Der Umfang dieses Buchs entspricht 115
Taschenbuchseiten.
Kommissar Jörgensen steht vor einer schwierigen Aufgabe. Ein
Polizist ist tot. Verstörte Kollegen, ein Haufen Ungereimtheiten
und immer dieser Gedanke, etwas übersehen zu haben. Ist das ganze
Polizei-Revier korrupt oder sind da nur ein paar schwarze Schafe,
die das Recht für sich beanspruchen – koste es, was es wolle? Als
immer mehr Leichen auftauchen, trifft Kommissar Jörgensen die
richtige Entscheidung.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
nicht beabsichtigt.
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Alles rund um Belletristik!
1
Mein Name ist Uwe Jörgensen. Ich bin Kriminalhauptkommissar
und Teil einer in Hamburg angesiedelten Sonderabteilung, die den
etwas umständlichen Namen ‘Kriminalpolizeiliche Ermittlungsgruppe
des Bundes’ trägt und sich vor allem mit organisierter
Kriminalität, Terrorismus und Serientätern befasst.
Die schweren Fälle eben.
Fälle, die zusätzliche Resourcen und Fähigkeiten verlangen.
Zusammen mit meinem Kollegen Roy Müller tue ich mein Bestes,
um Verbrechen aufzuklären und kriminelle Netzwerke zu zerschlagen.
“Man kann nicht immer gewinnen”, pflegt Kriminaldirektor Bock oft
zu sagen. Er ist der Chef unserer Sonderabteilung. Und leider hat
er mit diesem Statement Recht.
Wenn Sie auf der Suche nach einem aufregenden Nachtleben sind,
dann ist das Strip-Lokal auf St. Pauli genau das Richtige für Sie!
Hier können Sie die heißesten Girls der Stadt beim Tanzen und
Strippen beobachten. Die Atmosphäre ist elektrisierend und die
Drinks sind köstlich. Lassen Sie sich dieses Erlebnis nicht
entgehen!
Ich betrete das Lokal und sehe mich um. Die Bühne ist dunkel,
aber ich kann die Silhouetten der Tänzerinnen erkennen, die sich an
den Stangen reiben. Nebel wabert durch den Raum und verleiht der
Scene eine gewisse Mystik. Ein Tisch steht leer in der Mitte des
Raums, und ich setze mich. Eine Kellnerin kommt zu mir und fragt
mich, was ich trinken möchte. Ich bestelle einen Whiskey neat und
lehne mich zurück, um die Show zu genießen. Die Musik beginnt zu
pulsieren, die Lichter gehen an - und plötzlich sehe ich sie. Sie
steht in der Mitte der Bühne und lächelt lasziv in meine Richtung.
Sie hat lange blonde Haare, grüne Augen und einen perfekten Körper.
Sie beginnt zu tanzen, und ich kann meinen Blick nicht von ihr
abwenden. Sie tanzt für mich allein, wirft ihre Hüften im Takt der
Musik und streift sorglos ihr Oberteil ab. Ich spüre, wie mein Herz
schneller schlägt - und als sie auf den Tisch steigt und mir ihren
perfekten Körper entgegenstreckt, weiß ich: Das ist die Nacht
meines Lebens!
Ich beobachte einen Drogendealer, der an der Ecke steht und
seine Ware verkauft. Er sieht mich. Ich bin ein Fahnder. Und das
weiß er. Er läuft los. Ich renne hinterher. Er ist schneller als
ich. Aber ich bin nicht aufzuhalten. Ich bin fest entschlossen, ihn
zu schnappen. Er rennt nach draußen in eine Gasse und ich folge
ihm. Da höre ich ein Geräusch. Es klingt wie ein Schuss. Dann
herrscht Stille. Ich trete vorsichtig in die Gasse und sehe, dass
er eine Pistole zieht. Er zielt auf mich. Ich bin schneller und
werfe mich zur Seite. Dabei ziehe ich meine Dienstwaffe. Er
schießt. Aber ich treffe.
Dreimal. Er fällt zu Boden und bleibt liegen.
“Uwe!”
Mein Kollege Kriminalhauptkommissar Roy Müller ein.
Er war auch in dem Lokal, aber wir haben so getan, als hätten
wir nichts miteinander zu tun.
“Ich hatte keine andere Wahl”, sage ich.
“Ich weiß.”
*
Rufus Rogers, ein Brite in Hamburg.
Ein Brite mit schwarzer Hautfarbe, um genau zu sein.
Ein Glückstag lag hinter Rufus Rogers. Verdammt noch mal, was
für ein guter Tag! Der hochgewachsene, dunkelhäutige Mann wankte
über den Parkplatz. Du solltest ein Taxi rufen! Er fummelte den
Autoschlüssel aus der Jacke. Was soll‘s … soviel Schwein an einem
Tag, da werd‘ ich auch mit ein paar Whiskys im Hirn gut nach Hause
kommen … ohne dass mich die Bullen erwischen …
Rogers hatte Grund zum Feiern gehabt: Er hatte einen Job
gefunden. Heute. Die Transatlantik Traffic Bank hatte ihn als
Informatiker eingestellt. Der Vertrag steckte in der Innentasche
seines Jacketts. Da kann man schon mal einen über den Durst
trinken, oder?
Er zog die Autotür auf. Die Straßenbeleuchtung streute ihr
kaltes Licht über die dicht an dicht stehenden Karossen auf dem
nächtlichen Parkplatz.
Er hatte gleich in London angerufen. Mira war sprachlos
gewesen. Sie hatte ihm den Kontakt vermittelt. Umwerfend, was die
Frau für Beziehungen hatte. Zwei Wochen in diesem prächtigen Land,
und schon ein Job! Wenn das kein Glück war, was dann?
Schritte knallten über den Asphalt. Rogers fuhr herum. Direkt
vor ihm wuchs ein Schatten aus der Dunkelheit. Gleich dahinter noch
einer.
Rogers duckte sich instinktiv. Etwas Langes, Dünnes sauste
über seinen Kopf und knallte gegen den Türrahmen seines Mietwagens.
Er rammte beide Fäuste in den Schatten hinein und traf den schmalen
Körper des Angreifers. Der torkelte rückwärts gegen den zweiten
Schatten hinter ihm.
Rogers warf sich in seinen Wagen, zog die Tür zu, hämmerte mit
der Faust auf die Türverriegelung, drehte sich um, drückte die
Verriegelung der hinteren Tür hinunter, warf sich auf die
Beifahrerseite, und verschloss auch dort beide Türen.
„Scheißkerle!“, brüllte er. Er zitterte. „Verfluchte
Scheißkerle …“ Er griff in seine Jacke, zerrte sein Handy aus der
Innentasche und wählte die 110.
Die Konturen zweier Körper tauchten an der Fahrerseite seines
Wagens auf. Für Sekunden schwebte ein Gesicht draußen vor dem
Seitenfenster. Ein junges Gesicht, schwarz, wie seines. Dann
verschwand das Gesicht, und ein Knüppel krachte gegen die Scheibe.
Oder war es ein Baseballschläger?
Rogers zuckte zusammen. „Nennen Sie Ihren Namen“, plärrte eine
Stimme aus dem Handy. „Beschreiben Sie den Notfall, was genau ist
passiert? Wo genau ist es passiert?“
„Rufus Rogers!“, schrie Rogers. „Playground Bar, Norderreihe
am Wohlers Park! Auf dem Parkplatz gegenüber der Bar! Zwei Männer
überfallen mich! Sie schlagen …“
Wieder krachte der Prügel gegen das Seitenfenster. Glas
splitterte. Rogers warf sich auf den Beifahrersitz. Er hörte, wie
die Tür aufgezogen wurde. Eine Hand griff nach ihm …
2
„Zentrale an Wagen dreizehn, kommen.“
Hauptmeister Thilo Sievers griff zum Mikro. „Wagen dreizehn
hört, kommen.“
„Standort, kommen“, plärrte die Stimme aus dem Funkgerät.
Hauptwachtmeister Hubert Kosters ging vom Gas.
„Gilbertstraße, Höhe Bernstorffstraße, kommen“, sagte
Sievers.
„Fahren Sie zur Norderreihe, Überfall auf dem Parkplatz an der
Playground Bar neben dem Wohlers Park kommen.“
„Verstanden!“
„Ich kenn die Bar“, sagte Kosters und beschleunigte.
„Zentrale an dreizehn – Vorsicht, die Täter sind noch vor Ort,
kommen.“
„Verstanden. Verstärkung wäre nicht schlecht, Ende.“
Hauptmeister Sievers hängte das Mikro in die Halterung. Er
schaltete Blaulicht und Sirene ein. Der Streifenwagen fegte die
Gilbertstraße herunter und bog kurz darauf in die Thadenstraße
ein.
Die beiden Polizisten verfolgten den Funkverkehr zwischen der
Zentrale und Wagen 15 mit – die Kollegen standen an der Kreuzung
Haubachstraße, Holstenstraße. Sie wurden ebenfalls zur Playground
Bar beordert.
Sievers‘ Hand fuhr zum Kolben seiner Dienstwaffe. Er legte den
Sicherungshebel um und lockerte die Pistole.
Fluchend blendete Kosters auf, um einen lahmen Pick-up vor
ihnen an den Straßenrand zu scheuchen. „Wohl besoffen“, knurrte der
Hauptwachtmeister.
Sievers belauerte seinen Partner von der Seite. Er entdeckte
Schweißperlen auf Kosters‘ Stirn. Es war eine ziemlich warme
Augustnacht, doch Sievers wusste, dass der Hauptwachtmeister aus
einem anderen Grund schwitzte. Hubert Kosters war ein ängstlicher
Typ. Sievers mochte ihn nicht. Aber nicht deswegen.
„Wagen fünfzehn an Wagen dreizehn, kommen.“ Paul Böddekers
Stimme aus dem Funkgerät. Sievers kannte den Hauptwachtmeister gut.
Natürlich – fast jeden aus dem siebten Revier kannte er gut.
