Krimi Quintett Sonderband 1022 - Chris Heller - kostenlos E-Book

Krimi Quintett Sonderband 1022 E-Book

Chris Heller

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Beschreibung

Dieser Band enthält folgende Krimis: Kommissar Jörgensen und der Kollateralschaden (Chris Heller/Thomas West) Kubinke und die verborgene Wahrheit (Alfred Bekker) Earl Warren: Bount Reiniger und der Ausflug ins Verderben (Earl Warren) Earl Warren: Bount Reiniger und der Tod in Haiti (Earl Warren) Earl Warren: Bount Reiniger kommt nach Atlantic City (Earl Warren) Der Einschuss an Archs Stirn war klein. Doch die Kugel, ein 41er Projektil, hatte ihm den halben Hinterkopf weggerissen. Bount dachte an gemeinsame Erlebnisse aus der jahrelangen Bekanntschaft mit dem Chicagoer Detektiv. Er hatte sich gelegentlich wegen Informationen an Arch Smith gewandt und ihm Ermittlungen zugeschoben, die in Chicago stattfanden. Arch war immer zuverlässig und tüchtig gewesen, furchtlos und unbestechlich. Seine Bekanntschaft mit Bount Reiniger hatte vor zwölf Jahren begonnen, als sie gemeinsam eine Bankräuberbande aufspürten. Der Trauergottesdienst fand am Chicagoer Hauptfriedhof statt. Vierzig Trauergäste waren erschienen. Wenig für einen Mann, der immer fest auf der Seite des Rechts gestanden und sein Bestes gegeben hatte, um ihm zum Sieg zu verhelfen. Bount bedauerte die schwarzgekleidete Witwe und die beiden Kinder seines Kollegen. Das Mädchen war sechs, der Junge acht Jahre alt.

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Earl Warren, Thomas West, Chris Heller, Alfred Bekker

Krimi Quintett Sonderband 1022

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Inhaltsverzeichnis

Krimi Quintett Sonderband 1022

Copyright

​Kommissar Jörgensen und der Kollateralschaden: Mordermittlung Hamburg Kriminalroman

​Kubinke und die verborgene Wahrheit

Bount Reiniger und der Ausflug ins Verderben

1.

2.

3.

4.

5.

Bount Reiniger und der Tod in Haiti

2.

3.

4.

5.

6.

Bount Reiniger kommt nach Atlantic City

1.

2.

3.

4.

5.

Krimi Quintett Sonderband 1022

Earl Warren, Chris Heller, Thomas West, Alfred Bekker

Dieser Band enthält folgende Krimis:

Kommissar Jörgensen und der Kollateralschaden (Chris Heller/Thomas West)

Kubinke und die verborgene Wahrheit (Alfred Bekker)

Earl Warren: Bount Reiniger und der Ausflug ins Verderben (Earl Warren)

Earl Warren: Bount Reiniger und der Tod in Haiti (Earl Warren)

Earl Warren: Bount Reiniger kommt nach Atlantic City (Earl Warren)

Der Einschuss an Archs Stirn war klein. Doch die Kugel, ein 41er Projektil, hatte ihm den halben Hinterkopf weggerissen. Bount dachte an gemeinsame Erlebnisse aus der jahrelangen Bekanntschaft mit dem Chicagoer Detektiv.

Er hatte sich gelegentlich wegen Informationen an Arch Smith gewandt und ihm Ermittlungen zugeschoben, die in Chicago stattfanden. Arch war immer zuverlässig und tüchtig gewesen, furchtlos und unbestechlich. Seine Bekanntschaft mit Bount Reiniger hatte vor zwölf Jahren begonnen, als sie gemeinsam eine Bankräuberbande aufspürten.

Der Trauergottesdienst fand am Chicagoer Hauptfriedhof statt. Vierzig Trauergäste waren erschienen. Wenig für einen Mann, der immer fest auf der Seite des Rechts gestanden und sein Bestes gegeben hatte, um ihm zum Sieg zu verhelfen.

Bount bedauerte die schwarzgekleidete Witwe und die beiden Kinder seines Kollegen. Das Mädchen war sechs, der Junge acht Jahre alt.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

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© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alles rund um Belletristik!

​Kommissar Jörgensen und der Kollateralschaden: Mordermittlung Hamburg Kriminalroman

