Kommissar Jörgensen auf
falscher Fährte: Mordermittlung Hamburg Kriminalroman
Krimi von Peter Haberl & Chris Heller
Zuerst wird der Gangster Richard Stiemer ermordet, kurze Zeit
später auch sein Sohn. Das lässt die Vermutung aufkommen, dass nun
ein Krieg in der Unterwelt ausbrechen wird. Doch dann schlägt der
Killer wieder zu. Der Sohn eines Baumagnaten ist sein Opfer. Aber
wo ist hier die Verbindung zu den beiden ersten Morden? Dieses
Rätsel müssen die beiden Hamburger Kommissare Uwe Jörgensen und Roy
Müller lösen. Während sie versuchen ein Motiv und Spuren zu finden,
werden weitere Personen ermordet ...
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Cassiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
Kommissar Jörgensen ist eine Erfindung von Alfred
Bekker.
Chris Heller ist ein Pseudonym von Alfred Bekker.
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
nicht beabsichtigt.
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Alles rund um Belletristik!
1
Vor Dienstbeginn machte ich am Elbstrand einen kurzen
Spaziergang. Es war noch früh. Nebel hing über der Elbe. Ein
Signalhorn war zu hören. Und die Geräusche von Wasservögeln.,
Hauptsächlich Möwen, würde ich sagen.
Es gab ein paar Jogger hier und ein paar Leute, die ihren Hund
ausführten.
Ein Rottweiler kam geradewegs auf mich zu.
“Der macht nichts”, meinte sein Herrchen.
“Ich aber schon”, sagte ich.
“Was?”
“Der Hund tut vielleicht nichts, aber ich schon.”
Das Problem ist, dass man bei so einem Tier nie weiß, oib es
friedlich ist.
Und ich hatte keine Lust, es darauf ankommen zu lassen.
Also zog ich meine Dienstwaffe.
“Ich schieß ihn ab, wenn er näher kommt!", sagte ich.
Ein Pfiff und der Rottweiler drehte um.
“Tierquäler!”, knurrte der Hundebesitzer.
Etwas später holte ich meinen Kollegen Kriminalhauptkommissar
Roy Müller an der bekannten Ecke ab und wir fuhren zusammen zum
Präsidium.
Mein Name ist übrigens Uwe Jörgensen. Ich bin
Kriminalhauptkommissar und zusammen mit Roy Teil der sogenannten
‘Kriminalpolizeilichen Ermittlungsgruppe des Bundes’, die hier in
Hamburg angesiedelt ist.
*
Wir betraten das Büro des Kriminaldirektors. Es war kurz nach
8 Uhr. Vor wenigen Minuten hatten wir den Dienst angetreten. Der
Chef erhob sich und kam um seinen Schreibtisch herum.
“Moin”, sagten Roy und ich beinahe im selben Moment, was einen
etwas dissonanten Chor ergab.
»Guten Morgen«, sagte Herr Bock betont hochdeutsch und
förmlich und schüttelte jedem von uns die Hand.
“Ich schätze, es gibt einen neuen Fall”, sagte Roy.
»Setzen Sie sich!« Herr Bock vollführte eine einladende
Handbewegung. Sein Gesicht war sehr ernst. Wir ließen uns an dem
kleinen Konferenztisch nieder. Der Kriminaldirektor setzte sich zu
uns.
»Richard Stiemer wurde erschossen, als er seine Wohnung
verließ«, erklärte der Kriminaldirektor. »Beim Polizeikommissariat
rechnet man den Mord dem organisierten Verbrechen zu. Man hat die
Sache an uns abgegeben.«
»Ist die Rede von Richard Stiemer, dem Mafioso, der sich
unserem Zugriff bisher erfolgreich entzogen hat?«, fragte ich
ahnungsvoll.
»Sie treffen mit Ihrer Vermutung den Nagel auf den Kopf, Uwe«,
erwiderte der Chef.
Ich zog die Unterlippe zwischen die Zähne und kaute darauf
herum.
»Deutet das auf einen beginnenden Krieg in der Unterwelt
hin?«, fragte ich nach einer kurzen Zeit der
Nachdenklichkeit.
»Es ist nicht auszuschließen, meine Herren«, antwortete Herr
Bock.
»Wir müssen es jedenfalls ins Kalkül ziehen«, murmelte
ich.
»Wann geschah der Mord?«, fragte Roy.
»Vorgestern, morgens gegen neun Uhr. Der Mörder schoss aus
einem vorbeifahrenden Auto. Er muss vor dem Haus des Opfers
gewartet haben. Stiemer verließ jeden Morgen kurz vor neun Uhr
seine Wohnung, um ins Fitnessstudio zu fahren. Der Killer muss
seine Gewohnheiten gekannt haben.«
»Also am siebenundzwanzigsten«, sagte ich. »Gibt es sonst noch
irgendwelche Hinweise?«
»Nein. Niemand sah oder hörte etwas. Der Täter muss einen
Schalldämpfer benutzt haben. Die Wehnerchaussee ist morgens immer
ziemlich belebt. Einige Leute sahen Stiemer zusammenbrechen. Die
meisten dachten zunächst an einen Schwächeanfall oder etwas in der
Art.«
»Liegen die gerichtsmedizinischen Ergebnisse schon vor?«,
fragte ich.
Der Chef erhob sich, ging zu seinem Schreibtisch und holte
einen dünnen Schnellhefter, den er mir überreichte.
»Das ist die Akte. Ich lege den Fall in Ihre Hände. Schnappen
Sie sich den Killer und seinen Auftraggeber und verhindern Sie
einen blutigen Krieg in der Unterwelt!«
»Wir tun unser Bestes«, versprach ich.
Wir kehrten in unser Büro zurück und begannen, die Unterlagen
zu studieren.
Die Kugel hatte Stiemer ins Herz getroffen. Es handelte sich
um ein Geschoss vom Kaliber 45 ACP. Die Befragung der Menschen, die
Stiemer zusammenbrechen sahen, hatte nicht den geringsten Hinweis
ergeben.
Stiemer war verheiratet und hatte einen Sohn, der
sechsundzwanzig Jahre alt war und in der Brennenhofer Straße
wohnte.
Ich nahm den Telefonhörer vom Apparat und tippte eine Nummer.
Dreimal ertönte das Freizeichen, dann ertönte es: »Ewert,
Polizeikommissariat.«
»Hallo, Harry.«
Kommissar Harry Ewert war Leiter der Mordkommission
Hamburg-Mitte. Sein Spitzname war 'Super-Aufklärer', weil er sich
immer damit brüstete, dass seine Leute so ziemlich jeden Mord in
ihrem Zuständigkeitsbereich aufklärten.
»Ah, Uwe! Lange nichts von dir gehört.«
»Es gab keinen Grund.«
»Den scheint es heute zu geben. Und ich kann mir auch denken,
was dich veranlasst, mich anzurufen. Es ist die Sache Stiemer,
nicht wahr?«
»Sehr richtig. Ihr habt uns den Fall aufs Auge
gedrückt.«
»Wir sind dankbar für jede Sache, die uns abgenommen wird«,
versetzte Ewert.
»Na schön, Harry. Ich habe eure Protokolle gelesen. Gibt es
vielleicht sonst noch etwas, was ihr nicht vermerkt habt?«
»Du kennst sicher Stiemers Ruf«, sagte 'Super-Aufklärer'.
»Natürlich haben wir nicht vermerkt, dass er wahrscheinlich ein
skrupelloser Gangster war. Für diese Behauptung fehlt uns der
Beweis. Stiemer hatte einflussreiche Freunde, Leute, die in
Wirtschaft und Politik Führungspositionen einnehmen. Er zeigte sich
ausgesprochen sozial und spendete für entsprechende Zwecke hohe
Summen. An einer solchen Fassade zu kratzen kann den Kopf kosten.«
Harry Ewert lachte nach diesen Worten bitter auf.
»Ihr habt euer Ohr doch ständig am Pulsschlag des Verbrechens,
Harry. Gibt es Hinweise, dass sich jemand auf Stiemers Thron
schwingen möchte?«
»Wir vermuten es. Es ist nicht auszuschließen, dass Stiemer
von der Konkurrenz ausgeschaltet wurde. Sicher aber hat ein Mann
wie er unabhängig davon eine Menge Feinde. Wir haben nicht den
Hauch einer Ahnung. Aber die Vermutung, dass es sich um eine
Auseinandersetzung in der Unterwelt handelt, lässt sich nicht
wegdenken.«
»Habt ihr mit seiner Gattin und seinem Sohn gesprochen?«
»Nein. Die Frau hat einen Schock erlitten und war nicht
vernehmungsfähig. Von einer Vernehmung des Sohnes versprachen wir
uns kein Ergebnis. Er soll eine führende Position in der
Drogenmafia einnehmen, und es ist wohl so, dass sich seine
Bereitschaft, mit uns zu kooperieren, ausgesprochen in Grenzen
halten dürfte.«
»Wir werden mit ihm ein Gespräch führen«, versicherte ich.
Dann bedankte ich mich bei 'Super-Aufklärer', verabschiedete mich
und legte auf.
Roy, der dank des aktivierten Lautsprechers alles hören
konnte, knurrte: »Magere Ausbeute.«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Wir haben eine Leiche. Ansonsten stehen wir ganz am Anfang.
Beginnen wir mit unserer Arbeit! Ich schlage vor, wir versuchen
zunächst mal mit Frau Stiemer zu sprechen, und dann beschäftigen
wir uns mit Dennis Stiemer, dem Kronprinzen. Er wird jetzt ja wohl
an die Stelle seines Vaters treten.«
Aus den Unterlagen hatte ich entnehmen können, dass sich
Carola Stiemer im Wilhelmsburger Klinikum befand. Ich rief dort an.
Ein Arzt erklärte mir, dass sie sich auf dem Weg der Besserung
befinde und vernehmungsfähig sei.
»Ich will jedoch nicht, dass Sie Frau Stiemer über Gebühr in
Anspruch nehmen«, gab der Arzt zu verstehen. »Sie bedarf nach wie
vor der Ruhe.«
»Es sind nur ein paar Routinefragen«, versetzte ich.
»Sie haben sicher nichts dagegen, wenn ich der Befragung
bewohne?«
»Nicht das Geringste.«
Wir fuhren sofort los.
2
Die Frau lag bleich in den Kissen. Unter ihren Augen lagen
dunkle Ringe. Sogar die Lippen waren fahl. Die blond gefärbten
Haare verstärkten ihre Blässe.
Sie lag allein in dem Zimmer. Der Arzt, der uns begleitete,
hatte sich uns als Dr. Axel Benson vorgestellt.
»Guten Tag, Frau Stiemer«, grüßte ich. »Wie geht es
Ihnen?«
»Sie sind von der Polizei, nicht wahr?«, fragte sie mit
klangloser Stimme. Müde schaute sie mich an.