Er griff wieder zum Funkgerät. „Dreizehn. Wir sind gleich da,
kommen.“
„Wir erreichen gerade die Kreuzung zur Max-Brauer-Allee,
Ende.“
„Mist“, zischte Kosters. Mit hochgezogenen Schultern hing er
hinter dem Steuer. Er zog an einem Taxi vorbei und wich einem Bus
aus. „Wir werden vor ihnen da sein.“
„Scheißegal“, knurrte Sievers. „Drück aufs Gas.“
„Was müssen die Leute so spät noch in den Kneipen
herumsitzen.“ Bremslichter leuchteten vor ihnen auf. Die Fahrzeuge
auf der nächtlichen Thadenstraße fuhren an den Straßenrand, um sie
vorbei zu lassen. „Sollen doch zu Hause bleiben.“
Arschloch, dachte Sievers. „Dort werden sie von ihren Frauen
überfallen“, sagte er. Er beobachtete Kosters – die angespannte
Miene des Hauptwachtmeisters verzog sich zu einem verkrampften
Grinsen.
Krampf und Spannung – seit Wochen prägte das die Beziehung
zwischen den beiden Beamten. Keine offen ausgetragene Spannung –
eine, die unterschwellig vor sich hin gärte. Sievers wusste genau,
was gespielt wurde.
Endlich der Neonschriftzug über dem Eingang der Bar –
Playground Bar. Kosters trat auf die Bremse. Noch bevor der Wagen
zum Stehen gekommen war, stieß Sievers die Tür auf. Vor Kosters her
rannte er auf den Parkplatz.
Von Weitem hörte er das Gebrüll einer Männerstimme.
3
Ein schmerzhafter Schlag traf ihn in die linke Niere. Rufus
Rogers schrie auf. Er wurde aus dem Wagen gerissen, er knallte auf
den Asphalt. Das Geheul einer Polizeisirene schwoll an, Bremsen
schrien, Wagentüren lärmten – nicht weit weg.
Rogers strampelte, schlug um sich, brüllte. Zwei Männer waren
über ihm. Ein Stiefelabsatz traf ihn am Brustkorb. Röchelnd entwich
ihm die Luft. Jemand griff unter seine Jacke und zog seine
Brieftasche heraus. Er krallte sich an dem Arm fest, zog den
Angreifer zu sich hinunter.
Wieder ein Tritt – er traf ihn an der Schläfe. Sein
Bewusstsein torkelte in einen grauen Nebel hinein. Dann Schritte
auf dem Asphalt. Umrisse eines großen Mannes zwischen den parkenden
Wagen. Rogers erkannte eine Schirmmütze, und auch die Waffe in der
Hand des Mannes konnte er sehen. „Polizei!“, brüllte jemand. „Zur
Hölle mit euch, ihr verfluchten Bastarde …“
Von fern erklang ein zweites Martinshorn. Die Gewissheit der
nahen Hilfe verlieh Rogers übermenschliche Kräfte. Mira, Mira, ich
will leben … Das Gesicht seiner Freundin leuchtete auf seiner
inneren Bühne auf. Den Angreifer über sich hielt er mit beiden
Armen umklammert, den zweiten holte er mit einem gezielten Tritt
von den Beinen.
Jemand beugte sich von hinten über ihn und packte den Mann,
den er festhielt. Dessen Körper wurde von ihm gerissen. Rogers
sprang auf und stürzte sich auf den zweiten Angreifer, der jetzt
vor ihm auf dem Boden lag. Sie wälzten sich am Boden, ziellos
trommelten Rogers‘ Fäuste auf das Gesicht des jungen Burschen
ein.
Hinter sich hörte er Kampflärm. Männer röchelten und keuchten.
Etwas knallte metallen auf den Asphalt. Rogers fuhr herum. Ein
kleiner, dunkler Schatten neben dem linken Hinterreifen seines
Wagens. Eine Pistole. Das Knie des Burschen unter ihm traf ihn
unerwartet zwischen den Beinen, er krümmte sich zusammen.
Schmerz und Übelkeit zerrte an seinem Bewusstsein. Wie durch
einen Nebel hörte er Schritte auf den Asphalt knallen. Stimmen
drangen aus der Dunkelheit.
Plötzlich donnerten Schüsse über den Parkplatz. Viele Schüsse.
Eine Sonne explodierte in Rogers‘ Kopf. Dann nichts mehr!
4
Vermutlich ist es untertrieben die Arbeitszeiten Lara Bernsons
als eigensinnig zu bezeichnen. Nicht, dass es mich seit Neustem
nach geregelten Arbeitszeiten verlangt: Ich hatte an diesem Abend
das Präsidium selbst erst nach elf Uhr abends verlassen.
Aber inzwischen lag Mitternacht lange hinter uns. Ich saß in
Laras Redaktionsbüro, blätterte in einem ihrer Magazine und wartete
darauf, dass Lara endlich ihren Computer ausschalten würde.
„Nur noch fünf Minuten“, behauptete sie seit etwa einer
Stunde. Ich wollte noch eine Kleinigkeit essen, ich wollte etwas
trinken, ich wollte mich endlich ins Nachtleben Hamburg-Mitte
stürzen. Aber noch dringender wollte ich mit Lara zusammen sein.
Also widmete ich mich geduldig einem der Hochglanzmagazine, mit
deren Produktion Lara ihren Lebensunterhalt verdiente.
female nannte sich die Zeitschrift. Ein Blatt für junge
Frauen. Ein ziemlich gewagtes Blatt übrigens. Frech, politisch
ziemlich weit links, und auf jeder dritten Seite ein nackter Kerl.
Sex war eindeutig das Hauptthema.
In dem Exemplar zum Beispiel, indem ich an jenem Abend
blätterte, fand ich Erfahrungsberichte von Frauen über ihre
Orgasmusfähigkeit, Tipps zur Steigerung derselben mittels Gymnastik
und schwüler Phantasien, und Beschreibung reizvoller und
ungewöhnliche Stellungen bei der schönsten Sache der Welt. Mit
Fotos, versteht sich.
Ich wunderte mich, dass dieses Magazin noch keine Initiative
„Eltern für die moralische Rettung ihrer Kinder und den Rest der
Welt“ auf den Plan gerufen hatte.
Lara und ihre Kolleginnen schienen der Ansicht zu sein, dass
junge Frauen den ganzen Tag lang an nichts anderes denken als an
Sex.
Offen gesagt: Diese Einsicht stimmte mich zuversichtlich.
Immerhin lag noch eine halbe Nacht vor uns.
Hin und wieder warf ich einen Blick auf die andere Seite des
Schreibtisches. Hinter dem Monitor die schwarzen Locken Laras, ihr
kaffeebraunes Gesicht, ihre kupferfarbenen Augen. Lara Bernson –
eine Frau, die es fertig brachte, mich still und geduldig an einen
Stuhl neben ihren Schreibtisch zu fesseln. Inzwischen schon eine
Stunde lang.
Sie bemerkte meinen Blick und lächelte. „Noch fünf
Minuten.“
Seit knapp vier Wochen kannten wir uns. Chaotische vier
Wochen. Mal hatten wir tagelang nichts voneinander gehört, mal
stundenlang miteinander telefoniert. Einmal bis in den frühen
Morgen hinein.
Mal hatten wir halbe Nächte in Bars, Kinos oder auf Konzerten
verbracht, mal war ein Treffen schon nach ein paar Minuten vorbei,
weil wir aus heiterem Himmel Streit bekamen, oder weil die Zentrale
mich über Handy zu irgendeinem neuen Fall beorderte.
Kurz und schlecht: Weiter als bis zu ihrer Haustür hatte ich
es noch nicht gebracht.
Es war ein einziges Hin und Her. Lara hatte was gegen meinen
Job. So einfach war das. Und vermutlich lag das nicht einmal so
sehr an meinen Job, als an Laras hässlichen Kindheitserinnerungen:
Ihr Vater war Bundeskriminalamt-Beamter gewesen. Unten in München.
Sie hatte ihn nicht allzu oft zu Gesicht bekommen. Und als sie
fünfzehn war, starb er durch eine Kugel. xxx
Wahrscheinlich wäre es klüger gewesen, Lara zu vergessen. Doch
– das wäre vernünftig gewesen. Aber es gibt da ein paar Dinge
zwischen Himmel und Erde, gegen die ist auch die Vernunft machtlos.
Zum Beispiel gegen die Liebe.
Jedenfalls waren wir für diesen Abend verabredet. Oder besser
für die Nacht. Mein Blick fiel auf ihre große, schwarze
Umhängetasche. Ich hoffte, Lara hatte ihre Zahnbürste
eingepackt.
„Fertig.“ Ihre raue Altstimme.
Überrascht sah ich auf. „Schon?“
„Werd nicht zynisch, Uwe“, sagte Lara spitz. „Ich glaube, ich
hatte noch nie das Vergnügen erfolgreich auf dich zu warten.“ Sie
schaltete den Rechner aus.
„Hättest du denn gewartet?“
Sie sagte nichts, sondern kam um den Schreibtisch gelaufen,
zog mich vom Stuhl hoch und küsste mich. Eine deutlichere Antwort
hätte ich mir nicht wünschen können.
„Und jetzt habe ich Hunger.“ Sie schnappte sich ihre Tasche
und schlüpfte in ein schwarzes Spitzenteil, das weder Hemd noch
Jackett war, aber wohl beides ersetzen sollte.
Ihre gesamte Kleidung war übrigens schwarz – Pumps,
Stretchhose, Seidenshirt. Alles schwarz. Sogar das Ziffernblatt
ihrer kleinen, rechteckigen Uhr.
Es war gegen ein Uhr nachts, als sie ihr Büro und den
Haupteingang zu den Redaktionsräumen des female abschloss. Mit dem
Aufzug fuhren wir aus der oberen Etage in die Tiefgarage des
mehrstöckigen Hochhauses. „Wo kriegen wir jetzt noch was zu
essen?“
„Wie wäre es mit dem Alten Ritter?“ In der ältesten Kneipe
Hamburg-Mitte bekam man auch nachts noch den einen oder anderen
Snack.
