43 Gründe, warum es aus ist - Daniel Handler - E-Book
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43 Gründe, warum es aus ist E-Book

Daniel Handler

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Beschreibung

DER Begleiter bei Liebeskummer – witzig, klug und einfühlsam. Jetzt originell illustriert und ausgestattet mit gestaltetem Farbschnitt

Die Chronik einer gescheiterten Liebe, von der ersten Begegnung bis zur Trennung – erzählt anhand von 43 Objekten. Der gutaussehende Ed ist der Star der Basketballmannschaft, die 16-jährige Min eine sensible, künstlerisch begabte Filmnärrin, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Als sich beide auf einer Party begegnen, funkt es gewaltig. Doch beim näheren Kennenlernen zeigt sich, wie grundverschieden sie sind. Ihre Beziehung ist kurz, aber heftig – voller Überraschungen und Entdeckungen, voll Bemühen und Enttäuschung. In einem glühenden Brief erklärt Min Ed, warum es aus ist – und gibt ihm all die Dinge zurück, die in ihrer Beziehung eine Rolle gespielt haben. Ein außergewöhnlich erzählter und gestalteter Roman.

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Seitenzahl: 327

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das ist das Cover des Buches »43 Gründe, warum es aus ist« von Daniel Handler

Über das Buch

Die Chronik einer gescheiterten Liebe, von der ersten Begegnung bis zur Trennung — erzählt anhand von 43 Objekten. Der gutaussehende Ed ist der Star der Basketballmannschaft, die 16-jährige Min eine sensible, künstlerisch begabte Filmnärrin, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Als sich beide auf einer Party begegnen, funkt es gewaltig. Doch beim näheren Kennenlernen zeigt sich, wie grundverschieden sie sind. Ihre Beziehung ist kurz, aber heftig — voller Überraschungen und Entdeckungen, voll Bemühen und Enttäuschung. In einem glühenden Brief erklärt Min Ed, warum es aus ist — und gibt ihm all die Dinge zurück, die in ihrer Beziehung eine Rolle gespielt haben. Ein außergewöhnlich erzählter und gestalteter Roman.

Daniel Handler

43 Gründe, warum es aus ist

Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann

Mit Bildern von Maira Kalman

Hanser

Für Charlotte —

wegen all der Gründe zusammenzukommen

D. H. + M. K.

Lieber Ed, noch eine Sekunde, dann hörst du ein lautes Rums. An eurer vorderen Haustür, die nie jemand benutzt. Gleich drauf werden die Türangeln nachbeben, während dieses schwere, wichtige Etwas am Boden landet, ein kurzes Klirren nach dem Rums, und Joan wird vom Herd aufblicken. Dann wird sie einen besorgten Blick in ihren Topf werfen, denn während sie nachsehen geht, was da war, könnte der Inhalt ja überkochen. Ihre gerunzelte Stirn spiegelt sich in der blubbernden Soße oder was sie da gerade auf dem Herd hat. Aber sie wird gehen, sie wird gehen und nachsehen. Du nicht, Ed. Niemals. Du bist vermutlich oben, verschwitzt und allein. Statt zu duschen, liegst du mit gebrochenem Herzen auf dem Bett, jedenfalls hoffe ich das, und also ist Joan, deine Schwester, diejenige, die die Tür aufmacht, auch wenn dieses Rums dir galt. Du wirst nicht einmal mitkriegen, was da an eure Tür geknallt ist. Du wirst nicht einmal kapieren, wieso.

Es ist ein schöner Tag, mit Sonne und so. Ein Tag, an dem du denkst, dass alles paletti ist. Nicht der passende Tag für das hier, nicht für uns, die wir auch bei Regen rausgegangen sind, zwischen dem 5. Oktober und dem 12. November. Aber jetzt haben wir Dezember, der Himmel leuchtet, und auch mir ist alles klar. Ich will dir sagen, wieso es aus ist, Ed, ich schreibe es dir in diesem Brief, die volle Wahrheit darüber, wieso es dazu gekommen ist. Und die Wahrheit ist, dass ich dich so sehr geliebt habe, verdammt noch mal.

Der Schlag an der Tür, Ed, dieses Rums, das war der Karton. Du sollst ihn haben. Ich hab ihn bei uns im Keller gefunden und mir genommen, als all unsere Sachen einfach nicht mehr in meine Nachttischschublade passten. Außerdem fürchtete ich, meine Mom könnte irgendwas finden, sie schnüffelt mir nämlich gern hinterher. Also habe ich alles in den Karton gepackt und ihn in meinen Schrank gestellt, obendrauf ein Paar Schuhe, das ich nie anziehe. Jedes einzelne Souvenir unserer Liebe, die Glanzstücke und die Trümmer dieser Beziehung, wie der Glitter in der Gosse, wenn der Festumzug vorüber ist, wenn alles mit Füßen getreten wird und was weiß ich. Weg damit, ich knalle es dir zurück in dein Leben, Ed, alles, was in der Schachtel ist, jedes bisschen, das mit dir und mir zu tun hatte. Ich knall dir den Karton vor die Tür, Ed, aber in Wirklichkeit bist du es, Ed, den ich fallen lasse.

Ich geb’s zu, wenn es gleich rums macht, werde ich lächeln. Was in letzter Zeit selten vorgekommen ist. In letzter Zeit hatte ich eher Ähnlichkeit mit Aimée Rondelé in Auch der Himmel weint, einem französischen Film, den du nie gesehen hast. Sie spielt darin eine Mörderin und Modedesignerin, und in dem ganzen Film lächelt sie genau zwei Mal. Das eine Mal, als der Gangsterboss, der ihren Vater umgebracht hat, von einem Haus hinuntergestoßen wird, aber die Szene meinte ich gerade nicht, sondern die ganz am Ende, als sie endlich den Umschlag mit den Fotos bekommen hat und ihn ungeöffnet in diesem sagenhaften Aschenbecher verbrennt; sie weiß, dass es vorüber ist, steckt sich eine Zigarette an, steht da in diesem genialen grünen Kleid und sieht zu, wie ein Amselschwarm um den Kirchturm flattert. Ich sehe die Szene noch genau vor mir. Die Welt ist wieder in Ordnung, das sagt dieses Lächeln. Ich habe dich geliebt, aber hier hast du den ganzen Krempel zurück, raus aus meinem Leben damit, so wie mit dir, das sagt dieses Lächeln. Ich weiß, du kannst es nicht sehen, Ed, du nicht, aber wenn ich dir den ganzen Plot erzähle, vielleicht verstehst du’s dann doch, dieses eine Mal, denn selbst jetzt noch wünsche ich mir, dass du es kapierst. Ich liebe dich nicht mehr, natürlich nicht, trotzdem kann ich dir noch etwas zeigen. Du weißt, dass ich Regisseurin werden möchte, aber all die Filme in meinem Kopf konntest du nie wirklich sehen, und das ist der Grund, Ed, warum es aus ist mit uns.