»Kriminalpolizei«, erwiderte ich. »Man hat die Ermittlungen an
uns abgegeben. Fühlen Sie sich in der Lage, uns einige Fragen zu
beantworten?«
Unruhig wischten die Hände über die Bettdecke. Leises Rascheln
war zu vernehmen. Die Mundwinkel der Frau zuckten.
»Fragen Sie!«
»Hatte Ihr Mann Feinde?«
»Ich habe keine Ahnung. Er hat nie mit mir darüber
gesprochen.«
»Wurde er bedroht?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ihr Mann betrieb mehrere Reinigungsbetriebe«, sagte
ich.
»Das ist richtig.«
»Sprach er vielleicht mal von Konkurrenz?«
»Nein.«
»War er in den letzten Tagen vor seinem Tod anders als sonst?
Ich meine, hatte sich sein Wesen verändert?«
»Er war wie immer.«
»Ihnen ist also nichts aufgefallen?«
»Nein. Mein Mann wollte wie jeden Tag um neun Uhr ins
Fitnessstudio fahren. Um acht Uhr sind wir aufgestanden. Wir haben
gefrühstückt, er hat die Zeitung gelesen. Es war wie jeden Tag.
Nach dem Training wollte mein Mann die Betriebe abfahren, um nach
dem Rechten zu sehen. Um fünfzehn Uhr wollte er zurück sein.« Die
Frau schloss die Augen.
»Ich denke, das genügt«, gab der Arzt zu verstehen.
Wir verließen das Krankenzimmer, draußen verabschiedeten wir
uns von dem Arzt. Als wir auf dem Weg zur Brennenhofer Straße
waren, sagte Roy: »Schätzungsweise hat Stiemer seine Frau aus
seinen dubiosen Geschäften herausgehalten. Sicher kümmerte sie sich
auch gar nicht darum.«
»Das vermute ich auch. Die Reinigungsbetriebe hat er
eingerichtet, um illegal erworbenes Geld zu waschen. Man sagt
Stiemer eine Reihe von Verbrechen nach; Drogenhandel, illegale
Prostitution, Schutzgelderpressung. Er soll bei einigen Morden die
Finger im Spiel gehabt haben.«
»Alles nur Spekulationen. Bewiesen ist ihm nie etwas worden.
Er spielte den Wohltäter und Samariter. Und viele namhafte
Persönlichkeiten ließen sich von ihm Sand in die Augen streuen.«
Roy seufzte. »Aber der Krug geht solange zum Brunnen, bis er
bricht. Jetzt hat es den King selbst erwischt.«
»Und wir stehen vor der Frage, wer ihn erwischt hat«, knurrte
ich.
Das Gespräch schlief ein. Im Auto war es warm. Die
Temperaturen draußen lagen um den Gefrierpunkt. Der Himmel über
Hamburg war grau, soweit das Auge reichte. Die Gehsteige waren mit
Menschen bevölkert. Der Verkehr war wieder einmal katastrophal. Im
Endeffekt aber war es vom Krankenhaus bis zur Brennenhofer Straße
nur ein Katzensprung. Wir erreichten unser Ziel, fanden das Gebäude
Nummer 87, und ich parkte den Sportwagen.
Dennis Stiemer bewohnte das Penthouse in einem Hochhaus. Die
Wohnlage und die Art seiner Wohnung ließen einen Schluss auf sein
Einkommen zu. Der Aufzug trug uns in die vierzehnte Etage. Roy
läutete an der Wohnungstür.
»Wer ist draußen?«, drang es aus dem Lautsprecher der
Gegensprechanlage.
»Die Kommissare Jörgensen und Müller, Kriminalpolizei Hamburg.
Wir würden uns gerne mit Ihnen unterhalten, Herr Stiemer.«
Es knackte, als Stiemer den Hörer der Sprechanlage einhängte,
im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet. Uns präsentierte sich
ein dunkelhaariger Mann Mitte der zwanzig.
»Sie kommen sicher wegen der Sache mit meinem Vater.«
»So ist es. Dürfen wir eintreten?«
»Kommen Sie herein!« Dennis Stiemer gab die Tür frei und
vollführte eine einladende Handbewegung.
Wir betraten die Wohnung. Sie war teuer eingerichtet;
Designermöbel. Viel Glas und Chrom. An den Wänden hingen Bilder
moderner Künstler; sicher keine Kunstdrucke.
»Bitte, meine Herren, nehmen Sie Platz«, lud uns Dennis
Stiemer zum Sitzen ein. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken
anbieten?«
Ich lehnte dankend ab.
“Wir sind im Dienst.”
“Ach so.”
“Da muss man nüchtern bleiben.”
“Nichts für ungut.”
Wir setzten uns. Auch Stiemer nahm Platz. Fragend schaute er
von einem zum anderen.
»Eine tragische Sache, das mit meinem Vater«, sagte er
schließlich. »Wer ihm – vor allem aber uns, meiner Mutter und mir –
das angetan haben mag? Es ist ein herber Verlust. In jeder
Beziehung. Er wird an allen Ecken und Enden fehlen.«
»Wir haben bereits mit Ihrer Mutter gesprochen«, erklärte
ich.
»Sie trifft der Verlust ganz besonders. War sie überhaupt
vernehmungsfähig?«
»Es waren nur ein paar Fragen, die wir ihr stellten. Ein Arzt
war dabei.«
»Dann ist es gut. Ich denke, Sie wollen auch mich
befragen.«
»Richtig. Hatte Ihr Vater Feinde?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
“Irgendjemand hjat ihn aber ermordet. Und dafür muss es einen
Grund geben.”
“Ich würde Ihnen ja gerne weiterhelfen, aber…”
“Aber was?”
“Ich fürchte, ich kann Ihnen dazu nicht viel sagen.”
“Wir brauchen so viele Informationen wie möglich.”
“Das verstehe ich.”
“Und das so schnell wie möglich.”
“Ich würde Ihnen ja gerne helfen.”
“Jede Kleinigkeit kann uns in unseren Ermittlungen
voranbringen.”
“Natürlich.”
“Haben Sie irgendeinen Verdacht?”
“Dann hätte ich den schon geäußert.”
Ich formulierte die nächste Frage …
3
Am späten Nachmittag sprachen wir mit einem Burschen namens
Dirk Vanders. Dirk war ein kleiner Ganove, der uns ab und zu einen
Hinweis aus der Unterwelt lieferte. Der Bursche war etwa eins
fünfundsechzig groß und hatte die Physiognomie einer Ratte. Im
Grund seines Herzens aber war Dirk kein übler Kerl.
Wir trafen uns bei Flynn‘s, einem Irish Pub in der Sandstraße.
Es gab um diese Zeit kaum Gäste hier. Leise Musik lief; Irish Folk.
Dirk trank ein Guinness. Roy und ich hatten uns Wasser bestellt.
Noch waren wir im Dienst. Außerdem stand der Sportwagen vor der
Tür. Für mich persönlich galt die null Komma null Promillegrenze,
wenn ich Auto fuhr.
Wir sprachen über den Mord an Stiemer.
Soeben sagte Dirk: »Entweder der junge Stiemer selbst hat ihn
weggeräumt, weil er endlich an die Spitze wollte, oder es war
Lennard Schrader.«
»Wer ist Schrader?«, fragte ich interessiert.
»Ein Barbesitzer. Er wohnt irgendwo in Harburg. Besitzt
mehrere Etablissements in Hamburg-Mitte und einige in Harburg.«
Dirk schnalzte mit der Zunge. »In seinen Läden soll ziemlich was
geboten sein. Die Rede ist von Prostitution. Es sollen aber auch
Drogen gedealt werden. Man munkelt, dass sich Schrader ein Gebiet
unter den Nagel reißen möchte. Warum nicht das Revier, in dem
Stiemer das Sagen hatte?«
»Stiemer hatte doch sicher auch einen Vertreter«, sagte
ich.
»Der zweite Mann war Carsten Seller. Dennis nahm so etwas wie
die Rolle des Kronprinzen ein.«
»Kann nicht auch Seller plötzlich auf die Idee gekommen sein,
die erste Geige spielen zu wollen?«, fragte Roy.
»Glaube ich nicht«, erwiderte Dirk kopfschüttelnd. »Er soll
Richard Stiemer treu ergeben gewesen sein. Es gibt solche Leute.
Sie geben sich mit der Rolle der Nummer zwei zufrieden. Dazu gehört
Seller.«
»Welches Gebiet kontrollierte Stiemer?«, erkundigte ich
mich.
»Das zwischen der B73 und der B75, also der nördlichen Teil
von Harburg. Darunter im südlichen Gebiet hinter dem Phönix-Viertel
hat Timo Molzahn das Sagen. Zwischen Stiemer und ihm soll es so
etwas wie ein Gentlemans Agreement gegeben haben, dass sie sich
gegenseitig nicht in die Quere kommen.«
»Liegen Bars von Schrader in dem Gebiet?«
»Nein.«
»Ich dachte nur«, verdeutlichte ich. »Gegebenenfalls hätte
Schrader vielleicht Schutzgeld an Stiemer gezahlt.«
Wir sprachen noch eine Weile mit dem V-Mann, dann bezahlten
wir, wobei ich Dirks Rechnung mit übernahm, und dann begaben wir
uns ins Präsidium.
Carsten Seller war registriert. Er war zweiundvierzig Jahre
alt und wohnte in der Bissingstraße – im nördlichen Teil natürlich.
Da war ja schließlich auch sein Arbeitsplatz.
»Knöpfen wir ihn uns heute noch vor?«, fragte Roy nach einem
Blick auf die Uhr. Es war 18.40 Uhr.
»Warum nicht?«
»Es liegt immerhin im Bereich des Möglichen, dass du mal
pünktlich Feierabend machen möchtest.«
»Hast du dir irgendetwas vorgenommen?«
»Wenn du mich so fragst …« Roy verdrehte die Augen.
*
Die Wohnung lag in der vierten Etage eines Wohn- und
Geschäftshauses. Rechtsanwälte, Ärzte und die Verwaltungen einiger
Firmen waren hier etabliert. Es gab einen Pförtner. Wir erklärten
ihm, dass wir zu Seller wollten.
»Soll ich Sie anmelden?«, fragte er.
»Keine schlechte Idee«, erwiderte ich. »Sagen Sie Herrn
Seller, dass ihn die Kommissare Jörgensen und Müller sprechen
möchten.«
Während der Mann telefonierte, gingen wir schon zum Aufzug. Es
gab zwei Fahrstühle. Einer befand sich im Erdgeschoss. Die Tür
stand offen, und wir betraten die Kabine. Ich drückte den Knopf mit
der Nummer vier. Der Lift trug uns nach oben. Kurz darauf läutete
ich an Sellers Wohnungstür. Er öffnete. Fragend schaute er uns
abwechselnd an. Ich wies mich aus, dann sagte ich: »Im Zusammenhang
mit der Ermordung Ihres Bosses haben wir einige Fragen an Sie.