„Gute Idee.“ Sie schmiegte sich an mich. Ich umarmte sie und
genoss ihren warmen, festen Körper unter meinen Händen. Ihre
Bewegungen, ihre Augen, ihre Hände – alles an ihr sprach eine
eindeutige Sprache. Sie hatte ihre Zahnbürste dabei. Eine
fantastische Nacht lag vor uns …
Wir stiegen in meinen Sportwagen und rollten aus der
Tiefgarage. Ein paar Minuten später fuhren wir den nördlichen Ring
entlang.
Mein Autotelefon orgelte los. Lara zuckte zusammen. Aus den
Augenwinkeln nahm ich es wahr. Ich nahm ab. „Jörgensen?“
Der Chef selbst war in der Leitung. „Gut, dass Sie noch
unterwegs sind, Uwe. Ich brauch jemanden in Altona-Nord.
Dringend.“
„Was liegt an?“ Ich ging vom Gas. Lara neben mir hatte einen
Taschenspiegel ausgepackt und das Licht des Wagenhimmels
eingeschaltet. Sie zog sich die Lippen nach.
„Polizeihauptkommissar Lövenstein vom siebten Revier hat
angerufen. Einer seiner Leute ist in der Norderreihe erschossen
worden. Während eines Einsatzes.“
„Heute Abend?“, fragte ich verwundert. Wenn ein Polizist
getötet wurde, lag es im Ermessen des Revierleiters die
Ermittlungsarbeit unserer Behörde zu beantragen. Normalerweise
dauerte es ein paar Tage, bis so ein Antrag bei uns im Präsidium
landete.
„Vor nicht mal einer Stunde“, sagte Jonathan Bock. „Auf dem
Parkplatz neben der Playground Bar. Der Polizeihauptkommissar hatte
es eilig. Fragen Sie mich nicht, warum.“
„In Ordnung – ich fahr hin.“ Ich hängte ein.
Laras Miene verriet keine Gefühle. „Hoffentlich überfordere
ich dich nicht, wenn ich dich bitte, mir vorher noch ein Taxi zu
bestellen.“ Ihre raue Stimme klang unbeteiligt.
„Sorry, Lara“, sagte ich heiser. „Tut mir Leid, wirklich.“ Ich
griff wieder zum Telefon und bestellte ein Taxi zur Hamburg
Universität. Dort ließ ich sie aussteigen.
Sie beugte sich noch einmal zu mir in den Wagen hinein. „Tja,
Herr Jörgensen – Job ist Job, und Frau ist Frau.“ Sie lächelte
bitter. „Ich bin eine schlechte Verliererin, aber das ist mein
Problem. Seien wir zur Abwechslung mal ganz ehrlich: Es hat keinen
Sinn mit uns beiden. Leb wohl, Uwe.“
Sie schlug die Tür zu. Ihre Pumps klapperten über den Asphalt,
als sie zum wartenden Taxi schritt. Ich hätte schreien
können!
5
Luisa starrte auf die nächtlichen Fassaden der Weddestraße.
Kaum Menschen auf dem Bürgersteig, kaum Bars oder Restaurants. Eine
reine Wohngegend war das hier im westlichen Hamburg Horn. Ein
mulmiges Gefühl beschlich Luisa.
Der Wagen hielt. „Wir sind da.“ Der Taxifahrer drehte sich
nach ihr um. „Zwölf Euro, die Dame.“ Luisas Blick fiel auf die
Borduhr. Kurz nach eins. Sie kramte die Geldbörse aus ihrer
Brieftasche und gab ihm vierzehn Euro. „Man dankt. Schönen Abend
noch.“
Luisa kletterte aus dem Taxi und stieg die Vortreppe des
Hauses hoch, neben dessen Eingang die Nummer hing, die ihr der Mann
am Telefon genannt hatte. Aus der Jeanstasche kramte sie ihr
Feuerzeug. Im flackernden Licht der Flamme überflog sie die Namen
auf den Klingelschildern.
Gunnarsson – das war der Name, den der Mann ihr genannt hatte.
Sie drückte den Klingelknopf daneben. „Wer ist da?“ Eine sonore
Stimme aus der Gegensprechanlage.
„Sie haben angerufen“, sagte Luisa. „Wir haben eine
Verabredung.“
Der Türöffner summte. Luisa drückte die Haustür auf. Ein
Lichtschalter leuchtete rötlich im Dunkeln des Treppenhauses. Sie
presste die Handfläche dagegen. Licht flammte auf.
Leise stieg sie die Treppen zum dritten Stockwerk hinauf. Ihre
Hand fuhr in ihre Umhängetasche und tastete das kalte Metall ihrer
kleinen 22er Walther Pistole. Luisa machte den Job seit sechs
Jahren. Sechs Jahre, in denen sie gelernt hatte, jedem zu
misstrauen. Sie legte den Sicherungshebel der Waffe um.
Der Mann im Türrahmen der offenen Wohnungstür im dritten Stock
sah ungefähr so aus, wie sie sich ihn vorgestellt hatte:
Mittelgroß, schmal, kantiges Gesicht, Mitte dreißig. Nur dass er
aschgraues Haar hatte, überraschte sie. Erstens widersprach die
Haarfarbe seinem jungen Gesicht, und zweitens hätte sie auf Grund
der tiefen, sonoren Stimme einen älteren Mann mit schwarzem Haar
erwartet.
„Kommen Sie rein“, sagte er und trat zur Seite. Er trug ein
weißes Hemd und dunkle Bundfaltenhosen. Der Hemdkragen stand offen,
der Krawattenknoten war gelöst.
Luisa schob sich an ihm vorbei. Er schloss die Tür und reichte
ihr die Hand. „Nennen Sie mich Jan. Schön, dass Sie gekommen sind.“
Seine geröteten Augen ruhten freundlich auf ihrem Gesicht. Sie roch
seine Alkoholfahne.
„Luisa.“ Nur flüchtig drückte sie ihm die Hand. Die Begrüßung
irritierte sie.
„Bitte.“ Er wies zu einer Sitzgruppe. Stahlrohr mit
dunkelrotem Kunstleder, ein ovaler Glastisch. Darauf eine fast
leere Rotweinflasche und ein halbvolles Glas.
Luisa blickte sich um, während sie durch den großen Raum
schritt. Die Bücherregale an der Wand waren nur halb gefüllt,
nirgends hing ein Bild, ein großer, schwarzer Musikturm fiel ins
Auge, dezente Jazzklänge schwirrten durch den Raum, zwischen Couch
und einem der Sessel ein Strahler, der die weiße Stuckdecke
erleuchtete. Neben einem großen, rechteckigen Wandspiegel stapelten
sich Umzugskartons.
Gegenüber der Sitzgruppe, auf einer Kommode ein TV-Gerät. Ohne
Ton flimmerte ein Kriegsfilm über den Bildschirm.
Luisa nahm Platz. „Erledigen wir zuerst das Geschäftliche –
ich nehm‘ vierhundertfünfzig Euro. Aber das hat ihnen die Agentur
sicher gesagt.“
Schweigend verschwand der Mann, den sie Jan nennen sollte,
durch eine offene Tür in einen Nachbarraum. Luisa sah ihm nach. Er
ging unsicher. Sie erkannte einen Schreibtisch, einen Monitor und
Aktenschränke.
Gunnarsson zog eine Schreibtischschublade auf. Luisa hörte
Geldscheine rascheln. Neben ihm, über der Lehne eines Bürosessels
hing ein Gurt. Luisa kniff die Augen zusammen. Ein Holster hing an
dem Gurt, und aus dem Holster ragte der Kolben einer Waffe …
„Scheiße“, zischte Luisa. Sie packte ihre Tasche, sprang auf
und hastete zur Tür.
„Was ist los, Luisa?“ Mit fünf Hundertern in der Hand stand er
auf der Schwelle seines Arbeitszimmers. Eine steile Falte zwischen
den grauen Brauen. Er wirkte verblüfft.
„Ich will nichts zu tun haben mit Bullen!“, fauchte
Luisa.
Er verstand nicht gleich. Dann drehte er sich um und blickte
auf seine Waffe. „Ach so.“ Er lächelte müde. „Ich bin kein Bulle.
Ich bin Privatdetektiv.“
Sie taxierte ihn misstrauisch. Sekundenlang standen sie da und
schwiegen, sie an der Apartmenttür, er auf der Schwelle seines
Arbeitszimmers. „Willst du meine Lizenz sehen?“
Luisa nickte. Er ging zurück in sein Arbeitszimmer. Sie hörte
ihn in irgendwelchen Unterlagen kramen. Schon halb beruhigt ließ
sie die Türklinke los. Sie machte einen Schritt an den Umzugskisten
vorbei und drehte sich zum Spiegel um. Schon als kleines Mädchen
war Luisa an keinem Spiegel vorbeigekommen.
Der prüfende Blick auf ihr Spiegelbild beruhigte sie. Eine
hochgewachsene Frau in engen Jeans und einer knappen, roten Bluse
sah ihr entgegen. Hochhackige, rote Pumps, ein Goldkettchen um die
schlanken Fesseln, schwarzes, langes Haar, schmales Gesicht, ein
wenig eingefallen, brauner Teint und ein großer, grell geschminkter
Mund. Große, goldene Kreolen an den Ohrläppchen, halb verdeckt
durch das glatte, glänzende Haar. Luisa Guevarra war eine schöne
Frau.
„Bitte.“ Sie fuhr herum. Ihr Spiegelbild hatte sie den Mann
für Sekunden vergessen lassen. Er stand neben ihr und streckte ihr
ein Papier in einer Klarsichthülle entgegen. Luisa nahm es ihm aus
der Hand und überflog es. Es stimmte – der Grauhaarige war
Privatdetektiv. Sie gab ihm die Lizenz zurück.
Er kramte das Geld aus der Tasche. Vierhundertfünfzig Euro.
Sie nahm es und ließ es in ihrer Umhängetasche verschwinden. „Was
hast du gegen Polizisten?“, wollte er wissen.
Luisa ging zurück zur Sitzgruppe. Die hohen Absätze ihrer
Pumps klapperten über das Parkett. „Ich hasse sie“, sagte sie
leise. Sie warf ihre Tasche auf die Couch und begann ihre Bluse
aufzuknöpfen. „Wie willst du es haben?“, fragte sie.
