3 Sekunden - Karl-Theodor zu Guttenberg - E-Book

3 Sekunden E-Book

Karl-Theodor zu Guttenberg

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Beschreibung

Die Welt dreht sich immer schneller, ihre Unübersichtlichkeit wird zunehmend größer, die Meinungen prallen härter und härter aufeinander – viele Menschen empfinden all dies als bedrängend. Wann haben wir noch die Muße hinzusehen, ohne vorschnell zu urteilen, wann können wir noch nachdenken, auch ohne sofort eine Lösung finden zu müssen? KT Guttenberg nimmt sich die Zeit. Seine Texte auf LinkedIn, jeweils von Hunderttausenden gelesen, entspringen Alltagssituationen und Beobachtungen vom Wegesrand, er entdeckt Details unseres Lebens, die wir gern mal übersehen; er spürt Erlebnissen und Gedanken nach, die ihn inspirieren oder beunruhigen – auch, aber nicht nur, in der Politik. Er verbindet das Kleine mit dem Großen, das Absurde mit der Analyse und spiegelt das widersprüchliche Lebensgefühl unserer Zeit in einem lakonischen, immer wieder auch selbstironischen Stil. Und er setzt diese Beobachtungen zu seinem eigenen Leben und seinen Werten ins Verhältnis. Ein Buch voller kluger, unaufgeregter Beobachtungen über unsere aufgeregte Gegenwart. Ein Plädoyer für das genaue Hinsehen – und für das Besinnen auf das Wesentliche.

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Seitenzahl: 98

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KT Guttenberg

3 Sekunden

Notizen aus der Gegenwart

Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Open Minds Media/LOOPING GROUP

Umschlagmotiv: © Avinash Weerasekera

E-Book-Konvertierung: wunderlichundweigand, Schwäbisch Hall

ISBN (Print): 978-3-451-39659-5

ISBN (EPUB): 978-3-451-83195-9

Inhalt

Einleitung

I

II

III

 IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

XXVIII

XXIX

XXX

XXXI

XXXII

XXXIII

XXXIV

XXXV

XXXVI

XXXVII

XXXVIII

XXXIX

XL

XLI

XLII

Über den Autor

Einleitung

Dieses Buch hat einen etwas kuriosen Ursprung. Noch zu Beginn dieses Jahres war sein Erscheinen nicht geplant. Vielleicht ist es ein Beleg für die sich rasch wandelnden Zeiten, in denen wir leben, dass die Idee innerhalb weniger Monate entstand, reifte und schließlich ihre Umsetzung so fand, wie Sie sie nun in den Händen halten.

Ebenso charakteristisch für unsere Zeit ist der Auslöser, der mich dazu brachte, überhaupt zu schreiben. Als ich im vergangenen Jahr meinen ersten Dokumentarfilm gedreht hatte, ermunterten mich einige Mitstreiter, in den sozialen Medien aktiv zu werden. Dies sei heutzutage unverzichtbar, man könne da für das gemeinsame Projekt werben und viele Menschen ­direkt erreichen. Ich empfand die Vorstellung, solcherart zu trommeln, zunächst als grauenvoll. Während der vorhergehenden zehn Jahre war ich auf keiner der gängigen Plattformen aktiv gewesen. Wenig langweilt mich mehr, als andere bei deren Selbstoptimierung oder Wutausbrüchen zu begleiten. An Twitter störte mich der Furor und die Anonymität der Empörung, Instagram kam mir allzu flach und selbstverliebt vor. Eventuell ungerechtfertigte Urteile. Aber bis heute kann ich diesen Formaten nur wenig abgewinnen.

Schließlich schlug mir ein Freund LinkedIn vor. Ich war skeptisch. Vordergründig ein Business-Netzwerk. In der Regel werden dort berufliche Erfahrungen und Interessen, Inspirationen und gelegentlich Eitelkeiten geteilt. Da man sich als User im Gegensatz zur digitalen Konkurrenz nicht allzu leicht hinter einem Fantasienamen verstecken kann, geht es aber insgesamt recht gesittet zu.

Nun gut, dachte ich, dann probiere ich es einmal dort. Für mich ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Was auf meinem Profil posten, ohne in die ­Falle plumper Selbstdarstellung zu tappen? Was könnte die Leute an dem interessieren, was mich ­interessiert?

Anfänglich schlug ich wunschgemäß die Trommel für unseren Film. Das Echo war überschaubar. Ich hätte auch für ein Seifenprodukt werben können.