Können wir uns in der Wohnung unterhalten?«
»Treten Sie näher!«
Im Wohnzimmer saß eine Frau Mitte der dreißig auf der Couch
und musterte uns. Sie hielt ein Journal in der Hand. Außerdem lief
der Fernsehapparat. Seller stellte uns die Frau als seine Gattin
vor, dann forderte er uns auf, Platz zu nehmen. Er schaltete den
Fernseher aus und ließ sich ebenfalls nieder.
»Was sind das für Fragen?«
»Sie waren Stiemers Vertreter«, sagte ich rundheraus.
Seine Brauen schoben sich zusammen. Über seiner Nasenwurzel
bildeten sich zwei senkrechte Falten.
»Ich war sein Buchhalter, ich nahm die Stelle eines
Prokuristen ein. Ich hatte Generalvollmacht …«
»Wovon sprechen Sie?«, unterbrach ich ihn.
»Von den Unternehmen. Wovon sprechen Sie?«, kam sogleich die
Gegenfrage.
»Von Drogen, Prostitution und Schutzgelderpressung.«
Sellers Miene verschloss sich. Er presste die Lippen zusammen,
so dass Sie nur noch einen dünnen, blutleeren Strich in seinem
Gesicht bildeten. Sekunden des lastenden Schweigens verrannen. Dann
stieß Seller hervor: »Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen.«
“Wirklich nicht?”
“Vielleicht sollte ich jetzt besser meinen Anwalt
verständigen.”
“Wenn Sie meinen, dass das nötig ist.”
“Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung, wovon Siue
eigentlich sprechen!”
»Natürlich nicht. Wer wird nun die Nachfolge im Geschäft mit
dem Verbrechen antreten? Sie, Seller, oder der junge
Stiemer?«
»Ich muss mir das nicht anhören«, presste Seller hervor.
»Nicht in meiner Wohnung. Also …«
Ich winkte ab.
»Machen wir uns nichts vor, Herr Seller. Sie wissen, wovon die
Rede ist. Es geht uns aber nicht darum, Ihnen oder Stiemer
irgendetwas am Zeug zu flicken. Es geht um die Aufklärung eines
Mordes – des Mordes an Richard Stiemer.«
Seller setzte sich wieder.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wer hinter dem Mord
stecken könnte.«
»Es gibt drei Verdächtige«, sagte ich.
»So.«
»Ja. Da ist zum einen der junge Stiemer, der es möglicherweise
nicht erwarten konnte, die Stelle seines Vaters einzunehmen. Da ist
zum anderen ein Mann namens Lennard Schrader, der Stiemer
möglicherweise aus dem Geschäft schoss, um der große Mann zwischen
der B73 und der B75 zu werden. Da sind des Weiteren Sie, Seller.
Vielleicht haben Sie Ambitionen, sich auf Stiemers Thron zu
schwingen.«
Wieder verfinsterte sich Sellers Gesicht.
»Jetzt reicht es!«, blaffte er. »Ich fordere Sie auf, sofort
meine Wohnung zu verlassen. Sie unterstellen mir …«
Ich erhob mich.
»Die Wahrheit scheint Ihnen nicht zu gefallen, Herr Seller.
Aber wir haben uns umgehört. Es ist definitiv. Stiemer war ein
Gangster und Sie waren seine rechte Hand. Und nun stehen Sie im
Verdacht, Ihren Boss ermordet zu haben. Wo waren sie am
siebenundzwanzigsten Januar gegen neun Uhr vormittags?«
»Um neun Uhr sitze ich wochentags an meinem Arbeitsplatz in
der Sandstraße und mache meinen Job. Die Reinigungsunternehmen
beschäftigen insgesamt über zweihundert Mitarbeiter. Da ich die
Betriebe leite, gibt es einiges zu tun.«
Während er sprach, ging Seller zur Tür, öffnete sie und
schaute mich herausfordernd an.
Roys Gestalt wuchs aus dem Sessel in die Höhe.
Ich setzte mich in Bewegung. Als ich Seller erreichte, blieb
ich stehen und sagte: »Ich wollte von vornherein keinen Zweifel
aufkommen lassen, dass wir Bescheid wissen, Seller. Aber wie
gesagt: Es geht um die Aufklärung des Mordes an Richard Stiemer.
Ich lade Sie hiermit offiziell für morgen Vormittag zehn Uhr ins
Präsidium vor. Sollten Sie der Vorladung nicht Folge leisten, kann
ich Sie vorführen lassen.«
In seinem Gesicht arbeitete es krampfhaft. Er knirschte mit
den Zähnen. Plötzlich stieß er hervor: »Ich habe mit Stiemers
Ermordung nichts zu tun. Meiner Meinung nach war es Schrader.
Einige Dealer des Barbesitzers erschienen in den vergangenen Wochen
östlich des Lohmühlenparks, um ihre Drogen an den Mann zu bringen.
Es tauchten auch Kerle auf, die versuchten, einige Barbesitzer zu
nötigen, an sie Schutzgeld zu zahlen. Ein paar der Burschen
vertrieben wir. Den einen oder anderen von ihnen nahmen wir vorher
in die Mangel. Sie erzählten, dass sie für Lennard Schrader
arbeiten und dass der Barbesitzer in das Gebiet zwischen B73 und
der B75 drängt.«
»Na also, geht doch«, knurrte Roy.
»Es ist das Gebiet, das Stiemer für sich beanspruchte, nicht
wahr?«
»Sie werden verstehen, dass ich keine weitere Aussage machen
will.«
»Klar«, versetzte Roy. »Sie müssen sich nicht selbst belasten.
Wird Dennis Stiemer an die Stelle seines Vaters treten?«
»Er wird die Betriebe übernehmen«, erwiderte Seller
zweideutig.
»Und Sie bleiben sein Prokurist, wie?«, fragte ich.
»Es ist eine Lebensstellung«, antwortete Seller.
»Kann Ihr Alibi für den siebenundzwanzigsten jemand
bestätigen?«
»Natürlich. Die Angestellten in der Zentrale.«
4
Es war der 30. Januar. Gegen 23 Uhr verließen Dennis Stiemer
und seine Begleiterin, eine hübsche junge Frau um die zwanzig, den
Red Dragon Club. Der Name der Frau war Laura Hollatz. Sie hängte
sich bei dem Burschen ein.
»Was machen wir nun mit dem angebrochenen Abend?«, fragte
Stiemer gut gelaunt. Der gewaltsame Tod seines Vaters schien ihn
nicht sehr zu belasten.
»Ich weiß eine nette Bar«, erklärte Laura. »Wenn du Lust hast,
können wir ihr noch einen Besuch abstatten.«
»Wir können auch zu mir fahren«, versetzte Stiemer. »Ich habe
alles zu Hause, was man für hervorragende Drinks benötigt. Was
hältst du davon?«
Sie lachte hell auf. »Du willst mich mit einem Drink
ködern?«
»Ganz recht. Komm! Wir schaffen es sicher, den Abend und die
Nacht zu unserer Zufriedenheit zu gestalten.«
Wieder lachte Laura auf.
Sie fuhren in die Brennenhofer Straße. Stiemer steuerte den
Wagen, einen gelben Ferrari, in die Tiefgarage. Die Schranke
öffnete er mit einer Plastikkarte. Er parkte den Wagen auf dem von
ihm gemieteten Stellplatz. Sie stiegen aus.
In dem Moment, als Stiemer per Fernbedienung die Autotüren
schloss, bog um den Aufzugschacht ein Mann herum. Er hatte sich
eine Sturmhaube über das Gesicht gezogen. Laura entrang sich ein
erschreckter Aufschrei. Der Maskierte hob den Arm. Seine Hand
umklammerte den Griff einer Pistole. Ohne ein Wort zu sagen, schoss
er. Die Detonation peitschte, eine handlange Mündungsflamme stieß
aus dem Lauf. Stiemer spürte den fürchterlichen Einschlag in der
Brust, jähe Finsternis schlug über ihm zusammen, er sackte in sich
zusammen und war, als er am Boden aufschlug, tot.
Laura war wie erstarrt.
Der Mörder wirbelte herum und rannte davon. Die Gummisohlen
seiner Sportschuhe quietschten.
Als er verschwunden war, fiel auch von der jungen Frau der
Bann ab. So hautnah war sie nie vorher im Leben mit der brutalen
Gewalt konfrontiert worden. Sie presste die rechte Hand auf den
Mund und starrte mit dem Ausdruck des grenzenlosen Entsetzens auf
die reglose Gestalt. Dann stieg etwas in ihrer Brust hoch, ein Laut
brach aus ihrer Kehle, und schließlich begann sie hysterisch zu
schreien.
5
Es war Harry Ewert, der uns am Morgen von dem Mord in Kenntnis
setzte. Wir erfuhren den Namen und die Anschrift der Augenzeugin
und machten uns sofort auf den Weg. Die junge Frau, die uns die Tür
öffnete, war bleich. Man sah ihr an, dass sie in der Nacht kein
Auge zugemacht hatte.
»Frau Laura Hollatz?«
Sie nickte. Ich schaute ihr in die Augen und konnte darin eine
Reihe von Gefühlen entdecken; Schrecken, Angst, Entsetzen,
Fassungslosigkeit, Erschütterung, Trauer …
Es war eine ganze Gefühlswelt.
Sie nickte. Ich stellte uns vor. Wir gingen in die Wohnung und
setzten uns. Laura senkte das Gesicht und legte die Hände in den
Schoß.
»Ich kann das noch immer nicht begreifen«, murmelte sie mit
tonloser Stimme.
Ich konnte mir denken, wie ihr zumute war und verspürte
Mitleid. Aber ich hatte auch einen Job zu verrichten. Darum schob
ich persönliche Gefühle zur Seite und sagte: »Sie sind unsere
einzige Augenzeugin des Verbrechens. Schildern Sie bitte, wie es
abgelaufen ist!«
Sie erzählte mit klangloser, monotoner Stimme. Immer wieder
versagte sie ihr, wenn sie die Erinnerung überwältigte. Schließlich
endete sie mit den Worten: »Ich kam gar nicht richtig zum Denken,
da floh der Mörder schon in Richtung Ausgang. Als ich mich fasste,
war er fort. Ich begann dann zu schreien. Plötzlich war ein Mann da
…«
Sie schluchzte und schlug die Hände vor die Augen. Ihre
Schultern zuckten.