Krimi von Thomas West & Chris Heller

Der Umfang dieses Buchs entspricht 115 Taschenbuchseiten.
Kommissar Jörgensen steht vor einer schwierigen Aufgabe. Ein Polizist ist tot. Verstörte Kollegen, ein Haufen Ungereimtheiten und immer dieser Gedanke, etwas übersehen zu haben. Ist das ganze Polizei-Revier korrupt oder sind da nur ein paar schwarze Schafe, die das Recht für sich beanspruchen – koste es, was es wolle? Als immer mehr Leichen auftauchen, trifft Kommissar Jörgensen die richtige Entscheidung.
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© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alles rund um Belletristik!
1
Mein Name ist Uwe Jörgensen. Ich bin Kriminalhauptkommissar und Teil einer in Hamburg angesiedelten Sonderabteilung, die den etwas umständlichen Namen ‘Kriminalpolizeiliche Ermittlungsgruppe des Bundes’ trägt und sich vor allem mit organisierter Kriminalität, Terrorismus und Serientätern befasst.
Die schweren Fälle eben.
Fälle, die zusätzliche Resourcen und Fähigkeiten verlangen.
Zusammen mit meinem Kollegen Roy Müller tue ich mein Bestes, um Verbrechen aufzuklären und kriminelle Netzwerke zu zerschlagen. “Man kann nicht immer gewinnen”, pflegt Kriminaldirektor Bock oft zu sagen. Er ist der Chef unserer Sonderabteilung. Und leider hat er mit diesem Statement Recht.
Wenn Sie auf der Suche nach einem aufregenden Nachtleben sind, dann ist das Strip-Lokal auf St. Pauli genau das Richtige für Sie! Hier können Sie die heißesten Girls der Stadt beim Tanzen und Strippen beobachten. Die Atmosphäre ist elektrisierend und die Drinks sind köstlich. Lassen Sie sich dieses Erlebnis nicht entgehen!
Ich betrete das Lokal und sehe mich um. Die Bühne ist dunkel, aber ich kann die Silhouetten der Tänzerinnen erkennen, die sich an den Stangen reiben. Nebel wabert durch den Raum und verleiht der Scene eine gewisse Mystik. Ein Tisch steht leer in der Mitte des Raums, und ich setze mich. Eine Kellnerin kommt zu mir und fragt mich, was ich trinken möchte. Ich bestelle einen Whiskey neat und lehne mich zurück, um die Show zu genießen. Die Musik beginnt zu pulsieren, die Lichter gehen an - und plötzlich sehe ich sie. Sie steht in der Mitte der Bühne und lächelt lasziv in meine Richtung. Sie hat lange blonde Haare, grüne Augen und einen perfekten Körper. Sie beginnt zu tanzen, und ich kann meinen Blick nicht von ihr abwenden. Sie tanzt für mich allein, wirft ihre Hüften im Takt der Musik und streift sorglos ihr Oberteil ab. Ich spüre, wie mein Herz schneller schlägt - und als sie auf den Tisch steigt und mir ihren perfekten Körper entgegenstreckt, weiß ich: Das ist die Nacht meines Lebens!
Ich beobachte einen Drogendealer, der an der Ecke steht und seine Ware verkauft. Er sieht mich. Ich bin ein Fahnder. Und das weiß er. Er läuft los. Ich renne hinterher. Er ist schneller als ich. Aber ich bin nicht aufzuhalten. Ich bin fest entschlossen, ihn zu schnappen. Er rennt nach draußen in eine Gasse und ich folge ihm. Da höre ich ein Geräusch. Es klingt wie ein Schuss. Dann herrscht Stille. Ich trete vorsichtig in die Gasse und sehe, dass er eine Pistole zieht. Er zielt auf mich. Ich bin schneller und werfe mich zur Seite. Dabei ziehe ich meine Dienstwaffe. Er schießt. Aber ich treffe.
Dreimal. Er fällt zu Boden und bleibt liegen.
“Uwe!”
Mein Kollege Kriminalhauptkommissar Roy Müller ein.
Er war auch in dem Lokal, aber wir haben so getan, als hätten wir nichts miteinander zu tun.
“Ich hatte keine andere Wahl”, sage ich.
“Ich weiß.”
*
Rufus Rogers, ein Brite in Hamburg.
Ein Brite mit schwarzer Hautfarbe, um genau zu sein.
Ein Glückstag lag hinter Rufus Rogers. Verdammt noch mal, was für ein guter Tag! Der hochgewachsene, dunkelhäutige Mann wankte über den Parkplatz. Du solltest ein Taxi rufen! Er fummelte den Autoschlüssel aus der Jacke. Was soll‘s … soviel Schwein an einem Tag, da werd‘ ich auch mit ein paar Whiskys im Hirn gut nach Hause kommen … ohne dass mich die Bullen erwischen …
Rogers hatte Grund zum Feiern gehabt: Er hatte einen Job gefunden. Heute. Die Transatlantik Traffic Bank hatte ihn als Informatiker eingestellt. Der Vertrag steckte in der Innentasche seines Jacketts. Da kann man schon mal einen über den Durst trinken, oder?
Er zog die Autotür auf. Die Straßenbeleuchtung streute ihr kaltes Licht über die dicht an dicht stehenden Karossen auf dem nächtlichen Parkplatz.
Er hatte gleich in London angerufen. Mira war sprachlos gewesen. Sie hatte ihm den Kontakt vermittelt. Umwerfend, was die Frau für Beziehungen hatte. Zwei Wochen in diesem prächtigen Land, und schon ein Job! Wenn das kein Glück war, was dann?
Schritte knallten über den Asphalt. Rogers fuhr herum. Direkt vor ihm wuchs ein Schatten aus der Dunkelheit. Gleich dahinter noch einer.
Rogers duckte sich instinktiv. Etwas Langes, Dünnes sauste über seinen Kopf und knallte gegen den Türrahmen seines Mietwagens. Er rammte beide Fäuste in den Schatten hinein und traf den schmalen Körper des Angreifers. Der torkelte rückwärts gegen den zweiten Schatten hinter ihm.
Rogers warf sich in seinen Wagen, zog die Tür zu, hämmerte mit der Faust auf die Türverriegelung, drehte sich um, drückte die Verriegelung der hinteren Tür hinunter, warf sich auf die Beifahrerseite, und verschloss auch dort beide Türen.
„Scheißkerle!“, brüllte er. Er zitterte. „Verfluchte Scheißkerle …“ Er griff in seine Jacke, zerrte sein Handy aus der Innentasche und wählte die 110.
Die Konturen zweier Körper tauchten an der Fahrerseite seines Wagens auf. Für Sekunden schwebte ein Gesicht draußen vor dem Seitenfenster. Ein junges Gesicht, schwarz, wie seines. Dann verschwand das Gesicht, und ein Knüppel krachte gegen die Scheibe. Oder war es ein Baseballschläger?
Rogers zuckte zusammen. „Nennen Sie Ihren Namen“, plärrte eine Stimme aus dem Handy. „Beschreiben Sie den Notfall, was genau ist passiert? Wo genau ist es passiert?“
„Rufus Rogers!“, schrie Rogers. „Playground Bar, Norderreihe am Wohlers Park! Auf dem Parkplatz gegenüber der Bar! Zwei Männer überfallen mich! Sie schlagen …“
Wieder krachte der Prügel gegen das Seitenfenster. Glas splitterte. Rogers warf sich auf den Beifahrersitz. Er hörte, wie die Tür aufgezogen wurde. Eine Hand griff nach ihm …
2
„Zentrale an Wagen dreizehn, kommen.“
Hauptmeister Thilo Sievers griff zum Mikro. „Wagen dreizehn hört, kommen.“
„Standort, kommen“, plärrte die Stimme aus dem Funkgerät. Hauptwachtmeister Hubert Kosters ging vom Gas.
„Gilbertstraße, Höhe Bernstorffstraße, kommen“, sagte Sievers.
„Fahren Sie zur Norderreihe, Überfall auf dem Parkplatz an der Playground Bar neben dem Wohlers Park kommen.“
„Verstanden!“
„Ich kenn die Bar“, sagte Kosters und beschleunigte.
„Zentrale an dreizehn – Vorsicht, die Täter sind noch vor Ort, kommen.“
„Verstanden. Verstärkung wäre nicht schlecht, Ende.“ Hauptmeister Sievers hängte das Mikro in die Halterung. Er schaltete Blaulicht und Sirene ein. Der Streifenwagen fegte die Gilbertstraße herunter und bog kurz darauf in die Thadenstraße ein.
Die beiden Polizisten verfolgten den Funkverkehr zwischen der Zentrale und Wagen 15 mit – die Kollegen standen an der Kreuzung Haubachstraße, Holstenstraße. Sie wurden ebenfalls zur Playground Bar beordert.
Sievers‘ Hand fuhr zum Kolben seiner Dienstwaffe. Er legte den Sicherungshebel um und lockerte die Pistole.
Fluchend blendete Kosters auf, um einen lahmen Pick-up vor ihnen an den Straßenrand zu scheuchen. „Wohl besoffen“, knurrte der Hauptwachtmeister.
Sievers belauerte seinen Partner von der Seite. Er entdeckte Schweißperlen auf Kosters‘ Stirn. Es war eine ziemlich warme Augustnacht, doch Sievers wusste, dass der Hauptwachtmeister aus einem anderen Grund schwitzte. Hubert Kosters war ein ängstlicher Typ. Sievers mochte ihn nicht. Aber nicht deswegen.
„Wagen fünfzehn an Wagen dreizehn, kommen.“ Paul Böddekers Stimme aus dem Funkgerät. Sievers kannte den Hauptwachtmeister gut. Natürlich – fast jeden aus dem siebten Revier kannte er gut.
Er griff wieder zum Funkgerät. „Dreizehn. Wir sind gleich da, kommen.“
„Wir erreichen gerade die Kreuzung zur Max-Brauer-Allee, Ende.“
„Mist“, zischte Kosters. Mit hochgezogenen Schultern hing er hinter dem Steuer. Er zog an einem Taxi vorbei und wich einem Bus aus. „Wir werden vor ihnen da sein.“
„Scheißegal“, knurrte Sievers. „Drück aufs Gas.“
„Was müssen die Leute so spät noch in den Kneipen herumsitzen.“ Bremslichter leuchteten vor ihnen auf. Die Fahrzeuge auf der nächtlichen Thadenstraße fuhren an den Straßenrand, um sie vorbei zu lassen. „Sollen doch zu Hause bleiben.“
Arschloch, dachte Sievers. „Dort werden sie von ihren Frauen überfallen“, sagte er. Er beobachtete Kosters – die angespannte Miene des Hauptwachtmeisters verzog sich zu einem verkrampften Grinsen.
Krampf und Spannung – seit Wochen prägte das die Beziehung zwischen den beiden Beamten. Keine offen ausgetragene Spannung – eine, die unterschwellig vor sich hin gärte. Sievers wusste genau, was gespielt wurde.
Endlich der Neonschriftzug über dem Eingang der Bar – Playground Bar. Kosters trat auf die Bremse. Noch bevor der Wagen zum Stehen gekommen war, stieß Sievers die Tür auf. Vor Kosters her rannte er auf den Parkplatz.
Von Weitem hörte er das Gebrüll einer Männerstimme.
3
Ein schmerzhafter Schlag traf ihn in die linke Niere. Rufus Rogers schrie auf. Er wurde aus dem Wagen gerissen, er knallte auf den Asphalt. Das Geheul einer Polizeisirene schwoll an, Bremsen schrien, Wagentüren lärmten – nicht weit weg.
Rogers strampelte, schlug um sich, brüllte. Zwei Männer waren über ihm. Ein Stiefelabsatz traf ihn am Brustkorb. Röchelnd entwich ihm die Luft. Jemand griff unter seine Jacke und zog seine Brieftasche heraus. Er krallte sich an dem Arm fest, zog den Angreifer zu sich hinunter.