Nach einigen Wochen wagte ich einen Versuch. Ich hatte für mich schon seit längerer Zeit Dinge notiert, die ich auf meinen Reisen mitbekam, sah, erlauschte. Alltägliches, das mich gefesselt hatte, warum auch immer. Einen ersten dieser Texte veröffentlichte ich. Und beschloss, daraus eine Reihe zu machen.

Jeden Sonntag würde eine kleine Notiz über Beobachtungen und Begegnungen der vergangenen Woche erscheinen. Miniaturen meines Alltags. Erlebnisse, die auch eine stille Reflexion auf das eigene Leben erlauben. Manchmal mit einer Anspielung zum aktuellen Geschehen. Manchmal eine flüchtige Erinnerung an die Oberfläche des Bewusstseins spülend. Manchmal eine Absurdität. Immer mit einem Bezug zum Heute. Zu unserer vielfältigen, turbulenten, verstörenden, faszinierenden Gegenwart.

Ich dachte über den Begriff Gegenwart nach, denn er beschäftigte mich. Neurowissenschaftler, so las ich, haben in Studien herausgefunden, dass Menschen maximal eine Zeitspanne von drei Sekunden als »genau jetzt« empfinden. Davor erstreckt sich das »Eben-noch«. Danach folgt das »Jetzt-sofort«.

Drei Sekunden also verbinden Vergangenheit und Zukunft. Drei Sekunden machen unser Leben aus, genau jetzt, in diesem Augenblick.

Mit diesem Bewusstsein für die Kostbarkeit des Moments versuche ich, durchs Leben zu gehen, um womöglich einen Zipfel dessen zu erhaschen, was man Klarheit nennen könnte. Mit diesem Bewusstsein wähle ich auch aus, was ich schreibend erkunde.

Offenbar spricht diese Haltung nicht wenige Menschen an. Die Essays, die ich auf LinkedIn teilte, müssen jedenfalls irgendeinen Nerv getroffen haben. Sie verzeichneten teilweise mehr als eine Million »Views«, wie man das heute nennt. Ich erhielt zahlreiche Zuschriften. Erkennbar identifizierten sich viele Leser mit den beschriebenen Situationen. Oder rieben sich an einer persönlichen Reflexion. Es folgten spannende und gehaltvolle Diskussionen in den Kommentarleisten. Dies war kein digitales Geschnatter. Das Experiment schien mir gelungen.

Bei allem – mich mitunter überwältigenden – Zuspruch gab es aber auch vereinzelt Zweifel in der »Community«. Die einen fragten: »Hat er das wirklich selbst geschrieben?« Fröhlich weise ich bei solchen Gelegenheiten darauf hin, dass mein Lebensbedarf, mich mit fremden Federn zu schmücken, als gedeckt gelten darf. Deshalb: Ja, jede Zeile dieses Buches habe ich selbst verfasst. Ungenauigkeiten und Fehler sind allein mir zuzurechnen. Die Dialoge entsprechen meiner Erinnerung. Zudem habe ich die Namen meiner Begegnungen geändert, soweit sie nicht Figuren des öffentlichen Lebens sind.

Ein anderes Grüppchen raunte: »Hat er das wirklich erlebt?« Im Unterschied zur ersten Frage überraschte mich hier der Argwohn. Ist der Alltag etwa so unalltäglich geworden? Es gibt keinen Tag, der nicht ein Bündel von Anekdoten bietet, wenn man die Freude an der Betrachtung, am Gespräch, an den sogenannten kleinen Dingen des Lebens nicht verloren hat. Die Quellen meiner Erzählungen sind nicht spektakulär. Nur das Leben selbst ist es.

In vielen Kommentaren wurde schließlich der Wunsch geäußert, meine Notizen doch in ein Buchprojekt münden zu lassen. Ich war zunächst unsicher, ob ich es nicht besser bei den digitalen Fingerübungen belassen sollte. Eigentlich genug der Trommelei. Viele, insbesondere auch der Verlag Herder, haben mich dann ermutigt, den nächsten Schritt zu gehen. Dieser Band ist das Resultat. Er enthält noch einige Essays, die hier erstmals zu lesen sind.

Eine kleine Sammlung von Augenblicken, niemals länger als drei Sekunden, doch hoffentlich stets lang genug.

