um ihre Verlegenheit zu kümmern.

Einschub: um was geht es hier eigentlich?

Ja, geneigter Leser, als Kenner der Vorgeschichte kommt Ihnen das bekannt vor. Es ist schließlich nicht einmal ein halbes Jahr her, dass Victor, der Held aus „2028“, ein ziemlich ähnliches Erlebnis mit Fiona Fayot hatte. Ihnen brauche ich daher nicht zu erklären, wie es kam, dass jetzt die Lehrerin Katharina Obermaier neben ihm erwachte.

Sollte es aber den ein oder anderen geben, der über dieses Buch gestolpert ist, ohne „2028“ gelesen zu haben oder auch nur zu kennen: hier eine kurze Zusammenfassung. Die dürfen natürlich auch diejenigen lesen, die zwar 2028 gelesen haben, sich aber nicht mehr so genau erinnern können – als Autor ist man ja Kummer gewohnt. Der eine oder andere, der sich schon auskennt – oder vielleicht alle beide? – liest bitte gleich bei 7:32 Uhr weiter. Also:

Victor Csalodas, der Held unserer Geschichte, ist eigentlich gar kein Held. Er ist Werbegraphiker, und 2028 beginnt damit, dass er seinen Job bei „Wir Alle“, der auflagenstärksten Tageszeitung des Landes, verliert. Aber zum Glück gibt es ja das Bürgergeld, denkt er zunächst.

In Österreich wurde nach dem durch den BREXIT ausgelösten Zusammenbruch des Schengener Abkommens und der Freizügigkeit von Arbeitskräften am 1.1.2023 das Bürgergeld eingeführt. Unterschiedslos jeder, berufstätig oder nicht, bekommt ein monatliches Grundeinkommen ausbezahlt, dafür wurden nahezu alle Sozialleistungen abgeschafft. In der Folge kam es zur größten, immer noch anhaltenden Rezession der Nachkriegsgeschichte, galoppierender Inflation und Massenarbeitslosigkeit. Natürlich sagt man nicht mehr so dazu – ehrbare Bezieher des Bürgergeldes leben ja nach der Theorie ihre freie Wahl, keiner bezahlten Tätigkeit nachzugehen.

Victor kommt jedoch sehr bald drauf, dass sein Glück ein wenig fragil ist: Er hat nämlich plötzlich monatlich weniger als die Hälfte des Geldes zur Verfügung als zuvor und merkt rasch, dass ein Monat recht lang werden kann. Er lernt auch den tristen Alltag der Massen an Arbeitslosen kennen, die in Wien nur vom Bürgergeld leben, von der prekären Situation bei täglichen Einkäufen bis hin zu derart überlasteten Massenverkehrsmitteln, dass man an der U-Bahn eigene Wagen und in den Stationen eigene Schnellspuren für Menschen einrichten muss, die nachweislich einer Arbeit nachgehen. Die anderen müssen sich oft eine halbe Stunde und länger anstellen, bis sie in einen der überfüllten U-Bahn-Züge vorgelassen werden.

Victors Mutter Martha lebt in einem kleinen Häuschen unweit Horn im Waldviertel. Eines Tages, auf der Heimreise von dort, liest er ein Mädchen auf, das in einem selbstfahrenden Auto am Straßenrand liegengeblieben ist: Es ist Fiona Fayot, die zweite Heldin unserer Geschichte: Parteiangestellte von „Arbeitendes Österreich“ (AÖ), des kleinen Koalitionspartners in der Bundesregierung. Fiona begleitet Victor am selben Abend nach Hause, und die beiden beginnen eine heftige Liaison.

Ebenfalls am Rande des Waldviertels leben seit einigen Jahren Stefan und Carina Sperl mit ihren drei Kindern. Obwohl die Familie zu den Profiteuren des Bürgergeldes zählt, hat Carina die Arbeitslosigkeit ihres Mannes ausgenützt, mit der Familie in ein ehemals bäuerliches Anwesen bei Pulkau zu übersiedeln, wo sie sich durch die ländliche Umgebung bessere Lebensbedingungen für ihre Familie ausrechnet. Bald kommt sie in Kontakt mit der Wald- und Weinviertler Tauschinitiative (WWTI), einem Verein, der das Ideal der geldlosen Tauschwirtschaft zwischen seinen Mitgliedern hochhält. Dort lernt sie Dr. Wolfgang Gerhold kennen, einen pensionierten Hofrat des Finanzministeriums, der die WWTI mit rechtlichem Rat unterstützt. Carina kommt ihm gerade Recht, seine Ambition zu unterstützen, die WWTI in eine kommerzielle Verwertungsfirma für die Produkte ihrer Mitglieder umzubauen und dabei ein Steuervermeidungsmodell seiner Tochter Brigitte in der Praxis zu erproben. Carina wird also als Geschäftsführerin installiert.