Wieder ein Tritt – er traf ihn an der Schläfe. Sein Bewusstsein torkelte in einen grauen Nebel hinein. Dann Schritte auf dem Asphalt. Umrisse eines großen Mannes zwischen den parkenden Wagen. Rogers erkannte eine Schirmmütze, und auch die Waffe in der Hand des Mannes konnte er sehen. „Polizei!“, brüllte jemand. „Zur Hölle mit euch, ihr verfluchten Bastarde …“
Von fern erklang ein zweites Martinshorn. Die Gewissheit der nahen Hilfe verlieh Rogers übermenschliche Kräfte. Mira, Mira, ich will leben … Das Gesicht seiner Freundin leuchtete auf seiner inneren Bühne auf. Den Angreifer über sich hielt er mit beiden Armen umklammert, den zweiten holte er mit einem gezielten Tritt von den Beinen.
Jemand beugte sich von hinten über ihn und packte den Mann, den er festhielt. Dessen Körper wurde von ihm gerissen. Rogers sprang auf und stürzte sich auf den zweiten Angreifer, der jetzt vor ihm auf dem Boden lag. Sie wälzten sich am Boden, ziellos trommelten Rogers‘ Fäuste auf das Gesicht des jungen Burschen ein.
Hinter sich hörte er Kampflärm. Männer röchelten und keuchten. Etwas knallte metallen auf den Asphalt. Rogers fuhr herum. Ein kleiner, dunkler Schatten neben dem linken Hinterreifen seines Wagens. Eine Pistole. Das Knie des Burschen unter ihm traf ihn unerwartet zwischen den Beinen, er krümmte sich zusammen.
Schmerz und Übelkeit zerrte an seinem Bewusstsein. Wie durch einen Nebel hörte er Schritte auf den Asphalt knallen. Stimmen drangen aus der Dunkelheit.
Plötzlich donnerten Schüsse über den Parkplatz. Viele Schüsse. Eine Sonne explodierte in Rogers‘ Kopf. Dann nichts mehr!
4
Vermutlich ist es untertrieben die Arbeitszeiten Lara Bernsons als eigensinnig zu bezeichnen. Nicht, dass es mich seit Neustem nach geregelten Arbeitszeiten verlangt: Ich hatte an diesem Abend das Präsidium selbst erst nach elf Uhr abends verlassen.
Aber inzwischen lag Mitternacht lange hinter uns. Ich saß in Laras Redaktionsbüro, blätterte in einem ihrer Magazine und wartete darauf, dass Lara endlich ihren Computer ausschalten würde.
„Nur noch fünf Minuten“, behauptete sie seit etwa einer Stunde. Ich wollte noch eine Kleinigkeit essen, ich wollte etwas trinken, ich wollte mich endlich ins Nachtleben Hamburg-Mitte stürzen. Aber noch dringender wollte ich mit Lara zusammen sein. Also widmete ich mich geduldig einem der Hochglanzmagazine, mit deren Produktion Lara ihren Lebensunterhalt verdiente.
female nannte sich die Zeitschrift. Ein Blatt für junge Frauen. Ein ziemlich gewagtes Blatt übrigens. Frech, politisch ziemlich weit links, und auf jeder dritten Seite ein nackter Kerl. Sex war eindeutig das Hauptthema.
In dem Exemplar zum Beispiel, indem ich an jenem Abend blätterte, fand ich Erfahrungsberichte von Frauen über ihre Orgasmusfähigkeit, Tipps zur Steigerung derselben mittels Gymnastik und schwüler Phantasien, und Beschreibung reizvoller und ungewöhnliche Stellungen bei der schönsten Sache der Welt. Mit Fotos, versteht sich.
Ich wunderte mich, dass dieses Magazin noch keine Initiative „Eltern für die moralische Rettung ihrer Kinder und den Rest der Welt“ auf den Plan gerufen hatte.
Lara und ihre Kolleginnen schienen der Ansicht zu sein, dass junge Frauen den ganzen Tag lang an nichts anderes denken als an Sex.
Offen gesagt: Diese Einsicht stimmte mich zuversichtlich. Immerhin lag noch eine halbe Nacht vor uns.
Hin und wieder warf ich einen Blick auf die andere Seite des Schreibtisches. Hinter dem Monitor die schwarzen Locken Laras, ihr kaffeebraunes Gesicht, ihre kupferfarbenen Augen. Lara Bernson – eine Frau, die es fertig brachte, mich still und geduldig an einen Stuhl neben ihren Schreibtisch zu fesseln. Inzwischen schon eine Stunde lang.
Sie bemerkte meinen Blick und lächelte. „Noch fünf Minuten.“
Seit knapp vier Wochen kannten wir uns. Chaotische vier Wochen. Mal hatten wir tagelang nichts voneinander gehört, mal stundenlang miteinander telefoniert. Einmal bis in den frühen Morgen hinein.
Mal hatten wir halbe Nächte in Bars, Kinos oder auf Konzerten verbracht, mal war ein Treffen schon nach ein paar Minuten vorbei, weil wir aus heiterem Himmel Streit bekamen, oder weil die Zentrale mich über Handy zu irgendeinem neuen Fall beorderte.
Kurz und schlecht: Weiter als bis zu ihrer Haustür hatte ich es noch nicht gebracht.
Es war ein einziges Hin und Her. Lara hatte was gegen meinen Job. So einfach war das. Und vermutlich lag das nicht einmal so sehr an meinen Job, als an Laras hässlichen Kindheitserinnerungen: Ihr Vater war Bundeskriminalamt-Beamter gewesen. Unten in München. Sie hatte ihn nicht allzu oft zu Gesicht bekommen. Und als sie fünfzehn war, starb er durch eine Kugel. xxx
Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, Lara zu vergessen. Doch – das wäre vernünftig gewesen. Aber es gibt da ein paar Dinge zwischen Himmel und Erde, gegen die ist auch die Vernunft machtlos. Zum Beispiel gegen die Liebe.
Jedenfalls waren wir für diesen Abend verabredet. Oder besser für die Nacht. Mein Blick fiel auf ihre große, schwarze Umhängetasche. Ich hoffte, Lara hatte ihre Zahnbürste eingepackt.
„Fertig.“ Ihre raue Altstimme.
Überrascht sah ich auf. „Schon?“
„Werd nicht zynisch, Uwe“, sagte Lara spitz. „Ich glaube, ich hatte noch nie das Vergnügen erfolgreich auf dich zu warten.“ Sie schaltete den Rechner aus.
„Hättest du denn gewartet?“
Sie sagte nichts, sondern kam um den Schreibtisch gelaufen, zog mich vom Stuhl hoch und küsste mich. Eine deutlichere Antwort hätte ich mir nicht wünschen können.
„Und jetzt habe ich Hunger.“ Sie schnappte sich ihre Tasche und schlüpfte in ein schwarzes Spitzenteil, das weder Hemd noch Jackett war, aber wohl beides ersetzen sollte.
Ihre gesamte Kleidung war übrigens schwarz – Pumps, Stretchhose, Seidenshirt. Alles schwarz. Sogar das Ziffernblatt ihrer kleinen, rechteckigen Uhr.
Es war gegen ein Uhr nachts, als sie ihr Büro und den Haupteingang zu den Redaktionsräumen des female abschloss. Mit dem Aufzug fuhren wir aus der oberen Etage in die Tiefgarage des mehrstöckigen Hochhauses. „Wo kriegen wir jetzt noch was zu essen?“
„Wie wäre es mit dem Alten Ritter?“ In der ältesten Kneipe Hamburg-Mitte bekam man auch nachts noch den einen oder anderen Snack.
„Gute Idee.“ Sie schmiegte sich an mich. Ich umarmte sie und genoss ihren warmen, festen Körper unter meinen Händen. Ihre Bewegungen, ihre Augen, ihre Hände – alles an ihr sprach eine eindeutige Sprache. Sie hatte ihre Zahnbürste dabei. Eine fantastische Nacht lag vor uns …
Wir stiegen in meinen Sportwagen und rollten aus der Tiefgarage. Ein paar Minuten später fuhren wir den nördlichen Ring entlang.
Mein Autotelefon orgelte los. Lara zuckte zusammen. Aus den Augenwinkeln nahm ich es wahr. Ich nahm ab. „Jörgensen?“
Der Chef selbst war in der Leitung. „Gut, dass Sie noch unterwegs sind, Uwe. Ich brauch jemanden in Altona-Nord. Dringend.“
„Was liegt an?“ Ich ging vom Gas. Lara neben mir hatte einen Taschenspiegel ausgepackt und das Licht des Wagenhimmels eingeschaltet. Sie zog sich die Lippen nach.
„Polizeihauptkommissar Lövenstein vom siebten Revier hat angerufen. Einer seiner Leute ist in der Norderreihe erschossen worden. Während eines Einsatzes.“
„Heute Abend?“, fragte ich verwundert. Wenn ein Polizist getötet wurde, lag es im Ermessen des Revierleiters die Ermittlungsarbeit unserer Behörde zu beantragen. Normalerweise dauerte es ein paar Tage, bis so ein Antrag bei uns im Präsidium landete.
„Vor nicht mal einer Stunde“, sagte Jonathan Bock. „Auf dem Parkplatz neben der Playground Bar. Der Polizeihauptkommissar hatte es eilig. Fragen Sie mich nicht, warum.“
„In Ordnung – ich fahr hin.“ Ich hängte ein.
Laras Miene verriet keine Gefühle. „Hoffentlich überfordere ich dich nicht, wenn ich dich bitte, mir vorher noch ein Taxi zu bestellen.“ Ihre raue Stimme klang unbeteiligt.
„Sorry, Lara“, sagte ich heiser. „Tut mir Leid, wirklich.“ Ich griff wieder zum Telefon und bestellte ein Taxi zur Hamburg Universität. Dort ließ ich sie aussteigen.
Sie beugte sich noch einmal zu mir in den Wagen hinein. „Tja, Herr Jörgensen – Job ist Job, und Frau ist Frau.“ Sie lächelte bitter. „Ich bin eine schlechte Verliererin, aber das ist mein Problem. Seien wir zur Abwechslung mal ganz ehrlich: Es hat keinen Sinn mit uns beiden. Leb wohl, Uwe.“
Sie schlug die Tür zu. Ihre Pumps klapperten über den Asphalt, als sie zum wartenden Taxi schritt. Ich hätte schreien können!
5
Luisa starrte auf die nächtlichen Fassaden der Weddestraße. Kaum Menschen auf dem Bürgersteig, kaum Bars oder Restaurants. Eine reine Wohngegend war das hier im westlichen Hamburg Horn. Ein mulmiges Gefühl beschlich Luisa.
Der Wagen hielt. „Wir sind da.“ Der Taxifahrer drehte sich nach ihr um. „Zwölf Euro, die Dame.“ Luisas Blick fiel auf die Borduhr. Kurz nach eins. Sie kramte die Geldbörse aus ihrer Brieftasche und gab ihm vierzehn Euro. „Man dankt. Schönen Abend noch.“
Luisa kletterte aus dem Taxi und stieg die Vortreppe des Hauses hoch, neben dessen Eingang die Nummer hing, die ihr der Mann am Telefon genannt hatte. Aus der Jeanstasche kramte sie ihr Feuerzeug. Im flackernden Licht der Flamme überflog sie die Namen auf den Klingelschildern.
Gunnarsson – das war der Name, den der Mann ihr genannt hatte. Sie drückte den Klingelknopf daneben. „Wer ist da?“ Eine sonore Stimme aus der Gegensprechanlage.
„Sie haben angerufen“, sagte Luisa. „Wir haben eine Verabredung.“
Der Türöffner summte. Luisa drückte die Haustür auf. Ein Lichtschalter leuchtete rötlich im Dunkeln des Treppenhauses. Sie presste die Handfläche dagegen. Licht flammte auf.
