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Hier prallen Gegensätze aufeinander – unterhaltsam und auf höchstem Niveau. Der Podcast »Gysi gegen Guttenberg«, aus dem dieses Buch hervorgeht, findet genau deshalb hunderttausende Zuhörer und füllt ganze Hallen. Gregor Gysi und KT Guttenberg sprechen über Themen und Fragen, die uns alle bewegen – Ukrainekrieg, Amerika, Klimapolitik, AfD oder die komplexen Ost-West-Gegensätze. Die beiden (Ex-)Politiker geben sich nicht mit oberflächlichen Diskussionen zufrieden. Doch dieses Buch geht weit über politische Diskussionen hinaus. Es öffnet die Türen zu den großen Lebensthemen: Krisen und Krankheit, Niederlage und Neuanfänge, Vorbilder und Feindbilder. Ein unterhaltsamer, wertschätzender und ehrlicher Dialog auf höchstem Niveau, der nicht nur zum Denken herausfordert, sondern auch dazu anregt, sich mit den Themen auseinanderzusetzen – selbst wenn man unterschiedlicher Meinung ist.
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Seitenzahl: 392
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Covergestaltung: zero-media.net, München
Cover-Motiv: © Oliver Reetz (Gregor Gysi);
© Picture Press/Roderick Aichinger/Stern
(KT Guttenberg)
EPUB-Konvertierung: wunderlichundweigand, Schwäbisch Hall
ISBN (Print): 978-3-451-39795-0
ISBN (EPUB): 978-3-451-83485-1
Inhalt
»So kann man’s ooch sehen.«
Warum wir miteinander reden
»Das waren auch so Momente, wo ich fast Verlassenheit gespürt habe.«
Über Einsamkeit
»Die Amerikaner gehen schneller ins Risiko, weil sie auch das Scheitern gesellschaftlich akzeptieren.«
Sind die USA noch unser Freund?
»Humorlosigkeit haben wir leider mittlerweile an allen Ecken und Enden.«
Wie witzig sind wir Deutschen?
»Dann können Sie uns als Industrienation vergessen.«
Wie muss unser Verhältnis zu China sein?
»Und schon ist man wieder in der Schleife, gegenwartsgetrieben, legislaturperiodengetrieben.«
Kann Deutschland noch Zukunft?
»Warum tretet ihr nicht mit etwas mehr Selbstbewusstsein auf?«
Ostdeutschland und Westdeutschland
»Am Ende bin ich gern wieder hierher zurückgekehrt.«
Über Heimat
»Wir müssen den Dritten Weltkrieg verhindern.«
Der Krieg in der Ukraine
»Ich dachte ja immer, ich bin dein Vorbild. Aber das scheint gar nicht zu stimmen.«
Idole und Vorbilder
»Im Zweifel muss ich nie wieder mit ihm sprechen – aber an den Galgen habe ich ihn gehängt.«
Die Medien
»Wenn dich jemand hasst, darfst du nicht zurückhassen.«
Über Meinungsvielfalt
»Bei der fünften Kundgebung war ich plötzlich nicht mehr sicher: Hattest du schon über Arbeitslosigkeit gesprochen, oder war das bei der vorhergehenden Kundgebung?«
Wahlkampf
»Ich weiß gar nicht, wo das alles endet.«
Israel und Gaza
»Angela Merkel war sicherlich zuweilen eine brillante Politikerin des Tagesgeschehens.«
Die Kraft des Neuanfangs
»Wir befinden uns in einem Teufelskreislauf.«
Der Kampf gegen die AfD
»Das ist eine Volkskrankheit!«
Über Depressionen
»Am Ende aber entscheiden ein paar Zehntausend Menschen.«
Trump reloaded
»Nur auf einer Wolke sitzen und jubilieren, das will von uns beiden sicher keiner.«
Über den Tod und das Sterben
»Ich halte es überhaupt für ein Problem, dass die Rüstungsindustrie privat ist.«
Über »Kriegstüchtigkeit«
»Nichts ist ein Dauerzustand – auch diese Erkenntnis kann etwas sehr Tröstliches sein.«
Über die Hoffnung
Über die Autoren
»So kann man’s ooch sehen.«
Warum wir miteinander reden
Guttenberg
Soll ich erzählen, wie alles begann, lieber Gregor? Ich habe ja damals die Angel ausgeworfen … Ich dachte mir, es müsste unter den deutschsprachigen Podcasts ein Angebot geben, das sich von den üblichen Schilderungen der Dinge unterscheidet. Nachdenklich und trotzdem streitig. Die Frage war: Wer wäre dafür der unterhaltsamste und streitbarste Gesprächspartner? Mit wem würde der fortwährende Dialog nicht nach drei Monaten langweilig werden? Dein Name stand ganz oben auf der Liste. Obwohl wir wirklich von sehr unterschiedlichen Planeten kommen, habe ich dich in meinen Jahren als Politiker immer sehr geschätzt, weil ich eine Neigung zu Menschen habe, die einfach richtig gut argumentieren können – mit Überzeugungen, die vielleicht nicht meinen entsprechen, die aber glaubwürdig sind. Also schrieb ich eine E-Mail, ob wir uns nicht treffen könnten. Du sagtest sofort zu.
Gysi
Ich möchte erst mal auf Folgendes hinweisen: Als du damals Verteidigungsminister warst, der selbstverständlich die Politik der Bundesregierung zu vertreten hatte, hatten wir eigentlich gar keinen Kontakt. Du warst ja auch ganz oben. Aber dann wurdest du nach unten gezogen. Und ich bin nun einmal Anwalt. Ich fühle mich immer zu Personen hingezogen, wenn es ihnen nicht gut geht – nicht umgekehrt. Und deshalb habe ich dich damals in dieser für dich schwierigen Zeit angesprochen.
Guttenberg
Das war, zur Einordnung, im Jahr 2011, als die Wellen der öffentlichen Empörung gerade mit Wucht über mir zusammenschlugen und ich mich kurz darauf aus der Politik zurückzog. Damals habe ich mich wirklich gefreut, dass jemand einfach auf mich zukam und sich freundlich mit mir ausgetauscht hat. Das war seinerzeit nicht die Regel.
Gysi
Jetzt, bei unserem Gespräch im Frühjahr 2023, war es so, dass du mir deine Vorstellungen zu dem Podcast erläutert hast – und ich war von einem Gedanken fasziniert, nämlich von der Gegenüberstellung. Auf der einen Seite ein Mensch, der vollständig im Westen und dann noch in einer gehobenen Schicht sozialisiert wurde und daraus bestimmte Einstellungen und Gefühle gewonnen hat. Das Zweite, was mir wichtig war, ist: Du weißt, wie es ist, wenn man aufsteigt. Und du weißt aber auch, wie es ist, wenn man abstürzt. Nur wenn einer beides erlebt hat, weiß er um die Unzuverlässigkeit des Erfolgs. Auf der anderen Seite jemand wie ich, der vollständig im Osten sozialisiert wurde, wenn auch unter bestimmten, besonderen Bedingungen. Das eigentliche Privileg meines Lebens in der DDR bestand darin, dass meine Familie Besuch aus den USA bekam, aus Südafrika, aus Großbritannien, aus Belgien, aus den Niederlanden und vor allem aus Frankreich. Das gab es sonst nicht in der DDR. Und das hat natürlich meinen Blick etwas erweitert. Außerdem bin ich, was wichtig ist, mit Ironie und Selbstironie aufgewachsen. Mein Vater konnte nicht nur ironisch sein, sondern auch selbstironisch.