Ich wartete, bis sie den Aufruhr ihrer Empfindungen wieder
einigermaßen unter Kontrolle hatte. Als ich sie ansprach, ließ sie
die Hände sinken.
»Können Sie den Killer beschreiben?«
»Ich – ich sah nur seine Augen. Sie waren blau. Seine Größe
schätze ich auf eins achtzig. Er trug dunkle Kleidung und
Sportschuhe.«
»Sagte er irgendetwas?« fragte Roy.
»Kein Wort. Alles lief ab wie – wie in einem Stummfilm.«
Mehr konnte sie uns nicht sagen.
Als wir im Sportwagen saßen, fragte ich: »Was hältst du von
der Idee, zu Carsten Seller zu fahren?«
»Ja, wir sollten ihm einige Fragen stellen. Er ist auf der
Liste der Verdächtigen um einen Platz nach vorne gerückt.«
Roy rief bei Seller an. Die Ehefrau erklärte, dass ihr Mann
auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz in der Sandstraße war. Wir
trafen den Mann in seinem Büro an. Er saß hinter dem Schreibtisch
und fixierte uns missmutig. Seine linke Braue hatte sich gehoben,
was seinem Gesicht einen hochmütigen Ausdruck verlieh.
»Ist es noch nicht bis zu Ihnen durchgedrungen«, fragte ich
nach kurzer Begrüßung.
»Carola Stiemer hat mich noch in der Nacht informieren lassen.
Sie ist völlig zusammengebrochen. Eine schreckliche Sache.«
»Wo waren Sie gegen Mitternacht, Herr Seller?«, fragte
ich.
Er kniff die Augen ein wenig zusammen.
»Brauche ich ein Alibi?«
»Es könnte sicher nicht schaden, wenn Sie eines vorweisen
könnten.«
Er lachte klirrend auf.
»Natürlich, ich stehe ja auch im Verdacht, Richard zu seinen
Ahnen geschickt zu haben.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
»Ich war zu Hause und habe geschlafen. Meine Frau kann es bezeugen.
Sind Sie jetzt enttäuscht?«
Ich lächelte.
»Die Position, die Sie einnehmen, ermöglicht es Ihnen,
jemanden mit der Erledigung einer Sache zu beauftragen. In Ihrer
Organisation gibt es sicher doch einen Mann fürs Grobe.«
Seller schürzte die Lippen.
»Mit Ihnen geht die Fantasie durch, Jörgensen. Aber ich werde
wohl meinen Anwalt einschalten. Er wird Ihnen adäquate Antworten
auf Ihre Unterstellungen geben.«
»Okay«, winkte ich ab. »Vergessen wir‘s! Beantworten Sie mir
eine Frage, Seller! Gibt es von Schraders Seite konkrete Aussagen,
wonach er die Hände nach Stiemers Revier ausstrecken möchte. Hat er
vielleicht sogar Ihnen ein Angebot unterbreitet?«
»Ich führe die Reinigungsbetriebe. Ihre Frage kann ich nicht
beantworten. Was sollte Schrader mir für ein Angebot unterbreiten?
Erbin des Unternehmens wird Carola Stiemer sein. Ohne meine Hilfe
ist sie nicht in der Lage, das Unternehmen am Leben zu erhalten.
Ich fühle mich verpflichtet, für sie die Geschäfte zu
führen.«
»Völlig uneigennützig, nehme ich an«, mischte sich Roy ein und
erntete dafür einen bösen Blick.
»Ich verdiene nicht schlecht bei Stiemer«, versetzte Seller.
»Im Übrigen wird sich an der Art meiner Tätigkeit nichts ändern.
Nur werde ich nicht mehr Richard Stiemer zur Rechenschaft
verpflichtet sein, sondern Carola.«
»Von der Liste der Verdächtigen mussten wir Dennis Stiemer
streichen«, erklärte ich. »Auf ihr stehen nur noch zwei
Namen.«
»Was meine Person anbetrifft, bewegen Sie sich auf einer
falschen Fährte, meine Herren. Aber das werden Sie sicher
irgendwann feststellen.«
»Wie kommen wir an Schrader heran?«, fragte Roy, als ich uns
in Richtung Präsidium chauffierte.
»Wir bräuchten einen Grund, um ihn vorübergehend festzunehmen.
Dann hätten wir vierundzwanzig Stunden Zeit, um ihn in die Mangel
zu nehmen.«
»Wenn wir ihn wegen einer x-beliebigen Sache vorübergehend in
Haft nehmen, haben wir kein Recht, ihn nach Mordfällen zu befragen,
die mit seiner Festnahme in keinem Zusammenhang stehen. Einen auf
diese Weise erbrachten Beweis würde das Gericht nicht
anerkennen.«
»Aber wir wüssten Bescheid und könnten uns danach richten. Ich
meine, man könnte dann versuchen, die erforderlichen – legalen –
Beweise auf vorgeschriebenem Weg zu erreichen.«
»Das ist zu vage«, kommentierte Roy meinen Vorschlag.
»Außerdem glaube ich nicht, dass wir aus Schrader auch nur das
Geringste herauskitzeln würden. Wenn er der Kerl ist, für den wir
ihn halten, dann ist er abgebrüht und kalt wie eine
Hundeschnauze.«
Ich konnte mich den Argumenten meines Freundes nicht
verschließen.
Zurück in unserem Büro erfuhren wir, dass Dennis Stiemer mit
einer Kugel vom Kaliber 45 ACP getötet worden war. Der Kollege von
der Spurensicherung erklärte mir, dass man uns in Kenntnis setzen
würde, sobald das Geschoss ballistisch ausgewertet sein würde. Ich
vermutete, dass Dennis Stiemer mit derselben Waffe getötet worden
war wie sein Vater.
Ich hielt mit meiner Vermutung nicht hinter dem Berg.
»Leider steht auf den Kugeln nicht der Name des Mörders«,
knurrte Roy. »Und solange wir den nicht kennen, werden wir auch im
Dunkeln tappen, was den Auftraggeber der Morde betrifft.«
Dem hatte ich nichts entgegenzusetzen.
6
Gegen 21 Uhr klingelte mein Telefon. Frisch geduscht hatte ich
mir einen bequemen Trainingsanzug angezogen. Mein Fernseher lief.
Ich hatte mir eine Dose Cola Light geöffnet.
Als das Telefon zum zweiten Mal läutete, erhob ich mich und
nahm es aus der Ladestation, hob es an mein Ohr und nannte meinen
Namen.
Es war Dirk Vanders, der sagte: »Ich befinde mich in der
Gruft. Da ist vor einer halben Stunde ein Kerl aufgetaucht, der
meiner Meinung nach Drogen verkaufen will. Ich sehe ihn zum ersten
Mal. Darum nehme ich an, dass er von der Mitte kommt.«
»In Ordnung, Dirk«, sagte ich. »Jetzt musst du mir nur noch
sagen, was die Gruft für ein Laden ist.«
»Wir nennen die Kneipe so. Tatsächlich heißt sie Tombstone und
liegt in der Baererstraße.«
»Gut. Du nimmst an, der Dealer wurde von Schrader
geschickt?«
»Ja. Davon bin ich überzeugt.«
Ich zog mich um, klemmte mir das Holster mit der Walther P99
an den Gürtel, schlüpfte in meine Jacke, schaltete den Fernseher
aus und verließ meine Wohnung. Um auf die Nordseite von Harburg zu
gelangen durchquerte ich Hamburg. Auf der B75 war auch um diese
Uhrzeit viel Verkehr.
Bei dem Lokal handelte es sich um einen düsteren Laden. Die
Gesichter der Gäste waren nur helle Kleckse in dem diffusen Licht.
Nur die Theke war hell erleuchtet. Und dort entdeckte ich Dirk. Wie
ein Affe hockte er auf dem Barhocker, vor ihm stand ein Bier.
Ich ging zu ihm hin. »Hallo, Dirk.«
Der Bursche blinzelte.
»Bist du geflogen?«
Ich lächelte. »Siehst du an mir Flügel?«
Dirk winkte ab. Er wies mit dem Kinn in eine bestimmte
Richtung.
»Das ist der Kerl. Er hat zweimal mit verschiedenen Leuten den
Gastraum verlassen. Wahrscheinlich hat er die Ware in seinem
Auto.«
Bei dem Mann handelte es sich um einen etwa
fünfundzwanzigjährigen Burschen mit Bürstenhaarschnitt, der mit
einem ausgewaschenen Jeansanzug bekleidet war.
»Was hast du über den Mord an Dennis Stiemer gehört, Dirk?«,
fragte ich. Ich sprach gerade so laut, dass mich nur er verstehen
konnte.
Er verzog den Mund. »Schrader macht Nägel mit Köpfen.«
»Man rechnet den Mord also ihm zu.«
»Wem sonst? Der Kerl dort am Tisch arbeitet für ihn. Davon bin
ich überzeugt. Sie wollen Stiemers Gebiet unterwandern. Seller ist
nicht der Mann, der das Zepter hier an sich reißen kann. Ich wette
mit dir, Jörgensen, dass Schrader in spätestens vier Wochen das
gesamte Gebiet von Stiemer übernommen hat.«
Der Keeper kam, und ich bestellte mir ein Wasser. Unauffällig
beobachtete ich den Burschen am Tisch, von dem Dirk annahm, dass es
sich um einen von Schraders Dealern handelte.
Zwei junge Männer betraten die Bar. Sie kamen zur Theke und
sprachen leise mit dem Keeper. Der erwiderte etwas und wies mit
einer knappen Geste zu dem Tisch mit dem vermeintlichen Dealer. Die
beiden wandten sich ab und gingen hin. Einer stemmte sich mit
beiden Armen auf die Tischplatte und beugte sich weit nach vorn.
Ich sah, dass sich seine Lippen bewegten. Schließlich erhob sich
der Bursche im Jeansanzug. Die drei gingen hinaus.
»Er scheint sich sehr sicher zu fühlen«, raunte ich Dirk
zu.
Der V-Mann nickte.
»Der Wirt weiß Bescheid. Er schickte ihm auch die beiden
anderen.«
Ich rutschte vom Barhocker und verließ den Gastraum. Draußen
atmete ich tief durch. Die drei Kerle standen etwa fünfzig Meter
entfernt bei einem Chevy. Der Kofferraum war geöffnet. Einige
Minuten verstrichen, dann wurde der Kofferraumdeckel zugeknallt.
Die beiden Kerle, von denen ich überzeugt war, dass sie Drogen
gekauft hatten, entfernten sich. Der Dealer näherte sich mir. Als
er an mir vorbeiging, stieß ich hervor: »Wie viel verlangst du für
die Portion Kokain?«
Er riss ihn regelrecht herum.
»Wie kommst du darauf …«
Ich zückte meine ID-Card.
