500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen -  - E-Book

500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen E-Book

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Beschreibung

2017 wird die Reformation 500 Jahre jung. Dieses Ereignis ist von weltweiter Bedeutung, es betrifft die Kirchen ebenso wie das Kulturleben und den Staat. Was aber soll mit dem Reformationsjubiläum gefeiert werden? Worum ging es den Reformatoren? Geht es um die Spaltung der Westkirche? Oder um den Mut eines jungen deutschen Mönchs? Der Band unterstützt die reformatorischen Kirchen in ihrer Suche nach dem eigenen Erbe und dessen Bedeutung für die Gegenwart anhand der Impulse der internationalen Tagung der EKD und des SEK vom Oktober 2013, bei der sich zum ersten Mal Akademiker/-innen und kirchliche Amtsträger/-innen aus 35x1ALändern und von allen 5 Kontinenten trafen. In ökumenischer und internationaler Perspektive fragen die Autorinnen und Autoren nach den Fundamenten der reformatorischen Theologie, den Herausforderungen und Grenzen des Jubiläums und geben Anregungen, wie sich die Kirchen gemeinsam auf das Jubiläum vorbereiten können.

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Petra Bosse-Huber, Serge Fornerod, Thies Gundlach, Gottfried Wilhelm Locher (Hg.)

500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen

Internationaler Kongress der EKD und des SEK auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 vom 6. bis 10. Oktober 2013 in Zürich

Theologischer Verlag Zürich EVANGELISCHE VERLAGSANSTALT

|4|

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar.

Umschlaggestaltung: Simone Ackermann, Zürich

ISBN 978-3-290-17765-2 (Buchausgabe Theologischer Verlag Zürich) ISBN 978-3-374-03916-6 (Buchausgabe Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig) ISBN 978-3-290-17847-5 (E-Book)

|XX| Seitenzahlen des E-Books verweisen auf den Beginn der jeweiligen Seite der gedruckten Ausgabe.

© 2014Theologischer Verlag ZürichEvangelisch Verlagsanstalt, Leipzig

Alle Rechte vorbehalten.

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Einleitung

Biogramme Mitwirkende

Einführung

Michel Müller, Zürich Eröffnungspredigt

Gottfried Wilhelm Locher, SEK, Bern Eröffnungsrede

Nikolaus Schneider, EKD, Hannover «Was ist das Reformationsjubiläum? Wem gehört es? Warum sind wir alle hier zusammen in Zürich?»

Bibelarbeiten

Karen Georgia Thompson, UCC, Cleveland/Ohio Römerbrief 3, 21–31

Margot Käßmann, Berlin Johannes 3, 1–15 (Lutherübersetzung 1984)

Klára Tarr Cselovszky, Budapest Matthäus 5, 13–16

I Theologische Grundlagen

Rowan Williams, London Das Erbe der Reformation

Ulrich H. J. Körtner, Wien Exklusiver Glaube – Das vierfache «Allein» reformatorischer Theologie

Peter Opitz, Zürich Der spezifische Beitrag der Schweizer Reformation zur reformatorischen Bewegung |6|

Jong Wha Park, Seoul Protestantismus und Postkonfessionalismus in Südkorea

Olav Fykse Tveit, ÖRK, Genf Das Erbe der Reformation und seine Bedeutung für die ökumenische Bewegung heute

II Spezifische Themen der Reformationsgeschichte und deren Wirkungsgeschichte

Kirchengeschichtlich

Fulvio Ferrario, Rom Frühere Reformationen und die Reformation: Petrus Valdus, Jan Hus, John Wycliffe, Girolamo Savonarola

Volker Leppin, Tübingen Mit dem Mittelalter gebrochen oder aus ihm emporgewachsen?