Er beobachtete sie. Nichts Ungewöhnliches für Luisa. Die
wenigsten stürzten sich sofort auf sie. Fast alle brauchten ein
bisschen Zeit, um in Fahrt zu kommen. Fast alle aßen zuerst mit den
Augen. Sie streifte sich die Bluse über die Schultern und bot ihm
ihre spitzen, braunen Brüste.
Gunnarsson betrachtete sie wie zwei exotische Früchte. Langsam
kam er auf sie zu. Sein Gang hatte etwas Schleppendes. Als würde
der Mann einen schweren Rucksack auf dem Rücken tragen. Trug er
aber nicht. Zum ersten Mal sah sie ihm bewusst in die geröteten
Augen. Sie waren so grau wie sein Haar. Und sie waren voller
Trauer.
Er ließ die Lizenz auf den Glastisch fallen, streckte beide
Arme aus, griff nach ihrer Bluse und zog sie ihr wieder über die
Schulter. Das Lächeln, das dabei über seine Miene flog, ging Luisa
unter die Haut. Ein wehmütiges Lächeln, voller Trauer und
Hoffnungslosigkeit.
Die ganze Zeit betrachtete er ihre Brüste, während er die
Bluse wieder zuknöpfte.
„Setz dich“, sagte er. „Trinkst du Wein?“ Ohne die Antwort
abzuwarten ging er zum Regal und holte ein Weinglas heraus.
Luisa sank auf die Couch. Sie war eine Nutte. Eine ziemlich
abgebrühte Nutte. Doch dieser Kerl erstaunte sie.
Er stellte das Glas vor sie auf den Glastisch, füllte es und
schenkte auch sich selbst nach. „Normalerweise wäre ich schon tot.“
Er reichte ihr das Glas. „Ich hab Munition gesucht.“ Mit einer
Kopfbewegung deutete er in sein Arbeitszimmer, wo der Waffengurt
über der Stuhllehne hing. „Die Trommel ist leer.“
Er nahm sein Glas auf. „Als ich die Kommodenschubladen nach
einer frischen Packung durchwühlte, wurde die Nummer deiner Agentur
eingeblendet.“
Luisa blickte zur Mattscheibe. Drei Kampfjets stürzten sich
aus dem Himmel auf einen Flugzeugträger herab. Sie wusste, dass
ihre Agentur im Fernsehen warb. Langsam begriff sie. „Du … du
wolltest dich … du wolltest dich umbringen?“
Er stieß sein Glas gegen ihres. „Auf dein Wohl, Luisa.“
6
Ein halbes Dutzend Streifenwagen mit blinkenden Blaulichtern
bildeten einen halbkreisförmigen Wall rund um den Parkplatz neben
der Bar. Uniformierte drängten Gaffer und Mediengeier zurück. Das
übliche Bild.
Ich schlüpfte unter dem Trassierband hindurch. Grelles
Scheinwerferlicht beleuchtete parkende Fahrzeuge und gut zwanzig
Männer und Frauen, die dazwischen herumliefen oder neben reglosen
menschlichen Körpern knieten: Polizeifotografen, Mitarbeiter der
Spurensicherung, Uniformierte, Polizeiärzte. Ich erkannte die
massige Gestalt von Alexander Theissen. Der Chefpathologe kniete
neben einem jungen, farbigen Mann. Einem toten Mann.
Ein Uniformierter erkannte mich und kam auf mich zu. „Das ging
aber flott, Uwe.“ Polizeihauptkommissar Erik Lövenstein, der Leiter
des siebten Polizeireviers.
Ein untersetzter Mann Anfang vierzig. Rotes, rundes Gesicht,
helles Stoppelhaar unter der Schirmmütze, Koteletten fast bis zum
Unterkiefer. Er bewegte sich zielstrebig und zackig. Seine
Vergangenheit als Soldat verriet sich in jeder seiner hölzern
wirkenden Gesten. Wir begrüßten uns.
„Was ist passiert, Erik?“, fragte ich.
„Eine große Scheiße ist passiert!“ Er sprach so schnell, wie
er sich bewegte. „Wir haben zwei Streifenwagen hierher geschickt.
Ein Mann hat einen Notruf losgelassen. Zwei Burschen wollten an
seine Brieftasche, wie es aussieht. Einen meiner Männer hat es
erwischt.“
Ich blickte mich um. Vier Tote zählte ich. Zwei legten die
Kollegen gerade in Leichensäcke. Der Polizeihauptkommissar bemerkte
wohl meine fragende Miene. „Und die beiden Mistkerle sind auch
tot“, kam er meiner Frage zuvor. „Und der Mann, der den Notruf
losgelassen hat, auch“, sagte er zerknirscht.
Ich schüttelte den Kopf. Mir fehlten die Worte.
„Die Sache ist klar, Uwe. Trotzdem – mir ist wohler, wenn ihr
einen Blick darauf werft.“
„Warum?“ Ich hatte das Gefühl, dass er nicht alles aussprach,
was ihn beschäftigte.
„Einfach so.“ Er wich meinem Blick aus. „Du weißt, dass ich
ein gründlicher Mensch bin.“ Tatsächlich hatte Lövenstein den Ruf
eines Perfektionisten in der Polizei Hamburgs.
Er nahm mich am Arm und führte mich zu einem
Ambulanz-Transporter. Ärzte und Sanitäter waren dort mit drei
Uniformierten beschäftigt. Einer lag auf einer Trage im Inneren des
Wagens. Zwei hockten auf dem Trittbrett der offenen Seite und
rauchten.
Ich blieb am Heck des Wagens stehen und blickte hinein. Ein
Arzt spritzte dem Beamten auf der Trage ein Medikament in den
Infusionsschlauch. „Hauptmeister Jonas Förster“, erklärte
Lövenstein. „Steht unter Schock.“
Wir gingen um den Transporter herum zu den beiden Beamten, die
in der offenen Seitentür hockten. Sie hoben die Köpfe. Müde,
stumpfe Augen blickten mich an. Augen von Männern, die man gerade
durchgeprügelt hatte.
„Hauptwachtmeister Paul Böddeker und Hauptmeister Thilo
Sievers“, stellte der Polizeihauptkommissar sie vor. „Das ist
Kriminalkommissar Uwe Jörgensen, Jungs. Könnt ihr ihm nochmal
erzählen, was passiert ist?“
Böddeker, ein schmalbrüstiger, dürrer Bursche von höchstens
sechsundzwanzig Jahren und mit rotem, dünnem Haar senkte den Blick
wieder. Der andere, Hauptmeister Thilo Sievers, erzählte
stockend.
„Wir rannten auf den Parkplatz … Hubert und ich … die Burschen
schlugen auf den Mann ein … wir konnten nicht schießen, es war
dunkel … wir wussten nicht gleich, wer die Täter, wer das Opfer ist
… Hubert … Hauptwachtmeister Kosters packte einen der Kerle, der
schlug ihm die Waffe aus der Hand … der Mann muss sie erwischt
haben … der Mann, der die Zentrale angerufen hat … jedenfalls
schoss er plötzlich um sich.“
Seine Stimme versagte. Er warf seine Zigarette weg und verbarg
das Gesicht in seinen großen, fleischigen Händen.
Ich betrachtete den breitschultrigen Mann. Auf Mitte vierzig
schätzte ich ihn. Schweiß glänzte auf seiner ausgeprägten
Stirnglatze. Seine Arme waren muskulös und stark behaart, sein
Gesicht, nun von den kräftigen Händen verdeckt, war breit und
erinnerte entfernt an einen Boxerhund. Das Gesicht eines
Gemütsmenschen. Wahrscheinlich heulte er seine Tränen in die Hände.
Und wahrscheinlich schämte er sich dafür. Der Mann tat mir
leid.
„Schon okay, Hauptmeister“, sagte ich. „Es ist hart, seinen
Partner zu verlieren.“ Ich klopfte ihm auf die Schulter. „Ich melde
mich bei Ihnen, dann reden wir nochmal über alles.“
Ich nickte Lövenstein zu. Er setzte sich zwischen seine Männer
in den Wagen. Ich wandte mich ab. Im harten Scheinwerferlicht sah
ich die gewaltige Gestalt des Chefpathologen. Alexander Theissen
war einen halben Kopf größer als ich und wog fast dreihundert
Pfund. Er stand vor einer der Leichen und streifte sich gerade die
Latexhandschuhe ab. Ich ging zu ihm.
„Hi, Uwe. Wo hast du deinen Partner gelassen?“ Er steckte die
Handschuhe in einen Cellophanbeutel und ließ ihn in seine offene
Arzttasche fallen.
„Irgendwo in der Unendlichkeit unseres hübschen Städtchens.
Ich hab ihn seit fünf Stunden nicht mehr gesehen.“
Roy war mit einer Frau zusammen. Einer Frau, die ich nicht
kannte. Noch nicht. Zu dem Zeitpunkt wusste ich nur, dass sie
Karola hieß und beruflich in Köln zu tun hatte.
Dort hatte Roy sie während eines Kurzurlaubes kennengelernt.
Gestern war sie auf dem Helmut Schmidt Airport gelandet. Vermutlich
hatte Jonathan Bock auch versucht, Roy anzurufen. Und vermutlich
hatte er gerade keine Hand frei um sein Handy zu bedienen.
Ich blickte hinunter auf den Toten zu Alexanders Füßen. Ein
farbiger Mann. Das Jackett seines Anzugs und sein weißes Hemd waren
voller Blut. Seine rechte Schädelhälfte ein dunkelroter Krater.
„Was kannst du mir erzählen?“
„Mindestens vier Kugeln.“ Der Pathologe holte eine Schachtel
Benson & Hedges aus seinem Jackett. Er bot mir eine an. Ich
griff zu. „Die Jungs, die ihn überfallen haben, sind ebenfalls
Dunkelhäutige. Einer von ihnen hat ihm angeblich die Polizeiwaffe
aus der Hand gerissen und das restliche Magazin auf ihn
abgeschossen.“
„Angeblich?“ Eine dünne Flamme schlug aus seinem silbernen
Feuerzeug. Ich beugte mich darüber und zündete meine Zigarette
an.