»Was ich gesehen habe reicht, um sich mit deinem Wagen zu
befassen«, sagte ich. »Also gehen …«
Der Kerl warf sich gegen mich – und es gelang ihm, mich zu
überraschen. Ich taumelte zur Seite und hatte Mühe, das
Gleichgewicht zu bewahren. Er hatte sich herumgeworfen und ergriff
die Flucht. Ich ließ meine ID-Card in der Tasche verschwinden und
nahm die Verfolgung auf.
»Bleib stehen!«, forderte ich den Burschen auf.
Er dachte nicht daran. Seine Beine wirbelten. Er rannte wie
ein Wiesel. Ich fragte mich, wie lange er dieses Tempo durchhalten
konnte.
Der Abstand zwischen ihm und mir veränderte sich nicht. Er
hatte zehn Schritte Vorsprung. Zwei Männer kamen uns entgegen. Der
Bursche schlug einen Haken, rannte zwischen zwei parkenden
Fahrzeugen hindurch auf die Straße und hetzte an der Reihe der
parkenden Autos entlang.
Ich wich den beiden Männern aus.
Plötzlich ging der Kerl, dem ich folgte, hinter einem
parkenden Fahrzeug in Deckung. Da ich nicht ausschließen konnte,
dass er eine Waffe bei sich hatte, ging auch ich auf Tauchstation
und zog die Walther P99.
»Ergib dich!«, forderte ich den Burschen auf.
Ich vernahm eine murmelnde Stimme und war mir sicher, dass der
Kerl telefonierte. Geduckt schlich ich an den stehenden Fahrzeugen
entlang. Die Stimme wurde deutlicher. Hinter dem nächsten Wagen,
einem Toyota, lauerte er. Ich verspürte Anspannung. Jeder meiner
Sinne war aktiviert.
Plötzlich schnellte er hoch und setzte seine Flucht fort. Er
hatte wohl ein wenig verschnauft. Die Distanz zwischen uns betrug
allenfalls drei Meter. Ich legte einen Zahn zu. Der Bursche warf
einen Blick über die Schulter. Dreißig, vierzig Meter hetzten wir
dahin. Mein Atem ging schneller. Meine Hoffnung bestand darin, dem
Burschen konditionell überlegen zu sein. Tatsächlich wurde er
langsamer. Und dann hatte ich ihn beim Kragen. Er keuchte und
krümmte sich. Ich legte ihm Handschellen an. Dann dirigierte ich
ihn zum »Tombstone zurück«. Während wir uns dem Lokal näherten,
forderte ich beim Polizeikommissariat Verstärkung an. Man sicherte
mir zu, eine Streife zu schicken.
»Wie ist Ihr Name?«, fragte ich, als wir den Sportwagen
erreichten.
Der Bursche musste sich auf den Beifahrersitz setzen.
»Matthias Blendow.«
»Gut, Herr Blendow. Wir warten jetzt, bis einige Kollegen
eingetroffen sind. Um deinen Wagen werden sich die Beamten der
Drogenfahndung kümmern. Sie werden mich ins Präsidium begleiten, wo
ich Ihnen einige Fragen stellen werde.«
»Sie kriegen von mir keine Antwort.«
»Abwarten!«
“Da können Sie abwarten, bis Sie schwarz werden.”
“Jetzt übertreiben Sie mal nicht.”
“Ich übertreibe nicht.”
“Irgendwann reden Sie.”
“So?”
“Da bin ich mir ganz sicher.”
“Quatsch!”
“Ich brauche nur darauf zu warten.”
Es dauerte keine zehn Minuten, dann rollte ein Fahrzeug der
Polizei heran. Zwei Beamte stiegen aus. Ich klärte sie mit wenigen
Worten auf. Einer der beiden kehrte zum Fahrzeug zurück und nahm
das Mikro des Funkgerätes.
Ich brachte Blendow ins Bundesgebäude und führte sofort eine
Vernehmung mit ihm durch. Er saß an dem zerkratzen Tisch in der
Mitte des Vernehmungsraumes, weißes Neonlicht fiel auf ihn. Ich
hatte ihm gegenüber Platz genommen.
»Sie sind neu in der Gegend«, erklärte ich.
Trotzig erwiderte er meinen Blick, sagte aber nichts.
»In wessen Auftrag verkaufen Sie die Drogen?«
Der Bursche bog die Mundwinkel nach unten.
»Geben Sie sich keine Mühe, Kommissar. Ich werde schweigen wie
ein Grab.«
»Das wäre dumm von Ihnen.«
»Sparen Sie sich Ihre Worte!«
»Also gut«, sagte ich. »Machen wir es kurz! Sie arbeiten für
Lennard Schrader. Hat er Sie selbst mit den Drogen versorgt, oder
bediente er sich eines Erfüllungsgehilfen?«
Der Bursche starrte mich erschreckt an.
»Woher wissen Sie …«
»Tja, wir schlafen ebenso wenig wie ihr Kerle, die dafür
sorgen, dass wir kaum noch einen Feierabend kennen. Sie geben also
zu, für Schrader zu arbeiten.«
»Nachdem Sie es sowieso wissen.«
»Wer versorgt Sie mit Drogen?«
»Es ist Sattler. Andy Sattler.«
»Wo wohnt Sattler?«
»Wir treffen uns täglich im Haifisch. Das ist eine Kneipe am
Hafen. Dort rechnen wir auch mit Sattler ab.«
»Und Sattler agiert im Namen von Schrader«, konstatierte
ich.
»Wir vermuten es. Es ist nicht lange her, seit er uns in
diesen Teil Harburgs schickt. Man munkelt, dass Schrader dieses
Gebiet übernehmen möchte. Was dran ist an dem Gerücht, weiß ich
nicht so genau. Fakt ist, dass wir seit kurzer Zeit hier Geschäfte
abwickeln.«
»Hat niemand versucht, euch zu hindern?«
»Wer sollte uns hindern? Die Kerle, die hier aktiv waren, sind
führerlos. Die beiden Stiemers wurden liquidiert.«
»Es gibt noch Seller.«
»Wer ist Seller?«, fragte Blendow verächtlich. »Wenn Schrader
einmal scharf Luft holt, hängt ihm Seller quer vor der Nase. Seller
ist ein Buchhalter.«
»Sie scheinen sich Gedanken gemacht zu haben. Außerdem
scheinen Sie sich besser in den Verhältnissen auszukennen, als Sie
zunächst verlauten ließen.«
»Ich bin nur ein kleiner Dealer«, versetzte Blendow. »Aber wir
unterhalten uns natürlich untereinander. Auch wenn die beiden
Stiemers ausgeschaltet sind, ist es nicht ungefährlich, in ihre
Domäne einzudringen. Es gibt Unwägbarkeiten und gewiss eine Reihe
von Leuten, die sich an die Stelle von Richard Stiemer schwingen
möchten.«
»Werden auch Namen gehandelt?«
»Damit kann ich leider nicht dienen. Ein heißer Anwärter auf
den Thron ist Timo Molzahn, der Süd-Harburg beherrscht. Dieser
Bursche darf sicher nicht auf die leichte Schulter genommen
werden.«
»Soll es zwischen ihm und Stiemer nicht so eine Art
Waffenstillstand gegeben haben?«
»Das ist richtig. Aber Stiemer ist tot.«
»Wann finden die Treffen mit Sattler im Haifisch statt?«,
fragte ich.
»Täglich zwischen fünf und sechs Uhr nachmittags.«
»Wie sieht Sattler aus?«
»Eins fünfundsiebzig groß, untersetzt, blonde Haare, die
streng nach hinten gekämmt sind. Er hat eine Narbe am Kinn.«
»Wie hoch ist der Wert der Drogen, die Sie in Ihrem Chevy
befördern?«, fragte ich.
»Mehrere tausend Euro.«
»Von wem bezieht Schrader den Stoff?«
»Fragen Sie mich was Leichteres!«
»Mit wem haben Sie telefoniert, als ich Sie verfolgte?«
»Mit Sattler.«
Ich ließ Blendow arretieren, dann fuhr ich nach Hause.
7
Ernst-Eberhardt Wichmann trank den letzten Schluck Kaffee aus
seiner Tasse. Zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner linken Hand
hielt er eine brennende Zigarette. Das war sein Frühstück: Kaffee
und Nikotin. Im Aschenbecher lagen bereits drei Kippen. Er machte
einen Zug, inhalierte den Rauch und sagte: »Sieht kalt aus draußen.
Bin neugierig, wie lange die Kältewelle noch andauert.«
»Du solltest nicht versuchen, das Thema zu wechseln«, sagte
Laura Mayer, Wichmanns Lebensgefährtin. »Du bleibst in letzter Zeit
an den Abenden immer öfter und immer länger weg. Ich glaube dir
deine geschäftlichen Verpflichtungen nicht mehr. Also, wo warst du
gestern? Du bist erst nach Mitternacht nach Hause gekommen. Und an
dir haftete Parfümgeruch.«
Wichmann erhob sich. Er war ein Mann von achtundzwanzig Jahren
mit dunkelblonden Haaren und einem breitflächigen Gesicht.
Er seufzte. »Du spinnst dir was zusammen, Laura. Wirklich. Wir
hatten eine Besprechung. Als wir zusammenzogen, musste dir klar
sein, dass du mich mit meinem Job teilen musst. Mein Vater verlangt
hundertprozentigen Einsatz. Und er hat mir in der letzten Zeit eine
Reihe von Aufgaben übertragen, die mich voll und ganz
fordern.«
»Warum holt dein Vater nicht Dieter Handt aus Frankfurt
zurück? Ihr könntet euch die Aufgaben hier teilen.«
»Denkst du, ich wage die Beschlüsse meines Vaters
anzuzweifeln? Er ist nach wie vor der Boss. Aber ich«, Wichmann
tippte sich mit dem Daumen seiner Rechten gegen die Brust, »werde
das Imperium, das er aufgebaut hat, erben. Meine Schwester wird
großzügig abgefunden – Chef von Wichmanns Building and Construction
aber werde ich sein.«
»Dein Vater ist siebenundfünfzig. Seine Lebenserwartung liegt
bei über achtzig Jahren. Zu seinen Lebzeiten übergibt er niemals.
Du wirst alt und grau sein, wenn du dich eines Tages an seinen
Platz setzen darfst. Und solange bist du der Sklave deines Vaters.
Er verlangt von dir Dinge wie Einsatzbereitschaft, Motivation und
Loyalität, wie er sie von seinen Angestellten niemals verlangen
würde.«
»Das ist der Preis«, murmelte Ernst-Eberhardt Wichmann und
drückte die Zigarette im Aschenbecher aus.