Guttenberg
Das haben wir gemeinsam.
Gysi
Zum Beispiel kam zu uns immer ein reicher Franzose. Ich weiß nicht, warum, jedenfalls hatte er die Kommunistische Partei in Frankreich unterstützt. Und ich war noch ein Kind, da fragte ich ihn: Was machst du eigentlich, wenn die sozialistische Revolution in Frankreich gesiegt hat? »Oh«, sagte er, »das weiß ich. Dann gehe ich sofort in die Schweiz und kämpfe weiter.«
Insofern reizte mich jetzt diese Gegenüberstellung. Und, letzter Gedanke: Ich war davon überzeugt, dass du im Kern ehrlich argumentieren wirst, genau wie ich. Und zwar, weil du nicht mehr in der Politik bist. Du musst nicht auf irgendwelche Beschlüsse Rücksicht nehmen und hierauf und darauf. Und ich habe das noch nie gemacht. Das war für mich auch ein Reizpunkt, dass ich mir sagte: Der sagt, was er denkt. Wir beide kennen uns also von früher aus dem Bundestag und dem politischen Betrieb, aber wir hatten uns seit Jahren nicht gesehen.
Guttenberg
Einmal hatten wir uns in der Zwischenzeit getroffen, fällt mir ein. Das muss am Tegernsee gewesen sein.
Gysi
Ja, da war ich eingeladen und sollte dort sprechen, wo die reichsten Leute Deutschlands wohnen. Es gab ein Abendessen, und das Beste an dem Abendessen war, dass alle über den Verrückten sprachen, der gerade im März im See geschwommen war. Dieser Verrückte, das war ich gewesen – aber ich habe natürlich nichts gesagt.
Guttenberg
An diesem Ort waren sicher mehr Menschen über deinen Sprung in den kalten See beeindruckt als über deine politischen Ansichten.
Gysi
Die wussten ja gar nicht, dass ich das war. Sie zogen nur anonym über den Verrückten her. Und da ich mich nicht zu erkennen gab, zog ich mit den anderen über den Verrückten her.
Guttenberg
Nun reden wir ja seit vielen Monaten, aber diese Geschichte habe ich noch nicht gehört … Wenn wir uns treffen, machen wir ja möglichst zwei Episoden hintereinander, das dauert mit allen Vorbereitungen zwei bis drei Stunden. Die gemeinsamen Abendessen kommen noch obendrauf. Bei diesen Gelegenheiten haben wir uns jetzt erst richtig kennengelernt.
Gysi
Fang du mal an, bitte.
Guttenberg
Also, wir neigen beide nicht dazu, Klischees zu bedienen, und überraschen uns immer mal wieder auch gern selbst. Und wenn man sich selbst überrascht, überrascht man auch das Gegenüber – oder jemanden, der einem zuhört. Mir war wichtig, dass mir keine Sprechblasen begegnen oder vorgestanzte ideologische Grundsätze um die Ohren gehauen werden, sondern dass man sich auch gegenseitig eine gewisse Nachdenklichkeit erlaubt. Bei Gregor ist es so wie bei mir: Wir reden, wie uns der Schnabel gewachsen ist, und nehmen keine Rücksicht auf Befindlichkeiten. Erst mal haben wir einen Testlauf gemacht. Denn zu klären war ja: Wenn man sich gegenübersitzt, schmeißt man sich gleich die Kaffeetasse an den Kopf oder das Weinglas? Und verlässt laut zeternd und unter Absingen schrecklicher Beschimpfungen den Raum? Oder hat man tatsächlich nach einer Stunde das Gefühl, dass man ein bereicherndes Gespräch geführt hat? Und das war beim ersten Mal schon der Fall. Aus dem Testlauf wurde die erste Episode. Das Thema hieß Einsamkeit.
Ein Thema, auf das wir uns nicht vorbereiten konnten. Und das trägt seitdem unsere Gespräche: dass wir uns nie vorbereiten, sondern versuchen, so spontan wie möglich zu sein und damit einen echten Dialog zustande zu bekommen, als würden wir uns abends unvermittelt begegnen. Dieses Prinzip hat sofort funktioniert. Und ich habe auch gleich Lust auf das nächste Gespräch empfunden. Ich weiß nicht, wie es dir gegangen ist, wahrscheinlich hast du danach erst mal einen Schnaps gebraucht.
Gysi
Das erste Gespräch war insofern eine Besonderheit, als wir unterschiedliche Situationen der Einsamkeit erlebt haben. Ich war mal als Student ein ganzes Jahr isoliert und weiß, wie das ist – die Tatsache, dass mein Vater ein hoher Funktionär war, hatte mich plötzlich verdächtig gemacht. Und zwar, weil Kinder von hohen Funktionären nach dem Einmarsch der Sowjetunion in die ČSSR zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Das drehte sich dann ganz merkwürdig. Es war wirklich spannend zu erleben, wer mit wem befreundet blieb. KT, du hast in einer ganz anderen Situation Ähnliches erlebt. Aber wir haben dann auch weiter darüber nachgedacht: Was ist eigentlich politische Einsamkeit? Woher kommen zum Beispiel in der Parteipolitik die plötzlichen Wendungen? Wir sprachen auch darüber, dass ich glücklicherweise immer – aufgrund der Umstände in meiner Partei – in meiner unmittelbaren politischen Umgebung Freunde hatte. Das gibt es sonst eigentlich nicht. Diese Perspektive hat wiederum bei dir Gedanken ausgelöst. Und das Schöne war, dass die Leute, die sich die erste Folge angehört haben, erstaunt waren über die Art und Weise, wie wir miteinander redeten – und wiederum wir erstaunt waren, in wie viel Punkten wir übereinstimmen. Natürlich gibt es Differenzen. Aber das ist ja das eigentlich Aufregende an einem solchen Podcast. Plötzlich merkst du, der ist ja auch ein Mensch, der hat auch seine Gefühle. Er ist auch verletzlich. Er ist eitel wie du auch. Aber die Frage ist immer: Beherrschst du die Eitelkeit? Oder beherrscht sie dich? Ersteres ist überhaupt kein Problem, Letzteres ist eine absolute Katastrophe. Dann gehen wir ab und zu miteinander essen, dabei tauschen wir uns auch wirklich privat aus. Und so entsteht eine gewisse persönliche Bindung. Die spürt man in den Gesprächen – die führt aber nicht dazu, dass du nicht deine Meinung sagst oder ich nicht meine Meinung sage.
Guttenberg
Das Wort Vertrauen ist ja ein inflationär gebrauchter Begriff, zumal im Politischen, und dort wird er meistens mit Füßen getreten. Aber wir haben, das darf ich sagen, sehr schnell Vertrauen gefasst. Nur so kann man sich Offenheit leisten. Wir legen immer Wert darauf, nicht über Tagespolitik zu reden, um nicht in die übliche Gehetztheit abzudriften. Und wir versuchen bei allen Themen, seien sie politisch oder persönlich, sie mit sehr persönlichen Erfahrungen, auch tiefen persönlichen, manchmal schmerzhaften, manchmal lustigen, manchmal grotesken, zu verbinden. All das kann man nur, wenn man eine gemeinsame Vertrauensbasis hat. Ob eine politische Überzeugung in die eine oder andere Richtung geht, ist dann egal. Das verbindende Element ist das Vertrauen. Und daran fehlt es an so vielen Ecken und Enden in unserer Gesellschaft heute. Wir wollen Versöhnlichkeit vorleben angesichts der ganzen Streitsucht, die herrscht, angesichts des Vernichtungswillens, der manchmal zum Ausdruck kommt. Dass das verstanden wird, bekommen wir auch als Feedback von den Hörerinnen und Hörern.