Auf den Deckel des Kartons habe ich mein Lieblingszitat geschrieben, eins von Hawk Davies, diesem legendären Typen, und gerade schreibe ich dir auf dem Deckel dieses Kartons, damit ich fühle, wie Hawk Davies durch jedes Wort strömt, das ich dir schreibe. Der Lieferwagen von Als Vater holpert so, dass meine Schrift manchmal ganz krakelig ist, Pech für dich, falls du dir die Mühe machst, jedes Wort hiervon zu entziffern. Als ich Al heute Morgen angerufen habe und »Weißt du was?« sagte, kam sofort die Antwort: »Gleich fragst du mich, ob ich dich mit dem Lieferwagen von meinem Vater irgendwo hinfahren kann.«

»Nicht schlecht geraten«, sagte ich. »Nah dran.«

»Nur nah dran?«

»Na gut — du hast es getroffen.«

»Okay, nur eine Sekunde, bis ich die Schlüssel gefunden habe, dann hol ich dich ab.«

»Sie dürften in deiner Jacke sein, von gestern Abend.«

»Auch nicht schlecht geraten.«

»Willst du gar nicht wissen, worum es geht?«

»Das kannst du mir sagen, wenn ich bei dir bin.«

»Ich will es dir aber jetzt sagen.«

»Ist doch völlig egal, Min.«

»Nenn mich La Desperada«, sagte ich.

»Wieso?«

»Ich will zu Ed, ihm die Sachen zurückgeben«, sagte ich, nachdem ich tief Luft geholt hatte. Im nächsten Moment hörte ich, wie auch er einatmete.

»Endlich.«

»Ja. Mein Teil des Abkommens, stimmt’s?«

»Wenn du so weit bist, ja. Heißt das, du bist so weit?«

Noch einmal Luft holen, dieses Mal schon etwas zittriger. »Ja.«

»Bist du traurig deswegen?«

»Nein.«

»Min.«

»Okay, bin ich.«

»Okay, ich hab die Schlüssel. Fünf Minuten.«

»Okay.«

»Okay?«

»Es ist bloß — ich guck gerade auf das Zitat auf dem Deckel, du weißt schon, Hawk Davies. Du fühlst es oder du fühlst es nicht.«

»Fünf Minuten, Min.«

»Al, es tut mir leid, ich hätte nicht —«

»Min, es ist okay.«

»Du musst wirklich nicht. Der Karton ist bloß so schwer, ich weiß nicht —«

»Es ist okay, Min. Und natürlich muss ich.«

»Wieso?«

Er seufzte durchs Telefon, und ich starrte weiter auf den Deckel des Kartons. Das Zitat wird mir fehlen, wenn ich in Zukunft meinen Schrank aufmache, aber du nicht, Ed, schon jetzt nicht mehr. »Weil«, sagte Al, »weil die Schlüssel in meiner Jacke waren, Min, genau wie du gesagt hast.«

Al ist ein richtig, richtig guter Mensch, Ed. Auf seiner Party haben wir uns kennengelernt. Nicht dass er dich eingeladen hätte, damals behauptete er, er habe keine Meinung zu dir, weswegen er dich und deine maulfaulen Sportsfreunde zu seiner Bitter-Sixteen-Party auch nicht eingeladen hatte. Ich war früher aus der Schule gekommen, um bei den Vorbereitungen fürs Essen zu helfen, dem grünen Löwenzahnpesto (mit Gorgonzola statt Parmesan, für den extra bitteren Geschmack), das es zu den Tintenfisch-Gnocchi aus dem Laden seines Vaters geben sollte, der Blutorangen-Vinaigrette für den Obstsalat und dem riesigen schwarzen Schokoladenkuchenherzen (aus 89-prozentigem Kakao), das so bitter war, dass es eigentlich ungenießbar war. Aber du kamst so mir nichts, dir nichts hereinspaziert, ungeladen, mit Trevor und Christian und den anderen, um dann nur schlecht gelaunt in der Ecke zu hocken und nichts anzurühren, außer etwa neun Flaschen Scarpia’s Bitter Black Ale. Ich war ein guter Gast, Ed, aber du hast nicht einmal »Bitter Birthday« zum Gastgeber gesagt und ihm auch kein Geschenk mitgebracht, und deswegen ist es aus.

Das sind die Kronkorken von den beiden Flaschen Scarpia’s Bitter Black Ale, die du und ich an dem Abend in Als Garten geleert haben. Ich sehe noch die hell blinkenden Sterne und unsere Atemwölkchen in der kalten Luft, als wir da standen, du in deiner Mannschaftsjacke, ich in Als Strickjacke, die ich mir immer ausleihe, wenn ich bei ihm bin. Auch dieses Mal lag sie da, gewaschen und gefaltet, als ich nach oben ging, um ihm sein Geschenk zu geben, bevor die Gäste kamen.

»Du solltest mir doch nichts mitbringen«, sagte Al. »Die Party ist schon genug, habe ich dir gesagt, ohne das obligatorische —«

»Gar nicht obligatorisch«, unterbrach ich ihn. Al und ich hatten in unserem Freshman-Jahr die gleichen Wortschatzkarten gehabt. »Ich hab’s zufällig entdeckt. Es ist genial. Mach schon auf.«

Nervös nahm er mir die Tüte ab.