Leise stieg sie die Treppen zum dritten Stockwerk hinauf. Ihre Hand fuhr in ihre Umhängetasche und tastete das kalte Metall ihrer kleinen 22er Walther Pistole. Luisa machte den Job seit sechs Jahren. Sechs Jahre, in denen sie gelernt hatte, jedem zu misstrauen. Sie legte den Sicherungshebel der Waffe um.
Der Mann im Türrahmen der offenen Wohnungstür im dritten Stock sah ungefähr so aus, wie sie sich ihn vorgestellt hatte: Mittelgroß, schmal, kantiges Gesicht, Mitte dreißig. Nur dass er aschgraues Haar hatte, überraschte sie. Erstens widersprach die Haarfarbe seinem jungen Gesicht, und zweitens hätte sie auf Grund der tiefen, sonoren Stimme einen älteren Mann mit schwarzem Haar erwartet.
„Kommen Sie rein“, sagte er und trat zur Seite. Er trug ein weißes Hemd und dunkle Bundfaltenhosen. Der Hemdkragen stand offen, der Krawattenknoten war gelöst.
Luisa schob sich an ihm vorbei. Er schloss die Tür und reichte ihr die Hand. „Nennen Sie mich Jan. Schön, dass Sie gekommen sind.“ Seine geröteten Augen ruhten freundlich auf ihrem Gesicht. Sie roch seine Alkoholfahne.
„Luisa.“ Nur flüchtig drückte sie ihm die Hand. Die Begrüßung irritierte sie.
„Bitte.“ Er wies zu einer Sitzgruppe. Stahlrohr mit dunkelrotem Kunstleder, ein ovaler Glastisch. Darauf eine fast leere Rotweinflasche und ein halbvolles Glas.
Luisa blickte sich um, während sie durch den großen Raum schritt. Die Bücherregale an der Wand waren nur halb gefüllt, nirgends hing ein Bild, ein großer, schwarzer Musikturm fiel ins Auge, dezente Jazzklänge schwirrten durch den Raum, zwischen Couch und einem der Sessel ein Strahler, der die weiße Stuckdecke erleuchtete. Neben einem großen, rechteckigen Wandspiegel stapelten sich Umzugskartons.
Gegenüber der Sitzgruppe, auf einer Kommode ein TV-Gerät. Ohne Ton flimmerte ein Kriegsfilm über den Bildschirm.
Luisa nahm Platz. „Erledigen wir zuerst das Geschäftliche – ich nehm‘ vierhundertfünfzig Euro. Aber das hat ihnen die Agentur sicher gesagt.“
Schweigend verschwand der Mann, den sie Jan nennen sollte, durch eine offene Tür in einen Nachbarraum. Luisa sah ihm nach. Er ging unsicher. Sie erkannte einen Schreibtisch, einen Monitor und Aktenschränke.
Gunnarsson zog eine Schreibtischschublade auf. Luisa hörte Geldscheine rascheln. Neben ihm, über der Lehne eines Bürosessels hing ein Gurt. Luisa kniff die Augen zusammen. Ein Holster hing an dem Gurt, und aus dem Holster ragte der Kolben einer Waffe …
„Scheiße“, zischte Luisa. Sie packte ihre Tasche, sprang auf und hastete zur Tür.
„Was ist los, Luisa?“ Mit fünf Hundertern in der Hand stand er auf der Schwelle seines Arbeitszimmers. Eine steile Falte zwischen den grauen Brauen. Er wirkte verblüfft.
„Ich will nichts zu tun haben mit Bullen!“, fauchte Luisa.
Er verstand nicht gleich. Dann drehte er sich um und blickte auf seine Waffe. „Ach so.“ Er lächelte müde. „Ich bin kein Bulle. Ich bin Privatdetektiv.“
Sie taxierte ihn misstrauisch. Sekundenlang standen sie da und schwiegen, sie an der Apartmenttür, er auf der Schwelle seines Arbeitszimmers. „Willst du meine Lizenz sehen?“
Luisa nickte. Er ging zurück in sein Arbeitszimmer. Sie hörte ihn in irgendwelchen Unterlagen kramen. Schon halb beruhigt ließ sie die Türklinke los. Sie machte einen Schritt an den Umzugskisten vorbei und drehte sich zum Spiegel um. Schon als kleines Mädchen war Luisa an keinem Spiegel vorbeigekommen.
Der prüfende Blick auf ihr Spiegelbild beruhigte sie. Eine hochgewachsene Frau in engen Jeans und einer knappen, roten Bluse sah ihr entgegen. Hochhackige, rote Pumps, ein Goldkettchen um die schlanken Fesseln, schwarzes, langes Haar, schmales Gesicht, ein wenig eingefallen, brauner Teint und ein großer, grell geschminkter Mund. Große, goldene Kreolen an den Ohrläppchen, halb verdeckt durch das glatte, glänzende Haar. Luisa Guevarra war eine schöne Frau.
„Bitte.“ Sie fuhr herum. Ihr Spiegelbild hatte sie den Mann für Sekunden vergessen lassen. Er stand neben ihr und streckte ihr ein Papier in einer Klarsichthülle entgegen. Luisa nahm es ihm aus der Hand und überflog es. Es stimmte – der Grauhaarige war Privatdetektiv. Sie gab ihm die Lizenz zurück.
Er kramte das Geld aus der Tasche. Vierhundertfünfzig Euro. Sie nahm es und ließ es in ihrer Umhängetasche verschwinden. „Was hast du gegen Polizisten?“, wollte er wissen.
Luisa ging zurück zur Sitzgruppe. Die hohen Absätze ihrer Pumps klapperten über das Parkett. „Ich hasse sie“, sagte sie leise. Sie warf ihre Tasche auf die Couch und begann ihre Bluse aufzuknöpfen. „Wie willst du es haben?“, fragte sie.
Er beobachtete sie. Nichts Ungewöhnliches für Luisa. Die wenigsten stürzten sich sofort auf sie. Fast alle brauchten ein bisschen Zeit, um in Fahrt zu kommen. Fast alle aßen zuerst mit den Augen. Sie streifte sich die Bluse über die Schultern und bot ihm ihre spitzen, braunen Brüste.
Gunnarsson betrachtete sie wie zwei exotische Früchte. Langsam kam er auf sie zu. Sein Gang hatte etwas Schleppendes. Als würde der Mann einen schweren Rucksack auf dem Rücken tragen. Trug er aber nicht. Zum ersten Mal sah sie ihm bewusst in die geröteten Augen. Sie waren so grau wie sein Haar. Und sie waren voller Trauer.
Er ließ die Lizenz auf den Glastisch fallen, streckte beide Arme aus, griff nach ihrer Bluse und zog sie ihr wieder über die Schulter. Das Lächeln, das dabei über seine Miene flog, ging Luisa unter die Haut. Ein wehmütiges Lächeln, voller Trauer und Hoffnungslosigkeit.
Die ganze Zeit betrachtete er ihre Brüste, während er die Bluse wieder zuknöpfte.
„Setz dich“, sagte er. „Trinkst du Wein?“ Ohne die Antwort abzuwarten ging er zum Regal und holte ein Weinglas heraus.
Luisa sank auf die Couch. Sie war eine Nutte. Eine ziemlich abgebrühte Nutte. Doch dieser Kerl erstaunte sie.
Er stellte das Glas vor sie auf den Glastisch, füllte es und schenkte auch sich selbst nach. „Normalerweise wäre ich schon tot.“ Er reichte ihr das Glas. „Ich hab Munition gesucht.“ Mit einer Kopfbewegung deutete er in sein Arbeitszimmer, wo der Waffengurt über der Stuhllehne hing. „Die Trommel ist leer.“
Er nahm sein Glas auf. „Als ich die Kommodenschubladen nach einer frischen Packung durchwühlte, wurde die Nummer deiner Agentur eingeblendet.“
Luisa blickte zur Mattscheibe. Drei Kampfjets stürzten sich aus dem Himmel auf einen Flugzeugträger herab. Sie wusste, dass ihre Agentur im Fernsehen warb. Langsam begriff sie. „Du … du wolltest dich … du wolltest dich umbringen?“
Er stieß sein Glas gegen ihres. „Auf dein Wohl, Luisa.“
6
Ein halbes Dutzend Streifenwagen mit blinkenden Blaulichtern bildeten einen halbkreisförmigen Wall rund um den Parkplatz neben der Bar. Uniformierte drängten Gaffer und Mediengeier zurück. Das übliche Bild.
Ich schlüpfte unter dem Trassierband hindurch. Grelles Scheinwerferlicht beleuchtete parkende Fahrzeuge und gut zwanzig Männer und Frauen, die dazwischen herumliefen oder neben reglosen menschlichen Körpern knieten: Polizeifotografen, Mitarbeiter der Spurensicherung, Uniformierte, Polizeiärzte. Ich erkannte die massige Gestalt von Alexander Theissen. Der Chefpathologe kniete neben einem jungen, farbigen Mann. Einem toten Mann.
Ein Uniformierter erkannte mich und kam auf mich zu. „Das ging aber flott, Uwe.“ Polizeihauptkommissar Erik Lövenstein, der Leiter des siebten Polizeireviers.
Ein untersetzter Mann Anfang vierzig. Rotes, rundes Gesicht, helles Stoppelhaar unter der Schirmmütze, Koteletten fast bis zum Unterkiefer. Er bewegte sich zielstrebig und zackig. Seine Vergangenheit als Soldat verriet sich in jeder seiner hölzern wirkenden Gesten. Wir begrüßten uns.
„Was ist passiert, Erik?“, fragte ich.
„Eine große Scheiße ist passiert!“ Er sprach so schnell, wie er sich bewegte. „Wir haben zwei Streifenwagen hierher geschickt. Ein Mann hat einen Notruf losgelassen. Zwei Burschen wollten an seine Brieftasche, wie es aussieht. Einen meiner Männer hat es erwischt.“
Ich blickte mich um. Vier Tote zählte ich. Zwei legten die Kollegen gerade in Leichensäcke. Der Polizeihauptkommissar bemerkte wohl meine fragende Miene. „Und die beiden Mistkerle sind auch tot“, kam er meiner Frage zuvor. „Und der Mann, der den Notruf losgelassen hat, auch“, sagte er zerknirscht.
Ich schüttelte den Kopf. Mir fehlten die Worte.
„Die Sache ist klar, Uwe. Trotzdem – mir ist wohler, wenn ihr einen Blick darauf werft.“
„Warum?“ Ich hatte das Gefühl, dass er nicht alles aussprach, was ihn beschäftigte.
„Einfach so.“ Er wich meinem Blick aus. „Du weißt, dass ich ein gründlicher Mensch bin.“ Tatsächlich hatte Lövenstein den Ruf eines Perfektionisten in der Polizei Hamburgs.
Er nahm mich am Arm und führte mich zu einem Ambulanz-Transporter. Ärzte und Sanitäter waren dort mit drei Uniformierten beschäftigt. Einer lag auf einer Trage im Inneren des Wagens. Zwei hockten auf dem Trittbrett der offenen Seite und rauchten.
Ich blieb am Heck des Wagens stehen und blickte hinein. Ein Arzt spritzte dem Beamten auf der Trage ein Medikament in den Infusionsschlauch. „Hauptmeister Jonas Förster“, erklärte Lövenstein. „Steht unter Schock.“
Wir gingen um den Transporter herum zu den beiden Beamten, die in der offenen Seitentür hockten. Sie hoben die Köpfe. Müde, stumpfe Augen blickten mich an. Augen von Männern, die man gerade durchgeprügelt hatte.
„Hauptwachtmeister Paul Böddeker und Hauptmeister Thilo Sievers“, stellte der Polizeihauptkommissar sie vor. „Das ist Kriminalkommissar Uwe Jörgensen, Jungs. Könnt ihr ihm nochmal erzählen, was passiert ist?“
Böddeker, ein schmalbrüstiger, dürrer Bursche von höchstens sechsundzwanzig Jahren und mit rotem, dünnem Haar senkte den Blick wieder. Der andere, Hauptmeister Thilo Sievers, erzählte stockend.