Noch ein letzter Punkt: Was uns beide überrascht hat, ist, wie egal es ist, ob wir, was wir natürlich beide vorziehen, gemeinsam an einem Tisch sitzen und dieses Gespräch Auge in Auge führen oder ob wir das Gespräch, weil es manchmal der Terminkalender nicht anders zulässt, viele Tausend Kilometer voneinander entfernt über einen Videocall führen. Trotzdem entsteht die gleiche Dynamik.
Gysi
Das ist zum Verständnis für unser Publikum wichtig: Wir haben tatsächlich erst durch die Arbeit für den Podcast dieses Vertrauen gefasst. Wir kannten uns vorher viel zu wenig, um Vertrauen haben oder nicht haben zu können, es war also nicht so, dass sich da wieder zwei alte Freunde oder Weggefährten fanden. Sondern das ist erst jetzt entstanden. Und so kamen wir auch vom »Sie« zum »Du«. Ich bin ja der Ältere, und zwar der deutlich ältere.
Guttenberg
Der bei Weitem ältere!
Gysi
Was du immer vergisst, ist, dass ich dadurch natürlich auch der Erfahrenere bin, das muss ich dir immer wieder erklären. Beim zweiten Essen habe ich dir das »Du« angeboten, oder? Ich hatte mir gedacht, wenn wir jetzt so intensiv zusammenarbeiten, ist es albern, sich immer weiter zu siezen. Dann haben wir uns überlegt, ob wir uns auch vor dem Publikum duzen – und haben uns schließlich dafür entschieden. Wir wollen auch da authentisch sein.
Guttenberg
Das hat sich wirklich sehr natürlich ergeben. Zumindest ich freue mich immer wieder, aus den Gesprächen etwas mitzunehmen, das ich so als Gedanken noch nicht gehört habe, und sich – im Gespräch – die Zeit zusammen mit den Zuhörern zu nehmen, darüber nachzudenken. Für mich ist das eine große Bereicherung.
Gysi
Ab und zu kommen von dir für bestimmte Ansichten Begründungen, die ich so noch nicht gehört habe. Und dann muss wiederum ich darüber nachdenken. Das geht mir auch im Bundestag so, ich bin nicht so ignorant. Es kann vorkommen, dass mal ein Argument gegen eine meiner Positionen geäußert wird und ich sagen muss: Da ist was dran. Natürlich nicht häufig, aber es kommt vor. Und bei dir, lieber KT, kommt das häufiger vor.
Dann gibt es Themen, in denen wir einfach unterschiedliche Auffassungen haben und wissen, dabei bleibt es, und das ist auch nicht tragisch. Man kann Hörerinnen und Hörer damit anziehen, indem man im Gespräch den anderen foltert oder herumschreit. Dann besteht für das Publikum nur Vergnügen an dem Boxkampf, der da stattfindet. Aber das ist nicht unser Ding. Wir haben uns beide für die Methode des Zuhörens entschieden, und ich werde häufig auf Straßen angesprochen, dass die Leute das mögen.
Aber ich muss noch etwas erzählen. Ich habe meine Freundinnen und Freunde gefragt, da ich mir selbst nie einen Podcast anhöre, wann hört man denn so etwas? Die haben mir erklärt: beim Autofahren, in der Küche beim Kochen, beim Nähen. Ich frage mich, warum ich das nicht mache. Also selbst das macht mich nachdenklich.
Guttenberg
Manche, die mich auf den Podcast ansprechen, fragen: Warum nennt ihr das Ding denn Gysi gegen Guttenberg? Das weckt doch vollkommen falsche Erwartungen. Was ihr da macht, ist: Gysi knutscht Guttenberg. Und dann antworte ich, hört euch das mal etwas genauer an. Oft sind es die Nebensätze und die Zwischentöne, die die andere Ansicht ausmachen, und doch ist der Austausch gleichzeitig immer von Respekt getragen. Audiatur et altera pars, höre auch die andere Seite – das ist ja mittlerweile ein vollkommen vergessenes Element anständigen menschlichen Umgangs. Wo wir uns nicht vom Haken lassen: wenn der andere keine Begründung liefern kann. Das ist aber bislang noch nicht wirklich passiert, dass einer von uns gedacht hat: Er kann doch nicht allen Ernstes an dieser These festhalten. Wahrscheinlich wird es irgendwann so weit sein. Ich bin gespannt, wie wir dann darauf reagieren.
Gysi
Im Herbst durfte ich ja auch zu Besuch im Haus deiner Vorfahren sein. Ich will gar nicht viel darüber sagen, nur dass mir klar geworden ist, wie völlig anders deine Kindheit verlaufen sein muss im Vergleich zu meiner. Wahrscheinlich auf deiner Seite mit viel mehr Geschichtsbewusstsein, als es bei mir der Fall war, auf der anderen Seite aber auch viel geschlossener als bei mir, obwohl die Gesellschaft offener war. Auch eine Familienstruktur zwingt zu einer bestimmten Geschlossenheit. Du hast diese Geschlossenheit nach meinem Verständnis immer akzeptiert, du hast deine Familie nie verleugnet, du hast aber trotzdem eine Befreiung daraus gesucht und dafür einen Weg gefunden – auch das verlangt mir Respekt ab: wenn wir beide irgendetwas psychologisch zu erklären versuchen. Wir sind ja beide Amateurpsychologen …
Guttenberg
Da gibt es schon mal die Rückmeldung, wie man eigentlich eine so steile These, ohne Experte zu sein, einfach so aufstellen könne. Zu deiner Schilderung meiner Kindheit: Wir sind beide in Zwängen aufgewachsen. Bei dir war es ein gesellschaftlicher Zwang, der dich umgab. Bei mir waren es sicherlich viele familiäre Zwänge. Und ja, da treffen wir uns, im Bemühen um Befreiung aus den Zwängen. Das macht ja was mit einem Menschen. Natürlich gibt es viele da draußen, die einen am liebsten bis in alle Ewigkeit mit ihrem Klischeebild belegen würden. Und denen kann man nur lächelnd entgegentreten und sagen: Hört euch unseren Podcast an, und bekommt ein Stück unserer Befreiung mit.
Gysi
Die Zuschriften, die mich direkt erreichen, beantworte ich alle – aber ein richtiger Politiker war noch nicht dabei.
Guttenberg
Bei mir schon. Gott sei Dank habe ich mittlerweile einigen Abstand, aber ich werde schon von ehemaligen Kollegen angesprochen. Der eine oder andere nörgelt mit offenbar reflexhaftem Entsetzen, wie man das mit einem wie dem Gysi machen könne. Wenn ich frage: Hast du dir denn den Podcast schon angehört, wird schnell klar – natürlich nicht. Andere kommen an und sagen: Mensch, was für ein unglaublich gutes Format. Können wir nicht was Ähnliches machen? Wir durften feststellen – Gregor, das haben wir ja selbst kaum für möglich gehalten –, dass wir nach ein paar Monaten viele Millionen TikTok-Views hatten, dass wir nach einem Jahr an der Schwelle von 100 000 Abonnenten stehen. Eine solche Aufmerksamkeit ist natürlich eine Währung im politischen Geschäft – und deswegen wächst das Interesse deiner Nochkollegen und meiner ehemaligen Kollegen.