»Komm schon, herzlichen Glückwunsch.«

»Was ist es?«

»Ein Herzenswunsch von dir. Hoffe ich. Jetzt guck schon rein. Du machst mich noch wahnsinnig.«

Raschel, raschel, ritsch, ratsch, dann schnappte er nach Luft. Ein höchst befriedigendes Geräusch. »Wo hast du die denn aufgetrieben?«

»Ist die nicht«, sagte ich, »haargenau wie die, die der Typ in der Partyszene in Una settimana straordinaria trägt?«

Lächelnd sah er in die schmale Schachtel. Darin lag eine Krawatte, dunkelgrün mit eingesticktem kleinem Rautenmuster. Seit Monaten hatte sie in meiner Sockenschublade gewartet. »Nimm sie heraus«, sagte ich, »und trag sie, heute Abend. Ist doch wahr — haargenau, oder?«

»Als er aus dem Porcini XL10 steigt«, sagte er, aber dabei sah er mich an.

»Deine absolute Lieblingsszene von allen Filmen überhaupt. Ich hoffe, du findest sie toll.«

»Und ob, Min, ganz toll. Wo hast du sie entdeckt?«

»Ich hab eine Spritztour nach Italien unternommen und Carlo Ronzi verführt, und als er eingeschlafen ist, bin ich in seinen Kostümfundus und —«

»Min.«

»Flohmarkt. Komm, ich binde sie dir um.«

»Das kann ich selber, Min.«

»Nicht an deinem Geburtstag.« Ich fummelte an seinem Kragen herum. »Damit werden sie dich alle vernaschen wollen.«

»Wer?«

»Mädels. Frauen. Auf der Party.«

»Min, es kommen dieselben Freunde wie immer.«

»Sei dir da nicht so sicher.«

»Min.«

»Bist du nicht langsam so weit? Also ich schon. Die Sache mit Joe ist aus und vorbei, absolut. Dieses Knutsch-Date im Sommer — unmöglich. Und was dich angeht — die aus LA, das ist doch glatt tausend Jahre her —«

»Letztes Jahr war das. Dieses Jahr, genau genommen, aber im letzten Schuljahr.«

»Ja, und jetzt hat unser Junior-Jahr angefangen, und das heute ist die erste große Party. Bist du nicht so weit? Für eine Party und eine Liebesgeschichte und Una settimana straordinaria? Hast du nicht, wie soll ich sagen, Appetit auf —«

»Auf unser Pesto hab ich Appetit.«

»Al.«

»Und ich will mit Leuten Spaß haben. Das ist alles. Es ist ein Geburtstag, weiter nichts.«

»Es ist dein Bitter-Sixteen-Geburtstag! Und du willst mir weismachen, wenn ein Mädchen hier in einem Porcini Sowieso vorfährt —«

»Okay, ja, den Wagen würde ich nehmen.«

»Wenn du einundzwanzig wirst«, erklärte ich, »kaufe ich dir den. Heute Abend gibt’s erst mal nur die Krawatte und noch was —«

Er sah mich an und stieß einen langen, langsamen Seufzer aus. »Du kannst das nicht, Min.«

»Ich erfülle dir deinen Herzenswunsch. Schau mal, das hat schon einmal funktioniert.«

»Ich meinte die Krawatte — das kannst du nicht. Man könnte meinen, du willst eine Kordel drehen.«

»Okay, okay.«

»Aber danke für deine Bemühungen.«

Ich strich ihm übers Haar. »Herzlichen Glückwunsch.«

»Die Jacke liegt da, falls dir kalt wird.«

»Gut, denn ich werde irgendwo draußen zusammengekauert dasitzen, während du dich in der Welt der Abenteuer und Leidenschaften vergnügst.«

»Und des Pestos, Min. Vergiss das Pesto nicht.«

Unten hatte Jordan schon den bitteren Musikmix gestartet, über dem wir stundenlang gebrütet hatten, und Lauren ging mit einem Kaminstreichholz herum und zündete die Kerzen an. Ruhe am Set, so fühlte es sich an, zehn Minuten lang lag ein Knistern in der Luft, und nichts geschah. Dann flog mit Schwung die Tür auf, und eine erste Wagenladung, bestehend aus Monica und ihrem Bruder und diesem Tennistypen, stürmte herein, unterm Arm eine Flasche Wein, die sie bei Monica zu Hause stibitzt hatten (noch in kitschigem Geschenkpapier, sie stammte nämlich von der Hauseinweihung), sie drehten die Musik voll auf, und es konnte losgehen. Was meine eigene Suche anging, hielt ich mich komplett zurück, doch ich sah mich die ganze Zeit nach jemandem für Al um. Leider waren an dem Abend einfach nicht die richtigen Mädchen da, alle hatten sie Glitzer im Gesicht oder waren furchtbar hektisch, hatten keine Ahnung von Filmen oder bereits einen Freund. Irgendwann war es dann schon spät, das Eis in der großen Glasschale war weitgehend geschmolzen und erinnerte an das Ende der Polkappen. Al sagte dauernd, es sei noch zu früh für den Kuchen, und dann, wie ein Song, von dem wir ganz vergessen hatten, dass er auch zu unserem Mix gehörte, tratest du in das Haus und in mein Leben.

Du wirktest stark, Ed. Vermutlich war das immer schon so. Deine Schultern, dein Kinn, deine Arme, mit denen du dir einen Weg durch den Raum bahntest, dein Hals, von dem ich jetzt weiß, dass du dort gern geküsst wirst. Stark und frisch geduscht, selbstbewusst, sogar freundlich, aber nicht wie einer, der gefallen will. Gewaltig wie ein lauter Ruf, entspannt, athletisch. Frisch geduscht habe ich gesagt. Was ich gemeint habe, Ed, war wohl eher: umwerfend. Ich schnappte nach Luft, so wie Al, als er mein geniales Geschenk sah.

»Ich liebe diesen Song«, sagte jemand.