Carinas Ehemann Stefan, der als Soziologe im Waldviertel keinerlei Aussicht auf einen Job hat, beginnt eine Beziehung mit der Journalistin Eva, die zeitweise den benachbarten Hof bewohnt. Carina toleriert diese Beziehung, solange Stefan seine familiären Aufgaben erfüllt, weil Stefan durch sie neue Lebensenergie gefasst hat, und hat ihrerseits eine lose Affäre mit Wolfgang Gerhold.

Fiona lernt den Industriellen Bernd Birkenkiesel kennen, den Financier und Mentor von AÖ, der in ihr eine Nachfolgerin für die farblose Vizekanzlerin Melanie Spar-Weinlaub sieht. Fiona wird den Granden des „Christlichen Fortschritts-Bündnisses“ (CFB) vorgestellt. Besonders hat sie es Franz Wieser angetan, einem Günstling der Landeshauptfrau, die im CFB gemeinsam mit „dem Alten“ unangefochten die Fäden zieht.

Über Vermittlung Birkenkiesels bekommt Victor einen Pro-Forma-Job bei der Werbeagentur Young Creativity (YC), die für AÖ arbeitet, da man einen Arbeitslosen an der Seite der AÖ-Vizekanzlerin nicht brauchen kann. An seinem Arbeitsplatz in einer schick umgebauten Döblinger Villa ist er allerdings hauptsächlich damit befasst, die Zeit gemeinsam mit der Sekretärin und dem Kreativdirektor totzuschlagen. Die eigentliche Arbeit ist schon lang an Subunternehmer ausgelagert.

Wir lernen auch noch Robert Wassermann kennen, einen Nerd und Internet-Troll, der von allerhand Aufträgen in der IT-Branche recht gut zu leben scheint. Er spielt mit Karl Wondrak, dem Kreativdirektor von YC, nicht nur Schach. Und einen ziemlich merkwürdigen Oberst der Staatspolizei, der Wassermanns Stellung bei einer IT-Firma dazu ausnutzt, gemeinsam mit diesem die Internet-Überwachungssoftware IntGuard zu manipulieren. Die Hintergründe dieser nächtlichen Aktion im Keller eines Amtsgebäudes bleiben zunächst im Dunkeln.

Auf dem Sommerfest des Kanzlers Kurt Bast wird Fiona erstmals im politischen Rahmen vorgestellt. Um einen Keil zwischen Victor und Fiona zu treiben, wird die Studentin Barbara vom CFB auf Victor angesetzt. Auch wenn dieser nicht anbeißt und Barbara ermuntert, die Nacht im Hotel doch lieber mit ihrem Freund zu verbringen, kauft Fiona die Geschichte und verlässt das Kanzlerfest mit Franz Wieser.

Im Herbst wird Fiona Fayot als Vizekanzlerin installiert und spielt Kurt Bast nahezu augenblicklich an die Wand. Es ist nur mehr eine Frage der Zeit, dass die Beziehung zwischen Victor und Fiona zerbricht, die so gar nicht zu ihrer neuen Position passt. In der Folge verliert Victor auch den Job bei YC.

Eines Abends sucht Victor nicht ganz absichtslos das Lieblings-Café einer alten Freundin auf. Er trifft die Lehrerin Katharina Obermaier tatsächlich an. Im Gespräch knüpfen die beiden schließlich an alte Zeiten an, und Katharina begleitet Victor in seine nahe gelegene Wohnung in der Wiener Neubaugasse.

Aber jetzt sind Sie, geneigte Leserin, verehrter Leser, sicher schon neugierig, wie es weitergeht mit den beiden. Viel Vergnügen bei „2029 – Sissi und die Dritte Republik“.