Gysi
Man darf aber den Aufwand nicht unterschätzen. Es erreichen mich Anfragen von Veranstaltern, ob ich das nicht auch mit anderen Gegenüber machen könnte. Aber der eine Podcast reicht mir. Ich bin ja auch noch ein disziplinierter Bundestagsabgeordneter, da gibt es namentliche Abstimmungen und den leider oft langweiligen Auswärtigen Ausschuss. Neuerdings werden wir beide auch gemeinsam in Talkshows eingeladen – darauf wäre früher kein Mensch gekommen. Aber das hat immer auch Konsequenzen, die man sich vorher überlegen sollte. Weil ich fast alle Mails selbst beantworte, habe ich nach einer solchen Sendung so viel zu tun, dass mich das tagelang beschäftigt. Deshalb sagt mein Büro immer: Nicht schon wieder! Denn ich kriege es nicht fertig, die Mails nicht zu beantworten. Die kritischen genauso wie die freundlichen.
Guttenberg
Das ist jetzt die ganz hohe Schule der Koketterie, denn gelegentlich gehst du ja gern zu den Talkshows. Das Schöne ist bei unserem Format, dass wir uns nicht den Fragen eines anderen unterwerfen müssen oder der Agenda einer Redaktion, sondern dass wir selbst das Narrativ bestimmen. Wir nehmen uns genau so viel Zeit, wie wir wollen. Wir besprechen die Themen, die wir wollen, und wir bedienen uns dessen, was aus unserem Kopf kommt. Und das ist wahrscheinlich für viele auch der Anreiz zuzuhören, weil sie sagen: Das ist wirklich authentisch.
Gysi
Vor allem: Wir führen ein Gespräch. Das gibt es ja sonst nicht. Sonst stellt nur einer Fragen, und der andere antwortet, das normale Verhältnis bei einem Interview oder auch bei einer Moderation. Was mich angenehm überrascht, ist, wie wir unsere Gedanken ausführen können, ohne dass einer versucht, den anderen zu dominieren. Nach dem Motto: Mir gehören immer zwei Drittel der Zeit und dem anderen nur ein Drittel. Das stört uns gar nicht. Der eine darf argumentieren, dann der andere. Und wenn einer von uns beiden mal zu lange spricht, weiß der es selbst. Dann sagt er: Ich weiß, ich muss jetzt gleich aufhören. Das registrieren die Leute auch.
Guttenberg
Die Briefe, die unsere Redaktion bekommt, sind sehr konstruktiv, oftmals lang, nachdenklich, wohlwollend, froh gestimmt, insgesamt absolut gutwillig. Der Grundansatz wird verstanden, ein Angebot unterhaltsamen und respektvollen Gesprächs zu machen. Und das Resultat ist, das höre ich sehr oft, dass wir gerade auch bei komplexen Themen eine Brücke schlagen in einer Gesellschaft, die viele der Themen, die wir behandeln, im hohen Maße mit unversöhnlichen Gräben durchzogen hat. Und wenn wir zu einer besseren Verständigung einen kleinen, bescheidenen Beitrag – in unserer uns beiden gegebenen Unbescheidenheit – leisten können, ist damit schon viel gewonnen. Das ist die Rückkoppelung, die ich immer wieder höre und sehe. Du hast viel Unversöhnlichkeit erfahren im Leben und ich auch. Es gibt Momente im Leben, in denen man zu Recht viel Kritik erfährt. Aber Unversöhnlichkeit, finde ich, sollte es nie geben.
Gysi
Wir sprechen über politische, aber vor allem auch über gesellschaftliche Fragen. Das ist auch neu. In politischen Talkshows herrscht der Wettbewerb, jeder möchte erfolgreicher argumentieren als die anderen. Aber wir beide gehen ruhig an unsere Gespräche heran und stehen weder unter Zeitdruck noch unter Konkurrenzdruck. Wir stehen eigentlich gar nicht unter Druck, sondern wir können völlig offen über ein bestimmtes gesellschaftliches Thema sprechen. Ich glaube, dass diejenigen, die das hören, genau das genießen. Es ist etwas anderes als das, was wir täglich im Fernsehen erleben.
Guttenberg
Nach knapp einem Jahr und rund 50 Folgen – welche Episoden sind bei dir hängen geblieben?
Gysi
Was es hinsichtlich des Krieges der Nato gegen Serbien zwischen uns einerseits für eine Übereinstimmung und andererseits für einen Widerspruch gegeben hat – das fand ich spannend, darüber habe ich nachgedacht. Was mich fasziniert und beeindruckt hat, war immer, wenn du von deiner Kindheit gesprochen hast, die so völlig anders verlaufen ist als meine. Da habe ich in mir ein gewisses Mitgefühl erlebt. Denn viele Außenstehende sind wahrscheinlich neidisch und denken: Mensch, wenn man wie der Guttenberg in einer solchen Familie aufwächst, das muss fantastisch sein. Aber mir ist klar geworden, dass es auf der einen Seite fantastisch und auf der anderen Seite eher furchtbar war. Dies ins richtige Verhältnis zu bringen, ist nicht leicht und für ein Kind nun schon gar nicht. Auch ich hatte einen Vater, der gelegentlich mal ausrasten konnte, aber der hat sich bei mir am nächsten Tag entschuldigt.
Guttenberg
Da geht es mir sehr ähnlich. Als Jugendlicher hatte ich zwar die DDR in unmittelbarer Nachbarschaft erlebt, aber ich hatte überhaupt keine Vorstellung, wie sich das Leben dort abgespielt hat. Das nun nicht nur aus historischen, sondern aus Interesse am Menschen noch mal erfahren zu dürfen, empfand ich als spannend. So hat sich auch Schritt für Schritt ein vielfältiges Bild von dir eröffnet, von einem Menschen, der sonst oftmals nur auf seine politischen Aussagen verkürzt wird. Was uns auch ganz gut gelungen ist: wenn wir uns zwischendurch ein großes geopolitisches Thema vornehmen. Der Wechsel der Themen wird auch bleiben. Wir werden weiterhin über größere politische und gesellschaftliche Komplexe sprechen, aber dann eben auch mal über Humor oder über Heimat.
Gysi
Unbedingt! Dass zwei solche Figuren wie wir überhaupt zusammenkommen, ist das Ergebnis unserer spannenden Geschichte. Früher habe ich gern zu den Alten im Osten gesagt: Ich weiß gar nicht, warum ihr nur herummault und kaum Selbstbewusstsein habt. Ihr habt als Kinder die Weimarer Republik erlebt, dann die Nazidiktatur einschließlich des Zweiten Weltkriegs, dann die sowjetische Besatzung, dann die Gründung der DDR und das Ende der DDR und erlebt jetzt die Bundesrepublik Deutschland. Andere brauchen sieben verschiedene Leben für das, was ihr in einem Leben erlebt habt. Und einmal antwortete ein alter Genosse: »So kann man’s ooch sehen.«
Man darf nie unterschätzen, welche Schwierigkeiten Menschen haben, die eine völlig andere Sozialisation haben als wir, sich an Veränderungen anzupassen – mir fällt Erich Honecker ein, der stocksteif neben dem Kaiser von Japan saß und nichts zu sagen wusste. Wenn man sich für diese menschliche Begrenztheit noch Mitgefühl erhält, das ist wichtig. Also, lieber KT, ich habe begriffen, dass dein Leben anders war als meines, manchmal war meines sehr viel schwieriger, aber schwierig war deines auch.