„Du kennst mich doch, Uwe.“ Seine wulstigen Lippen spitzten
sich, als er die Zigarette in die Flamme hielt. „Ich bin
Naturwissenschaftler. Von Tatsachen spreche ich selten.“ Der Rauch
seiner Zigarette stieg in das Scheinwerferlicht hinauf. „Und wenn,
dann erst, wenn ich glaube, sie bewiesen zu haben. Bis dahin
spreche ich lieber von Theorien.“
„Und die anderen?“
„Die Kerle, die ihn überfallen haben, sind geradezu mit Kugeln
gespickt. Auch Dunkelhäutige übrigens.“
„Und der Polizist?“
„Hauptwachtmeister Kosters?“ Er machte eine Kopfbewegung nach
rechts. Dort zogen zwei Mitarbeiter des Zentrallabors den
Reißverschluss eines Leichensacks zu. „Schau ihn dir an. Eine
Kugel. Durch die Stirn mitten ins Hirn.“
Er bückte sich nach seiner Tasche. „Ich lass von mir hören,
Uwe.“ Ich sah ihm hinterher, wie er zu seinem alten Volvo
schaukelte.
Die Männer des Zentrallabors trugen den Leichensack mit dem
Hauptwachtmeister an mir vorbei. „Kann ich ihn nochmal sehen?“ Sie
warfen sich missmutige Blicke zu. Einer zuckte mit den Schultern.
Sie setzten den Leichensack ab und zogen den Reißverschluss ein
Stück hinunter. Soweit, dass ein wächsernes Gesicht zum Vorschein
kam.
Ich ging vor dem Leichensack in die Hocke. Eine dünne Spur
geronnenen Blutes zog sich von einem Loch in der Stirn zur rechten
Schläfe.
Kosters konnte nicht wesentlich älter als ich gewesen sein.
Ich fragte mich, ob er während seiner Laufbahn als Polizist daran
gedacht hat, eines Tages durch eine Kugel zu sterben. So wie ich
oft daran denke. Und ich fragte mich, ob er mit Angst daran gedacht
hatte. Bitterkeit und Zorn stiegen in mir hoch und machten mir das
Atmen schwer.
„Ich weiß ja nicht, was Sie vorhaben“, knurrte der Beamte am
Fußende des Leichensacks. Ungeduldig wippte er auf den Schuhsohlen
auf und ab. „Nur für den Fall, dass Sie den Mann verhören wollen –
er ist tot.“
7
Gunnarsson redete. Stundenlang redete er. Trank Wein ohne
Ende, rauchte Zigaretten ohne Ende und erzählte seine Geschichte.
Luisa hörte die meiste Zeit nur zu. Am Anfang musste sie sich
zwingen. Doch mehr und mehr begann sie der Mann zu
interessieren.
Er hatte ein paar Jahre an der Börse gearbeitet. Und eine
Menge Euros gemacht. Ein Leben wie aus dem Bilderbuch: Karriere als
Broker, glücklich verheiratet, ein Haus in Finkenwerder, ein Kind.
Ein Junge. Frederick hieß er. Fast in jedem dritten Satz fiel der
Name.
Vor drei Jahren hatte die Frau ihn verlassen. War nach Harburg
gezogen. Zu einem anderen. Gunnarsson hatte sich mit Drogen und
Alkohol betäubt. Und dann die übliche Leier – Kündigung, Schulden,
Scheidung, noch mehr Schulden.
Der Junge war es gewesen, der ihm Halt gegeben hatte.
Frederick und immer wieder Frederick. Fast beglückwünschte sich
Luisa dafür, dass es in ihrem Leben nichts gab, was sie zu
verlieren hatte.
Gunnarsson hatte sich eine Existenz als Detektiv aufgebaut.
Das Geschäft lief mehr schlecht als recht. Aber es lief. Mindestens
einmal in der Woche sah er seinen vierjährigen Sohn. Und fast jedes
zweite Wochenende. Bis vor drei Tagen. Die Exfrau und ihr neuer
Lover waren nach Berlin gezogen. Mit dem Kind.
Heimlich hatten sie es geplant. Kein Wort hatten sie
Gunnarsson vorher gesagt. Er wollte den Jungen zum gemeinsamen
Wochenende abholen und fand einen Möbelwagen vor dem Haus. Die
neuen Mieter zogen schon in die leere Wohnung. Und jetzt stand er
vor dem Nichts.
„Wenn ich die Patronen vor eurem Werbespot gefunden hätte“,
seine Zunge war schwer, seine Augen klein, „das Problem wäre schon
aus der Welt geschafft.“ Er blickte in sein Arbeitszimmer. Zum
Waffenholster über der Stuhllehne vor seinem Schreibtisch.
„Du tust mir Leid“, sagte Luisa. „Aber nicht, weil deine Frau
dich verlassen hat und nach Berlin gezogen ist. Das ist normal.
Tausenden passiert sowas. So ist das Leben.“ Sie musterte sein
bleiches Gesicht. Er war älter als sie. Und hatte noch nicht
verstanden, wie das Leben ist. „Du tust mir Leid, weil du den
falschen erschießen wolltest.“
Er machte eine begriffsstutzige Miene.
„Ich an deiner Stelle wäre stinksauer“, sagte Luisa. „Und
hätte Lust, sie zu erschießen.“
Er grinste bitter. „Komisch“, sagte er leise. „Auf die Idee
bin ich gar nicht gekommen.“
„Deine Schwäche, Jan. Warst du immer so? Frauen stehen nicht
auf Schwächlinge.“
„Knallhart“, lallte er. „Du bist knallhart, Luisa.“
„Schon möglich.“ Sie wunderte sich über sich selbst. Der Mann
gefiel ihr. Weil er genau das hatte, was sie ihm vorwarf. Weil er
weich war. Weich und verletzlich.
„Erzähl mir deine Geschichte.“ Er sprach verwaschen. Kaum noch
konnte er gerade auf dem Sessel sitzen.
„Eine Geschichte wie hundert andere.“ Sie leerte ihr Weinglas.
„Ich bring dich jetzt ins Bett.“ Sie stand auf und zog ihn aus dem
Sessel. Er klammerte sich an ihre Schulter und lotste sie in sein
Schlafzimmer. Auch dort keine Bilder an der Wand und ein Dutzend
Umzugskartons auf und vor dem Schrank.
Luisa zerrte ihn zum Bett. Rücklings ließ er sich fallen.
„Erzähl mir von dir“, lallte er.
„Es gibt nichts zu erzählen.“ Sie zog ihm Schuhe, Socken und
Hosen aus. „Eine Kindheit in Barcelona, die ich glücklicherweise
vergessen habe. Dann nach Deutschland, um Schauspielerin zu
werden.“ Er richtete sich schwankend auf, um sich von ihr aus dem
Hemd helfen zu lassen. „Dann auf dem Straßenstrich in St. Georg,
bis die scheiß Bullen mich erwischt haben. Und seit zwei Jahren
Callgirl.“
Sie zog ihm die Unterhose herunter und beugte sich über seinen
Schwanz. Er griff nach ihrem Kopf und zog sie zu sich. „Du hast
bezahlt“, sagte sie. „Also tu ich dir noch was Gutes.“ Sie drückte
seine Hände von ihrem Kopf weg.
„Ja“, flüsterte er. „Tu mir was Gutes.“
„Sag mir, was ich tun soll. Es ist mein Job, und du hast
bezahlt.“
Gunnarsson streichelte ihre Wange, ihr Haar, ihre Brüste.
Luisa konnte sich nicht erinnern, dass ein Mann sie jemals so
zärtlich berührt hatte. „Komm wieder“, sagte er.
8
„Morgen, Uwe!“ Ein gut gelaunter Roy stieg zu mir in den
Sportwagen. „Nun? Wie stehen die Aktien?“ Er strahlte über das
Gesicht.
„Sie könnten schlechter stehen.“ Ich war unausgeschlafen und
frustriert. Die Pleite mit Lara setzte mir zu, und die vier Toten
auf dem Parkplatz der Playground Bar hingen mir in den Knochen. Ich
setzte den Blinker und steuerte meinen roten Schlitten vom
Straßenrand weg.
„Klingt irgendwie mittelmäßig.“ Roy senkte sein Seitenfenster
herab, beugte sich zu mir über das Lenkrad und drückte auf die
Hupe. Dann streckte er den Arm zum Beifahrerfenster heraus und
winkte.
„Hat sie bei dir geschlafen?“ Ich fädelte mich in den
morgendlichen Verkehr ein.
„Ließ sich nicht vermeiden“, sagte er. „Karolas Apartment ist
besetzt. Sie hatte es für die Zeit ihres Köln-Trips ihrer jüngeren
Schwester zur Verfügung gestellt. Und jetzt haust eine ganze
Wohngemeinschaft darin.“
Roy hatte Karola über einen Monat zuvor in Köln kennengelernt.
Sie arbeitete dort für eine Schnellimbiss-Kette. „Schön für dich“,
sagte ich.
„Korrekt.“ Er hörte gar nicht mehr auf zu strahlen. „Schön für
mich.“ Ich spürte seinen prüfenden Blick von der Seite. „Irgendwas
schiefgelaufen mit Lara?“
Die Blechflut der morgendlichen Rushhour kroch träge über den
Mönckebergstraße. „Kann man so sagen. Der Abend war schon so gut
wie in trockenen Tüchern – da hat der Chef angerufen.“
„Herzlichen Glückwunsch.“
„Ein toter Polizist in Altona-Nord – Lara war begeistert. Sie
hat aus dem Stand einen Schlussstrich gezogen.“
„Mist!“ Roy klopfte mir auf die Schulter. „Tut mir leid, alter
Freund. Hättest du mich angerufen – ich hätte mich an deiner Stelle
auf die Socken gemacht. Karola ist stolz, einen Sonderermittler zum
Freund zu haben.“
„Nett von dir“, sagte ich. „Aber das hätte ich nicht übers
Herz gebracht. Kennst mich doch.“
Die Ampel am Steintordamm sprang auf Rot. Ich ging vom Gas und
hielt an.
„Was ist passiert auf diesem Parkplatz?“, wollte Roy
wissen.