Wien-Neubau, 26. Oktober 2028, 7:32

– „Oder wieder ins Bett?“ Er weidete sich eine Weile an ihrem erst fassungslosen, dann etwas verlegenen Blick, doch ehe sie die Gedanken an ihre Schüler in passende Worte gekleidet hatte, bemerkte er mit einem breiten spöttischen Grinsen: „Wird ziemlich einsam werden in der Schule, heute ist Nationalfeiertag.“ Sie wurde erst rot, wie hatte sie das nur vergessen können, doch fiel dann in sein Lachen mit ein.

Ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er in Richtung Küche der geräumigen Altbauwohnung in Wien-Neubau, die Victor von seinen Eltern übernommen hatte und allein bewohnte. Bald konnte Katharina das Tuckern einer Espressomaschine hören. Es war zwar nicht die erste Nacht gewesen, die sie mit ihrem alten Freund Victor verbracht hatte; andererseits war der vergangene Sommerurlaub samt Urlaubsflirt doch schon eine Weile her. Dennoch überraschte es sie, dass sie sich auf unerklärliche Weise zu diesem Kerl hingezogen fühlte, mehr als sie sich selber zugestehen wollte. „Erst mal einen Kaffee, ja.“ Sie schlang sich das Handtuch wieder um die Hüften – wozu eigentlich, überlegte sie – und folgte ihm in die Küche. Der Kaffee stand schon auf der Anrichte, schweigend nahm sie den ersten Schluck. Victor sagte nichts, wofür sie ihm in diesem Augenblick unendlich dankbar war, doch aus der Art, wie er sie ansah, schloss sie, dass wohl eine Komplikation in ihr Leben getreten war: ihr alter Freund Victor hatte sich wohl ebenfalls neu in sie verliebt.

13:30

„Genug jetzt. Außerdem habe ich Hunger.“ – Katharina löste sich kichernd aus Victors Armen. Es fühlte sich gut an, verdammt gut, dachte sie bei sich, als sie aufstand. Victors breites Grinsen und sein schläfriger Blick, der ihr folgte, standen für sie in auffallendem Gegensatz zu dem, was sie im verspiegelten Kleiderschrank sah. „Männer“, dachte sie bei sich, und doch löste sein unverhohlenes Begehren innere Zufriedenheit und Genugtuung in ihr aus. „The Fundamental Things Apply, …“ kam ihr in den Sinn, als sie Victors Bademantel auf dem Weg ins Bad vom Boden aufhob – er machte ja ohnehin keine Anstalten, aufzustehen und ihn anzuziehen.

Es war der Geruch nach gebratenem Speck, der ihn schließlich aus dem Bett und in die geräumige Küche lockte. Bald saßen sie einander bei einem ausgiebigen späten Frühstück gegenüber. Er sagte lange nichts, sah sie nur verliebt an. „Warum nur fällt Männern so schwer, was doch so einfach wäre“, dachte sie bei sich, bevor sie die befangene Spannung mit einem leichthin hingeworfenen „Ich muss heut noch nach Hause, ein paar Sachen holen“ auflöste. Er stand auf, küsste sie leicht auf den Mund und sagte „Gern. Bleib, solange du möchtest.“ Die Herbstferien standen vor der Tür, der nächste Unterrichtstag war erst der 6. November. Soweit sie wusste, hielten sich seine beruflichen Verpflichtungen in engen Grenzen, sie würden also ein paar unbeschwerte Tage miteinander verbringen können. „Dann wird man ja sehen – Strohfeuer oder mehr“, dachte sie bei sich und beschloss, sich einfach mal drauf einzulassen und das Prickeln der frischen Verliebtheit so richtig zu genießen.

20:30

Die Reste des Abendessens, das der indische Lieferservice gebracht hatte, standen noch vor ihnen auf dem Couchtisch, dazwischen zwei schon etwas heruntergebrannte schlanke Kerzen und zwei Weingläser mit den letzten Schlucken des köstlichen Rotweins, den Victor aus einem der zahllosen Schränke der Küche geholt hatte. Katharina störte sich nicht an den offenbaren Widersprüchen zwischen den Insignien einer längst überkommenen Bürgerlichkeit, an der sich Victor offenbar in diesem Augenblick festhielt, und der harten Realität des angebrochenen 21. Jahrhunderts; ihr Herz sagte ihr, dass das Hier und Jetzt gut und richtig war, und nur darauf kam es doch an, oder? Sie achtete kaum auf die Sportsendung, die im Fernsehen nebenher lief, sie kuschelte sich mit untergeschlagenen Beinen dicht an Victor und blätterte in ihrem Buch, jedoch ohne die nötige Konzentration für den recht komplexen Text eines jungen Autors aufbringen zu können, den sie unlängst in einer Buchhandlung entdeckt hatte.