„Wir rannten auf den Parkplatz … Hubert und ich … die Burschen schlugen auf den Mann ein … wir konnten nicht schießen, es war dunkel … wir wussten nicht gleich, wer die Täter, wer das Opfer ist … Hubert … Hauptwachtmeister Kosters packte einen der Kerle, der schlug ihm die Waffe aus der Hand … der Mann muss sie erwischt haben … der Mann, der die Zentrale angerufen hat … jedenfalls schoss er plötzlich um sich.“
Seine Stimme versagte. Er warf seine Zigarette weg und verbarg das Gesicht in seinen großen, fleischigen Händen.
Ich betrachtete den breitschultrigen Mann. Auf Mitte vierzig schätzte ich ihn. Schweiß glänzte auf seiner ausgeprägten Stirnglatze. Seine Arme waren muskulös und stark behaart, sein Gesicht, nun von den kräftigen Händen verdeckt, war breit und erinnerte entfernt an einen Boxerhund. Das Gesicht eines Gemütsmenschen. Wahrscheinlich heulte er seine Tränen in die Hände. Und wahrscheinlich schämte er sich dafür. Der Mann tat mir leid.
„Schon okay, Hauptmeister“, sagte ich. „Es ist hart, seinen Partner zu verlieren.“ Ich klopfte ihm auf die Schulter. „Ich melde mich bei Ihnen, dann reden wir nochmal über alles.“
Ich nickte Lövenstein zu. Er setzte sich zwischen seine Männer in den Wagen. Ich wandte mich ab. Im harten Scheinwerferlicht sah ich die gewaltige Gestalt des Chefpathologen. Alexander Theissen war einen halben Kopf größer als ich und wog fast dreihundert Pfund. Er stand vor einer der Leichen und streifte sich gerade die Latexhandschuhe ab. Ich ging zu ihm.
„Hi, Uwe. Wo hast du deinen Partner gelassen?“ Er steckte die Handschuhe in einen Cellophanbeutel und ließ ihn in seine offene Arzttasche fallen.
„Irgendwo in der Unendlichkeit unseres hübschen Städtchens. Ich hab ihn seit fünf Stunden nicht mehr gesehen.“
Roy war mit einer Frau zusammen. Einer Frau, die ich nicht kannte. Noch nicht. Zu dem Zeitpunkt wusste ich nur, dass sie Karola hieß und beruflich in Köln zu tun hatte.
Dort hatte Roy sie während eines Kurzurlaubes kennengelernt. Gestern war sie auf dem Helmut Schmidt Airport gelandet. Vermutlich hatte Jonathan Bock auch versucht, Roy anzurufen. Und vermutlich hatte er gerade keine Hand frei um sein Handy zu bedienen.
Ich blickte hinunter auf den Toten zu Alexanders Füßen. Ein farbiger Mann. Das Jackett seines Anzugs und sein weißes Hemd waren voller Blut. Seine rechte Schädelhälfte ein dunkelroter Krater. „Was kannst du mir erzählen?“
„Mindestens vier Kugeln.“ Der Pathologe holte eine Schachtel Benson & Hedges aus seinem Jackett. Er bot mir eine an. Ich griff zu. „Die Jungs, die ihn überfallen haben, sind ebenfalls Dunkelhäutige. Einer von ihnen hat ihm angeblich die Polizeiwaffe aus der Hand gerissen und das restliche Magazin auf ihn abgeschossen.“
„Angeblich?“ Eine dünne Flamme schlug aus seinem silbernen Feuerzeug. Ich beugte mich darüber und zündete meine Zigarette an.
„Du kennst mich doch, Uwe.“ Seine wulstigen Lippen spitzten sich, als er die Zigarette in die Flamme hielt. „Ich bin Naturwissenschaftler. Von Tatsachen spreche ich selten.“ Der Rauch seiner Zigarette stieg in das Scheinwerferlicht hinauf. „Und wenn, dann erst, wenn ich glaube, sie bewiesen zu haben. Bis dahin spreche ich lieber von Theorien.“
„Und die anderen?“
„Die Kerle, die ihn überfallen haben, sind geradezu mit Kugeln gespickt. Auch Dunkelhäutige übrigens.“
„Und der Polizist?“
„Hauptwachtmeister Kosters?“ Er machte eine Kopfbewegung nach rechts. Dort zogen zwei Mitarbeiter des Zentrallabors den Reißverschluss eines Leichensacks zu. „Schau ihn dir an. Eine Kugel. Durch die Stirn mitten ins Hirn.“
Er bückte sich nach seiner Tasche. „Ich lass von mir hören, Uwe.“ Ich sah ihm hinterher, wie er zu seinem alten Volvo schaukelte.
Die Männer des Zentrallabors trugen den Leichensack mit dem Hauptwachtmeister an mir vorbei. „Kann ich ihn nochmal sehen?“ Sie warfen sich missmutige Blicke zu. Einer zuckte mit den Schultern. Sie setzten den Leichensack ab und zogen den Reißverschluss ein Stück hinunter. Soweit, dass ein wächsernes Gesicht zum Vorschein kam.
Ich ging vor dem Leichensack in die Hocke. Eine dünne Spur geronnenen Blutes zog sich von einem Loch in der Stirn zur rechten Schläfe.
Kosters konnte nicht wesentlich älter als ich gewesen sein. Ich fragte mich, ob er während seiner Laufbahn als Polizist daran gedacht hat, eines Tages durch eine Kugel zu sterben. So wie ich oft daran denke. Und ich fragte mich, ob er mit Angst daran gedacht hatte. Bitterkeit und Zorn stiegen in mir hoch und machten mir das Atmen schwer.
„Ich weiß ja nicht, was Sie vorhaben“, knurrte der Beamte am Fußende des Leichensacks. Ungeduldig wippte er auf den Schuhsohlen auf und ab. „Nur für den Fall, dass Sie den Mann verhören wollen – er ist tot.“
7
Gunnarsson redete. Stundenlang redete er. Trank Wein ohne Ende, rauchte Zigaretten ohne Ende und erzählte seine Geschichte. Luisa hörte die meiste Zeit nur zu. Am Anfang musste sie sich zwingen. Doch mehr und mehr begann sie der Mann zu interessieren.
Er hatte ein paar Jahre an der Börse gearbeitet. Und eine Menge Euros gemacht. Ein Leben wie aus dem Bilderbuch: Karriere als Broker, glücklich verheiratet, ein Haus in Finkenwerder, ein Kind. Ein Junge. Frederick hieß er. Fast in jedem dritten Satz fiel der Name.
Vor drei Jahren hatte die Frau ihn verlassen. War nach Harburg gezogen. Zu einem anderen. Gunnarsson hatte sich mit Drogen und Alkohol betäubt. Und dann die übliche Leier – Kündigung, Schulden, Scheidung, noch mehr Schulden.
Der Junge war es gewesen, der ihm Halt gegeben hatte. Frederick und immer wieder Frederick. Fast beglückwünschte sich Luisa dafür, dass es in ihrem Leben nichts gab, was sie zu verlieren hatte.
Gunnarsson hatte sich eine Existenz als Detektiv aufgebaut. Das Geschäft lief mehr schlecht als recht. Aber es lief. Mindestens einmal in der Woche sah er seinen vierjährigen Sohn. Und fast jedes zweite Wochenende. Bis vor drei Tagen. Die Exfrau und ihr neuer Lover waren nach Berlin gezogen. Mit dem Kind.
Heimlich hatten sie es geplant. Kein Wort hatten sie Gunnarsson vorher gesagt. Er wollte den Jungen zum gemeinsamen Wochenende abholen und fand einen Möbelwagen vor dem Haus. Die neuen Mieter zogen schon in die leere Wohnung. Und jetzt stand er vor dem Nichts.
„Wenn ich die Patronen vor eurem Werbespot gefunden hätte“, seine Zunge war schwer, seine Augen klein, „das Problem wäre schon aus der Welt geschafft.“ Er blickte in sein Arbeitszimmer. Zum Waffenholster über der Stuhllehne vor seinem Schreibtisch.
„Du tust mir Leid“, sagte Luisa. „Aber nicht, weil deine Frau dich verlassen hat und nach Berlin gezogen ist. Das ist normal. Tausenden passiert sowas. So ist das Leben.“ Sie musterte sein bleiches Gesicht. Er war älter als sie. Und hatte noch nicht verstanden, wie das Leben ist. „Du tust mir Leid, weil du den falschen erschießen wolltest.“
Er machte eine begriffsstutzige Miene.
„Ich an deiner Stelle wäre stinksauer“, sagte Luisa. „Und hätte Lust, sie zu erschießen.“
Er grinste bitter. „Komisch“, sagte er leise. „Auf die Idee bin ich gar nicht gekommen.“
„Deine Schwäche, Jan. Warst du immer so? Frauen stehen nicht auf Schwächlinge.“
„Knallhart“, lallte er. „Du bist knallhart, Luisa.“
„Schon möglich.“ Sie wunderte sich über sich selbst. Der Mann gefiel ihr. Weil er genau das hatte, was sie ihm vorwarf. Weil er weich war. Weich und verletzlich.
„Erzähl mir deine Geschichte.“ Er sprach verwaschen. Kaum noch konnte er gerade auf dem Sessel sitzen.
„Eine Geschichte wie hundert andere.“ Sie leerte ihr Weinglas. „Ich bring dich jetzt ins Bett.“ Sie stand auf und zog ihn aus dem Sessel. Er klammerte sich an ihre Schulter und lotste sie in sein Schlafzimmer. Auch dort keine Bilder an der Wand und ein Dutzend Umzugskartons auf und vor dem Schrank.
Luisa zerrte ihn zum Bett. Rücklings ließ er sich fallen. „Erzähl mir von dir“, lallte er.
„Es gibt nichts zu erzählen.“ Sie zog ihm Schuhe, Socken und Hosen aus. „Eine Kindheit in Barcelona, die ich glücklicherweise vergessen habe. Dann nach Deutschland, um Schauspielerin zu werden.“ Er richtete sich schwankend auf, um sich von ihr aus dem Hemd helfen zu lassen. „Dann auf dem Straßenstrich in St. Georg, bis die scheiß Bullen mich erwischt haben. Und seit zwei Jahren Callgirl.“
Sie zog ihm die Unterhose herunter und beugte sich über seinen Schwanz. Er griff nach ihrem Kopf und zog sie zu sich. „Du hast bezahlt“, sagte sie. „Also tu ich dir noch was Gutes.“ Sie drückte seine Hände von ihrem Kopf weg.
„Ja“, flüsterte er. „Tu mir was Gutes.“
„Sag mir, was ich tun soll. Es ist mein Job, und du hast bezahlt.“
Gunnarsson streichelte ihre Wange, ihr Haar, ihre Brüste. Luisa konnte sich nicht erinnern, dass ein Mann sie jemals so zärtlich berührt hatte. „Komm wieder“, sagte er.
8
„Morgen, Uwe!“ Ein gut gelaunter Roy stieg zu mir in den Sportwagen. „Nun? Wie stehen die Aktien?“ Er strahlte über das Gesicht.
„Sie könnten schlechter stehen.“ Ich war unausgeschlafen und frustriert. Die Pleite mit Lara setzte mir zu, und die vier Toten auf dem Parkplatz der Playground Bar hingen mir in den Knochen. Ich setzte den Blinker und steuerte meinen roten Schlitten vom Straßenrand weg.
„Klingt irgendwie mittelmäßig.“ Roy senkte sein Seitenfenster herab, beugte sich zu mir über das Lenkrad und drückte auf die Hupe. Dann streckte er den Arm zum Beifahrerfenster heraus und winkte.
„Hat sie bei dir geschlafen?“ Ich fädelte mich in den morgendlichen Verkehr ein.
„Ließ sich nicht vermeiden“, sagte er. „Karolas Apartment ist besetzt. Sie hatte es für die Zeit ihres Köln-Trips ihrer jüngeren Schwester zur Verfügung gestellt. Und jetzt haust eine ganze Wohngemeinschaft darin.“
Roy hatte Karola über einen Monat zuvor in Köln kennengelernt. Sie arbeitete dort für eine Schnellimbiss-Kette. „Schön für dich“, sagte ich.
„Korrekt.“ Er hörte gar nicht mehr auf zu strahlen. „Schön für mich.“ Ich spürte seinen prüfenden Blick von der Seite. „Irgendwas schiefgelaufen mit Lara?“