Christine Christ-von Wedel, Basel Humanismus – Reformation – Aufklärung: Zusammenhänge und Brüche

Martin Wallraff, Basel Neue Medien und neue Netzwerke

Athina Lexutt, Giessen Fürstenreformation und Volksreformation

Walter Fleischmann-Bisten, Bensheim Reformation, radikale Reformation, Täufer und die Bauernkriege

Erik A. de Boer, Amsterdam Reformationsfeier und Bekenntnisbildung: Kirche und Credo

Martin Ernst Hirzel, Bern Der Pietismus als zweite Reformation?|7|

Sozialgeschichtlich

Anne-Marie Heitz-Muller, Straßburg Auswirkungen der Reformation auf das Leben der Frauen in Straßburg im 16. Jahrhundert

Marianne Carbonnier-Burkard, Paris Die Reformationsjubiläen: Protestantische Konstruktionen (17.–20. Jahrhundert)

Frédéric Elsig, Genf Die Rolle der satirischen Darstellung im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung288

Martin Sallmann, Bern Reformation und Demokratie: Die Bedeutung von Subsidiarität und Priestertum aller Gläubigen

Systematisch

Christophe Chalamet, Genf Die Reformation und ihre unvorhergesehenen Konsequenzen

François Dermange, Genf Die ökonomische Ethik von Calvin – «kapitalistisch», «sozialistisch» oder ganz anders?

Douwe Visser, Hannover Reformation und Politik: Zwischen Prophetenstimmen und Obrigkeitshörigkeit

Ökumenisch

Wolfgang Thönissen, Paderborn Luthers Streit mit seinen katholischen Gegnern in den Jahren 1517/1518 am Beispiel der Frage nach dem Fegefeuer

Viorel Mehedinţu, Stuttgart Der Dialog, der zum Monolog wurde|8|

Johanna Rahner, Kassel Reform oder Reformation? Die Konzilien von Trient, Vatikanum I und II

III Chancen und Herausforderungen des Jubiläums für die Kirchen

Thies Gundlach, Hannover Am Anfang war die Freiheit – Reformationsjubiläum 2017

Anne Burghardt, Genf Herausforderungen und Chancen des Reformationsjubiläums aus der Sicht des Lutherischen Weltbundes

Aiming Wang, Nanjing Das Reformationsjubiläum im chinesischen Kontext

Kurt Kardinal Koch, Vatikan, Rom Reformationsgedenken in ökumenischer Sicht

IV Feedbacks und Auswertungen

Michael Bünker, Wien Protestantische Vielstimmigkeit: Zwischen Appenzeller «Zäuerli» und gemeinsamer Ausrichtung

Frank Fornaçon, Kassel Freikirchen bereiten Reformationsjubiläum mit vor

Ibrahim Wushishi, Lagos Rückblick auf den Kongress

Hanspeter Jecker, Bienenberg Gedanken zum Internationalen Kongress zum Reformationsjubiläum in Zürich

Martin Schindehütte, Hannover Nachwort

Dankeswort

Fussnoten

Seitenverzeichnis

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Einleitung

Wann hat die Reformation stattgefunden? Und worin besteht sie letzten Endes? Die protestantischen Kirchen feiern den Reformationssonntag gewöhnlich um den 31. Oktober. Nach traditioneller Überlieferung soll an diesem Tag des Jahres 1517 Martin Luther, ein junger deutscher Mönch und Theologieprofessor, 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg angeschlagen haben, in denen er die Praxis des Ablasses kritisierte, der es den Gläubigen ermöglichte, mit klingender Münze ein Stück ihres Seelenheils zu kaufen. Diese Einladung zu einem Disput unter Theologen bildete den Ausgangspunkt eines Konfliktes zwischen verschiedenen theologischen Standpunkten, die sich rasch als unversöhnlich herausstellten. Unter anderem dank politischer Unterstützung und massivem Einsatz von Druckschriften änderte damals ein großer Teil der römisch–katholischen Kirche in kürzester Zeit ihre Praxis und einen Teil ihres Denkens. Diese Bewegung breitete sich in ganz Europa aus, und zwar so schnell, dass die Argumente Luthers gegen den Ablass nicht die einzige Ursache dafür sein konnten.