„Etwas sehr Hässliches.“ Ich erzählte ihm von den Ereignissen
der Nacht.
„Scheußlich.“ Roy schüttelte den Kopf. „Klingt aber nicht nach
übermäßig viel Arbeit. Der Fall scheint klar zu sein, oder?“
„Ja“, sagte ich. „Der Fall scheint klar zu sein.“
Etwas mehr als eine halbe Stunde später saßen wir mit den
anderen am Konferenztisch des Chefzimmers. Morgendliches Briefing.
Stefan und Ollie gaben ihren Bericht ab, Tobias und Ludger gaben
ihren Bericht ab.
Beide Teams beschäftigten sich mit Routinefällen. Stefan und
Ollie waren einem Schlepperring auf den Fersen, der illegale
Einwanderer aus Nordafrika nach Deutschland schleuste. Ludger und
Tobias durchforsten das Internet nach Anbietern von
Kinderpornographie. Zusammen mit zwei Spezialisten aus
Berlin.
Auch der Fall, über den ich zu berichten hatte, klang nach
einem Routinefall. „Werden uns die Schüsse an der Playground Bar
länger beschäftigen, Uwe?“, fragte der Chef.
„Sieht nicht so aus.“ Ich wandte mich an die anderen. Außer
Roy wussten sie noch nichts von den Ereignissen der vergangenen
Nacht in Altona-Nord. „Ein Mann, ein Schwarzer, wurde von zwei
jungen Dunkelhäutigen überfallen. Auf einem Parkplatz neben der
Playground Bar.“
Tobias und Ludger nickten. Sie schienen die Bar zu
kennen.
„Der Mann konnte einen Notruf absetzen. Zwei Streifenwagen
fuhren nacheinander den Tatort an. Als die erste Besatzung auf dem
Parkplatz erschien, hatten die Burschen den Mann schon aus dem Auto
gezerrt. Sie wollten ihre Dienstwaffen nicht benutzen, um das Opfer
nicht zu gefährden. Es kam zum Handgemenge, einer der Uniformierten
verliert seine Waffe, der Mann erwischt sie und ballert voller
Panik um sich. Ergebnis: Ein toter Polizist, zwei tote
Straßenräuber, und das Opfer selbst starb ebenfalls.“
„Jesus!“, stöhnte Ludger.
„Wer hat den Mann erschossen, der den Notruf losließ?“, wollte
Stefan wissen.
„Noch nicht ganz klar.“ Ich zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht einer seiner Kollegen aus dem zweiten Streifenwagen –
Dr. Theissen wird wohl gerade die Kugeln aus den Toten schneiden.
Morgen haben wir seinen Bericht. Dann wissen wir mehr.“
„Klingt nach einem tragischen Unglücksfall“, sagte
Ollie.
„Die Ermittlungen werden sich wohl auf die Berichte der
Pathologie beschränken“, sagte der Chef. „Und die der
Spurensicherung.“
„Etwas an der Sache ist komisch“, knurrte Tobias. „Ein
Polizist kommt bei einem Einsatz ums Leben. Traurig, okay – aber
kommt leider vor. Wieso beantragt sein Chef unsere
Ermittlungsarbeit? Kann mir das jemand erklären?“
Ein paar Sekunden lang schwiegen alle. Tobias‘ Frage war
berechtigt. Mir fiel sofort das Gesicht des toten Beamten ein – ein
einziges Loch in der Stirn.
„Drei Schwarze sind bei dem Einsatz ums Leben gekommen“, sagte
der Chef. „Die Öffentlichkeit wird empfindlich auf diese Tatsache
reagieren. Ich nehme an, Polizeihauptkommissar Lövenstein wollte
den Eindruck vermeiden, dass hier irgendetwas unter den Teppich
gekehrt werden soll.“
„Hoffentlich geht der Schuss nicht nach hinten los“, brummte
Roy. „Spätestens heute Abend weiß die ganze Stadt, was auf diesem
Parkplatz passiert ist. Wenn wir da mitmischen, wird man sich erst
recht Gedanken machen, ob da alles ganz koscher gelaufen
ist.“
„Ich habe heute Morgen mit der Staatsanwaltschaft gesprochen.“
Der Chef angelte einen Bogen Papier aus dem Stapel seiner
Unterlagen. „Dort rechnet man nicht damit, dass es zu einer Anklage
gegen die Polizisten kommen wird. Aber bevor der Fall zu den Akten
gelegt wird, will man alle Berichte haben.“
„Labor, Ballistik und Pathologie arbeiten hoffentlich schon
fleißig an ihren Berichten“, sagte Roy. „Was bleibt für uns noch zu
tun?“
Der Chef sah Roy und mich an. „Besuchen Sie die drei
beteiligten Kollegen von der Polizei Mitte. Sprechen Sie mit ihnen,
fertigen Sie ausführliche Protokolle der Vernehmungen an.“
9
Schon am Nachmittag ging es im Revier zu wie in einem
Bahnhofsimbiss – ein ständiges Kommen und Gehen.
Die Besatzungen der Streifenwagen brachten Betrunkene, kleine
Drogendealer, Männer, die in Schlägereien verwickelt waren,
Prostituierte, die ihre Dienste illegal auf der Straße anboten, und
so weiter, und so weiter.
Die Hitze, dachte Polizeihauptkommissar Erik Lövenstein. Die
verfluchte Hitze trocknet den Leuten den letzten Rest Verstand aus
den Hirnen!
Mit einem Stapel Unterlagen unter dem Arm lief er an den
Schreibtischen seiner Männer und Frauen vorbei. Schweißperlen
hingen in seinen Koteletten. Das runde Gesicht war krebsrot.
Lövenstein hasste diese heißen Tage.
Von überall her Stimmen und das Geklapper von Schreibmaschinen
und Tastaturen. Personalien wurden aufgenommen, Berichte
geschrieben, Leute schilderten lautstark irgendwelche Überfälle,
Diebstähle, Vermisstenmeldungen, die sie zur Anzeige bringen
wollten.
Auf der anderen Seite des Schaltertresens hockten die Leute
auf den Wartebänken. Zwei Polizisten schoben einen jungen Mann in
Handschellen an den Wartenden vorbei.
Lövenstein sehnte sich nach dem Schichtwechsel und nach einem
kühlen Bier. Aber er würde noch fast fünf Stunden durchhalten
müssen, bis er das Revier verlassen und über die Kennedybrücke nach
Billbrook fahren konnte. Nach Hause.
Er hatte schon die Klinke seiner Bürotür in der Hand, als sein
Name gerufen wurde. „Erik?“ Lövenstein drehte sich um. Hauptmeister
Thilo Sievers stand an der Schwingtür des Eingangsbereichs und
winkte. Im Laufschritt lief er um den Tresen herum und kam auf
Lövenstein zu. Der wartete auf ihn.
„Kann ich dich mal sprechen, Erik?“, fragte Sievers.
Der Polizeihauptkommissar musterte ihn mit ausdrucksloser
Miene. Sievers‘ braune Augen hielten seinem Blick stand.
Hundeaugen, dachte Lövenstein. Ja – Augen wie ein treuer, harmloser
Hund. Mit einer Kopfbewegung winkte er den Hauptmeister hinter sich
her in sein Büro.
Während er sich hinter seinen Schreibtisch setzte, schloss
Sievers die Tür und zog sich die Schirmmütze von seinem großen
Kopf. Seine Glatze glänzte von Schweiß. Er blieb an der Tür
stehen.
„Was gibt‘s, Thilo?“ Lövenstein bot dem Hauptmeister keinen
Platz an. „Warum bist du nicht zu Hause? Ich habe euch dreien frei
gegeben, bis die Sache ausgestanden ist.“
„Zuhause fahren meine Gedanken Karussell.“ Sievers klemmte
sich die Mütze unter den Arm. „Ständig höre ich die Schüsse,
ständig sehe ich Hubert fallen.“
Seine Mundwinkel waren weit heruntergezogen. Tränensäcke
hingen unter seinen Augen. Er hatte eine stumpfe, große Nase. Die
Kaumuskulatur unter seinen ausgeprägten Wangenknochen
arbeitete.
Jedem anderen gegenüber hätte Lövenstein darauf bestanden,
dass er seine Anweisungen befolgte und zu Hause blieb. Doch Auge in
Auge mit dem dienstältesten Hauptwachtmeister schluckte er eine
entsprechende Bemerkung hinunter.
Sievers zog die dichten Brauen hoch. Sie waren genauso schwarz
wie der Haarkranz um seine Glatze. „Warum hast du die
Kriminalpolizeiliche Ermittlungsgruppe des Bundes in die Sache
‘reingezogen?“, sagte er mit seiner rauen, vollen Stimme.
Lövensteins Augen wurden schmal. „Was soll das, Sievers? Ich
bin zufällig der Chef hier, und einer meiner Männer ist während
eines Einsatzes erschossen worden. Außerdem drei Schwarze – was
glaubst du, wie die Presse sich das Maul zerreißen wird? Ich hab‘s
nicht gern, wenn uns nachgesagt wird, wir würden unseren Dreck
unter den Teppich kehren.“
Endlich bewegte sich Sievers von der Tür weg. Langsam kam er
zum Schreibtisch und legte seine Mütze darauf ab. „Jetzt zerreißen
sich unsere Männer das Maul.“ Er fummelte eine Schachtel Marlboro
aus seiner Hemdtasche.
„Schlimm genug, dass sie einen Kameraden verloren haben – nun
sieht es auch noch so aus, als hätten Beamte des Siebten einen
Fehler gemacht.“ Er schlug sich eine Zigarette aus der
zerknautschten Schachtel. „So wirkt das doch, wenn diese
Ermittlungsgruppe bei uns herumschnüffelt.“
„Steck den Glimmstängel wieder ein!“, bellte der
Polizeihauptkommissar. „Bei mir im Büro wird nicht geraucht!“ Der
harsche, militärische Ton, der sowieso immer in seiner Stimme
mitschwang, brach nun voll aus ihm heraus. Viele Freunde hatte er
sich damit im Siebten noch nicht gemacht.