Guttenberg
So kann man’s ooch sehen. Ich glaube, dieser Satz fasst wahrscheinlich unsere Dynamik am besten zusammen. Hast du abschließend noch einen Wunsch für die Zukunft unserer Gespräche?
Gysi
Dass es zwischen uns nie ein Missverständnis gibt, das das Ganze unmöglich machte.
»Das waren auch so Momente, wo ich fast Verlassenheit gespürt habe.«
Über Einsamkeit
Guttenberg
Herr Gysi, denken wir uns mal in jemanden hinein, der 20 Jahre alt ist. Wer oder was sind wir? Was sollte dieser junge Mensch über Sie wissen?
Gysi
Da muss ich erst mal eine Gegenfrage stellen. Ist es ein 20-Jähriger deutscher, chinesischer oder türkischer Nationalität? Da sieht meine Erklärung unterschiedlich aus.
Guttenberg
Angesichts Ihres internationalen Ruhms ist das eigentlich vollkommen egal.
Gysi
Gut, dann würde ich darauf hinweisen, dass ich zwei Berufe habe: dass ich Facharbeiter für Rinderzucht bin, was ich irgendwann mal erklären werde. Zweitens bin ich Diplom-Jurist und habe in der DDR den Beruf eines Rechtsanwalts ausgeübt. Das klingt nach überhaupt nichts Besonderem, aber in der DDR war das eine Rarität. Wir hatten insgesamt in der DDR 600 Rechtsanwälte. Diese Zahl haben wir heute allein am Kurfürstendamm. Und erst 1989, mit 41 Jahren, bald 42 Jahren, bin ich in die Politik gegangen, im Zusammenhang mit den Unruhen und Veränderungen, die damals in der DDR stattfanden, die ja kurze Zeit später untergegangen ist. Das war natürlich ein spannender Lebensabschnitt. In der ersten Zeit, als ich Bürger der Bundesrepublik Deutschland wurde, hat mich die Mehrheit abgelehnt, zutiefst abgelehnt und überhaupt nicht akzeptiert. In dieser Zeit habe ich eine neue Eigenschaft an mir festgestellt: dass ich doch preußisch stur bin. Das wusste ich gar nicht. Und deshalb habe ich darum gerungen, Akzeptanz zu erreichen. Was nicht leicht war. Mein zweites Politikerleben heute, in dem eine Mehrheit mich akzeptiert, ist wesentlich angenehmer als das erste Politikerleben. So, dann müsste der junge Mensch vielleicht noch wissen, dass ich zurzeit 75 Jahre alt bin und deshalb nur noch vier Berufe ausübe. Ich bin tätig als Politiker, als Rechtsanwalt, als Moderator – das kann man auf Youtube sehen. Und dann bin ich noch Autor, ich schreibe gelegentlich auch Bücher. Ich finde, das reicht, mehr muss man nicht wissen.
Guttenberg
Sie sind für die Linke noch im Bundestag. Im politischen Zirkus war ich auch mal unterwegs, bin dann aber ziemlich auf die Nase geflogen. Ich war einige Jahre im Deutschen Bundestag, in der Bundesregierung als Minister und bin dann, nachdem ich zurücktreten musste, für etwa zehn Jahre in die USA gegangen, wurde dort zunehmend zum Weltenbummler. Bin aber jetzt wieder zurück in Europa und in unterschiedlichster Funktion tätig, aber einfach im Wesentlichen neugierig.
Und wir müssen natürlich die Frage klären: Warum sprechen wir miteinander? Zunächst ganz banal, weil es uns Spaß macht, miteinander zu reden, weil wir interessiert aneinander sind, weil wir aus ganz unterschiedlichen Feldern kommen. Ich bin im konservativen Bereich groß geworden, Sie im linken Spektrum. Aber wir haben uns immer gemocht. Und was heute in Deutschland fehlt, ist ein breiter, offener Dialog über die großen Themen, auch jene, die nicht nur politisch sind, sondern die das Leben spielt.
Gysi
Da ich ja den Beruf des Rechtsanwalts über viele Jahrzehnte ausgeübt habe, interessieren mich immer Menschen mit Problemen – andere kommen nicht zum Anwalt. Sie, lieber Herr Guttenberg, hatten früher einmal Probleme, ich hatte auch mal Probleme, und komischerweise spreche ich immer Menschen an, wenn sie Probleme haben, nicht wenn es ihnen gut geht. Das ist der eine Punkt, der uns verbindet. Der zweite: Mich reizt natürlich, dass Sie viel vornehmer sind als ich. Ich meine, Sie stellen sich einfach als KT Guttenberg vor. Man muss ja wissen: Freiherr Karl Theodor zu Guttenberg. Sehr schöner Titel. Mit anderen Worten: Ihre adelige Herkunft, Ihre absolut westdeutsche Sozialisation in jeder Hinsicht, das Konservative. Das alles reizt mich auch zum Gespräch, weil es natürlich Differenzen gibt. Aber immer wieder auch erstaunliche Übereinstimmungen.
Guttenberg
So erging es mir mit Ihnen auch. Trotzdem haben wir bereits gemerkt: Man kommt sich in vielen Themen erstaunlich nahe. Aber wir werden uns natürlich auch streiten, wenn es sich ergibt.
Das Thema, das wir uns heute zum Start ansehen wollen, ist eines, das einen im Alter gern heimsucht. Aber nicht nur da. Es geht um Einsamkeit.
Gysi
Wissen Sie, es gibt eine berufliche Einsamkeit. Und es gibt eine private Einsamkeit. Das ist nicht identisch. Erzählen Sie doch mal bitte, wann Sie sich besonders einsam gefühlt haben. Und zweitens, ob Sie glauben, dass eher der Erfolg einsam macht oder eher der Misserfolg.
Guttenberg
Die Gefahr, dass Erfolg einsam macht, halte ich für groß. Wir haben eine Neigung, uns das erfolgreiche Leben schönzureden. Und Misserfolg macht auf jeden Fall einsam.
Aus persönlicher Sicht ist Einsamkeit etwas, das mich mein Leben lang begleitet hat und das ich als Kind erfahren habe. Dabei bin ich vergleichsweise behütet aufgewachsen. Aber ich erlebte früh die Scheidung meiner Eltern, und das führte schon zu Momenten der Einsamkeit, gerade wenn man bei einem Vater aufwächst, der die ganze Zeit in der Weltgeschichte unterwegs ist. Das Verarbeiten dieser Momente hat mich lange beschäftigt. Bei Ihnen, wenn ich mich richtig erinnere, gab es auch eine frühe Scheidung der Eltern und wahrscheinlich auch Momente, in denen Sie gelegentlich einsam waren.