2017 werden die protestantischen Kirchen, die aus dieser Bewegung hervorgegangen sind, des 500. Jahrestages der Reformation gedenken. Was soll aber 2017 genau geschehen? Wozu dieses Ereignis feiern, das von der heutigen Situation der Kirchen und den geistigen Sorgen und Fragen unserer Zeitgenosse so weit entfernt scheint, auch wenn es damals die Geschichte des europäischen Kontinents tiefgehend verändert hat und historisch von weltweiter Bedeutung war? Hat die Reformation nicht auch zu zahlreichen Gewalttaten geführt? Woran wollen wir uns erinnern und was wollen wir eigentlich feiern? Worin besteht diese Reformation? Wie weit kann sie die Kirchen und die Welt von heute betreffen?

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), die aus der Reformation von Luther hervorgegangen ist, und der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK), der aus der Reformation von Zwingli und Calvin entstanden ist, haben 2012 beschlossen, ein Zeichen der Einheit des Protestantismus zu setzen, indem sie einen gemeinsamen Vorbereitungskongress für das Reformationsjubiläum 2017 organisierten. Damit haben der SEK und die EKD bekräftigt, dass durch die 1973 auf dem Hügel von Leuenberg bei Basel getroffene theologische Vereinbarung, die unter dem Titel «Leuenberger Konkordie» bekannt geworden ist, die |10| kommenden Feiern des Reformationsjubiläums eine neue gesamtprotestantische Bedeutung erreichen. Dahinter soll und kann das Verständnis evangelischer Kirchen nicht mehr zurückfallen. Im Lauf dieses Kongresses, der im Oktober 2013 in Zürich stattfand, versuchten die EKD und der SEK, eine Standortbestimmung zu den genannten Fragen vorzunehmen zum Zeitpunkt, da die meisten Kirchen ihre Aktivitäten planen. Wir wollten vor allem zusammen mit den Mitgliedkirchen der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) und anderen Partnerkirchen weltweit diskutieren, was wir feiern wollen und weshalb wir das tun. Heute wird die Reformation nicht mehr nur über die Wirksamkeit von Luther in Deutschland oder von Zwingli oder Calvin in der Schweiz definiert, so bedeutend und entscheidend das Wirken dieser Persönlichkeiten auch sein mag. Die Reformation muss heute vielmehr als vielfältige und europäische Bewegung verstanden werden, deren Ursprünge in die früheren Jahrhunderte zurückreichen. Sie ist aber vor allem unter dem Aspekt des aktuellen Kontextes der weltweiten Christenheit neu zu betrachten: Wir sehen auf der einen Seite eine Verweltlichung und ein Abbröckeln, auf der anderen Seite Wachstum und fundamentalistische Tendenzen; eine zunehmend multikulturelle und pluralistische Religionslandschaft. Wir sehen auch die Errungenschaften, die Wirklichkeit und die Zukunft des ökumenischen Dialogs und die globalen Fragestellungen zur Zukunft der Erde. Für die evangelischen Kirchen kann es sich also nicht bzw. nicht bloß darum handeln, sich 2017 das Geschehen der Vergangenheit in Erinnerung zu rufen und dessen Spuren im Lauf der Geschichte zu verfolgen. Es geht vielmehr darum, sich die Botschaft der Befreiung, wie sie bereits Luther und andere wiederentdeckt haben, neu anzueignen, indem wir die Bibel neu lesen. Wir wollen diese damaligen Entdeckungen für die Christen von heute neu interpretieren. Wenn also 2017 ein Jubiläum und ein Fest sein soll, dann kann es nur ein Fest des Evangeliums und nur ein Fest für Jesus Christus sein.