Sievers fixierte seinen Chef ein paar Sekunden lang. Ein
wehmütiger Ausdruck trat in seinen Blick. Er steckte die Zigarette
zurück in die Schachtel, und die Schachtel in die Hemdtasche. „Die
Männer fragen sich, ob du dem Ruf unseres Reviers damit wirklich
einen Gefallen getan hast, Erik?“
Wie von selbst begannen die kurzen fleischigen Finger des
Polizeihauptkommissars auf der Schreibtischplatte herumzutrommeln.
„So? Fragen sie sich das?“ Seine rote Gesichtsfarbe verdunkelte
sich, scharf sog er die Luft durch die Nase ein. „Wenn diese Frage
irgendjemandem den Schlaf raubt, dann soll er zu mir kommen und mit
mir darüber sprechen! Und wer den Mumm dazu nicht hat, der kann
mich mal!“
Sievers betrachtete seine Stiefelspitzen. Langsam nickte er.
„Okay, Erik – ich wollt‘s dir bloß sagen. Du weißt, dass die Männer
mir vertrauen.“
Er nahm seine Mütze vom Schreibtisch des
Polizeihauptkommissars. „Sie haben sich bei mir ausgekotzt, und ich
dachte, es ist fair, wenn ich dir sag, wie die Stimmung …“
„Hör zu, Thilo!“ Lövenstein platzte der Kragen. „Wenn es so
eine Stimmung gegen mich gibt, dann weiß ich, wem ich sie zu
verdanken habe!“ Er wurde laut. Es brauchte nicht viel, um
Lövenstein zum Explodieren zu bringen. Auch so etwas, das seiner
Beliebtheit als Chef nicht unbedingt zuträglich war.
„Ich hab die Schnauze voll davon, dass du meine Leute gegen
mich aufwiegelst!“ Er sprang auf, lief um seinen Schreibtisch herum
und pflanzte sich vor dem um einen halben Kopf größeren Sievers
auf. „Find dich endlich ab damit, dass man mich geholt hat, statt
dich zum Polizeihauptkommissar zu machen! Und jetzt geh nach
Hause!“ Mit ausgestrecktem Arm deutete er auf die Tür. „Das ist ein
Befehl!“
Betont langsam zog sich Sievers zur Tür zurück. Die Klinke in
der Hand drehte er sich noch einmal um. „Du glaubst also, ich würde
Stimmung gegen dich machen?“
„Ich glaub sogar, dass ihr die einzigen seid, denen es nicht
passt, dass die Ermittlungsgruppe des Bundes Huberts Tod
untersucht! Du, Förster und Böddeker!“
Der wehmütige Ausdruck wich schlagartig aus Sievers‘ Augen. Er
wurde blass. „Was willst du damit sagen, Erik?“ Leise, fast
flüsternd klang seine Stimme plötzlich.
Lövenstein wandte sich ab und stach zum Schreibtisch. „Geh
nach Hause, Sievers!“
10
Hauptmeister Jonas Förster wurde noch stationär behandelt. Im
Marienkrankenhaus. Auf dem Weg dorthin blätterte ich in den
Unterlagen, die der Chef uns überlassen hatte. Roy steuerte unseren
Dienstwagen den Mönckebergstraße hinauf. Einen grauen Toyota.
„Der Mann, der die Polizei gerufen hat, war gar kein deutscher
Staatsbürger.“ Erstaunt überflog ich die Personalien des Opfers.
„Rufus Rogers“, las ich laut. „Geboren am 7.3.1962 in London. Ist
dort auch gemeldet.“
„Und was trieb den Unglücksraben in unser schönes Land?“ Roy
schaltete herunter und ging vom Gas. Die Ampel an der Kreuzung
stand auf Rot.
„Keine Ahnung.“ Ich zog ein weiteres Papier aus dem Stapel auf
meinem Schoß. Die Kopie eines Arbeitsvertrages. Man hatte ihn bei
dem Toten gefunden. „Die Transatlantik Traffic Bank hat ihn als
Informatiker eingestellt.“ Ich pfiff durch die Zähne. „Der Vertrag
trägt das Datum von gestern.“
„Das Datum seines Todestages.“ Die Ampel sprang auf grün, Roy
fuhr an.
„Er muss wohl ein Computerspezialist gewesen sein“, vermutete
ich.
„Ein Anwärter auf die reguläre Arbeitserlaubnis also. Brauchen
sie im Vereinigten Königreich keine Computerspezialisten?“
Überall auf der Welt braucht man zur Zeit
Computerspezialisten. Rogers musste einen Grund gehabt haben zu uns
nach Deutschland zu kommen. Einen Grund, über den wir nicht mal
mutmaßen konnten. Sicher war nur eines: Wäre er in London
geblieben, würde er heute noch leben.
„Und die beiden Kerle, die ihn überfallen haben?“
„Dreiundzwanzig und fünfundzwanzig Jahre alt. Stammplatz in
Santa Fu. Beachtliches Vorstrafenregister: Diebstahl, Einbruch,
Drogenmissbrauch.“
„Keine Körperverletzung?“ Ich schüttelte den Kopf. Roy bog in
die nächste Querstraße ein. „Hätte Rogers ihnen seine Brieftasche
überlassen, würden alle drei noch leben.“
„Gut möglich.“
Ein paar Minuten später hielten wir auf dem Parkplatz beim
Marienkrankenhaus. Der Pförtner schickte uns auf die Innere.
Hauptmeister Förster hatte ein Einzelzimmer. Ein Mann Anfang
dreißig saß auf einem Stuhl neben seinem Bett – hager,
kahlgeschorener Schädel, Raubvogelgesicht, hellwache Augen. Er trug
eine helle Cargohose und ein schneeweißes T-Shirt.
Roy und ich zogen unsere Dienstmarken und stellten uns vor.
„Entschuldigung, Herr Förster“, sagte ich. „Auch wenn‘s Ihnen
schwerfällt – wir müssen noch mal über die Schießerei an der
Playground Bar mit Ihnen sprechen.“ Mit einem Blick bedeutete er
Försters Besucher, vor der Tür zu warten.
„Justin ist ein Kollege aus dem Siebten“, sagte Förster. „Es
macht mir nichts aus, wenn er dabei ist.“ Er sprach, als würde er
vor seiner eigenen Stimme erschrecken – hastig und verwaschen, und
ziemlich leise.
Förster hatte ein quadratisches, etwas grobschlächtiges
Gesicht, aber nicht unsympathisch. Strähniges dunkelblondes Haar
hing ihm feucht in die breite Stirn. Seine braungebrannte Haut fiel
mir auf. Vermutlich war er in besseren Zeiten ein erfolgreicher
Weiberheld. Ich schätzte ihn Anfang vierzig.
Der Kahlkopf stand auf und reichte uns die Hand. „Justin
Rosen. Bin Hauptwachtmeister im Siebten.“ Sein Händedruck war
kräftig. „Wollte nach Jonas schauen.“
Ich nickte, und er nahm wieder Platz. „Sind Sie soweit okay,
dass Sie erzählen können?“
„Geht schon“, sagte Förster. Er wirkte blass und eingefallen.
Seine Augen wanderten fahrig zwischen Roy und mir hin und her. Ich
zog mir einen Stuhl an sein Bett. Roy zückte Notizbuch und
Stift.
„Wir kamen später zur Playground Bar als Hubert und Thilo. Ein
oder zwei Minuten.“ Ich musste mich konzentrieren, weil er so
schnell und undeutlich sprach. Womöglich hatte er eine Dosis
Beruhigungsmittel im Blut.
„Schon als wir aus dem Wagen sprangen, hörten wir Schüsse. Wir
rannten auf den Parkplatz … Paul vor mir … quer vor den Hecks
zweier Wagen lag Hubert … wir wussten nicht gleich, dass er es war
… wir sahen nur die Dienstmütze neben ihm … Mündungsfeuer blitzte
zwischen den parkenden Fahrzeugen auf … und dann hörten wir Thilos
Stimme.“
Er deutete meinen fragenden Blick richtig. „Hauptmeister Thilo
Sievers“, erklärte er. „Hauptwachtmeister Kosters‘ Partner.“
„Was sagte er?“, wollte ich wissen.
„Er schrie. Deckung!, schrie er. Paul und ich ließen uns auf
den Asphalt fallen, zogen unsere Waffen und schossen.“ In einer
hilflosen Geste breitete er beide Arme aus. „Was soll ich sagen?
Irgendwann war es vorbei.“
Hinter mir hörte ich das kratzende Geräusch, mit dem Roys
Stift über das Papier schabte. Der Hauptmeister starrte vor sich
hin auf die Bettdecke. Als würde er einen Film auf seiner inneren
Bühne ablaufen sehen. Einen Film, in dem sich die schrecklichen
Sekunden der vergangenen Nacht endlos wiederholten.
„Wir haben uns zuerst nur um Hubert gekümmert … aber er atmete
schon nicht mehr.“ Försters Stimme war jetzt nur noch ein
Flüstern.
Er hob den Kopf. Sein Blick hatte etwas Gequältes. „Später
sahen wir dann die Bescherung.“ Wieder die hilflose Geste. „Ich
weiß nicht, wer von uns den Mann getroffen hat. Den Schwarzen, der
uns gerufen hat … ich weiß es ehrlich nicht.“
11
Zwei Tage nach ihrer ersten Begegnung rief Luisa Gunnarsson
an. Ja, sie rief an. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum.
Oder sie wollte es sich nicht erklären.
„Wie geht‘s dir?“
„Komm zu mir“, sagte Jan Gunnarsson.
Eine halbe Stunde später hielt ihr Taxi in der Weddestraße vor
seinem Haus. Und kurz darauf lagen sie sich in den Armen.
Sie sprachen kein Wort. Er küsste sie, und seine Hände wühlten
sich unter ihr Shirt, während er sie ins Schlafzimmer lotste. Dort
zog er sie aus.
Er nahm sie mit einer Heftigkeit und Leidenschaft, die Luisa
den Atem raubte. Sie zerschmolz unter seinen fordernden
Händen.
Noch nie war es ihr passiert, dass ein Kunde sie zum Orgasmus
gebracht hatte. Der grauhaarige Mann mit dem jungen Gesicht und den
traurigen Augen schaffte das in Nullkommanix. Und er schaffte es
gleich dreimal.