Gysi
Ja. Ich habe aber folgende Erfahrung gemacht: Alle negativen Erscheinungen im Leben haben auch eine kleine positive Seite, und alle positiven Erscheinungen haben auch eine kleine negative Seite. Man muss nur genau hinschauen. Die Scheidung meiner Eltern hat meine Schwester und mich ziemlich getroffen, das stimmt. Aber wenn der Vater uns abholte, gingen wir in den Zirkus oder ins Varieté, auf jeden Fall immer ins Restaurant, oder wir fuhren zum Flughafen. Wenn er noch bei uns gewohnt hätte, hätte er das natürlich nie gemacht. Durch meine Schwester, auch durch andere Umstände fühlte ich mich nicht einsam. Einsam war ich als Kind, als ich sechs Monate und eine Woche im Krankenhaus lag. Aber mir fällt noch etwas anderes ein. Ich wohnte in einer Straße, in der auf der einen Seite Zweifamilienhäuser waren, und meine Familie wohnte hier, mit kleinem Vorgarten und Garten nach hinten raus – und gegenüber waren nur Mietwohnungen. Das heißt, die unterschiedlichen sozialen Schichten, die es in der DDR gab – die waren natürlich nicht so breit gefächert wie in der Bundesrepublik –, aber die, die es gab, lebten alle in der Straße. Und ich musste als Kind lernen, mit Kindern aus völlig anderen sozialen Verhältnissen umzugehen und spielen zu können, was nicht so leicht war. Der größte Unterschied fiel mir auf zu meinem Freund, der auch noch katholisch war. Seine Mutter lebte allein mit drei Kindern. Der Vater war im Krieg gefallen oder in Kriegsgefangenschaft umgekommen. Jedenfalls besaß sie zwei Bücher, die Bibel und ein Kochbuch. Und meine Eltern waren beide Verleger. Wir hatten Tausende von Büchern, meine Startbedingungen waren viel besser. Und trotz des Trennenden wurde er mein Freund, dadurch habe ich einiges gelernt. Wie war das bei Ihnen?
Guttenberg
Einige Jahre sind wir Buben fast klischeehaft in einem oberfränkischen Schloss groß geworden, in einer kleinen Ortschaft, und da ist die Bruchkante hin zu den Gleichaltrigen im Dorf natürlich hart. Das Erste, was Sie ins Gesicht bekommen, ist keine Frage, sondern eine Faust, wenn Sie sich blöd benehmen. Und ich habe mich gelegentlich sicher blöd benommen. Da entsteht eine Form von Einsamkeit, insbesondere wenn die Eltern nicht da sind. Auf der anderen Seite bin ich so gezwungen worden, mich zu bemühen und mich zu öffnen, um diese Einsamkeit zu überwinden. Wie Sie gesagt haben: Das Negative hatte eine Kehrseite, die mir enorm viel fürs künftige Leben gebracht hat.
Gysi
Sie haben gesagt, der Erfolg macht einsam, der Misserfolg erst recht. Ja, der Misserfolg macht tatsächlich einsam. An einem schlechten Wahlergebnis bist immer nur du schuld. Für ein gutes sind alle verantwortlich. Aber Erfolg ist der interessantere Fall. Sie haben wahrscheinlich recht, lieber Herr zu Guttenberg: Wenn man erfolgreich ist in der Politik, wird man allein dadurch einsam, dass es so viele gibt, die neidisch sind. Und irgendwann kriegt man das alles zu spüren. Aber ich war insofern eine Besonderheit in der Politik, das muss ich erklären: Am Anfang trafen manche Maßstäbe auf mich nicht zu. Als ich Vorsitzender meiner Partei wurde, also der früheren Staatspartei der DDR, der SED, im Dezember 1989, als schon alles in Aufbruch und Auflösung war, da gab es keinen zweiten Idioten auf der Welt, der diesen Job machen wollte – und das ist selten. Sonst wollen immer drei gleichzeitig Vorsitzende werden. Und dadurch gab es nie Rangeleien um meinen Posten. Insofern war ich in dieser Zeit politisch nicht einsam, auch nicht bei Erfolgen, weil sich ja alle sehr freuten, als wir das erste Mal die Fünfprozenthürde überschritten. Ein Grüner hat mal zu mir gesagt: Als Minister hatte er in seinem Umkreis nur Leute, die glaubten, die besseren Minister sein zu können als er. Das schließt Freundschaften aus. Das erlebte ich nicht.
Guttenberg
Da sind Sie wirklich, lieber Herr Gysi, auch nach meiner Erfahrung, eine große Ausnahme. Ich war ja auch fast zehn Jahre auf diesen Bühnen unterwegs, und das Element der Einsamkeit war mit Händen zu greifen. Schon in dem Moment, da man von zujubelnden Menschen umgeben ist, die mit einem den Erfolg feiern – schon dieser Moment des Erfolges ist einer, in dem Sie spüren: Das kann kippen. Bei vielen spielt der Neid eine Rolle. Bei anderen verschiebt sich die Tektonik, weil Sie gerade eine Position erreicht haben und sich möglicherweise ein Weg versperrt. Und plötzlich wird es um Sie einsamer. Die wahren Freundschaften haben sich rückblickend nur über die Parteigrenzen hinweg entwickelt. Dazu ein Satz, der vom alten Bismarck stammt: »Man ist immer am einsamsten in großen Städten, am Hofe, im Parlamente, unter seinen Kollegen. Dort fühlt man sich mitunter wie unter Larven die einzig fühlende Brust« – das Letzte hat er von Schiller geklaut –, und er sagt weiter: »Aber im Walde fühle ich mich niemals einsam.« Das ist ein schöner Satz, und ein bisschen trivialer hat es Wilhelm Busch gesagt: »Wer einsam ist, der hat es gut, weil keiner da, der ihm was tut.« Und dem müsste man hinzufügen: »Das gilt im Parlamente nicht, wo jedermann ein Bösewicht.« Insbesondere wenn es immer weiter nach oben geht, wird die Zahl derer, die es wirklich gut mit einem meinen, sehr klein.
Gysi
Ja, aber diejenigen, die so tun, als ob Sie dich mögen, werden immer mehr. Das ist ja noch schlimmer, weil du die Falschheit ahnst, je höher du steigst. Mit Menschen aus anderen Fraktionen hingegen kann man sich gut verstehen. Wissen Sie auch, warum? Weil die keine Konkurrenten sind.
Guttenberg
Das ist das, was ich mit Tektonik meinte. Bei denen verschieben Sie nichts. Ich habe immer Freude daran gehabt, dass man zwar diametral entgegengesetzt sein kann, was die Grundüberzeugungen anbelangt, aber sich trotzdem sehr schätzen kann.
Gysi
Aber das hängt vom Charakter ab. Einen miesen Charakter mag ich nicht, egal, ob in meiner Partei oder einer anderen Partei. Wenn du allerdings auf einen Charakter stößt, der dir genehm ist, bei dem auch Ironie vorhanden ist, bei dem Humor vorhanden ist, der neugierig ist auf dich, und du bist auch neugierig auf ihn, weil er völlig anders gestrickt ist und anders denkt, dann kann das wirklich ein produktives Verhältnis werden. Ob es eine Freundschaft wird? Das wird sich erst herausstellen.
Einsamkeit im Beruf, überhaupt in der Politik, kann, wie ich finde, durch familiäre Solidarität, durch familiäre Gemeinsamkeit aufgefangen werden. Nicht vollständig, aber einigermaßen. Aber private Einsamkeit kann durch Solidarität und Gemeinsamkeit in der Politik niemals aufgefangen werden.