Die Blechflut der morgendlichen Rushhour kroch träge über den Mönckebergstraße. „Kann man so sagen. Der Abend war schon so gut wie in trockenen Tüchern – da hat der Chef angerufen.“
„Herzlichen Glückwunsch.“
„Ein toter Polizist in Altona-Nord – Lara war begeistert. Sie hat aus dem Stand einen Schlussstrich gezogen.“
„Mist!“ Roy klopfte mir auf die Schulter. „Tut mir leid, alter Freund. Hättest du mich angerufen – ich hätte mich an deiner Stelle auf die Socken gemacht. Karola ist stolz, einen Sonderermittler zum Freund zu haben.“
„Nett von dir“, sagte ich. „Aber das hätte ich nicht übers Herz gebracht. Kennst mich doch.“
Die Ampel am Steintordamm sprang auf Rot. Ich ging vom Gas und hielt an.
„Was ist passiert auf diesem Parkplatz?“, wollte Roy wissen.
„Etwas sehr Hässliches.“ Ich erzählte ihm von den Ereignissen der Nacht.
„Scheußlich.“ Roy schüttelte den Kopf. „Klingt aber nicht nach übermäßig viel Arbeit. Der Fall scheint klar zu sein, oder?“
„Ja“, sagte ich. „Der Fall scheint klar zu sein.“
Etwas mehr als eine halbe Stunde später saßen wir mit den anderen am Konferenztisch des Chefzimmers. Morgendliches Briefing. Stefan und Ollie gaben ihren Bericht ab, Tobias und Ludger gaben ihren Bericht ab.
Beide Teams beschäftigten sich mit Routinefällen. Stefan und Ollie waren einem Schlepperring auf den Fersen, der illegale Einwanderer aus Nordafrika nach Deutschland schleuste. Ludger und Tobias durchforsten das Internet nach Anbietern von Kinderpornographie. Zusammen mit zwei Spezialisten aus Berlin.
Auch der Fall, über den ich zu berichten hatte, klang nach einem Routinefall. „Werden uns die Schüsse an der Playground Bar länger beschäftigen, Uwe?“, fragte der Chef.
„Sieht nicht so aus.“ Ich wandte mich an die anderen. Außer Roy wussten sie noch nichts von den Ereignissen der vergangenen Nacht in Altona-Nord. „Ein Mann, ein Schwarzer, wurde von zwei jungen Dunkelhäutigen überfallen. Auf einem Parkplatz neben der Playground Bar.“
Tobias und Ludger nickten. Sie schienen die Bar zu kennen.
„Der Mann konnte einen Notruf absetzen. Zwei Streifenwagen fuhren nacheinander den Tatort an. Als die erste Besatzung auf dem Parkplatz erschien, hatten die Burschen den Mann schon aus dem Auto gezerrt. Sie wollten ihre Dienstwaffen nicht benutzen, um das Opfer nicht zu gefährden. Es kam zum Handgemenge, einer der Uniformierten verliert seine Waffe, der Mann erwischt sie und ballert voller Panik um sich. Ergebnis: Ein toter Polizist, zwei tote Straßenräuber, und das Opfer selbst starb ebenfalls.“
„Jesus!“, stöhnte Ludger.
„Wer hat den Mann erschossen, der den Notruf losließ?“, wollte Stefan wissen.
„Noch nicht ganz klar.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht einer seiner Kollegen aus dem zweiten Streifenwagen – Dr. Theissen wird wohl gerade die Kugeln aus den Toten schneiden. Morgen haben wir seinen Bericht. Dann wissen wir mehr.“
„Klingt nach einem tragischen Unglücksfall“, sagte Ollie.
„Die Ermittlungen werden sich wohl auf die Berichte der Pathologie beschränken“, sagte der Chef. „Und die der Spurensicherung.“
„Etwas an der Sache ist komisch“, knurrte Tobias. „Ein Polizist kommt bei einem Einsatz ums Leben. Traurig, okay – aber kommt leider vor. Wieso beantragt sein Chef unsere Ermittlungsarbeit? Kann mir das jemand erklären?“
Ein paar Sekunden lang schwiegen alle. Tobias‘ Frage war berechtigt. Mir fiel sofort das Gesicht des toten Beamten ein – ein einziges Loch in der Stirn.
„Drei Schwarze sind bei dem Einsatz ums Leben gekommen“, sagte der Chef. „Die Öffentlichkeit wird empfindlich auf diese Tatsache reagieren. Ich nehme an, Polizeihauptkommissar Lövenstein wollte den Eindruck vermeiden, dass hier irgendetwas unter den Teppich gekehrt werden soll.“
„Hoffentlich geht der Schuss nicht nach hinten los“, brummte Roy. „Spätestens heute Abend weiß die ganze Stadt, was auf diesem Parkplatz passiert ist. Wenn wir da mitmischen, wird man sich erst recht Gedanken machen, ob da alles ganz koscher gelaufen ist.“
„Ich habe heute Morgen mit der Staatsanwaltschaft gesprochen.“ Der Chef angelte einen Bogen Papier aus dem Stapel seiner Unterlagen. „Dort rechnet man nicht damit, dass es zu einer Anklage gegen die Polizisten kommen wird. Aber bevor der Fall zu den Akten gelegt wird, will man alle Berichte haben.“
„Labor, Ballistik und Pathologie arbeiten hoffentlich schon fleißig an ihren Berichten“, sagte Roy. „Was bleibt für uns noch zu tun?“
Der Chef sah Roy und mich an. „Besuchen Sie die drei beteiligten Kollegen von der Polizei Mitte. Sprechen Sie mit ihnen, fertigen Sie ausführliche Protokolle der Vernehmungen an.“
9
Schon am Nachmittag ging es im Revier zu wie in einem Bahnhofsimbiss – ein ständiges Kommen und Gehen.
Die Besatzungen der Streifenwagen brachten Betrunkene, kleine Drogendealer, Männer, die in Schlägereien verwickelt waren, Prostituierte, die ihre Dienste illegal auf der Straße anboten, und so weiter, und so weiter.
Die Hitze, dachte Polizeihauptkommissar Erik Lövenstein. Die verfluchte Hitze trocknet den Leuten den letzten Rest Verstand aus den Hirnen!
Mit einem Stapel Unterlagen unter dem Arm lief er an den Schreibtischen seiner Männer und Frauen vorbei. Schweißperlen hingen in seinen Koteletten. Das runde Gesicht war krebsrot. Lövenstein hasste diese heißen Tage.
Von überall her Stimmen und das Geklapper von Schreibmaschinen und Tastaturen. Personalien wurden aufgenommen, Berichte geschrieben, Leute schilderten lautstark irgendwelche Überfälle, Diebstähle, Vermisstenmeldungen, die sie zur Anzeige bringen wollten.
Auf der anderen Seite des Schaltertresens hockten die Leute auf den Wartebänken. Zwei Polizisten schoben einen jungen Mann in Handschellen an den Wartenden vorbei.
Lövenstein sehnte sich nach dem Schichtwechsel und nach einem kühlen Bier. Aber er würde noch fast fünf Stunden durchhalten müssen, bis er das Revier verlassen und über die Kennedybrücke nach Billbrook fahren konnte. Nach Hause.
Er hatte schon die Klinke seiner Bürotür in der Hand, als sein Name gerufen wurde. „Erik?“ Lövenstein drehte sich um. Hauptmeister Thilo Sievers stand an der Schwingtür des Eingangsbereichs und winkte. Im Laufschritt lief er um den Tresen herum und kam auf Lövenstein zu. Der wartete auf ihn.
„Kann ich dich mal sprechen, Erik?“, fragte Sievers.
Der Polizeihauptkommissar musterte ihn mit ausdrucksloser Miene. Sievers‘ braune Augen hielten seinem Blick stand. Hundeaugen, dachte Lövenstein. Ja – Augen wie ein treuer, harmloser Hund. Mit einer Kopfbewegung winkte er den Hauptmeister hinter sich her in sein Büro.
Während er sich hinter seinen Schreibtisch setzte, schloss Sievers die Tür und zog sich die Schirmmütze von seinem großen Kopf. Seine Glatze glänzte von Schweiß. Er blieb an der Tür stehen.
„Was gibt‘s, Thilo?“ Lövenstein bot dem Hauptmeister keinen Platz an. „Warum bist du nicht zu Hause? Ich habe euch dreien frei gegeben, bis die Sache ausgestanden ist.“
„Zuhause fahren meine Gedanken Karussell.“ Sievers klemmte sich die Mütze unter den Arm. „Ständig höre ich die Schüsse, ständig sehe ich Hubert fallen.“
Seine Mundwinkel waren weit heruntergezogen. Tränensäcke hingen unter seinen Augen. Er hatte eine stumpfe, große Nase. Die Kaumuskulatur unter seinen ausgeprägten Wangenknochen arbeitete.
Jedem anderen gegenüber hätte Lövenstein darauf bestanden, dass er seine Anweisungen befolgte und zu Hause blieb. Doch Auge in Auge mit dem dienstältesten Hauptwachtmeister schluckte er eine entsprechende Bemerkung hinunter.
Sievers zog die dichten Brauen hoch. Sie waren genauso schwarz wie der Haarkranz um seine Glatze. „Warum hast du die Kriminalpolizeiliche Ermittlungsgruppe des Bundes in die Sache ‘reingezogen?“, sagte er mit seiner rauen, vollen Stimme.
Lövensteins Augen wurden schmal. „Was soll das, Sievers? Ich bin zufällig der Chef hier, und einer meiner Männer ist während eines Einsatzes erschossen worden. Außerdem drei Schwarze – was glaubst du, wie die Presse sich das Maul zerreißen wird? Ich hab‘s nicht gern, wenn uns nachgesagt wird, wir würden unseren Dreck unter den Teppich kehren.“
Endlich bewegte sich Sievers von der Tür weg. Langsam kam er zum Schreibtisch und legte seine Mütze darauf ab. „Jetzt zerreißen sich unsere Männer das Maul.“ Er fummelte eine Schachtel Marlboro aus seiner Hemdtasche.
„Schlimm genug, dass sie einen Kameraden verloren haben – nun sieht es auch noch so aus, als hätten Beamte des Siebten einen Fehler gemacht.“ Er schlug sich eine Zigarette aus der zerknautschten Schachtel. „So wirkt das doch, wenn diese Ermittlungsgruppe bei uns herumschnüffelt.“
„Steck den Glimmstängel wieder ein!“, bellte der Polizeihauptkommissar. „Bei mir im Büro wird nicht geraucht!“ Der harsche, militärische Ton, der sowieso immer in seiner Stimme mitschwang, brach nun voll aus ihm heraus. Viele Freunde hatte er sich damit im Siebten noch nicht gemacht.
Sievers fixierte seinen Chef ein paar Sekunden lang. Ein wehmütiger Ausdruck trat in seinen Blick. Er steckte die Zigarette zurück in die Schachtel, und die Schachtel in die Hemdtasche. „Die Männer fragen sich, ob du dem Ruf unseres Reviers damit wirklich einen Gefallen getan hast, Erik?“
Wie von selbst begannen die kurzen fleischigen Finger des Polizeihauptkommissars auf der Schreibtischplatte herumzutrommeln. „So? Fragen sie sich das?“ Seine rote Gesichtsfarbe verdunkelte sich, scharf sog er die Luft durch die Nase ein. „Wenn diese Frage irgendjemandem den Schlaf raubt, dann soll er zu mir kommen und mit mir darüber sprechen! Und wer den Mumm dazu nicht hat, der kann mich mal!“
Sievers betrachtete seine Stiefelspitzen. Langsam nickte er. „Okay, Erik – ich wollt‘s dir bloß sagen. Du weißt, dass die Männer mir vertrauen.“