So musst du das immer machen, Ed, wenn du auf eine Party gehst — langsam, lässig durch die Räume schlendern, allen zunicken, aber den Blick immer schon aufs nächste Ziel gerichtet. Einige Leute starrten dich an, ein paar Jungs klatschten dich ab, während Trevor und Christian dich fast wie Bodyguards abschirmten. Trevor war schon völlig blau, und als er durch die Tür verschwand, bist du hinter ihm her. Ich zwang mich, noch so lange abzuwarten, bis der Refrain des Songs wieder losging, dann ging ich hinter euch her. Warum, weiß ich selbst nicht, Ed. Es war ja nicht so, als hätte ich dich bis dahin noch nie gesehen. Jeder kennt dich, du bist so was wie, sagen wir, ein Kinofilm, den jeder irgendwann im Leben mal geschaut hat, alle kennen dich, keiner meint, er hätte dich noch nie gesehen. Es war nur ganz plötzlich so, dass ich dich ganz dringend noch einmal anschauen musste, sofort. Ich quetschte mich also an dem Typen vorbei, der den Preis im Wettbewerb Naturwissenschaften gewonnen hat, warf einen Blick ins Esszimmer und das kleine Nebenzimmer mit den gerahmten Fotos von Al, auf denen er auf den Stufen vor der Kirche steht und sich offensichtlich sehr unbehaglich fühlt. In allen Räumen war es zu voll, zu heiß und zu laut, und ich rannte nach oben, klopfte erst an, für den Fall, dass schon irgendwer in Als Bett gelandet war, schnappte mir die Strickjacke und verdrückte mich unauffällig nach draußen, um Luft zu schnappen und um nachzusehen, ob du vielleicht im Garten warst. Und so war es tatsächlich. Was brachte mich bloß dazu, so was zu tun, dabei zuzusehen, wie du grinsend dastandest, zwei Bier in den Händen, während Trevor ins Blumenbeet von Als Mutter kotzte? Es gehörte sich nicht, dass ich ihn so anstarrte. Es war schließlich nicht mein Geburtstag, dachte ich. Es gab keinen Grund, weswegen ich da draußen stehen sollte, im Garten, total exponiert. Das ist Ed Slaterton, sagte ich mir, Herr im Himmel, und eingeladen ist er auch nicht. Was war in mich gefahren? Was tat ich da? Aber laut sagte ich etwas anderes, laut fragte ich dich, ob ihr ein Problem hättet.

»Ich nicht«, sagtest du. »Trev geht’s nur gerade nicht so gut.«

»Scheiße«, gurgelte Trevor aus dem Gebüsch.

Du hast gelacht, und ich auch. Dann hast du beide Flaschen ans Licht gehalten, um zu sehen, welche welche war. »Hier, aus der hat noch keiner getrunken.«

Normalerweise trinke ich kein Bier. Genau genommen auch sonst nichts. Ich nahm die Flasche. »War die nicht für deinen Freund?«

»Er sollte nicht durcheinandertrinken«, sagtest du. »Er hat schon eine halbe Flasche Whiskey intus.«

»Ehrlich?«

Du sahst mich an, dann nahmst du mir die Flasche wieder aus der Hand, weil ich den Verschluss nicht aufbekam. Du schafftest das auf Anhieb, die beiden Kronkorken hast du in meine Hand fallen lassen wie Münzen, wie einen geheimen Schatz, als du mir das Bier zurückgabst. »Wir haben verloren«, sagtest du zur Erklärung.

»Was macht er dann, wenn ihr gewinnt?«, wollte ich wissen.

»Eine halbe Flasche Whiskey trinken«, sagtest du, und dann hast du …

(Später hat Joan mir erzählt, dass du einmal nach einem verlorenen Spiel auf einer Vereinsparty zusammengeschlagen worden bist, seitdem gehst du nach Niederlagen immer auf fremde Partys. Sie warnte mich, es sei ein schweres Los, mit einem Basketballstar zusammen zu sein. »Ein Leben als Witwe«, sagte sie, leckte den Löffel ab und drehte Hawk lauter. »Eine zu Tode gelangweilte Basketballwitwe, während er fröhlich durch die Welt dribbelt.«

Ich dachte, das würde mir nichts ausmachen. Blöd von mir.)

… also dann hast du mich nach meinem Namen gefragt. Min, sagte ich, kurz für Minerva, die römische Göttin der Weisheit, mein Dad machte nämlich gerade seinen Master, als ich zur Welt kam, und — nein, absolut ausgeschlossen, frag gar nicht erst, Minnie darf mich nur meine Großmutter nennen, denn die liebt mich am allermeisten, das hat sie mir gesagt, sagte ich, und dabei ahmte ich ihre Stimme nach.

Du seist Ed, sagtest du. So als wäre es denkbar, dass ich das nicht wüsste. Ich fragte dich, wie hoch ihr verloren hattet.

»Erspar mir das«, sagtest du. »Wenn ich dir sage, wie hoch wir verloren haben, verletzt das meine sämtlichen Gefühle.«

Das gefiel mir — meine sämtlichen Gefühle. »Bis zum letzten?«, fragte ich. »Tatsächlich?«

»Na ja«, sagtest du und trankst einen Schluck. »Ein oder zwei wären vielleicht noch übrig. Irgendein Gefühl hätte ich vielleicht noch.«