Victor saß neben ihr, den Arm leicht um ihre Schulter gelegt. Äußerlich teilnahmslos, fühlte er doch den zarten Körper seiner alten und doch seit heute ganz neuen Freundin neben sich, fühlte ihren Atem, ließ ihr bewusst den Freiraum, ihre Nähe zu ihm frei wählen zu können.

Es fiel ihm schwer, seine Gefühle zu verbalisieren, auch sich selbst gegenüber. Wie lange war es her, dass er ein ganz ähnliches Erlebnis mit Fiona Fayot gehabt hatte? Wie hell hatte das Feuer zu Beginn gebrannt, er dachte an die erste Nacht mit ihr zurück, an das Wochenende mit ihr im Waldviertel, das Picknick am Badeteich, aber auch an die von Anfang an spürbare Skepsis seiner Schwester Sandra, die Fiona immer für oberflächlich gehalten und damit wohl recht behalten hatte. Wie rasch war diese dann bereit gewesen, Victor für ihre sagenhafte politische Karriere aufzugeben, sich stattdessen „schön, reich und wichtig“ zuzuwenden und den Äußerlichkeiten den Vorzug vor der Stimme des Herzens zu geben.

Victor scheuchte all diese Gedanken fort. Obwohl das endgültige „Aus“ mit Fiona erst ein paar Wochen her war, beschloss er dennoch – oder gerade deshalb? – das neue Glück zu spüren und anzunehmen, das so unverhofft in sein Haus eingezogen war. Kurz sann er darüber nach, es „diesmal richtig zu machen“, doch bald ließ er diesen Gedanken wieder fallen: Er würde einfach er selbst sein; die Zeit würde zeigen, ob das anfängliche Lodern rasch wieder verlöschen oder in eine beständige wärmende Glut übergehen würde.

01:30

Victor erwachte auf dem Sofa. Die Kerzen waren schon lang verloschen, Katharina lehnte an seiner Schulter und schlief vollkommen entspannt. Nur der Widerschein der Straßenbeleuchtung tauchte den Raum in ein unwirkliches fahles Licht, der Regen war in Graupelschauer übergegangen. Seine Blase drückte, aber er wollte sie nicht aufwecken. Doch sie schien seine Unruhe zu spüren, schlug die Augen auf, blickte ihn unfokussiert an, noch weit weg. Erst nach einer Weile bemerkte sie, dass sie nicht zu Hause war – zu Hause? Oder doch schon? – und blickte schuldbewusst um sich. Sie hatte Durst, das Curry, der Wein und die eine oder andere Zigarette hatten sich in ihrem Mund zu einem schalen, brandigen Geschmack vermischt.

Victor schien zu ahnen, was sie brauchte, denn nachdem er sich von ihr losgemacht hatte, hielt sie plötzlich ein Glas frisches kaltes Wasser in beiden Händen. Sie trank gierig. Besser. Warum war sie hier? – Ah, ja. „Komm“, sagte er nur, nahm sie an der Hand und führte sie ins Schlafzimmer, wo das Bettzeug noch ebenso zerwühlt auf sie wartete, wie sie es zum Mittag verlassen hatten. Ein tief eingebrannter Reflex der Peinlichkeit meldete sich kurz zu Wort, doch es bereitete ihr keine Mühe, ihn zum Schweigen zu bringen. Sie entledigte sich rasch ihrer Kleidung und fiel todmüde und ohne große Umstände in das breite Doppelbett. Sie bemerkte kaum mehr, wie Victor sich neben sie legte, sachte ihre Hand nahm und sie noch eine ganze Weile im fahlen Licht der Wiener Neubaugasse betrachtete, bevor auch er wieder einschlief.