Ein Schatten schien über Laura Mayers gleichmäßiges Gesicht zu
huschen. »Ich glaube dir kein Wort. Die Arbeit ist bei dir doch nur
ein Vorwand. Sag es mir: Hast du eine andere?«
»Du spinnst doch!«, knurrte er mit verschlossenen Zügen, holte
seine Jacke von der Garderobe und schlüpfte hinein. »Wir sehen uns
heute Abend.« Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund, dann
wandte er sich zur Tür und verließ die Wohnung.
Um seinen Kreislauf etwas anzutörnen, nahm Ernst-Eberhardt
Wichmann die Treppe. Stockwerk um Stockwerk lief er hinunter in die
Tiefgarage. Unten angekommen ging er zum Stellplatz seines Audis.
Per Fernbedienung öffnete Wichmann die Türen. Die Lichter blinkten,
als der Sensor ansprach. Jetzt sah Wichmann, dass in dem Wagen, der
neben dem Audi parkte, ein Mann saß. Dieser Mann öffnete jetzt die
Tür des Fords und stieg aus. Aus den Augenwinkeln sah Wichmann,
dass er eine Maske trug. Sein Kopf ruckte herum, Überraschung
spiegelte sich in seinem Gesicht wider. Da nahm er die Pistole über
dem Autodach wahr. Ein kaltes Auge starrte ihn über die
Zieleinrichtung an. Eine feurige Lohe stieß aus der Mündung. Es gab
lediglich ein Geräusch, wie wenn man mit einer zusammengelegten
Zeitung auf einen Tisch schlägt.
Es war der letzte Eindruck in Ernst-Eberhardt Wichmanns Leben.
Er fiel gegen den Audi und rutschte daran zu Boden.
Der Mörder setzte sich in den Ford, stieß rückwärts aus der
Parklücke und fuhr zur Auffahrtsrampe. Die Schranke war
geschlossen. Er drückte den Knopf am Lesegerät, der Portier meldete
sich.
»Würden Sie mir die Schranke wieder öffnen?«
»Gute Fahrt«, sagte der Portier, im nächsten Moment schwang
die Schranke hoch. Der Killer gab Gas.
8
Am nächsten Morgen holte ich Roy Müller wie üblich an der
bekannten Ecke ab.
“Moin”, sagte Roy.
“Moin”, gab ich zurück.
“Sag mal, hast du das deiner Mutter eigentlich je übel
genommen?”
“Was?”
“Dass sie dich Roy genannt hat.”
“Wieso sollte ich ihr das übel nehmen?”
“Naja - so ein Schmusesänger. ‘Ganz in weiß mit einem
Blumenstrauß…’ Du weißt schon, was ich meine.”
“Nein.”
“Haben sich die anderen Jungs niue darüber lustig
gemacht?”
“Doch.”
“Das meine ich.”
“Aber das hat mich nicht gekümmert.”
“Ach so.”
“Ja, so einer bin ich, Uwe. Was andere Leute sagen ist mir
egal. Und das war früher schon so. Und abgesehen davon - wer kennt
heute noch Roy Black?”
“Mehr als du denkst!”
“Soll ich dir was verraten?”
“Was?”
“Einmal war es mir wirklich unangenehm, Roy zu heißen.”
“Wann?”
“Das war im Musikunterricht. Da mussten wir für die
Musik-Zensur immer ein Lied vorsingen. Der Musiklehrer spielte dann
mit seinem Schifferklavier dazu.”
“Wie sich das für so einen Hamburger Jung eben gehört.”
“Genau.”
“Ja und, was war daran unangenehm?”
“Ich konnte nicht singen. Und dann sagt der Musiklehrer: Jetzt
heißt du schon Roy wie Roy Black und singst so schief, dass es wie
der Ruf eines Blässhuhns klingt, aber nicht wie Gesang.”
“Oh!”
“Ja, das hat mich tief getroffen.”
“Pädagogisch einfühlsam war das ja auch nicht gerade!”
Wir erreichten das Präsidium.
Ich war schon gespannt, was es heute wohl wieder Neues geben
würde.
Unser Fall war ja schließlich nicht gelöst.
Aber wir würden alles daran setzen, das zu ändern.
*
An diesem Morgen erfuhren wir, dass die Kugeln, die Richard
und Dennis Stiemer töteten, aus ein und derselben Waffe stammten.
Wir hatten es – wie ich schon vermutet hatte – mit demselben Mörder
zu tun.
»Ob Seller dahintersteckt?«, sinnierte Roy.
»Ich glaube nicht daran«, antwortete ich. »Meiner Meinung nach
ist Schrader unser Mann. Wir sollten uns mal diesen Andy Sattler
kaufen.«
Natürlich hatten wir die Datenbank bemüht. Sattler war
registriert. Es hatte eine ganze Reihe von Anklagen gegen ihn
gegeben, unter anderem wegen Verstoßes gegen das
Betäubungsmittelgesetz, Körperverletzung, Hausfriedensbruch und
Nötigung. Er hatte insgesamt sechs Jahre im Gefängnis verbracht.
Sattler war zweiundvierzig Jahre alt und wohnte in der
Auenstraße.
In der Auenstraße fand ich einen Parkplatz und rangierte den
Sportwagen hinein. Sattler wohnte in der elften Etage eines
Hochhauses. Lautlos und in Rekordgeschwindigkeit fuhren wir mit dem
Lift nach oben. Roy läutete an der Tür der Wohnung. Der Mann, der
öffnete, war Sattler.
Ich erklärte ihm, dass er wegen Drogenhandels verhaftet sei.
Als er die Tür zuschlagen wollte, warf ich mich dagegen. Sie flog
auf und ich machte einen großen Schritt in den Raum. Mit einem
Griff hatte ich Sattler, der herumgewirbelt war und fliehen wollte,
am Hemdkragen und riss ihn zurück. Er verlor das Gleichgewicht und
setzte sich auf den Hosenboden.
Wir fackelten nicht lange. Schließlich lag Sattler mit
gefesselten Händen auf dem Bauch.
»Ich will meinen Anwalt anrufen!«, tönte er.
Wir zerrten ihn auf die Beine.
»Natürlich«, sagte Roy. »Sie haben das Recht auf einen Anwalt.
Und Sie kriegen auch Gelegenheit, einen zu konsultieren. Vorher
aber werden wir uns ein wenig unterhalten.«
»Ohne Anwalt rede ich mit euch nicht.«
»Sie können Ihren Hals nicht retten, Sattler«, knurrte Roy.
»Ob nun ein Anwalt Ihre Interessen vertritt oder nicht. Blendow hat
geredet. Wir wissen, dass Sie ihn mit Drogen versorgt haben. Und
wir werden noch ein paar weitere Kerle befragen, die uns Ihren
Namen nennen werden. Wollen Sie nicht aufgeben?«
»Ihr könnt mich mal – beide!«, schnaubte Sattler.
Wir brachten ihn ins Präsidium. Dort nahmen wir ihn sofort in
die Mangel.
»Sie arbeiten für Lennard Schrader«, stellte ich fest.
Sattler schwieg.
»Schrader verkaufte bisher die Drogen in seinen Lokalen«, fuhr
ich fort. »Nun schickt er seine Leute auf den nördlichen Teil von
Harburg. Führt er etwas Besonderes im Schilde?«
Die Antwort war Schweigen. Sattlers Gesicht hatte sich
verkniffen. Er hatte die Lippen zusammengepresst. Mir kam er in
diesen Momenten vor wie ein stures Kind, das irgendeine Schandtat
nicht eingestehen wollte.
»Na schön«, sagte ich. »Vielleicht finden Sie doch noch Ihre
Sprache zurück. Sie erhalten die Drogen, die Sie an die
Straßenverkäufer weitergeben, von Schrader, nicht wahr?«
»Wenn Sie nicht reden, wird es an Ihnen hängenbleiben«, drohte
Roy.
»Ihr könnt mich nicht einschüchtern.«
»Darum geht es nicht.«
Ich ergriff wieder das Wort.
»Richard Stiemer und sein Sohn Dennis wurden ermordet. Wir
nehmen an, dass Schrader dahinter steckt. Und Sie als Schraders
engster Vertrauter sind sicherlich eingeweiht.«
»Sie sind auf dem Holzweg.«
»Wie bezeichnen Sie Ihren Job, den Sie für Schrader
ausüben?«
»Ich bin Geschäftsführer.«
»Sehen Sie doch ein, dass Sie verloren haben, Sattler«, sagte
ich eindringlich. »Sie können nur noch versuchen, das Beste für
sich herauszuholen, das heißt, ein Geständnis abzulegen.«
»Darauf wartet ihr lange.«
»Nun, dann werden Sie alles, was folgt, sich selber
zuzuschreiben haben.«
Wir ließen Sattler abführen.
»Um Sie werden sich unsere Vernehmungsspezialisten kümmern«,
rief ich ihm hinterher. »Sie werden Ihnen die Würmer aus der Nase
ziehen.«
»Sie werden bei mir auf Granit beißen«, blaffte Sattler über
die Schulter.
*
Zurück in unserem Büro sagte ich: »Wenn Sattler schweigt,
kriegen wir auch gegen Schrader nichts in die Hand. Der Schurke war
vorsichtig und ist dem Fußvolk gegenüber nie in Erscheinung
getreten. Und in Sattler hat er einen treu ergebenen Mann gefunden,
der ihn deckt, egal was geschieht.«
»Was nun?«, fragte Roy. »Wir haben zwei Leichen und zwei
Verdächtige. Seller kann der Mörder sein, wir nehmen aber an, dass
es Schrader ist. Vieles deutet darauf hin. Allerdings haben wir
keinen Hebel, an dem wir ansetzen können. Um es auf einen Nenner zu
bringen, Partner: Wir treten auf der Stelle.«
»Reden wir noch einmal mit Frau Stiemer!«
Nachdem wir eine Stunde später im Krankenhaus einer der
Schwestern unser Anliegen vorgetragen hatten, erklärte sie uns,
dass die Entscheidung darüber, ob wir mit der Patientin sprechen
dürften, Dr. Benson treffen müsste. Sie nahm ihr Handy und tippte
eine Nummer, dann sagte Sie: »Bei mir sind die beiden Kommissare.
Sie möchten mit Frau Stiemer sprechen. Können Sie kommen, Dr.
Benson? – Danke.« Sie senkte die Hand mit dem Mobiltelefon. »Er
kommt sofort.«
Ich schaute Roy an, und er verdrehte die Augen.