KT Guttenberg. München im August 2023

I

München, im Januar (1). Sitze mit dämlicher Pudelmütze im Englischen Garten. Der Versuch, mit klammen Fingern einen Text für ein anderes Medium zu schreiben, scheitert an mehreren Ablenkungen.

Da ist die ofenfrische Brezel vom Kiosk am Waldrand.

Und ein Akkordeonspieler, der sich an Bach’schen Fugen verhebt. Dies mit offenbar warmen Pfoten, aber überschaubarer Begabung. Er will kein Geld, nur Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich darf er zu Hause nicht mehr üben.

Eine ältere Dame stürzt. Drei junge Männer kümmern sich fürsorglich um sie.

Ein Dackel, der ungerührt vor meiner Parkbank sein Geschäft (groß) verrichtet, mit einem Herrchen, das ebenso ungerührt in die andere Richtung schaut. Mein belustigtes Glucksen quittiert wenigstens der Dackel mit so etwas wie einem schlechten Gewissen.

Aus dem Akkordeon tönt jetzt die Partisanenhymne »Bella Ciao«. Fehlerfrei.

Zahlreiche Familien wandern an mir vorbei. Ich höre mindestens acht unterschiedliche Sprachen. Liebevoller Umgang, fröhliches Lachen. Gefühlt alle machen sich über meine Pudelmütze lustig. Jede einzelne dieser Familien erscheint wie eine wirkliche Bereicherung für München. Und sie werden nicht nur angesichts unserer bedrückenden demografischen Entwicklung gebraucht. Daran dürfen in diesen Tagen all jene erinnert werden, die sich mit Pauschalurteilen über Integrationsversagen echauffieren. Beschämend, wie platt in unserem Land die Debatten nach der Berliner Silvesterböllerei geführt werden. Auf allen Seiten, von ganz links bis ganz rechts, und am liebsten ohne jegliche Differenzierung.

Übrigens: Die Brezelverkäuferin, der Mann mit dem Akkordeon und die drei Kavaliere haben alle das, was wir heute mit dem Wortungetüm »Migrationshintergrund« beschreiben. Herrchen und Dackel eher nicht.

Am fröhlichsten sind heute schließlich zwei sternhagelvolle bayerische Landsleute. Sie taumeln zum besagten Kiosk. Es ist 13.15 Uhr. Auch im Süden Deutschlands läuft nicht alles rund.

II

München, im Januar (2). Ein unerwartet einsamer Sonntag. Wenn Ihnen Ihre Familie fehlt, probieren Sie einmal die Staatsoper. Aber gehen Sie in eine Nachmittagsvorstellung. Allein. Am besten ein ­Ballett. Da müssen Sie nicht zwingend mit Regieexperimenten rechnen. Keine Nackten, die sich quietschend unter Halogenstrahlern mit Pferdeäpfeln bewerfen. Auch keine Zwölftonmusik. Stattdessen die ­Gassenhauer. Begleitet von Tausendtonmusik – das aufgeregte Stimmengewirr unzähliger fröhlicher Kinder. Mehr Familie geht kaum, in jeglicher Hinsicht.

Es sind nicht Ihre Verwandten, die darum knobeln, wer neben dem komischen Einzelgänger (mir) sitzen muss. Es ist auch nicht Ihr Sohn, der den sorgfältig am Vordersitz platzierten ­Kaugummi trotzig wieder in den Mund schiebt. Sie müssen auch nicht eingreifen, als ein Lausbub in den ersten Reihen etwas Undefinierbares in den Orchester­graben schnippt (flog da gerade etwas zurück?). Nicht Ihr kleines Mädchen, das im Parkett auf dem mitgebrachten Sitzkissen steht. Und ihrem Hintermann ungemein charmant die Sicht verbaut. Dieser ringt um eine vergleichbar charmante Lösung. Das ­Problem erledigt sich, als das Mädchen beim Versuch, alle Logengäste zu zählen, über die Lehne kippt. Kein Geheul, nur Gelächter.

Plötzlich Stille. Das Stück beginnt. Die Fröhlichkeit des Saales steckt auch die Musiker an. Jubel ­bereits zur Pause.

Ich komme etwas früher an meinen Platz zurück. Zwei Männer in meiner Nähe unterhalten sich auf Russisch. Über drei Bankreihen hinweg. Alles andere als fröhlich. Die Tonlage wird aggressiv. Sie werden erst durch das zurückkehrende, schnatternde Publikum unterbrochen. Der Zauber der Aufführung umfasst mich wieder. Ich vergesse den Vorfall.