Im Keller

Wien-Innere Stadt, 15. November 2028, 18:45

Bernd Birkenkiesel war bereits schlechter Laune, als sein Wagen vor dem Seiteneingang eines Wiener Gründerzeitpalais am Rande der Wiener Innenstadt vorfuhr. Er hatte ja normalerweise für die Allüren des Alten ein gewisses Verständnis – aber die Bude einer CV-Verbindung, wohl in einem dem angebrochenen Studienjahr an der nahen Universität entsprechenden Zustand? Er selbst hatte der Folklore von Studentenverbindungen, egal welcher Weltanschauung, nie nur das Geringste abgewinnen können, und ausgerechnet katholisch auch noch? Aber es schien wichtig zu sein, und die Landeshauptfrau hatte unmissverständlich klar gemacht, dass sie den Wünschen des Alten entsprechen würde. Nun – er seufzte innerlich und grübelte wohl zum hundertsten Mal vergeblich darüber nach, warum die Bevölkerung des größten österreichischen Bundeslandes diese Person gerade wieder mit absoluter Mehrheit im Amt bestätigt hatte. Er stieg aus, wies seinen Fahrer knapp an zu warten und ging wiederwillig auf die rostige Eisentür zu, die einen Spalt breit offenstand. Der muffige Geruch des feuchten Kellerlokales, vermischt mit kaltem Rauch und allerhand anderen Gerüchen, deren Genese er nicht so genau auf den Grund gehen wollte, umfing ihn augenblicklich. Er stieg die abgetretene, von einer einzelnen trüben Glühbirne beleuchtete Treppe hinunter, stieß eine mit einem verblichenen Wappen dekorierte Türe auf und fand sich in einem der typischen Kellerlokale wieder, wie sie von den zahlreichen Verbindungen der großen Universität Wien benutzt wurden.

Er blickte sich um. Mehr noch als das Ambiente irritierte ihn der Umstand, dass der Ort vollkommen verlassen schien. Der Alte hatte zwar seine Macken, aber Unpünktlichkeit gehörte nicht dazu. Also – was sollte das? Birkenkiesel ging rasch weiter, entlang der großen Bar, die die rechte Seite des Raumes beherrschte. Plötzlich, wie aus dem Nichts, stand ein Bursch vor ihm. „Herr Kommerzialrat Birkenkiesel?“ – Birkenkiesel nickte unwillig. „Wenn Sie mir bitte folgen wollen?“ Ohne Titel ging wohl nichts bei diesen Schnöseln, dachte er, und Akademiker war er halt mal nicht, doch was blieb ihm übrig? „Herr Kommerzialrat Birkenkiesel“, meldete der Bursch an der Türe eines Extrasalons. „Ja, ja“, hörte er da schon die schnarrende Stimme des Alten. „Horst, du kannst jetzt gehen. Danke.“ „Horst“ – Birkenkiesel schüttelte den Kopf. Doch dann straffte er die Schultern, rang sich ein gewinnendes Lächeln ab. Er hoffte, dass er es so jungenhaft hinbekam, wie es seinem sorgsam gepflegten Image entsprach, und betrat rasch den Salon. „Johanna?“ – er nickte der Landeshauptfrau zu, sie hasste Handschläge und erwiderte nur stumm seinen Gruß. „Wolf“ – er klopfte dem Alten auf die Schulter, der wie immer zusammengekauert auf einem Stuhl saß. „Was verschafft mir die überaus große Freude, euch in diesem wahrhaft staatstragenden Ambiente zu treffen?“ „Vertraulichkeit.“ Birkenkiesel seufzte, er wusste, dass das CFB den – durchaus zutreffenden – Argwohn hegte, es gäbe in der AÖ-Parteizentrale umfassende Abhörmöglichkeiten. Daher traf man sich an wechselnden neutralen Orten, was Birkenkiesels Leute bisweilen mit der Überprüfung gehörig ins Schwitzen brachte. Doch bisher war alles sauber gewesen.

Bernd kommentierte das Thema nicht weiter, sondern setzte sich ungebeten in einen Lehnstuhl vis-a-vis des Alten. Man wollte offenbar etwas von ihm, er wartete ab, bis die andere Seite das Gespräch begann. „Kurt“, sagte der Alte plötzlich und unvermittelt. Bernd musste nicht lange überlegen, der Boulevard hatte den Kanzler abgeschrieben. Fiona Fayot, die Vizekanzlerin seines AÖ, hatte die politische Bühne für sich allein, der Koalitionspartner war wohl gezwungen zu handeln.