»Die Nachricht vom Tod ihres Sohnes hat einen weiteren Schock
bei der Patientin ausgelöst«, erklärte die Schwester. »Sie erlitt
einen Nervenzusammenbruch. Jetzt ist sie völlig apathisch.«
Es dauerte höchstens drei Minuten, dann erschien der Arzt. Er
war nicht gerade erbaut über unseren Besuch. Nachdem er jedem von
uns die Hand geschüttelt hatte, sagte er: »Die Sache mit ihrem Sohn
hat Frau Stiemer den Rest gegeben. Ihr Zustand war vorübergehend
lebensbedrohlich. Jetzt hat sich ihr Kreislauf wieder einigermaßen
stabilisiert. Sie können sich denken, dass ich nicht gerade
begeistert darüber bin, dass Sie mit Ihren Fragen unseren
Heilungserfolg infrage stellen. Sind Ihre Fragen denn so wichtig,
dass Sie nicht ein paar Tage warten können, um sie zu
stellen?«
»Wir sollen die Morde an ihrem Mann und ihrem Sohn aufklären«,
erwiderte ich. »Es sind nur ein paar Fragen, den Prokuristen des
Unternehmens betreffend. Wir wollen Frau Stiemer ganz bestimmt
nicht aufregen.«
»Ich gebe Ihnen fünf Minuten, meine Herren«, willigte der Arzt
schließlich ein. »Gegebenenfalls brechen Sie das Gespräch auf meine
Anordnung hin sofort ab.«
Wir gingen in das Krankenzimmer.
Die Frau war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Die Augen
lagen in dunklen Höhlen, das Gesicht war eingefallen, die Haut sah
aus, als wäre sie durchsichtig. Sie schien, seit wir sie das letzte
Mal gesehen hatten, um Jahre gealtert zu sein. Blicklos starrte sie
zur Decke hinauf. Die Hände hatte sie ineinander verschränkt. Sie
vermittelte den Eindruck, zu beten.
Der Arzt trat an das Bett heran.
»Frau Stiemer.«
Ihre Augen bewegten sich. Sie schaute wie eine
Erwachende.
»Die beiden Herren von der Kriminalpolizei sind noch einmal
gekommen. Sind Sie in der Lage, ihnen einige Fragen zu
beantworten?«
Sie richtete den Blick auf uns.
»Haben Sie den Mörder meines Mannes und meines Sohnes
überführt?«, fragte sie mit lahmer Stimme.
»Noch nicht«, erwiderte ich. »Bei der Suche nach ihm bauen wir
auf Ihre Hilfe, Frau Stiemer.«
»Wie sollte ich Ihnen helfen können?«
»Indem Sie unsere Fragen beantworten.«
»Fragen Sie!«
»Welche Stellung im Betrieb wird künftig Carsten Seller
einnehmen?«
»Ich – ich hoffe, es bleibt alles so, wie es ist.« Die Lippen
der Frau bebten. Das Sprechen schien sie anzustrengen. »Seller ist
ein kompetenter Mann, der bisher schon die Betriebe zu unserer
größten Zufriedenheit leitete.«
»Ist Seller mit irgendwelchen Forderungen an Sie
herangetreten?«
»Er – er hat mich einmal besucht und mir versichert, dass er
weiterhin als Betriebsleiter tätig sein und mich in jeder Beziehung
unterstützen wird. Ich schenke ihm hundertprozentiges Vertrauen.
Mit einer höheren Gehaltsforderung – das meinten Sie doch – ist er
nicht an mich herangetreten.«
»Seller könnte Vorteile aus dem Tod Ihres Mannes und Ihres
Sohnes ziehen«, erklärte ich.
Frau Stiemer schaute mich irritiert an.
»Welche Vorteile?«
Mir brannten einige Dinge auf den Lippen, die ich gerne von
mir gegeben hätte. Ich wollte sie fragen, ob sie tatsächlich nicht
wusste, womit ihr Mann seinen Reichtum angehäuft hatte, ob sie denn
keine Ahnung hatte, dass die Reinigungsbetriebe nur der Tarnung und
Geldwäsche gedient hatten, dass ihr Mann der ungekrönte King eines
großen Bereichs von Harburg gewesen war und dass ihr Sohn eines
Tages sein Erbe als Gangsterboss angetreten hätte.
Sie hatte sicher ein Leben in Saus und Braus geführt. Geld
spielte keine Rolle. Hatte sie nicht gewusst, dass es sich bei dem
Geld, das sie mit vollen Händen ausgab, um die Früchte skrupellosen
Verbrechens handelte?
Das konnte ich mir nicht vorstellen. Ich ging sehr viel mehr
davon aus, dass sie genauestens Bescheid wusste und ebenso
skrupellos war wie ihr Mann.
Ich hielt mich jedoch zurück. Der Arzt hätte mich sofort
gebremst. Und seiner ärztlichen Autorität hatte ich nichts
entgegenzusetzen.
Ohne meine Antwort auf ihre Frage abzuwarten, stieß sie
hervor: »Sie unterstellen Seller doch nicht, dass er mich jemals
betrügen würde? Was sollen diese Fragen überhaupt? Haben Sie etwa
Carsten im Verdacht, meinen Mann und meinen Sohn ermordet zu
haben?«
»Wir müssen jeder Spur nachgehen«, sagte ich.
»Für Seller lege ich die Hand ins Feuer«, erregte sich die
Frau.
Ich wechselte das Thema.
»Die Staatsanwaltschaft hat die Leiche Ihres Mannes zur
Beerdigung freigegeben. Wer wird sich um das Begräbnis
kümmern?«
Sie griff sich an den Kopf.
»Ich werde dazu nicht in der Lage sein. Aber ich denke,
Carsten nimmt es in die Hand. Ja, wer sonst? Ich ... ich muss
sofort mit ihm telefonieren.«
Sie wirkte plötzlich überhaupt nicht mehr apathisch.
»Sind Sie fertig?«, fragte der Arzt.
»Hast du noch eine Frage?«, erkundigte ich mich bei Roy.
Er schüttelte den Kopf. Ich sagte: »Es sind noch eine Reihe
von Fragen offen. Aber wir werden sie wohl erst stellen, wenn Frau
Stiemer wieder hundertprozentig auf dem Damm ist. Wir wollen Ihnen
nicht ins Handwerk pfuschen, Doktor.«
Er grinste säuerlich.
»Vielen Dank für Ihr Verständnis, meine Herren.«
Wir verabschiedeten uns.
»Wir hätten sie fragen sollen, ob ihr Mann ihr gegenüber je
den Namen Schrader erwähnt hat«, sagte Roy, als ich den Sportwagen
wieder nach Norden steuerte.
»Was hätte uns die Antwort auf diese Frage gebracht?«
»Für den Fall, dass sie bejaht hätte, wüssten wir, dass
Stiemer vielleicht um die Gefahr wusste, die ihm drohte.«
»Dieses Wissen würde uns auch nicht weiterbringen«, murmelte
ich.
9
Schrader hatte eine Wohnung in der Finkenstraße. Dieser Teil
Hamburgs war ein ausgesprochen mondäner Wohnbezirk. Wer sich hier
eine Wohnung leisten konnte, musste über sehr viel Geld verfügen.
Roy läutete. Eine Frau, die eine weiße Schürze umgebunden hatte,
öffnete.
»Sie wünschen?«
»Wir möchten zu Herrn Schrader. Mein Name ist Jörgensen. Ich
bin Kommissar bei der Kriminalpolizei. Das ist mein Kollege
Müller.«
»Einen Moment, ich sage Herr Schrader Bescheid.«
Die Angestellte drückte die Tür ins Schloss. Es dauerte aber
keine zwanzig Sekunden, dann öffnete sie wieder und bat uns in die
Wohnung.
Schrader war ein Mann um die vierzig, mit dunklen Haaren und
dunklen Augen, die in tiefen Höhlen lagen und uns lauernd
beobachteten. Sein Mund war schmal, in seinen Mundwinkeln hatte
sich ein Zug festgesetzt, den ich als brutal bezeichnen würde. Er
saß in einem schweren Sessel und hatte die Beine übereinander
geschlagen. Auf der Couch saß eine Frau mit rot gefärbten Haaren,
höchstens fünfundzwanzig und sehr rassig. Sie hatte grüne Augen,
die einen besonderen Kontrast zu den roten Haaren
darstellten.
Wir hatten uns entschlossen, Schrader diesen Besuch
abzustatten, um uns ein Bild von ihm zu machen und zu wissen, mit
wem wir es gegebenenfalls zu tun bekamen.
Mir gefiel der Bursche nicht. Ihm haftete etwas an, das mich
berührte, das ich nicht genau bezeichnen konnte, das aber ein
gewisses Maß an Abneigung in mir erzeugte.
»Was will die Kriminalpolizei von mir?«
»Ist es Ihrer geschätzten Aufmerksamkeit entgangen, dass wir
Ihren Geschäftsführer verhaftet haben?«
»Ich habe davon gehört. Was werfen Sie Andy vor? Er ist ein
integrer Mann, der sich noch nie etwas zuschulden kommen
ließ.«
Um ein Haar hätte ich aufgelacht. Aus den Augenwinkeln sah
ich, dass Roys Backenknochen mahlten.
»Matthias Blendow behauptet das Gegenteil«, erklärte
ich.
Schrader legte die Stirn in Falten.
»Wer ist Blendow?«
»Er hat uns erzählt, für Sie zu arbeiten.«
»Nun, für mich arbeiten eine Reihe von Leuten. Sie müssen
wissen, ich besitze einige Betriebe. Aber nehmen Sie doch Platz,
meine Herren.«
Wir suchten uns Plätze und ließen uns nieder.
»Blendow hat erklärt, von Sattler mit Drogen versorgt worden
zu sein, die er auf der Straße verkaufte.«
»Und was sagt Sattler dazu?« Das Gesicht des Gangsters verriet
eine gewisse Anspannung, als er diese Frage stellte.
»Sattler schweigt.«
Ich glaubte wahrzunehmen, dass Schrader aufatmete. Entspannt
lehnte er sich zurück.
»Ich weiß nicht, was dran ist an Blendows Aussage. Aber wenn
Sattler wirklich mit Rauschgift handelte, dann muss er bestraft
werden. Auf diesem Gebiet vertrete ich eine knüppelharte Meinung.
Drogen sind das Schlimmste, was man unserer Gesellschaft antun
kann.«
Es klang wie Hohn in meinen Ohren.
»Wir vermuten, dass Sattler auch nur ein Handlanger ist«,
sagte ich.
Schraders Brauen schoben sich zusammen wie zwei schwarze
Raupen.
»Ich verstehe nicht.«
»Wir klären Sie gerne auf«, versetzte ich. »Es geht um zwei
Morde – um die Morde an Richard Stiemer und seinem Sohn Dennis.
Stiemer kontrollierte das Gebiet von der B73 bis zu der B75, also
der nördlichen Teil von Harburg, ich spreche von Drogengeschäften,
Schutzgelderpressung und illegaler Prostitution. Von Blendow haben
wir erfahren, dass die Straßenverkäufer von Sattler seit Neuestem
in den Bereich geschickt werden. Nun nehmen wir an, dass die beiden
Stiemer jemandem im Wege standen – jemandem, der sich Ihr Revier
unter den Nagel reißen möchte.«
»Wenn ich Sie richtig verstehe, dann vermuten Sie, dass
Sattler bei den beiden Morden die Hände im Spiel hat«, resümierte
Schrader.