Guttenberg
Lassen Sie uns diesen Gedanken mal weiterspinnen. Sie haben die Familie als Auffangelement genannt. Lässt das politische Leben das überhaupt zu? Meine Empfindung war die: Das politische Leben produziert eine doppelte Einsamkeit. Das eine ist die Form von Einsamkeit, über die wir gerade gesprochen haben, als Mensch in der politischen Landschaft. Und gleichzeitig schaffen Sie Einsame, die zu Hause sitzen, die eigentlich diejenigen sein sollten, die Sie umarmen, auffangen und Ihnen dieses Gefühl nehmen. Und warum ist das der Fall? Weil Sie meistens vor null Uhr nachts nicht nach Hause kommen. Weil Sie um sechs Uhr morgens oftmals das Haus schon wieder verlassen. Weil Sie einen geradezu wahnsinnigen Rhythmus haben und ein Wochenende als solches gar nicht mehr stattfindet. Ich bin an den Sonntagen von einer Kläranlageneinweihung zu Würstelständen zu Feuerwehrfesten gefahren, aber nie mit meiner Familie unterwegs gewesen. Meine Kinder haben irgendwann die Rechnung aufgemacht: Du warst im Schnitt eigentlich nur noch drei Stunden für uns pro Woche verfügbar. Die Einsamkeit hat sich auf mehrere Schultern verteilt.
Gysi
Sie haben völlig recht. Wenn du beruflich voll im Stress stehst und dann noch in der Politik, hast du viel zu wenig Zeit für deine Frau und deine Kinder. Aber das muss sie nicht unbedingt einsam machen, wenn sie gut zusammenhalten. Es macht allerdings dich selbst einsam, weil sie ja anfangen, dich nicht mehr zu benötigen, je weniger du da bist. Was ich meine, ist: Wenn du funktionierende Familienstrukturen hattest, fangen sie dich trotzdem auf. Solange sie dich mögen oder lieben.
Guttenberg
Solange sie dich noch mögen und lieben und solange sie dich noch kennen. Und wir wissen natürlich, wie viele Familien zerbrochen sind am politischen Geschäft. Das ist leider eher die Regel als die Ausnahme.
Gysi
Das ist wahr, das gibt es ja häufig. Davon kann ich auch ein Lied singen. Aber der Punkt ist der: Die private Einsamkeit kann nirgendwo wirklich kompensiert werden. Die berufliche kann aufgefangen werden. Das ist schon ein beachtlicher Unterschied.
Lassen Sie uns nun vom Alter sprechen. Wenn zwei sich gut verstehen, zusammenleben, Kinder und Enkelkinder haben, und dann stirbt einer von beiden – dann entsteht eine Form von Einsamkeit. Sie dürfen mir widersprechen, aber festgestellt habe ich: Mit dieser Einsamkeit können Frauen besser umgehen als Männer. Der Fall, dass sie zurückbleiben, kommt seltener bei Männern vor, aber mit dem Alleinsein können sie gar nicht umgehen. Während die Frauen oft in der Lage sind, ihre Zeit, die Zeit mit Kindern, mit Enkelkindern, neu einzuteilen.
Guttenberg
Woran liegt das?
Gysi
Das, glaube ich, liegt bei unserer Generation noch daran, dass wir Männer etwas falsch aufgewachsen sind.
Guttenberg
Dass wir in archaischen Rollenstrukturen gefangen sind.
Gysi
Dass wir früher die Gleichstellung der Geschlechter noch gar nicht wirklich wahrgenommen haben. Ich inzwischen schon, aber das war eine Entwicklung. Und Frauen sind deshalb anders in der Lage, im Alter das Leben zu meistern.
Guttenberg
An manchen Tagen fühle ich mich einsam, obwohl ich von Menschen umgeben bin. Und es gibt gewisse Tage, die eine Grundeinsamkeit noch verstärken können. Ich bin über einen schönen Satz gestolpert, der müsste Ihnen eigentlich gleich die Tränen der Rührung in die Augen treiben, er ist von Rosa Luxemburg. Die hat einmal gesagt: »Sonntag, der tödlichste Tag für Gefangene und Einsame.«
Gysi
Noch schlimmer sind Weihnachten und Silvester. Das ist für Gefangene furchtbar. Einfach furchtbar. Da passiert bei Gefangenen Folgendes: Wenn sie zu mehreren in einer Zelle sind, werden sie aus Einsamkeit geständig. Das heißt, zu Weihnachten erzählen sie sich Sachen, was sie hinterher bitter bereuen, weil die anderen Gefangenen es ihnen immer wieder vorhalten und sie damit zur Weißglut bringen.
Guttenberg
Es gibt noch eine Einsamkeit, die ich bei meinem Vater, der Künstler und Dirigent war, kennengelernt habe. Eine ganz brutale Form der Einsamkeit. Zunächst klingt sie abwegig. Er hatte den Moment des unmittelbar ganz großen Erfolgs. Er hatte eine Bühne bespielt, Sie hatten 3000 jubelnde Zuhörer. Er hatte tagelang mit einem Orchester verbracht. Sie waren umgeben von Menschen, und zwar von Menschen, die zu Ihnen aufblicken, Menschen, die Sie als Autorität wahrnehmen. Und Sie haben den Erfolg im Konzertsaal. Der Moment, in dem mein Vater dann in sein Dirigierzimmer kam, war wahrscheinlich der erschütterndste und einsamste Moment, in dem ich ihn erlebt habe. Da brach er oft zusammen, war in Tränen aufgelöst. Und er hat das mit Einsamkeit erklärt. Ähnliches kann einem auf der politischen Bühne, etwa nach einem Bierzeltauftritt, passieren. Wenn ich einen besonders gelungenen Auftritt hatte, bei dem ich hoffentlich authentisch war und viel von meinem Herzen gegeben habe, kam der Moment, wo man plötzlich sehr allein in einem Auto sitzt, nach Hause fährt und weiß: Im Zweifel schlafen die Lieben schon. Das waren auch so Momente, wo ich fast Verlassenheit gespürt habe. Es ist absurd, weil man davor sprichwörtlich von Menschen getragen wurde. Und auf einmal kommt diese Bruchkante. Kennen Sie das Gefühl?
Gysi
Ja, wobei ich dadurch Abhilfe schaffe, dass ich meistens mit einem Fahrer unterwegs bin. Und nach einer erfolgreichen Veranstaltung trinken wir immer einen Absacker. Genau um das zu vermeiden.
Guttenberg
Also Sie saufen, um die Einsamkeit zu überwinden? Nein, Sie sprechen natürlich mit jemandem und haben sofort den Dialog.
Gysi
Das ist der Punkt. Wenn ich sonst ins Hotelzimmer ginge …
Guttenberg
Dann würden Sie saufen.
Gysi
Quatsch! Aber so ist es erträglicher. Ich verstehe Ihren Vater in der Situation. Es hängt auch damit zusammen, wenn man die alleinige Verantwortung für eine Veranstaltung hat. Und auch wenn die erfolgreich gelaufen ist, bist du allein. Und zwar vor allen Dingen im Nachleben. Auf der anderen Seite ist es so, dass für Musikerinnen und Musiker, die an dem Konzert teilgenommen haben, ihr Gefühl davon abhängt, ob sie mit sich zufrieden sind oder nicht. Ich habe auch Reden gehalten, nach denen ich mich hingesetzt habe und dachte: Das war ja heute völlig daneben. Und die anderen reagieren in der Form, dass sie gar nicht reagieren.