Bernd sagte nichts und rekapitulierte rasch die Bewertungen, die ein interner Strategieausschuss des AÖ schon längst vorbereitet hatte. Dass der Kanzler fällig war, war kein großes Geheimnis, ebenso wenig, dass das CFB keine sonderlich guten Alternativen hatte. Er war also gespannt, was dem Koalitionspartner eingefallen war und welchen Preis sie zu zahlen bereit waren, um einen Bruch der Koalition und sofortige Neuwahlen zu verhindern.

„Reden wir nicht herum, mit Kurt können wir nächstes Jahr nicht mehr in einen Wahlkampf ziehen, wir brauchen ein frisches Gesicht. Ich vertraue darauf, dass wir eine Lösung finden werden, die Euch das Einhalten des Koalitionspaktes möglich macht.“ Nun gut, das sparte unnützes Herumgerede, Bernd schätzte die Landeshauptfrau für ihre Geradlinigkeit, wenngleich ihre schneidende Stimme ihm, dem sonst Abgebrühten, immer noch kalte Schauer über den Rücken jagte. „Ihr habt das AÖ als verlässlichen Partner mit Handschlagqualität kennengelernt. Wir haben uns noch nie vernünftigen Vorschlägen verschlossen.“ Und außerdem – so viele Alternativen haben wir auch wieder nicht als euch Kerzlschlucker-Partie, dachte er bei sich. Bei der Idee, mit den Resten von Sozialdemokratie und Grünen ein Regierungsprogramm aushandeln zu müssen, krampfte sich in ihm alles zusammen, da stand vor allem die Abschaffung des Bürgergeldes zur Diskussion. Verkehrt, ganz verkehrt aus seiner Sicht.

„Naja, seit ihr Fiona habt …“ Die Landeshauptfrau lächelte säuerlich. Auch wenn sie aus feministischem Kalkül immer hinter Fiona Fayot gestanden war: Die Art, wie sich diese über jede Politräson hinwegsetzte und die Leichtigkeit, mit der sie die Medien in ihre gewünschte Richtung lenkte, war ihr unheimlich.

Bernd beschloss, seinen Unwillen über die Inszenierung nicht mehr zu verbergen. Er stand auf. „Kommt bitte zur Sache. Ansonsten ruft mich an, wenn ihr so weit seid.“ Er machte Anstalten, den Salon zu verlassen. Der Alte blickte ihn fassungslos an, doch die Landeshauptfrau wusste, wann es genug war und dass sie ohnehin sehr schlechte Karten hatte. „Bernd, bitte bleib und hör dir an, was wir zu sagen haben.“

Zehn Minuten später war es an Bernd, seine Fassungslosigkeit mühsam zu verbergen. Franz Wieser, auf die Idee waren seine phantasielosen Strategen erst gar nicht gekommen, ebenso wenig wie er selbst, wie er sich eingestehen musste. Ihre Beziehung zu ihm offizialisieren, mit einem „First Couple“ in den Wahlkampf ziehen, vorher noch eine pompöse Staatshochzeit … Und das 111 Jahre nach der Abdankung der letzten Feudalherren. Doch das wahrhaft Absurde war … es schien ihm nicht a priori unmöglich, dass das Staatsfernsehen, „Wir Alle“, die katholische Kirche da mitspielen würden.

Aber viel wichtiger: was waren seine Alternativen? So wie Fiona positioniert war, konnte er kaum selbst einen Koalitionsbruch anzetteln. Und war dieser Plan mal an der Öffentlichkeit, würde mit Ausnahme der Linken und des „Tellerrandes“, ihres auf infantiles Lachspapier gedruckten jämmerlichen Surrogates eines „Zentralorgans“ aus besseren Tagen, niemand ernsthafte Einwände dagegen erheben. Dazu kam – das würde nur mit und wegen Fiona funktionieren, also würde dem CFB nichts anderes übrigbleiben, als fair und nach seinen Regeln zu spielen. Wenn er Fiona im Griff behalten würde. Was der schwierigere Teil daran war, das war ihm schmerzlich bewusst.