Er nahm seine Mütze vom Schreibtisch des Polizeihauptkommissars. „Sie haben sich bei mir ausgekotzt, und ich dachte, es ist fair, wenn ich dir sag, wie die Stimmung …“
„Hör zu, Thilo!“ Lövenstein platzte der Kragen. „Wenn es so eine Stimmung gegen mich gibt, dann weiß ich, wem ich sie zu verdanken habe!“ Er wurde laut. Es brauchte nicht viel, um Lövenstein zum Explodieren zu bringen. Auch so etwas, das seiner Beliebtheit als Chef nicht unbedingt zuträglich war.
„Ich hab die Schnauze voll davon, dass du meine Leute gegen mich aufwiegelst!“ Er sprang auf, lief um seinen Schreibtisch herum und pflanzte sich vor dem um einen halben Kopf größeren Sievers auf. „Find dich endlich ab damit, dass man mich geholt hat, statt dich zum Polizeihauptkommissar zu machen! Und jetzt geh nach Hause!“ Mit ausgestrecktem Arm deutete er auf die Tür. „Das ist ein Befehl!“
Betont langsam zog sich Sievers zur Tür zurück. Die Klinke in der Hand drehte er sich noch einmal um. „Du glaubst also, ich würde Stimmung gegen dich machen?“
„Ich glaub sogar, dass ihr die einzigen seid, denen es nicht passt, dass die Ermittlungsgruppe des Bundes Huberts Tod untersucht! Du, Förster und Böddeker!“
Der wehmütige Ausdruck wich schlagartig aus Sievers‘ Augen. Er wurde blass. „Was willst du damit sagen, Erik?“ Leise, fast flüsternd klang seine Stimme plötzlich.
Lövenstein wandte sich ab und stach zum Schreibtisch. „Geh nach Hause, Sievers!“
10
Hauptmeister Jonas Förster wurde noch stationär behandelt. Im Marienkrankenhaus. Auf dem Weg dorthin blätterte ich in den Unterlagen, die der Chef uns überlassen hatte. Roy steuerte unseren Dienstwagen den Mönckebergstraße hinauf. Einen grauen Toyota.
„Der Mann, der die Polizei gerufen hat, war gar kein deutscher Staatsbürger.“ Erstaunt überflog ich die Personalien des Opfers. „Rufus Rogers“, las ich laut. „Geboren am 7.3.1962 in London. Ist dort auch gemeldet.“
„Und was trieb den Unglücksraben in unser schönes Land?“ Roy schaltete herunter und ging vom Gas. Die Ampel an der Kreuzung stand auf Rot.
„Keine Ahnung.“ Ich zog ein weiteres Papier aus dem Stapel auf meinem Schoß. Die Kopie eines Arbeitsvertrages. Man hatte ihn bei dem Toten gefunden. „Die Transatlantik Traffic Bank hat ihn als Informatiker eingestellt.“ Ich pfiff durch die Zähne. „Der Vertrag trägt das Datum von gestern.“
„Das Datum seines Todestages.“ Die Ampel sprang auf grün, Roy fuhr an.
„Er muss wohl ein Computerspezialist gewesen sein“, vermutete ich.
„Ein Anwärter auf die reguläre Arbeitserlaubnis also. Brauchen sie im Vereinigten Königreich keine Computerspezialisten?“
Überall auf der Welt braucht man zur Zeit Computerspezialisten. Rogers musste einen Grund gehabt haben zu uns nach Deutschland zu kommen. Einen Grund, über den wir nicht mal mutmaßen konnten. Sicher war nur eines: Wäre er in London geblieben, würde er heute noch leben.
„Und die beiden Kerle, die ihn überfallen haben?“
„Dreiundzwanzig und fünfundzwanzig Jahre alt. Stammplatz in Santa Fu. Beachtliches Vorstrafenregister: Diebstahl, Einbruch, Drogenmissbrauch.“
„Keine Körperverletzung?“ Ich schüttelte den Kopf. Roy bog in die nächste Querstraße ein. „Hätte Rogers ihnen seine Brieftasche überlassen, würden alle drei noch leben.“
„Gut möglich.“
Ein paar Minuten später hielten wir auf dem Parkplatz beim Marienkrankenhaus. Der Pförtner schickte uns auf die Innere.
Hauptmeister Förster hatte ein Einzelzimmer. Ein Mann Anfang dreißig saß auf einem Stuhl neben seinem Bett – hager, kahlgeschorener Schädel, Raubvogelgesicht, hellwache Augen. Er trug eine helle Cargohose und ein schneeweißes T-Shirt.
Roy und ich zogen unsere Dienstmarken und stellten uns vor. „Entschuldigung, Herr Förster“, sagte ich. „Auch wenn‘s Ihnen schwerfällt – wir müssen noch mal über die Schießerei an der Playground Bar mit Ihnen sprechen.“ Mit einem Blick bedeutete er Försters Besucher, vor der Tür zu warten.
„Justin ist ein Kollege aus dem Siebten“, sagte Förster. „Es macht mir nichts aus, wenn er dabei ist.“ Er sprach, als würde er vor seiner eigenen Stimme erschrecken – hastig und verwaschen, und ziemlich leise.
Förster hatte ein quadratisches, etwas grobschlächtiges Gesicht, aber nicht unsympathisch. Strähniges dunkelblondes Haar hing ihm feucht in die breite Stirn. Seine braungebrannte Haut fiel mir auf. Vermutlich war er in besseren Zeiten ein erfolgreicher Weiberheld. Ich schätzte ihn Anfang vierzig.
Der Kahlkopf stand auf und reichte uns die Hand. „Justin Rosen. Bin Hauptwachtmeister im Siebten.“ Sein Händedruck war kräftig. „Wollte nach Jonas schauen.“
Ich nickte, und er nahm wieder Platz. „Sind Sie soweit okay, dass Sie erzählen können?“
„Geht schon“, sagte Förster. Er wirkte blass und eingefallen. Seine Augen wanderten fahrig zwischen Roy und mir hin und her. Ich zog mir einen Stuhl an sein Bett. Roy zückte Notizbuch und Stift.
„Wir kamen später zur Playground Bar als Hubert und Thilo. Ein oder zwei Minuten.“ Ich musste mich konzentrieren, weil er so schnell und undeutlich sprach. Womöglich hatte er eine Dosis Beruhigungsmittel im Blut.
„Schon als wir aus dem Wagen sprangen, hörten wir Schüsse. Wir rannten auf den Parkplatz … Paul vor mir … quer vor den Hecks zweier Wagen lag Hubert … wir wussten nicht gleich, dass er es war … wir sahen nur die Dienstmütze neben ihm … Mündungsfeuer blitzte zwischen den parkenden Fahrzeugen auf … und dann hörten wir Thilos Stimme.“
Er deutete meinen fragenden Blick richtig. „Hauptmeister Thilo Sievers“, erklärte er. „Hauptwachtmeister Kosters‘ Partner.“
„Was sagte er?“, wollte ich wissen.
„Er schrie. Deckung!, schrie er. Paul und ich ließen uns auf den Asphalt fallen, zogen unsere Waffen und schossen.“ In einer hilflosen Geste breitete er beide Arme aus. „Was soll ich sagen? Irgendwann war es vorbei.“
Hinter mir hörte ich das kratzende Geräusch, mit dem Roys Stift über das Papier schabte. Der Hauptmeister starrte vor sich hin auf die Bettdecke. Als würde er einen Film auf seiner inneren Bühne ablaufen sehen. Einen Film, in dem sich die schrecklichen Sekunden der vergangenen Nacht endlos wiederholten.
„Wir haben uns zuerst nur um Hubert gekümmert … aber er atmete schon nicht mehr.“ Försters Stimme war jetzt nur noch ein Flüstern.
Er hob den Kopf. Sein Blick hatte etwas Gequältes. „Später sahen wir dann die Bescherung.“ Wieder die hilflose Geste. „Ich weiß nicht, wer von uns den Mann getroffen hat. Den Schwarzen, der uns gerufen hat … ich weiß es ehrlich nicht.“
11
Zwei Tage nach ihrer ersten Begegnung rief Luisa Gunnarsson an. Ja, sie rief an. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum. Oder sie wollte es sich nicht erklären.
„Wie geht‘s dir?“
„Komm zu mir“, sagte Jan Gunnarsson.
Eine halbe Stunde später hielt ihr Taxi in der Weddestraße vor seinem Haus. Und kurz darauf lagen sie sich in den Armen.
Sie sprachen kein Wort. Er küsste sie, und seine Hände wühlten sich unter ihr Shirt, während er sie ins Schlafzimmer lotste. Dort zog er sie aus.
Er nahm sie mit einer Heftigkeit und Leidenschaft, die Luisa den Atem raubte. Sie zerschmolz unter seinen fordernden Händen.
Noch nie war es ihr passiert, dass ein Kunde sie zum Orgasmus gebracht hatte. Der grauhaarige Mann mit dem jungen Gesicht und den traurigen Augen schaffte das in Nullkommanix. Und er schaffte es gleich dreimal.
Als sie danach schweigend und nackt auf dem Bett lagen und rauchten, gestand Luisa sich ein, dass sie verliebt war. Und zwar so rettungslos verliebt, wie man nur sein konnte.
„Mist“, flüsterte sie.
Gunnarsson blickte sie fragend an. „Was ärgert dich?“
Sie schüttelte den Kopf und küsste ihn. „Nichts. Gar nichts.“ Seufzend presste sie ihre Wange auf seine Brust. Sein Herz schlug kräftig und langsam. Sie spürte ihr eigenes aufgeregt unter ihren Rippen herumtanzen. Und musste lachen.
„Was ist so witzig?“, grinste Gunnarsson.
„Nichts“, kicherte Luisa. „ Alles.“ Sie schob sich von der Matratze und ging zur Tür.
„Bleib bei mir“, sagte Gunnarsson hinter ihr.
Luisa drehte sich um. Ungläubig blickte sie ihn an. „Was hast du gesagt?“
„Du hast verstanden, was ich gesagt hab.“ Ernst ruhten seine grauen Augen auf ihrem Gesicht. „Ich will, dass du mit diesem Job aufhörst und bei mir bleibst.“
Luisa brauchte ein paar Augenblicke, bis sie ihre Sprache wiederfand. „Und wovon kauf ich mir Zigaretten und Klamotten?“
„Das krieg‘ ich geregelt.“ Mehr sagte er nicht.
Luisa ging in die Küche. Sie spürte das Parkett kaum unter ihren nackten Füßen. Ich bin Luisa Guevarra, ich bin eine Nutte, ich komm aus dem Ghetto, ich bin Luisa Guevarra …
Als müsste sie sich aus einem Traum in die Wirklichkeit zurückholen, buchstabierte sie sich die hässlichen Fakten ihres bedeutungslosen Lebens vor.
Auf der Anrichte fand sie die Kaffeemaschine. Sie füllte Wasser hinein. …ich heiße Luisa Guevarra, ich bin eine Nutte … Im Schrank fand sie Filter und Kaffeepulver. Ich bin eine kleine, lächerliche Nutte … und ich bin verliebt …
Der Schalter der Kaffeemaschine leuchtete rot auf, als sie ihn umlegte. …ich bin verliebt … Sie ließ den Gedanken zu, dachte ihn wieder und wieder, und spürte ihr Herz in ihrem Brustkorb tanzen. Und plötzlich wusste sie, dass ihr Leben einen Sinn hatte. Wenn man liebt, ist nichts mehr bedeutungslos.
Bis in den Abend hinein saßen sie nackt am Küchentisch. Tranken Kaffee, tranken Wein, aßen Käse, Tomaten und Oliven. Und redeten und lachten. Luisa suchte vergeblich nach der Trauer in Gunnarsson Augen. Keine Spur mehr davon. Nichts. Und sie war weiter nichts als glücklich.
Die Hamburg Post lag auf dem Tisch. Luisa fiel die Zeitung erst auf, als ihre Augen auf dem Foto der aufgeschlagenen Seite hängenblieben. Das Lachen auf ihren Zügen gefror.
„Was ist los, Luisa?“ Gunnarsson war verwirrt.