Ich hatte auch ein Gefühl. Und natürlich hast du mir dann doch erzählt, Ed, wie hoch ihr verloren hattet. Jungs sind nun mal Jungs. Trevor lag schnarchend auf dem Rasen. Das Bier schmeckte eklig, und ich goss es heimlich hinter meinem Rücken in die kalte Erde. Drinnen sangen Leute Bitter birthday to you, bitter birthday to you, Al — und Al hat es mir nie nachgetragen, dass ich draußen geblieben bin mit einem Jungen, zu dem er keine Meinung hatte, statt ins Haus zu kommen und zuzusehen, wie er die sechzehn schwarzen Kerzen auf dem dunklen, ungenießbaren Herzen ausblies — Bitter birthday to you. Du hast mir das ganze Spiel geschildert, von vorn bis hinten, und dabei zuckten deine schlanken Arme die ganze Zeit in den knisternden Ärmeln deiner Jacke, weil du mir jeden einzelnen deiner Spielzüge demonstriert hast. Basketball ist mir noch immer ein Buch mit sieben Siegeln, lauter aufgeregt herumhüpfende, brüllende Typen in Trikots, und obwohl ich nicht wirklich hinhörte, habe ich doch jedes einzelne Wort aufgenommen. Weißt du, welches mir gefiel, Ed? Lay-up, euer Wort für den Korbleger. Es klingt einfach sexy. Ich ließ es mir auf der Zunge vergehen — lay-up, lay-up, lay-up — während du immer weitermachtest mit euren Finten und Penaltys, euren Freiwürfen und Shotblocks und den vielen Malen, wo jemand Mist gebaut hat, weswegen dann alles den Bach runterging. Dieses Wort, lay-up, und dazu deine Sprungbewegung, während die Gäste im Haus immer weitersangen For he’s a bitter good fellow, for he’s a bitter good fellow, for he’s a bitter good fellow, which nobody can deny. Den Song würde ich mir merken für meinen Film, so laut drang er durch die Fenster, dass der Rest deiner Sportreportage nur noch ganz undeutlich bei mir ankam. Du hast deine leere Flasche in elegantem Bogen an den Zaun geschmettert, wo sie zersprang, und dann sagtest du:

»Könnte ich dich vielleicht —«

Ich dachte, jetzt würdest du doch noch fragen, ob du mich Minnie nennen könntest, dabei wolltest du bloß wissen, ob du mich anrufen könntest. Wie hätte dir so was einfallen können, wie hätte ich je zu so etwas Ja sagen können! Aber ich hätte sogar Ja gesagt, Ed, ich hätte dir erlaubt, mich so zu nennen, wie ich es hasse, genannt zu werden, außer von dem Menschen, der mich mehr liebt als jeder andere auf der Welt. Stattdessen sagte ich, ja, klar könntest du mich anrufen, vielleicht um am Wochenende zusammen ins Kino zu gehen, und weißt du was, Ed? Das Seltsame an Herzenswünschen ist, dass dein Herz nicht einmal weiß, was es sich wünscht, bis es genau das plötzlich vor sich hat. Wie eine Krawatte auf dem Flohmarkt, wie irgendein genialer Fund in einer Wühlkiste mit lauter Schrott, genau so warst du auf einmal da, ungeladen, und auf einmal war die Party vorüber, und du warst alles, was ich wollte, das beste Geschenk überhaupt. Ich hatte ja nicht einmal Ausschau gehalten, jedenfalls nicht nach dir, und jetzt warst du mein Herzenswunsch, der Trevor mit einem Tritt weckte und mit ihm in die süße späte Nacht entschwand.

»War das — Ed Slaterton?«, fragte Lauren, eine Tüte in der Hand.

»Wann?«, fragte ich zurück.

»Frag nicht so dumm. Gerade eben. Das war er doch. Wer hat den denn eingeladen? Der hier — das gibt’s doch gar nicht.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Niemand.«

»Und er wollte deine Nummer haben?«

Ich schloss die Finger um die Kronkorken, damit niemand sie sah. »M-mh.«

»Ed Slaterton will sich mit dir verabreden? Ed Slaterton hat sich mit dir verabredet?«

»Hat er nicht«, stellte ich nüchtern klar. »Er hat bloß gefragt, ob er vielleicht —«

»Ob er vielleicht was?«

Die Tüte raschelte im Wind. »Ob er meine Nummer haben könnte, um sich mit mir zu verabreden«, gab ich zu.

»Grundgütiger!«, stöhnte Lauren und schob schnell hinterher: »Wie meine Mutter sagen würde.«

»Lauren —«

»Min ist gerade von Ed Slaterton um ein Date gebeten worden!«, rief sie ins Haus.

»Waas?« Jordan kam aus der Tür. Al warf einen erschrockenen Blick durchs Küchenfenster. Über die Spüle hinweg starrte er mich entgeistert an, als wäre ich ein Waschbär.

»Min ist gerade —«

»Nein«, unterbrach ich sie. »Nicht wirklich. Er wollte bloß meine Nummer.«

»Klar, so was kann alles bedeuten.« Mit einem verächtlichen Schnauben hob Lauren feuchte Servietten vom Rasen auf und steckte sie in die Tüte. »Vielleicht arbeitet er ja für die Telefongesellschaft.«

»Hör auf.«

»Vielleicht sammelt er auch Vorwahlnummern.«

»Lauren —«

»Er hat dich um ein Date gebeten. Ed Slaterton.«

»Der ruft nicht an«, sagte ich. »Das war bloß so ein Partygequatsche.«

»Mach dich nicht kleiner, als du bist«, sagte Jordan. »Wenn ich es mir recht überlege — du besitzt all die Qualitäten, auf die es Ed Slaterton bei seinen Millionen Freundinnen ankommt. Du hast zwei Beine.«

»Und: Du bist ein kohlenstoffbasiertes Lebewesen«, ergänzte Lauren.

»Stopp!«, sagte ich. »Er ist nicht — er ist einfach irgendein Typ.«

»Hört euch das an, einfach irgendein Typ.« Lauren sammelte weiter Müll ein. »Ed Slaterton will mit dir weggehen. Das ist doch verrückt. Verrückt wie — wie Augen am Dach.«

»Das ist überhaupt nicht so verrückt wie dieser großartige Film, der im Übrigen Augen an der Decke heißt.«

»Ich kann’s einfach nicht glauben«, sagte Jordan.

»Da gibt’s auch nichts zu glauben«, sagte ich zu allen im Garten, mich eingeschlossen. »Es gab eine Party, und Ed Slaterton war hier, und jetzt ist die Party vorbei, und wir räumen alles auf.«

»Dann komm rein und hilf mir«, sagte Al schließlich und hielt die tropfende Punschschüssel hoch. Ich lief schnell in die Küche und suchte nach einem Geschirrtuch.

»Wegwerfen?«

»Was?«

Er zeigte auf die beiden Kronkorken in meiner Hand.