»Ja, das ist unsere Vermutung. Und da wir annehmen, dass
Sattler auch nur ein Befehlsempfänger ist, gehen wir davon aus,
dass der Mann, der hinter Sattler steht, die Morde angeordnet
hat.«
Ein fast belustigtes Glitzern zeigte sich in Schraders Augen.
»Jetzt sehe ich klar, meine Herren. Sie sind der Meinung, dass
dieser Mann ich sein könnte.«
»Man munkelt so manches in Hamburgs Unterwelt«, erwiderte ich.
»Ja, man sagt, dass Sie in Stiemers Revier drängen. Wir haben mit
einem Insider gesprochen, einem Mann, der weiß, wovon der
redet.«
Schrader schob die Unterlippe vor.
»Sie nehmen wohl kein Blatt vor den Mund.«
»Wir sind für klare Verhältnisse.«
»Hat Ihnen Ihre offene Art noch keine Probleme
beschert?«
»Keine Probleme, die wir nicht gemeistert hätten.«
Schrader lachte auf. »Na schön«, sagte er dann, wieder ernst
werdend. »Ich versichere Ihnen, dass ich mit der Ermordung der
beiden Stiemers nichts zu tun habe.«
»Aber es sind Ihre Leute, die Stiemers Revier langsam aber
sicher unterwandern. Wir haben von Blendow ein paar Namen bekommen
und werden uns diese Burschen vorknöpfen.«
»Ich habe mit Sattlers Machenschaften nichts zu tun. Glauben
Sie‘s mir ruhig! Das Vermögen, das ich besitze, ist ehrlich
erworben.«
»Dem gibt es wohl nichts mehr hinzuzufügen«, sagte ich und
erhob mich. »Um Sattler werden sich unsere Vernehmungsspezialisten
kümmern. Sie sind psychologisch geschult und haben eine Reihe von
Tricks in petto, um die Zunge eines Mannes zu lösen.«
»Ich habe nichts zu befürchten«, sagte Schrader lächelnd.
Seine Überheblichkeit brachte mein Blut in Wallung.
Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, dann sowas.
Viel später sagte ich zu Roy: “Diesen Kerl kann ich nicht
ausstehen!”
“Glaubst du ich?”
“Wie auch immer…”
“Das musst du dienstlich sehen.”
“Dienstlich?”
“Neutral.”
“Aha.”
“Unbeteiligt.”
“Ist aber schwierig.”
“Ich weiß.”
“Aber du hast recht.”
“Ich weiß.”
“Es ist besser, das nur dienstlich zu sehen.”
“Ja.”
“Aber ich fürchte: so obercool bin ich nicht, Roy.”
10
Am folgenden Morgen rief mich Harry Ewert von der
Mordkommission an.
»Gestern früh geschah in der Schönenfelder Straße ein Mord«,
sagte 'Super-Aufklärer'. »Das Opfer heißt Ernst-Eberhardt Wichmann.
Er ist der Sohn von Jochen Wichmann, dem Baulöwen.«
Mir war der Name ein Begriff. Wichmanns Building and
Construction war ein Imperium, das über gesamt Deutschland verteilt
war. Wichmann genoss in Deutschland ein hohes Ansehen.
»Um mir das mitzuteilen, rufst du mich doch nicht an, Harry«,
sagte ich. »Oder gibt es einen Grund, der den Fall in die
Zuständigkeit der Kriminalpolizei verweist?«
»Ja, Uwe, den gibt es«, antwortete Harry gedehnt. »Wir haben
das Geschoss analysieren lassen. Es stimmt mit den Geschossen
überein, die Richard Stiemer und seinen Sohn töteten.«
Es dauerte kurze Zeit, bis ich die Eröffnung verarbeitet
hatte.
»Wo ist hier der Zusammenhang?«, entrang es sich mir.
»Das herauszufinden dürfte euer Job sein, Uwe«, erklärte der
Harry Ewert. »Ich schicke dir die Protokolle. Der Mord geschah in
der Tiefgarage des Gebäudes, in dem Wichmann wohnte. Mit Laura
Mayer, Wichmanns Lebensgefährtin, haben wir uns bereits
unterhalten. Sie konnte zur Aufklärung der Sache nicht das
Geringste beitragen.«
Nachdem ich aufgelegt hatte, wechselte ich mit Roy einen
Blick.
»Wir müssen die Morde an den beiden Stiemers vielleicht in
einem völlig anderen Licht betrachten«, murmelte ich.
»Ernst-Eberhardt Wichmann wurde gewiss nicht ermordet, weil
Schrader auf Stiemers Gebiet scharf ist.«
»Die Morde können unabhängig voneinander vom selben Killer
ausgeführt worden sein«, gab Roy zu bedenken.
»An einen derartigen Zufall glaube ich nicht.« Ich holte die
Homepage der Baufirma auf den Bildschirm. »Die Firma hat ihren Sitz
in Meiendorf.«
Wir verloren keine Zeit. Im Betrieb erfuhren wir, dass Jochen
Wichmann nicht anwesend war. Aber davon, dass wir ihn in der Firma
antreffen würden, waren wir auch gar nicht ausgegangen. Schließlich
war vor gut vierundzwanzig Stunden sein Sohn erschossen worden.
Seine Wohnung lag in Meiendorf, Jarnostraße, in der Nähe des
Stellmoorer Tunneltals, einem Naturschutzgebiet. Die Villa war auf
einem riesigen Grundstück errichtet. Bäume und Büsche standen in
dem parkähnlichen Garten derart dicht, dass man von der Straße aus
das Gebäude kaum sehen konnte. Das breite, schmiedeeiserne Tor mit
den vergoldeten Spitzen war geschlossen. Auch die Pforte daneben
ließ sich nicht öffnen. In die wuchtige Säule war jedoch eine
Gegensprechanlage eingebaut. Ich klingelte. Gleich darauf ertönte
es: »Wer ist draußen?«
Ich gab die entsprechende Antwort. Der Türöffner summte, und
ich konnte die Tür aufdrücken. Ich schaute mich um, denn ich nahm
an, dass der Eingangsbereich videoüberwacht war, konnte aber keine
Kamera entdecken. Auf einem Plattenweg, der parallel zur
Garagenzufahrt verlief, schritten wir zum Haus. Der freie Platz
davor war als Rondell gestaltet. In der Mitte befand sich ein
großes, rundes Blumenbeet mit einem Springbrunnen in der Mitte. Ein
schwerer Mercedes und ein Porsche standen da. An das Haus war eine
Doppelgarage angebaut. Die Tore waren geschlossen.
Der Mann, der uns unter der Haustür erwartete, war mit einem
schwarzen Anzug und einem weißen Hemd bekleidet.
»Herr Wichmann erwartet Sie, meine Herren«, schnarrte er und
machte eine einladende Handbewegung. Wir betraten die Halle der
Villa. Sie war groß und mit rustikal wirkenden Möbeln bestückt. Es
gab einen offenen Kamin, in dem ein Feuer flackerte. Neben dem
Kamin stand ein grauhaariger Mann, der eine schwarze Hose und ein
hellblaues Hemd trug. Um den Hals hatte er sich eine schwarze
Krawatte gebunden. Er war Ende der fünfzig. Sein Gesicht war von
ungesund bleicher Farbe. Er verströmte eine nicht zu übersehende
Autorität.
In einem der Sessel saß eine Frau Anfang der fünfzig. Sie
vermittelte trotz des fortgeschrittenen Alters noch ein hohes Maß
an Attraktivität und war ausgesprochen gepflegt.
»Herr Wichmann?«, fragte ich.
Der Mann nickte.
»Ja. Das ist meine Frau Susan. Sie kommen sicher wegen des
Mordes an meinem Sohn. Wieso hat die Kriminalpolizei die
Ermittlungen übernommen?«
Die Stimme des Unternehmers klang präzise und autoritär. Sie
war von jenem Klang, wie ihn nur die Stimme eines Mannes haben
konnte, der es gewöhnt ist, Befehle zu erteilen, anzutreiben, zu
fordern, anzuordnen, zu überwachen, zu loben und zu tadeln.
»Alles deutete darauf hin, dass Ihr Sohn von einem Killer
getötet wurde, der bereits zwei Morde auf dem Gewissen hat«,
erwiderte ich. »Da wir in diesen beiden Mordfällen ermitteln, haben
wir auch die Angelegenheit mit Ihrem Sohn an uns gezogen.«
»Wer wurde noch ermordet?«
»Richard und Dennis Stiemer. Richard Stiemer besaß eine Kette
von Reinigungsbetrieben in Hamburg.«
»Haben Sie schon eine Spur zu dem Mörder?«, fragte
Wichmann.
»Wir hatten einen Verdacht. Dieser Verdacht wurde allerdings
mit dem Mord an Ihrem Sohn erschüttert.«
»Wen verdächtigen Sie?«
»Sie werden verstehen, dass wir keine Namen nennen wollen. Ihr
Sohn war sicher in Ihrem Unternehmen tätig.«
»Natürlich. Er sollte alles erben. Er leitete die Geschicke
des Unternehmens.«
»War Ernst-Eberhardt Ihr einziger Sohn?«
»Ja. Wir haben noch eine Tochter. Ihr Name ist Kimberley. Sie
ist mit Dieter Handt verheiratet, den ich anderenorts eingesetzt
habe. Er lebt in Frankfurt.«
»Zusammen mit Ihrer Tochter, nehme ich an.«
»Nein. Kim hat Hamburg nicht verlassen.« Wichmann winkte ab.
»Aber das ist eine andere Sache.«
»Wurde Ihr Sohn bedroht?«
»Ganz sicher nicht. Das hätte er mir gesagt.«
»Wurden Sie bedroht, Herr Wichmann?«
»Nein. Wenn Sie an die Konkurrenz denken, muss ich Sie
enttäuschen. Wichmanns Building and Construction ist konkurrenzlos.
Außerdem befindet sich die Firma fest in Wichmann-Hand. Sollte ich
nicht mehr sein …« Wichmann brach ab. Ihm wurde wohl in diesem
Moment so richtig bewusst, dass sein Erbe getötet worden war. Er
atmete stoßweise durch die Nase. »Im Zweifelsfalle könnte der Mann
meiner Tochter das Unternehmen übernehmen. Kim ist eine Wichmann.
Sie ist siebenundzwanzig, und ich gehe davon aus, dass sie eines
Tages Kinder bekommt, die sie in meinem Sinne erzieht und die in
meine Fußstapfen treten.«