Guttenberg
Eine weitere Form von Einsamkeit, über die wir noch nicht gesprochen haben, ist produktive oder kreative Einsamkeit. Ich habe mal für meinen Vater, als er wieder in seinen Stimmungsschwüngen war, einen Gedanken des Komponisten Robert Schumann gefunden, der sagte: »Einsamkeit ist der vertraute Umgang mit sich selbst.« Und darüber haben wir lange diskutiert. Das hat ihm, glaube ich, in dem Moment geholfen. Wenn man Einsamkeit als etwas begreift, das das Kreativste in einem hervorrufen kann, sodass man aus der Gegenwart heraus gestaltungskräftig wird, weil man sich nicht um seine Umgebung kümmern muss. Das hat eine Qualität, oder?
Gysi
Du musst, wenn du einsam bist, dir viele Gedanken machen. Da kommst du nicht drum herum. Und zwar über dich selbst. Und dazu kommt man ja sonst nicht. Wenn man mit Freunden zusammensitzt, analysiert man sich nicht selbst.
Guttenberg
Also am schlechtesten ist Einsamkeit in Gesellschaft zu ertragen.
Gysi
Ja, das ist ganz furchtbar, weil da kommt man ja zu nüscht. Produktiv ist Einsamkeit für die, die das Nachdenken über sich selbst verbinden mit einer künstlerischen Begabung. Es gibt Malerinnen und Maler, die können gar nicht in Gesellschaft zeichnen, sie müssen allein sein. Ich kenne Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die sagen mir: Gregor, es gibt Tage, da sitze ich da und schreibe und schreibe. Das quillt richtig aus mir heraus, und dann wieder sitze ich da und merke, ich komme über den zweiten Satz nicht hinweg, und es ist wichtig, dass ich einen Partner oder Kinder habe. Als Anwalt erlebte ich manchmal, wie der Kick bei mir kam: Ich habe alle Akten studiert und diktiert, alles, was zu diktieren war. Und da durfte man mich auch nicht für eine Tasse Tee unterbrechen. Wenn ich endlich durch war, war ich wirklich gut gelaunt.
Guttenberg
Das ist diese produktive Einsamkeit. Und die hat sehr viel damit zu tun, ob man gegenwärtig ist. Man beginnt Vergangenes aufzuarbeiten, seine Zukunftsängste einzubringen. Und diejenigen, die sich künstlerisch oder literarisch betätigen, können das nutzen.
Gysi
Lieber KT zu Guttenberg, wenn man über sich selbst nachgrübelt, kann das eine angenehme oder eine höchst unangenehme Erfahrung sein, je nachdem, wie man seine Vergangenheit einschätzt. Es gibt so Tage, da bist du mit dir einigermaßen zufrieden. Dann gibt es Tage, da findest du dich im Rückblick grauslich …
Guttenberg
Abgründig …
Gysi
… und das kann dann schon eine furchtbare Einsamkeit sein. Was ich persönlich merke: Musik beeinflusst meine Emotionen. Wenn ich die falsche Musik auflege, kann ich tieftraurig werden. Und da frage ich mich immer: Woher kommt diese Sehnsucht? Und ich nehme sie mir selbst übel, aber bekomme das nicht abgestellt.
Guttenberg
Weil der Mensch sich manchmal gern im Selbstmitleid suhlt.
Gysi
Oh ja.
Guttenberg
Nun lassen Sie uns noch ein paar Charaktere herausgreifen. Ist Wladimir Putin einsam?
Gysi
Ja, ganz bestimmt. Das liegt an der ganzen Struktur, die er um sich herum aufgebaut hat. Da kann es gar keine Freundinnen und Freunde geben. Und die, die vorgeben, mit ihm befreundet zu sein, sind meistens nicht ehrlich. Ich glaube, dass er das schon weiß, aber ich bin mir nicht sicher. Ich bin ihm ja nie begegnet. Sind Sie ihm mal begegnet?
Guttenberg
Ich bin ihm begegnet. Das war zu einer Zeit, als er gar nicht Präsident war, sondern sich für Medwedjew taktisch zurückgezogen hatte und Putin den Kontakt durchaus suchte. Zu den berührendsten Erlebnissen meines Lebens zählt das nicht. Donald Trump: einsam?
Gysi
Der muss einsam sein. Und zwar, weil er Freundschaften nicht halten kann. Sobald der andere etwas macht, was ihn stört, ist jede Beziehung für ihn zu Ende. Es ist ja erstaunlich, wie viel Leute ganz nah bei ihm waren, die jetzt alle aus seiner Sicht Verräter sind. Und er fragt sich nie, was er eigentlich falsch macht, dass Leute, die so eng mit ihm zusammenarbeiten, sich dann gegen ihn stellen. Ich glaube übrigens, dass er in Wirklichkeit an Minderwertigkeitskomplexen leidet.
Guttenberg
Einer interessiert mich noch, den Sie auch kennengelernt haben. Nelson Mandela, eine Legende. Er war lange im Gefängnis und hatte damit Einsamkeit wirklich erlebt.
Gysi
Ja, das hatte er. Und er hatte gelernt, damit umzugehen. Er war für mich deshalb der fantastischste Mensch, den ich je kennengelernt habe: durch seinen Großmut. Er wollte nicht, dass irgendwer eingesperrt wird. Er wollte nur eine Wahrheitskommission. Er wollte nur, dass man anders miteinander redet. Und er war der Letzte, der sich den weltweiten Respekt wirklich hart erarbeitet hat – und auch dadurch natürlich einsam war. Aber er konnte damit umgehen. Wissen Sie, wer uns heute fehlt? Ein Mandela.
Guttenberg
Da bin ich bei Ihnen.
Gysi
Ein Mensch, der weltweite Autorität hat.
Guttenberg
Eine Autorität, die wir als Bindeglied bräuchten und die etwas auszeichnete, was die Überwindung der Einsamkeit erst möglich macht: die Kunst zu vergeben.
Gysi
Ja.
Ich glaube sehr an Humor, um Einsamkeit zu überwinden, auch in schwierigen Situationen wie Krankheiten. Dann geht es dir auf jeden Fall besser. Ich sage den Alten immer: Hört auf, den ganzen Tag über Krankheiten zu quatschen. Davon wird man nicht gesund. Zehn Minuten am Tag über Krankheit zu reden, reicht. Ich bin Zweckoptimist. Optimismus hilft. Und wir wissen, was auch hilft gegen Einsamkeit: Kinder und Enkelkinder. Das ist ein Stück Verantwortung, die man nie loswird. Das ist gut so.
»Die Amerikaner gehen schneller ins Risiko, weil sie auch das Scheitern gesellschaftlich akzeptieren.«
Sind die USA noch unser Freund?
Guttenberg
Mir gegenüber sitzt Gregor Gysi, ein Tausendsassa. Und wenn ich uns beide so ansehe, außerdem ein Berliner Model, weil er der Elegante unter uns beiden ist, aufreizend im Anzug. Ich hingegen verlottere über die Jahre zusehends.
Gysi
Also, wenn ich ein Tausendsassa bin, sind Sie natürlich ein Millionsassa, bei dem, was Sie schon alles so durchgemacht haben. Und Sie sind nur deshalb nicht so gepflegt gekleidet wie ich, weil Sie Freiherr zu Guttenberg heißen. Wenn ich so einen Titel hätte, würde ich mich auch anders kleiden.
Guttenberg
Heute widmen wir uns den Vereinigten Staaten. Wir fragen uns: Sind die USA eigentlich noch unser Freund?
Gysi