»Ah ja, klar«, sagte ich, aber sobald ich mich umgedreht hatte, schob ich sie mir schnell in die Tasche. Al reichte mir die Schüssel und ein Tuch und musterte mich gründlich.

»Ed Slaterton?«

»Ja«, sagte ich und versuchte ein Gähnen. In mir pochte es wie wild.

»Er will dich wirklich anrufen?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich.

»Aber du — hoffst es?«

»Ich weiß nicht.«

»Du weißt nicht?«

»Der ruft mich nicht an. Er ist schließlich Ed Slaterton.«

»Ich weiß sehr gut, wer er ist, Min. Aber du — was bist du?«

»Ich weiß nicht.«

»Natürlich weißt du’s. Wie solltest du’s nicht wissen?«

Ich bin gut darin, das Thema zu wechseln. »Herzlichen Glückwunsch, Al.«

Al schüttelte bloß den Kopf, wahrscheinlich, weil er mein Lächeln sah. Vermute ich mal. Vermutlich habe ich gelächelt, weil die Party vorüber war und die Kronkorken in meiner Tasche brannten. Nimm sie zurück, Ed. Hier hast du sie. Nimm das Lächeln zurück und den Abend, nimm alles zurück. Ich wünschte, ich könnte es selbst rückgängig machen.

Das hier ist die Kinokarte für den ersten Film, den wir zusammen gesehen haben, wie er hieß, steht drauf, Greta in der Wildnis, außerdem noch Schülervorstellung und das Datum: 5. Oktober — ein Datum, das mich für alle Zeit irritieren wird. Ich weiß nicht mehr, ob es deine Eintrittskarte war oder meine, aber ich weiß noch, dass ich beide gekauft und draußen gewartet habe. Es war ein bisschen kalt, und ich musste mich zusammenreißen, um nicht dauernd auf und ab zu laufen. Du kamst auf den allerletzten Drücker, das ist normal bei dir, doch das habe ich erst später gelernt. Ich hatte so ein Gefühl. Du würdest nicht kommen, das war mein Gefühl, und für den Film dieses Tages, des 5. Oktobers, fährt die Kamera die leere Straße auf und ab, während ich allein und grau dastehe und manchmal vor die Linse laufe. Was soll’s, dachte ich. Wer bist du denn schon, doch bloß Ed Slaterton. Komm jetzt endlich. Was macht das schon? Komm jetzt endlich, komm jetzt, wo steckst du denn? Mistkerl, die anderen hatten recht, was dich angeht, beweis ihnen, dass sie falsch lagen, wo steckst du bloß?

Und dann, wie aus dem Nichts, landetest du wieder in meinem Leben, mit gekämmten, noch feuchten Haaren, und tipptest mir auf die Schulter, lächelnd, vielleicht nervös. Vielleicht atemlos, genau wie ich.

»Hey«, krächzte ich.

»Hey«, sagtest du. »Tut mir leid, falls ich zu spät bin. Ich wusste nicht mehr, dass es dieses Kino hier war. Ich geh sonst nie hierher. Ich hab’s mit dem Internationale verwechselt.«

»Dem Internationale?« Das Internationale, Ed, ist nicht das Carnelian. Das Internationale zeigt ohne Ende britische Verfilmungen immer derselben drei Romane von Jane Austen, außerdem Dokumentarfilme über Umweltverschmutzung. »Und wer hat vor dem Internationale auf dich gewartet?«

»Niemand«, hast du gesagt. »Total einsam war’s. Hier gefällt es mir besser.«

Wir standen noch einen Moment beieinander, dann zog ich die Tür auf. »Das heißt, du warst noch nie hier?«

»Einmal, in der Achten, mit der Schule. Da gab’s so einen Film über den Zweiten Weltkrieg. Und dann ist mein Dad mal mit mir und Joan hergekommen, das muss noch gewesen sein, bevor er mit Kim zusammenkam. Irgendwas in Schwarz-Weiß.«

»Ich bin praktisch jede Woche hier.«

»Gut«, sagtest du. »Dann weiß ich ja immer, wo ich dich finden kann.«

»M-mh«, sagte ich und ließ den Satz in mir nachklingen.

»Okay, dann sag mir noch mal schnell, was wir uns angucken?«

»Greta in der Wildnis. Das Meisterwerk von P. F. Mailer. Ganz selten, dass man mal das Glück hat, den auf der großen Kinoleinwand zu sehen.«

»Aha«, sagtest du und sahst dich in der menschenleeren Lobby um. Außer uns waren nur diese bärtigen Männer da, dieselben, die fast immer kommen, allein, außerdem noch ein Pärchen, vermutlich von der Uni, und eine alte Frau mit einem so sagenhaft schönen Hut, dass ich immer hingucken musste. »Ich geh dann mal Karten holen.«

»Hab ich schon.«

»Oh«, sagtest du. »Na dann, was sonst? Popcorn?«

»Aber immer doch. Das Popcorn vom Carnelian ist das beste überhaupt.«

»Also gut. Mit Butter?«

»Ganz, wie du willst«, sagte ich.

»Nein«, sagtest du und berührtest mich leicht an der Schulter. Du erinnerst dich bestimmt nicht mehr daran, aber mir wurde ganz schwindlig. »Ganz, wie du willst.«

Und ich bekam tatsächlich, was ich wollte; alles war, wie ich es mir gewünscht hatte: Plätze in meiner Lieblingsreihe, der sechsten. Die verblassten Wandbilder, der klebrige Boden. Die gleich aussehenden, aber weit auseinander sitzenden bärtigen Männer, wie zwei Winkel eines Rechtecks. Das Profil der alten Frau, die hinten stand, ihren Hut abnahm und neben sich legte. Und du, Ed, im Dunkeln, während im Kino die Lichter ausgingen, und dein Arm, der so aufregend um meine Schultern lag.