Luisa zog die Zeitung heran. „Schießerei in Altona-Nord“, lautete die Schlagzeile. Und darunter: „Beamte der Hamburg-Mitte Polizei erschießen drei Menschen ….“
Luisa überflog den Artikel nur. Das Foto fesselte ihre Aufmerksamkeit. Das Foto mit zwei der betroffenen Polizeibeamten. Aus schmalen Augen starrte sie es an. Ihre Lippen wurden zu einem dünnen, blutleeren Strich. Ihre Kiefermuskulatur bebte. Sie ballte die Fäuste.
„Himmel, Luisa!“ Gunnarsson kniete neben ihr auf den Boden und bog ihren Kopf zu sich hinunter. „Was ist mit dir los? Kennst du diese Männer?“
„Und ob ich sie kenne …“, zischte Luisa. Sie stieß seine Arme von ihrem Körper weg, packte das Brotmesser vor sich auf dem Tisch und rammte es durch das Foto hindurch in den Tisch hinein.“
12
„Eine E-Mail von Dr. Theissen!“ Mandy saß hinter ihrem Schreibtisch und winkte mit ein paar Papieren. Es war drei Tage nach der Schießerei bei der Playground Bar. Schon am Vormittag war es so heiß, dass man einen Schweißausbruch riskierte, wenn man sich aus den klimatisierten Räumen der Präsidium wagte.
Sie reichte mir die Unterlagen. „Danke, Mandy.“ Ich überflog sie. „Der Bericht aus der Pathologie.“
„Und?“ Roy setzte sich auf Mandys Schreibtisch.
„Hauptwachtmeister Hubert Kosters wurde durch eine Kugel aus seiner eigenen Waffe getötet. Fingerabdrücke von Rogers auf dem Kolben. Auch in den Körpern der beiden Jungs fünf Geschosse aus dieser Waffe. Aber noch ein paar andere.“ Ich reichte die E-Mail an Roy weiter.
Der pfiff überrascht durch die Zähne. „Die beiden Straßenräuber sind regelrecht durchlöchert worden. Der eine von neun Kugeln, der andere von elf.“
„Die Uniformierten müssen gewaltig in Panik geraten sein“, sagte ich.
„Vier Kugeln hat Alexander aus Rogers Leiche geschnitten. Merkwürdig.“ Roy machte ein nachdenkliches Gesicht. „Kosters wurde nur von einer einzigen Kugel getroffen.“
Am Nachmittag schickten wir den Bericht der Staatsanwaltschaft. Zusammen mit den Vernehmungsprotokollen der drei Polizisten.
Wir hatten Böddeker und Sievers besucht. Ihre Aussagen deckten sich im Wesentlichen mit denen Försters.
Am gleichen Abend meldeten sich der Staatsanwalt und der Ermittlungsrichter bei unserem Chef: Gegen keinen der drei Uniformierten sollte Anklage erhoben werden. Die Ermittlungen wurden eingestellt.
Der Fall war erledigt. Am Vormittag des nächsten Tages trat Jonathan Bock zusammen mit dem Ermittlungsrichter vor die Presse und gab den Beschluss bekannt.
13
Dietmar Schindler griff nach der Wasserflasche und dem Glas vor sich auf dem Schreibtisch. Er füllte das Glas, zog die Schublade seines Schreibtisches auf und holte eine schmale Plastikschachtel heraus. Nicht mal halb so groß wie ein kleines Handy.
Unter dem durchsichtigen Deckel konnte man drei Fächer erkennen. Die ersten beiden waren leer, das rechte enthielt Tabletten, Kapseln und Dragees. Rote, blaue und weiße, etwa dreizehn Stück.
Schindler schob den Deckel auf und leerte die Pillen in seine Hand. Nacheinander steckte er die Tabletten in den Mund und spülte sie mit dem Wasser herunter.
Eines der Telefone auf seinem Schreibtisch klingelte. Er nahm ab. „Da ist noch ein Klient gekommen, Dr. Schindler.“ Die Stimme seiner Sekretärin.
„Habe ich einen Termin übersehen, Lydia?“, wunderte sich der Anwalt.
„Nein. Der Herr ist nicht angemeldet. Aber er sagt, es sei sehr dringend.“
„Kenne ich ihn?“
„Er heißt Maier. Gregor Maier – ich glaub, er hat noch nie Ihre Hilfe in Anspruch genommen.“
„Von mir aus“, brummte Schindler. „Machen Sie ihm einen Kaffee. Er soll sich einen Augenblick gedulden.“
„In Ordnung, Dr. Schindler.“
Schindler legte auf und sah auf die Uhr. Zehn nach fünf. Um halb sieben war er mit seiner Frau im Hotel Des Artistes zum Essen verabredet. Anschließend wollten sie in die Elbphilharmonie. Der Figaro wurde aufgeführt. Schindler stand auf Mozart.
Er spähte zu dem schmalen Kleiderschrank zwischen seinen Regalen. Sein weißer Smoking hing dort schon bereit. Er stand auf und verstaute ihn wieder im Schrank. Noch eine gute Stunde Zeit. Ich hör mir an, was der Mann von mir will, mach einen Termin mit ihm aus, und fertig!
Zurück am Schreibtisch holte er eine Blutdruckmanschette aus der obersten Schublade. Er zog sein Jackett aus, schlug sich den Hemdsärmel zurück und legte die Manschette an.
Man sah es dem kräftig gebauten Dietmar Schindler nicht an – aber war ein kranker Mann. Zucker, Bluthochdruck, Durchblutungsstörungen, zwei Herzinfarkte.
Im vergangenen Herbst eine Bypass-Operation. Wenn er auf seinen Arzt hören würde, gäbe es weder Alkohol noch Sex in seinem Leben. Und schon gar keine Arbeit. Der Doktor hatte dem Zweiundsechzigjährigen dringend geraten seine Anwaltskanzlei aufzugeben. Zuletzt nach der gelungenen Operation.
Doch Schindler konnte ohne Arbeit nicht leben.
Aufmerksam spähte er auf das digitale Manometer des Blutdruckgerätes. Hundertfünfzig zu fünfundneunzig. Nicht gut, aber auch nicht unbedingt tödlich. „Na also“, brummte Schindler.
Er verstaute das Blutdruckgerät wieder in seinem Schreibtisch, zog sein Jackett an und griff zum Telefon, um diesen Maier hereinrufen zu lassen.
Das Freizeichen ertönte. Dreimal, viermal, fünfmal. Schindler runzelte die Stirn. Merkwürdig! Normalerweise ging Lydia immer sofort an den Apparat. Aber vielleicht war sie gerade im Bad verschwunden und machte sich frisch. Vermutlich war sie auch verabredet heute Abend.
Schindler legte auf. Sei kein Faultier, Dietmar, hol den Mann persönlich im Wartezimmer ab. Er stemmte sich aus seinem Bürosessel und schritt durch sein geräumiges Büro. Ein bisschen Bewegung tut dir gut.
Er drückte die anthrazitfarbene Tür seines Büros auf. Im Vorzimmer sah er Lydia vor ihrem Schreibtisch sitzen. Ihr blonder Haarschopf ragte über die Lehne ihres schwarzen Drehstuhls.
„Warum nehmen Sie nicht ab, Lydia?“, sagte er verwundert. Die Sekretärin reagierte nicht. Still und regungslos hockte sie in ihrem Bürosessel. Als hätte sie Kopfhörer eines Walkmans unter ihrem Blondhaar verborgen und würde konzentriert der Musik lauschen. „Lydia?“ Keine Reaktion.
Schindler runzelte die Stirn. Er spürte sein Herz stolpern. Etwas perlte warm und summend aus seiner Brust in seinen Kopf. Für ihn ein sicheres Zeichen schlagartig ansteigenden Blutdrucks. Mit drei raschen Schritten war er beim Bürostuhl seiner Sekretärin. „Ist Ihnen nicht gut, Lydia?“
Er fasste die hohe Stuhllehne und drehte die Frau zu sich.
Aus leeren Augen starrte sie ihn an. Ein schwarz-feuchter Spalt klaffte im Hals direkt unter ihrem Kinn. Auf ihrer Bluse zwischen den Kragenaufschlägen ihres schwarzen Kostüms schien ein zerfranstes, tiefrotes Lätzchen zu hängen.
14
Gunnarsson beobachtete Luisa von der Schlafzimmertür aus. Sie stand neben dem Küchentisch und beugte sich über die aufgeschlagene Zeitung. Er wusste, was sie las.
„Diese Schweine“, zischte sie. „Sind sie schon wieder davongekommen.“
Vor zwei Tagen, als sie so heftig auf das Foto der beiden Polizisten reagiert hatte, war es Gunnarsson nicht gelungen, sie zum Reden zu bringen. Sie wollte ihm einfach nicht verraten, warum sie so wütend auf die Polizisten war. Und wenn Luisa nicht wollte, dann wollte sie nicht.
Er ging zu ihr und trat neben sie an den Tisch. „Staatsanwaltschaft erhebt keine Anklage wegen Blutbad an Playground Bar“, lautete die Schlagzeile des Artikels, den sie las.
„Was sagst du dazu?“ Luisas Stimme klang heiser. „Sie hätten in Notwehr geschossen.“ Sie stieß ein bitteres Lachen aus. „In Notwehr drei Schwarze mit Kugeln gespickt. Super – oder?“
„Vielleicht hatten sie die Hosen so voll, dass sie die Kontrolle über sich verloren haben“, sagte Gunnarsson.
„Die Kontrolle verloren ….“ Wieder das bittere Lachen. „Das ist gut – die Kontrolle verloren.“
„Woher kennst du diese Polizisten, Luisa?“ Er musterte sie prüfend.
„Ich hab eine Zeitlang auf dem Straßenstrich gearbeitet, Jan. Da lernt man so manches Polizeirevier von innen kennen. Und so manchen Polizisten.“ Sie griff nach der Zigarettenschachtel auf dem Tisch und zündete sich eine Zigarette an. Gunnarsson sah, dass ihre Hände zitterten.
„Haben Sie …“ Er suchte nach Worten. „Ich meine … haben diese Männer dir wehgetan?“
Luisa wandte sich ab. Sie ging zur Anrichte, wo eine Flasche Gin stand. „Sie haben mich in St. Georg erwischt. Vorletztes Jahr im Herbst.“ Sie holte ein Glas aus dem Hängeschrank und goss es sich halbvoll. Hastig trank sie.
Ohne sich zu ihm umzudrehen, erzählte sie weiter. „Ich werde die Nacht nie vergessen, das schwör ich dir. Und die Gesichter dieser Schweine auch nicht. Sie hießen Böddeker und Förster. Und der dritte hieß Sievers. Er hat zugeguckt.“
„Zugeguckt?“ Er spürte, dass sich etwas Übles abgespielt haben musste zwischen Luisa und diesen Polizisten. Er sah es ihrer verkrampften Körperhaltung an, er hörte es aus ihrer bitteren Stimme. „Wobei zugeguckt, Luisa?“
„Bei dem, was sie mit mir gemacht haben“, sagte sie leise.
Gunnarsson ging zu ihr und legte den Arm um ihre Schultern. Sie fühlte sich steif an. „Was haben sie mit dir gemacht?“ Sie starrte die Wand an und rauchte schweigend. „Bitte Luisa – was haben diese Männer mit dir gemacht?“
„Ich bin nur eine Nutte.“
„Ich will es wissen, Luisa, hörst du? Ich will es wissen!“
Sie leerte ihr Glas. Und dann begann sie zu erzählen!
15
Es war, als würde sein Herz direkt hinter seiner Augen schlagen. Für Sekunden lähmte ihn der Schock. Schindler war zu keiner Bewegung fähig. Er starrte seine tote Sekretärin an, und der hässliche, rote Spalt unter ihrem Hals, ihr wächsernes Gesicht und ihr blondes Haar verschwammen zu einem schmutzigen Fleck.
Etwas Hartes bohrte sich so unerwartet in seinen Nacken, dass er nach vorn gegen den Stuhl mit der toten Frau stolperte.