Nach unzähligen Vorhängen drängen alle zu den Garderoben. Auf einmal stehe ich neben den beiden Streithähnen. Jetzt lachen und scherzen sie. Schulter­klopfen. Ich frage sie – auf Deutsch –, was ihnen denn die Pause so verhagelt hätte. Es ist ihnen merklich unangenehm. Einer brummt:

»Schauen Sie, wir haben beide Bekannte auf der Bühne. Ich bin Ukrainer.« Er deutet auf den anderen. »Er ist Russe. Wir haben uns wegen ­Zelensky ­gestritten. Sie wissen, wer Zelensky ist?« Leicht indig­niert nicke ich mein Klugscheißernicken.

»Die Tänzerinnen haben ihm ihre Karriere zu verdanken«, sagt der Russe.

Nun erinnere ich mich. Der russische Direktor des Bayerischen Staatsballetts war im letzten Frühjahr zurückgetreten. Sein Nachname: Zelensky. Er soll zudem mit einer Tochter Putins liiert sein. Durch Kritik am Krieg war er nicht aufgefallen.

»Sind wir an einem Tag wie heute nicht alle eine Familie?« Der Ukrainer wendet sich der Dame an der Garderobe zu und lässt mich mit seiner Frage ­verdattert zurück.

Die Abendnachrichten spiegeln eine andere Wirklichkeit. Eine unversöhnliche. Unser Land diskutiert über den Leopard 2.

PS: Gespielt wurde übrigens »Ein Sommernachtstraum«. In der magischen Inszenierung von John Neumeier. Ein Gassenhauer. Eine Realitätsflucht.

III

Eltville am Rhein.

Ein beißend kalter Tag. Wir tragen meine Großmutter zu Grabe. Sie war 102 Jahre alt, als sie sanft gehen durfte.

Eltville. Kindheitserinnerungen. Die ­Spaziergänge am Rhein. Meistens geliebt, manchmal verachtet. Schwarzangeln mit Nylonschnur und Wurm. Flache Steine über das Wasser springen lassen. Meine soffen immer nach zwei Hüpfern ab. Wettessen in der Eisdiele. Wettspeien am Abend. Die Alternativen dieser Zeit waren nicht Disney Channel oder Nickelodeon. Auch kein Handy oder IPad. Sondern andere Kinder, ein vorgelesenes Buch oder schlicht unsere Fantasie­(un)begabung.

Kindheitserinnerungen formen ­Sehnsuchtsorte. Nicht immer Realitäten. Ein Wettlauf zwischen Verdrängung und Verklärung. Jahre später, bei der Rückkehr an diese Orte, wachsen im Gedenken manche Menschen zu Riesen. Häuser, Räume und Plätze schrumpfen hingegen. Die Kirche der Trauerfeier hatte für mein kindliches Empfinden immer Kathedralengröße. Wie viel kleiner sie doch heute war! Selbst der Fluss wirkt schmaler, die ehemals mächtigen Schwäne sind plötzlich so groß wie überall ­anders auch.

Aber es gibt noch zwei Buchläden in der Fußgängerzone des Städtchens. Hessische Widerborstigkeit gegen Amazon.

Meine Großmutter wurde 1920 geboren. Sie war eine fromme Frau. Der Niedergang der Kirchen in unserem Land hat sie bewegt. Nicht erschüttert. Als ich ihr vor Jahren einmal »kritiklose Kirchen­bindung« vorhielt, korrigierte sie mich milde. Das treffe nicht zu. Und sie sei optimistisch. Wenn die Stürme wieder zunähmen, würden die Menschen den Weg zurück in die Gotteshäuser finden.

Die vergangenen Jahre formten Ängste: Pandemie, Krieg, Inflation, Klimawandel. Und die Kirchen? Sind im öffentlichen Bewusstsein eher Skandal­magnet. Nicht mehr Menschenmagnet. Erstmals seit Jahrhunderten ist die Mehrheit der Menschen in unserem Land nicht Mitglied in einer christlichen Kirche. Die Zahl der Kirchenaustritte ist beispiellos. Über 900.000 Menschen wandten sich im Jahr 2022 ab. Die katholische Kirche verlor rund 522.000 Mitglieder, die protestantische Kirche rund 380.000. Optimismus allein wird für eine Gesundung nicht mehr reichen.