Greta in der Wildnis beginnt absolut großartig, absolut genial mit einem sich öffnenden Vorhang. Lottie Carson — die mit dem Grübchen, das sie zu Amerikas Leinwandliebling gemacht hat und zur Geliebten von P. F. Mailer, mit dem sie immer eng umschlungen auf all den wunderschönen Partyfotos zu sehen ist in Wenn die Lichter ausgehen: Eine kurze illustrierte Geschichte des Films — also Lottie Carson spielt in diesem Film ein Revuegirl in einer Tanzgruppe. Sie ist kaum älter als ich jetzt, hat ein Hütchen auf dem Kopf und einen Spitzenfächer in der Hand und singt Du bist mein Stern, Chéri, mit großem Orchester und einem glitzernden Pappstern, der an Seilen von der Decke heruntergelassen wird. Miles De La Raz mit seinem dünnen schwarzen, pomadisierten Schnurrbärtchen kann den Blick nicht von ihr abwenden, während er, von zwei finsteren Bodyguards flankiert, in seiner Loge sitzt und du meine Hand zwischen deinen Händen hieltest, warm und elektrisierend, und das Popcorn unbeachtet blieb.

Hinter der Bühne ist Miles ein Arsch — als hätten wir das nicht gleich gewusst, dafür reichte ja schon ein Blick auf den Schnurrbart. »Greta, ich will nicht, dass du mit diesem drittklassigen Posaunisten sprichst, das hab ich dir schon zig Mal gesagt.« — »Ach, Joe, er ist doch bloß ein Freund, mehr nicht« und so weiter. Noch mehr Dialoge, noch ein Song, glaube ich, aber —

— aber du hast mich geküsst. Das kam ganz überraschend, wobei es andererseits nicht sooo überraschend ist, sich zu küssen, wenn man ein Date hat, zumindest nicht, wenn man Ed Slaterton ist, und genauso wenig, wenn ich ehrlich bin, wenn man Min Green ist. Es war ein guter erster Kuss, zart und eher flüchtig. Noch jetzt, im Lieferwagen von Als Dad, spüre ich ihn schmetterlingsleicht am Hals. Was machst du jetzt bloß?, habe ich mich gefragt, und dann, während in einer kleinen dunklen Gasse ein Kugelhagel den Instrumentenkoffer durchlöchert und Lottie Carson in ihrem Nerz laut schreit, dann habe ich dich zurückgeküsst.

Lottie Carson muss die Stadt verlassen, aber wir beide blieben, wo wir waren. Miles De La Raz’ rechte Hand, der Glatzkopf, der auch schon in Dinner um Mitternacht mitgespielt hat (mit Brille und Kopfgrippe), bringt sie zum Zug, und sie wirft ihm mit einem verächtlichen Schnauben ihren Nerz in die stammelnde Visage, aber von der Szene hast du vermutlich nichts mitbekommen, denn bis dahin waren wir schon bei französischen Küssen, dein feuchter Mund schmeckte nach einem Hauch von Menthol. Al und ich haben den Film in unserem Sophomore-Jahr gesehen, bei ihm zu Hause, im Doppelpack mit Knarre her!, bei Pizza und Eiskaffee, von dem ich wie aufgedreht war und ständig quasselte, während Al ganz zittrig und nervös wurde, sodass seine Knie dauernd zuckten und er nie wusste, wohin mit den Händen. Also ich jedenfalls kenne die Szene. Junge, Junge, die Sache mit dem Pelz, die bereut sie noch bitter, denn ihr Zug geht nach Norden, weit, weit nach Norden in einer Montage, die ich unglaublich toll finde und die auf der großen Kinoleinwand noch viel besser zur Geltung kommt, mit den wolkigen Bildrändern und den Stimmen, die erst »Buffalo! Nächster Halt Buffalo!« ankündigen und dann mit immer verrückteren Namen wie »Worchester! Badwood! Chokypond! Ducksbreath!«, bis sie schließlich in dem gottverdammten Yukon landet, wo Will Ringer sie dick eingemummelt auf einem Hundeschlitten erwartet, um sie zu ihrem Versteck zu bringen, und deine Hand liegt an meinem Hals, und ich weiß nicht, ob sie gleich über mein zweitbestes Top nach unten gleitet, das mit den raffinierten Perlenknöpfen, weswegen man es von Hand waschen muss, oder ob du die Hand gleich an meine Taille legst, wo sie unter dem Top nach oben wandern kann, und genauso wenig weiß ich, ob ich dich bremse, ob ich es will, ob du jemandem davon erzählen wirst. Deine Hände an meinem Körper, und dabei sind erst zwanzig Minuten von dem ersten Film an unserem ersten Date vorüber. Also höre ich auf, dich zu küssen, und Lottie Carson schläft allein in dem Iglu, während Will Ringer, mit Eiszapfen in dem Bart, den er sich ihretwegen abrasieren wird, weil sie ihn darum bittet und er sie liebt — Will Ringer schläft draußen bei den Hunden. Während der restlichen Vorführung haben wir still dagesessen, im Dunkeln, und bloß Händchen gehalten bis zum Ende, bis zu dem langen, langen Kuss, und dann standen wir blinzelnd in der Lobby und ich habe dich gefragt, wie du den Film fandest.

»Hm«, machtest du nur und zucktest mit den Achseln, sahst mich an, zucktest wieder mit den Achseln, dabei machtest du so eine unentschlossene Schaukelgeste. Am liebsten hätte ich dich am Handgelenk gefasst und deine Finger dorthin gelegt, von wo ich sie zuvor vertrieben hatte, so wild klopfte mein Herz, Ed, weil ich es mir so sehr wünschte, schon damals, an jenem 5. Oktober im Carnelian.