„Nun gut“, sagte er schließlich, „das klingt ja alles nicht uncharmant. Sofern es gelingt, den beiden den Plan schmackhaft zu machen.“ – „Geh Bernd, ich sehe da kein Hindernis, Franz ist nicht wie dieser – Werbegraphiker – den sie eine Weile amüsant fand.“ Sinnlos, dagegen zu argumentieren, dachte Bernd, das wahre Problem mit den CFB-lern war, dass sie sich tatsächlich als rechtmäßige Feudalherren über die Republik sahen. Und sechs seit Jahrzehnten stabile Landeshauptleutesessel stärkten dieses Selbstbewusstsein ungemein. Zeit, ihnen noch einen kleinen Dämpfer zu verpassen: „Aber gratis ist das nicht. Ein Ministerium für uns, bevorzugt Finanzen.“ Nicht einmal ein verbleibendes Jahr war nicht viel, aber es wäre töricht gewesen, es billiger zu geben, und die Rufe aus den CFB-geführten Ländern nach Wiedereinführung bestimmter Sozial- und Familienleistungen wurde lauter. Wenn er die Chance bekam, das hintanzuhalten, würde er sie ergreifen.

„Ich denke, die Details des Übereinkommens sollte eine Arbeitsgruppe ausarbeiten. Wenn wir uns über das strategische Ziel einig sind, werden sich die Personalia finden.“ Nach zehn Minuten zermürbender Feilscherei hatte man sich provisorisch auf einen Staatssekretär im Finanzministerium für AÖ geeinigt. Bernds Blick begegnete dem ihren, sie sahen einander lange an. Nein, sie würde nicht falschspielen. „Fair, aber keine öffentlichen Manöver, bevor deren Ergebnisse vorliegen.“ Er hielt ihrem Blick stand und streckte seine Rechte aus: „Und maximal zwei Wochen. Länger haltet ihr das nicht mehr durch.“ – „Fair genug“, gab sie zurück und ergriff seine Hand.

Nun, das würden arbeitsreiche zwei Wochen werden, aber richtig gespielt, konnte so das AÖ auf ein Jahrzehnt seine Macht einzementieren. Wenn Fiona mitspielte. Und auch sie war nicht dumm. Nun – das würde schon klappen.

„Johanna, Wolf“ – er verneigte sich knapp in Richtung der Angesprochenen. „Ich finde den Weg.“

Die Villa des Bundespräsidenten

Auf dem Berg

Sterisches Bergland, 24. November 2028, 9:00

Zwei schwarze Limousinen krochen ein paar hundert Meter hintereinander die schmale, gewundene Straße durch einen dichten Tannenwald hinauf. An den wenigen sonnenbeschienenen Stellen glitzerte der Raureif an den dicht wachsenden Fichten, die Wagen tauchten immer wieder durch Nebelschwaden. Es war nahezu still, der Gastgeber, der zu so früher Stunde zu einem „Arbeitsfrühstück“ auf seinen Landsitz hoch oberhalb von Bruck an der Mur gebeten hatte, bestand darauf, dass auf dem Weg zu ihm ausschließlich Elektrofahrzeuge benutzt wurden. Kurz hörte man das Schwirren einer Drohne über den beiden Wagendächern. Auch wenn das zweiflügelige schmiedeeiserne Tor zu der wohl mehr als hundert Jahre alten Villa einen eher altersschwachen Eindruck machte und weit offenstand: Hier lag die der Öffentlichkeit weithin unbekannte und gut geschützte Privatresidenz des Bundespräsidenten.

Entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten empfing Friedrich Leicht die beiden Delegationen nicht bereits an der Auffahrt. Zwei uniformierte Staatspolizisten traten an die beiden Wagen heran und baten die Gäste höflich, aber ohne jede Spur von Freundlichkeit ins Haus. „Bitte geradeaus und dann die letzte Türe rechts. Der Herr Bundespräsident erwartet Sie schon.“

„Johanna, Wolf, bitte nach euch.“ – Bernd Birkenkiesel war allein gekommen. Entgegen dem Drängen des Bundespräsidenten hatten sich beide Seiten geweigert, die Hauptbeteiligten an diesem politischen Deal schon zu dieser Unterredung mitzubringen, was die frostige Atmosphäre erklärte, in der sie empfangen wurden. Der Alte marschierte im dunklen Anzug, auf seinen Stock gestützt, trotzig voran, gefolgt von der Landeshauptfrau in einem ihrer gewohnt neutralen grauen Kostüme, Bernd folgte zum Schluss, wie immer in Jeans, Turnschuhen, Sakko und mit offenem Hemd.