Als sie danach schweigend und nackt auf dem Bett lagen und
rauchten, gestand Luisa sich ein, dass sie verliebt war. Und zwar
so rettungslos verliebt, wie man nur sein konnte.
„Mist“, flüsterte sie.
Gunnarsson blickte sie fragend an. „Was ärgert dich?“
Sie schüttelte den Kopf und küsste ihn. „Nichts. Gar nichts.“
Seufzend presste sie ihre Wange auf seine Brust. Sein Herz schlug
kräftig und langsam. Sie spürte ihr eigenes aufgeregt unter ihren
Rippen herumtanzen. Und musste lachen.
„Was ist so witzig?“, grinste Gunnarsson.
„Nichts“, kicherte Luisa. „ Alles.“ Sie schob sich von der
Matratze und ging zur Tür.
„Bleib bei mir“, sagte Gunnarsson hinter ihr.
Luisa drehte sich um. Ungläubig blickte sie ihn an. „Was hast
du gesagt?“
„Du hast verstanden, was ich gesagt hab.“ Ernst ruhten seine
grauen Augen auf ihrem Gesicht. „Ich will, dass du mit diesem Job
aufhörst und bei mir bleibst.“
Luisa brauchte ein paar Augenblicke, bis sie ihre Sprache
wiederfand. „Und wovon kauf ich mir Zigaretten und
Klamotten?“
„Das krieg‘ ich geregelt.“ Mehr sagte er nicht.
Luisa ging in die Küche. Sie spürte das Parkett kaum unter
ihren nackten Füßen. Ich bin Luisa Guevarra, ich bin eine Nutte,
ich komm aus dem Ghetto, ich bin Luisa Guevarra …
Als müsste sie sich aus einem Traum in die Wirklichkeit
zurückholen, buchstabierte sie sich die hässlichen Fakten ihres
bedeutungslosen Lebens vor.
Auf der Anrichte fand sie die Kaffeemaschine. Sie füllte
Wasser hinein. …ich heiße Luisa Guevarra, ich bin eine Nutte … Im
Schrank fand sie Filter und Kaffeepulver. Ich bin eine kleine,
lächerliche Nutte … und ich bin verliebt …
Der Schalter der Kaffeemaschine leuchtete rot auf, als sie ihn
umlegte. …ich bin verliebt … Sie ließ den Gedanken zu, dachte ihn
wieder und wieder, und spürte ihr Herz in ihrem Brustkorb tanzen.
Und plötzlich wusste sie, dass ihr Leben einen Sinn hatte. Wenn man
liebt, ist nichts mehr bedeutungslos.
Bis in den Abend hinein saßen sie nackt am Küchentisch.
Tranken Kaffee, tranken Wein, aßen Käse, Tomaten und Oliven. Und
redeten und lachten. Luisa suchte vergeblich nach der Trauer in
Gunnarsson Augen. Keine Spur mehr davon. Nichts. Und sie war weiter
nichts als glücklich.
Die Hamburg Post lag auf dem Tisch. Luisa fiel die Zeitung
erst auf, als ihre Augen auf dem Foto der aufgeschlagenen Seite
hängenblieben. Das Lachen auf ihren Zügen gefror.
„Was ist los, Luisa?“ Gunnarsson war verwirrt.
Luisa zog die Zeitung heran. „Schießerei in Altona-Nord“,
lautete die Schlagzeile. Und darunter: „Beamte der Hamburg-Mitte
Polizei erschießen drei Menschen ….“
Luisa überflog den Artikel nur. Das Foto fesselte ihre
Aufmerksamkeit. Das Foto mit zwei der betroffenen Polizeibeamten.
Aus schmalen Augen starrte sie es an. Ihre Lippen wurden zu einem
dünnen, blutleeren Strich. Ihre Kiefermuskulatur bebte. Sie ballte
die Fäuste.
„Himmel, Luisa!“ Gunnarsson kniete neben ihr auf den Boden und
bog ihren Kopf zu sich hinunter. „Was ist mit dir los? Kennst du
diese Männer?“
„Und ob ich sie kenne …“, zischte Luisa. Sie stieß seine Arme
von ihrem Körper weg, packte das Brotmesser vor sich auf dem Tisch
und rammte es durch das Foto hindurch in den Tisch hinein.“
12
„Eine E-Mail von Dr. Theissen!“ Mandy saß hinter ihrem
Schreibtisch und winkte mit ein paar Papieren. Es war drei Tage
nach der Schießerei bei der Playground Bar. Schon am Vormittag war
es so heiß, dass man einen Schweißausbruch riskierte, wenn man sich
aus den klimatisierten Räumen der Präsidium wagte.
Sie reichte mir die Unterlagen. „Danke, Mandy.“ Ich überflog
sie. „Der Bericht aus der Pathologie.“
„Und?“ Roy setzte sich auf Mandys Schreibtisch.
„Hauptwachtmeister Hubert Kosters wurde durch eine Kugel aus
seiner eigenen Waffe getötet. Fingerabdrücke von Rogers auf dem
Kolben. Auch in den Körpern der beiden Jungs fünf Geschosse aus
dieser Waffe. Aber noch ein paar andere.“ Ich reichte die E-Mail an
Roy weiter.
Der pfiff überrascht durch die Zähne. „Die beiden
Straßenräuber sind regelrecht durchlöchert worden. Der eine von
neun Kugeln, der andere von elf.“
„Die Uniformierten müssen gewaltig in Panik geraten sein“,
sagte ich.
„Vier Kugeln hat Alexander aus Rogers Leiche geschnitten.
Merkwürdig.“ Roy machte ein nachdenkliches Gesicht. „Kosters wurde
nur von einer einzigen Kugel getroffen.“
Am Nachmittag schickten wir den Bericht der
Staatsanwaltschaft. Zusammen mit den Vernehmungsprotokollen der
drei Polizisten.
Wir hatten Böddeker und Sievers besucht. Ihre Aussagen deckten
sich im Wesentlichen mit denen Försters.
Am gleichen Abend meldeten sich der Staatsanwalt und der
Ermittlungsrichter bei unserem Chef: Gegen keinen der drei
Uniformierten sollte Anklage erhoben werden. Die Ermittlungen
wurden eingestellt.
Der Fall war erledigt. Am Vormittag des nächsten Tages trat
Jonathan Bock zusammen mit dem Ermittlungsrichter vor die Presse
und gab den Beschluss bekannt.
13
Dietmar Schindler griff nach der Wasserflasche und dem Glas
vor sich auf dem Schreibtisch. Er füllte das Glas, zog die
Schublade seines Schreibtisches auf und holte eine schmale
Plastikschachtel heraus. Nicht mal halb so groß wie ein kleines
Handy.
Unter dem durchsichtigen Deckel konnte man drei Fächer
erkennen. Die ersten beiden waren leer, das rechte enthielt
Tabletten, Kapseln und Dragees. Rote, blaue und weiße, etwa
dreizehn Stück.
Schindler schob den Deckel auf und leerte die Pillen in seine
Hand. Nacheinander steckte er die Tabletten in den Mund und spülte
sie mit dem Wasser herunter.
Eines der Telefone auf seinem Schreibtisch klingelte. Er nahm
ab. „Da ist noch ein Klient gekommen, Dr. Schindler.“ Die Stimme
seiner Sekretärin.
„Habe ich einen Termin übersehen, Lydia?“, wunderte sich der
Anwalt.
„Nein. Der Herr ist nicht angemeldet. Aber er sagt, es sei
sehr dringend.“
„Kenne ich ihn?“
„Er heißt Maier. Gregor Maier – ich glaub, er hat noch nie
Ihre Hilfe in Anspruch genommen.“
„Von mir aus“, brummte Schindler. „Machen Sie ihm einen
Kaffee. Er soll sich einen Augenblick gedulden.“
„In Ordnung, Dr. Schindler.“
Schindler legte auf und sah auf die Uhr. Zehn nach fünf. Um
halb sieben war er mit seiner Frau im Hotel Des Artistes zum Essen
verabredet. Anschließend wollten sie in die Elbphilharmonie. Der
Figaro wurde aufgeführt. Schindler stand auf Mozart.
Er spähte zu dem schmalen Kleiderschrank zwischen seinen
Regalen. Sein weißer Smoking hing dort schon bereit. Er stand auf
und verstaute ihn wieder im Schrank. Noch eine gute Stunde Zeit.
Ich hör mir an, was der Mann von mir will, mach einen Termin mit
ihm aus, und fertig!
Zurück am Schreibtisch holte er eine Blutdruckmanschette aus
der obersten Schublade. Er zog sein Jackett aus, schlug sich den
Hemdsärmel zurück und legte die Manschette an.
Man sah es dem kräftig gebauten Dietmar Schindler nicht an –
aber war ein kranker Mann. Zucker, Bluthochdruck,
Durchblutungsstörungen, zwei Herzinfarkte.
Im vergangenen Herbst eine Bypass-Operation. Wenn er auf
seinen Arzt hören würde, gäbe es weder Alkohol noch Sex in seinem
Leben. Und schon gar keine Arbeit. Der Doktor hatte dem
Zweiundsechzigjährigen dringend geraten seine Anwaltskanzlei
aufzugeben. Zuletzt nach der gelungenen Operation.
Doch Schindler konnte ohne Arbeit nicht leben.
Aufmerksam spähte er auf das digitale Manometer des
Blutdruckgerätes. Hundertfünfzig zu fünfundneunzig. Nicht gut, aber
auch nicht unbedingt tödlich. „Na also“, brummte Schindler.
Er verstaute das Blutdruckgerät wieder in seinem Schreibtisch,
zog sein Jackett an und griff zum Telefon, um diesen Maier
hereinrufen zu lassen.
Das Freizeichen ertönte. Dreimal, viermal, fünfmal. Schindler
runzelte die Stirn. Merkwürdig! Normalerweise ging Lydia immer
sofort an den Apparat. Aber vielleicht war sie gerade im Bad
verschwunden und machte sich frisch. Vermutlich war sie auch
verabredet heute Abend.