»Also, ich fand ihn gut«, sagte ich und hoffte inständig, dass ich bei meinen Gedanken eben nicht rot geworden war. »Danke, dass du ihn mit mir angeschaut hast.«

»Ja«, sagtest du und dann noch: »Ich meine, kein Problem.«

»Kein Problem?«

»Du weißt schon, was ich meine«, sagte er. »Tut mir leid.«

»Das hast du gemeint? Es tut dir leid?«

»Nein«, sagtest du, »ich meinte: Was machen wir jetzt?«

»Ähm«, machte ich, und du hast mich angesehen, als hättest du deinen Text vergessen. Was könnte ich mit dir unternehmen? Ich hatte gehofft, du hättest eine Idee. Den Film hatte schließlich ich vorgeschlagen. »Hast du Hunger?«

Du hast geschmunzelt. »Ich bin Basketballer«, hast du gesagt, »und das heißt, auf die Frage heißt die Antwort immer Ja.«

»Okay«, sagte ich und überlegte, dass ich ja wenigstens einen Tee trinken könnte. Und dir beim Essen zugucken? Sollte das alles sein, der ganze 5. Oktober? Greta geisterte mir noch immer durch den Kopf, und so wollte ich, dass wir noch etwas machten, irgendetwas …

Auf einmal blieb mir kurz die Luft weg, ehrlich. Ich musste es dir zeigen, denn es war nichts, was man auf Anhieb sehen konnte, ein Weg zu einem Ort, der Beginn einer Geschichte, die diesen 5. Oktober zu einem ebenso wunderschönen Film machen könnte wie der, den wir eben gesehen hatten. Es war mehr als die alte Dame, die soeben an uns vorüberging, mehr als alles, worauf du im Licht dieses regnerischen Nachmittags einen Blick werfen konntest. Es war ein Traum von einem Vorhang, der sich öffnete, und ich würde dich bei der Hand nehmen, um dich hindurchzuführen an einen Ort, an dem es mehr gab als bloß zwei im Kino knutschende Highschool-Schüler, etwas Besseres als Tee für ein Mädchen und Essen für einen Sportler, mehr als einen gewöhnlichen Nachmittag, wie jeder andere ihn auch haben konnte, etwas Magisches auf einer großen Leinwand, etwas anderes, etwas —

— Außergewöhnliches.

Atemlos zeigte ich mit dem Finger die Straße hinunter. Ich habe dir ein Abenteuer geschenkt, Ed, direkt vor deinen Augen geschah es, aber du hast es nicht gesehen, bis ich es dir gezeigt habe, und deswegen ist es aus.

Dir das hier zurückzugeben bricht mir das Herz, aber deins ist schließlich auch gebrochen, also sind wir wohl quitt. Abgesehen davon kann ich Lottie Carson sowieso nicht mehr anschauen, aus naheliegenden Gründen, und das heißt, wenn ich es dir nicht zurückgäbe, würde es irgendwo in einem Haufen Plunder vor sich hin modern, statt dir entgegenzublicken, wenn du diesen Karton aufmachst, und dich zum Weinen zu bringen mit ihrem Lächeln, ihrem schönen Lächeln, dem berühmten Lächeln der Lottie Carson.

»Was?«, sagtest du und sahst der alten Dame nach, die sich langsam auf der Straße entfernte.

»Lottie Carson«, sagte ich.

»Wer soll das sein?«

»Die vom Kino.«

»Stimmt, hab ich gesehen, in der letzten Reihe. Die mit dem Hut.«

»Nein, das war Lottie Carson«, sagte ich. »Glaube ich wenigstens. Die Greta aus dem Film.«

»Echt?«

»Ja.«

»Bist du sicher?«

»Nein«, sagte ich, »natürlich nicht. Aber sie könnte es sein.«

Wir gingen hinaus, und du hast ihr mit zusammengekniffenen Augen und gerunzelter Stirn nachgeschaut. »Die sieht doch kein bisschen so aus wie die im Film.«

»Der ist ja auch uralt«, sagte ich. »Streng deine Fantasie ein bisschen an. Wenn sie es ist, dann heißt das, sie hat sich ins Kino geschlichen, um sich selbst in der Wildnis zu sehen, und außer uns weiß kein Mensch davon.«

»Wenn sie es ist«, wiederholtest du. »Aber wie kannst du dir da sicher sein?«

»Sicher kann man sich da nie sein«, sagte ich. »Jetzt nicht. Ich hatte einfach so ein Gefühl, als wir da drin saßen. Bei dem langen Kuss am Ende.«

Du hast gelächelt, und ich wusste, an welchen Kuss du dachtest. »Du hattest so ein Gefühl.«

»Den Kuss meinte ich doch nicht«, sagte ich und spürte gleich wieder, wie du mir mit beiden Händen die Haare zurückgestrichen hast, damit sie uns beiden nicht ins Gesicht fielen. »Den im Film.«

»Warte mal kurz«, sagtest du und gingst zurück ins Kino. Die Tür schwang hinter dir zu, und durch die verschmierte Scheibe sah ich dich wie in einem unscharfen Film oder einer nicht restaurierten Kopie. Mit raschen Schritten warst du an der Wand, beugtest dich vor, und dann — ruckzuck — warst du wieder draußen, nahmst mich am Arm und ranntest, ohne zu gucken, mit mir über die Straße, rüber zur Schnellreinigung. Die Uhr über dem motorisierten Kleiderständer, den sie in Gang setzen, um die gereinigten Sachen herauszusuchen, zeigte mir, dass es noch früh war. Es war ein kurzer Film gewesen, also war noch reichlich Zeit, bis ich zu Hause sein musste und bis ich, wie versprochen, Al anrufen wollte, um ihm alle Einzelheiten zu berichten. Das Garderobenkarussell drehte sich, die Kleidungsstücke in ihren Plastikhüllen zogen eins nach dem anderen vorüber wie Menschen bei einer Feuerübung, bis der Ständer stoppte und ein hässliches Kleid und eine Kundin sich in einer knittrigen Umarmung wiedervereinigten. Du aber drehtest mein Gesicht zu dir (wie warm deine Hand sich anfühlte), bis ich sah, was ich sehen sollte: Lobby Cards nennt man diese Aushangfotos in den Kinofoyers, das weiß ich aus Wenn die Lichter ausgehen: Eine kurze illustrierte Geschichte des Films, und du hast die Lobby Card aus dem Carnelian geklaut. Es ist ein Original, eins von früher, das sieht man an den Farben. Glücklich sieht sie mich an, Lottie Carson mit dem berühmten Grübchen am Kinn und dem Schneesturm im Hintergrund, ein Püppchen im Pelz, Amerikas Leinwandliebling.

»Dieses Mädel«, sagtest du, »diese Schauspielerin und die Dame da hinten — die sollen dieselbe sein, sagst du?«