Die in diesem Band vereinten Texte geben deshalb nur einen Teil dessen wieder, was den Reichtum dieses Kongresses ausmachte. Sie wollen die Kirchen einladen und dazu auffordern, zu diskutieren und miteinander auszutauschen, was die Botschaft des Evangeliums uns heute sagen will und wie wir das Jubiläum von 2017 und darüber hinaus am besten feiern. Darin bestand auch der Mehrwert des Kongresses, der hier dokumentiert wird. Diese Texte sollen verlässliche Orientierungspunkte und interessante Hinweise anbieten für all jene, die sich auf internationaler Ebene darauf vorbereiten, 500 Jahre Reformation zu feiern – ohne zu |11| triumphieren, ohne sich aus falscher Scham zu verstecken, ohne gegen andere Konfessionen zu polemisieren und ohne die ökumenische Herausforderung zu unterschätzen. Am Kongress trafen sich 250 Teilnehmer aus 35 Ländern, Professoren, Kirchenführer, interessierte Pfarrer, Multiplikatoren und Ökumenefachleute. Dadurch wurde die weltweite Dimension der evangelischen Kirche sichtbar und spürbar. Die hier abgedruckten Texte kommen von sehr unterschiedlichen Autoren und aus verschiedenen Kontexten. Einige sind mehr akademisch, andere mehr narrativ oder deskriptiv verfasst. Für viele Autoren waren die Kongresssprachen auch nicht ihre Muttersprache. All dies ist im Stil der Beiträge spürbar. Wir haben diese Elemente, die zuerst stören oder irritieren können, nicht vollständig bereinigen wollen. Denn genau darin sehen wir ein Zeichen der Stärke und der Qualität der Beiträge, ein Indiz dafür, dass die Wette dieses Kongresses gelungen ist: evangelische Stimmen aus der ganzen Welt um unsere gemeinsame theologische Identität heute zu versammeln, ohne Vorurteil oder vorgefertigte Regelung.

Das Buch folgt dabei der inneren Logik des Kongresses:

– In einem ersten Teil werden die theologischen Grundlagen der Reformation hinterfragt. Die Analysen beziehen sich einesteils auf die Bedeutung, die der Entdeckung der Reformation heute zukommt, was natürlich einen ökumenischen und internationalen Ansatz voraussetzt. Andererseits aktualisieren sie spezifische Themen, aus denen sich die Reformation herauskristallisiert hat. In den letzten Jahren hat nämlich sowohl die historische wie auch die theologische Forschung große Fortschritte gemacht bei der Klärung der Frage, was die Reformation wirklich Neues gebracht hat und wieweit sie auch eine Frucht der damaligen Zeitverhältnisse darstellt.

– In einem zweiten Teil befasst sich der Band mit den möglichen Inhalten und Grenzen, die sich heute aufgrund des Kontextes und der verschiedenen Gesprächspartner des Jubiläums ergeben: Welche Gemeinsamkeiten bestehen zwischen der Situation in Deutschland und in China? Wie wird unsere Botschaft von einem römisch-katholischen oder einem afrikanischen Standpunkt aus verstanden?

– Schließlich enthält der Band Bewertungen des Kongresses und Rückblicke, insbesondere aus Sicht der Freikirchen bzw. der Kirchen, die aus der radikalen Reformation entstanden sind.

Wir hoffen, dass die Leser von der Vielfalt und vom Reichtum dieser Perspektiven auf 2017 für ihre eigene Projekte und Vorbereitung angeregt werden.

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Biogramme Mitwirkende

Bünker, Michael; *1954, Dr. theol, Generalsekretär der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, Bischof der Evangelischen Kirche A.B. in Österreich, Wien.

Burghardt, Anne; *1975, Pfarrerin, Sekretärin für die ökumenischen Beziehungen, Abteilung für Theologie und Öffentliches Zeugnis, Lutherischer Weltbund, Genf.

Carbonnier–Burkard, Marianne; *1949, Dr. phil. in Geschichte der Philosophie, Honorardozentin am Evangelischen Institut an der Theologischen Fakultät in Paris, Vizepräsidentin der Gesellschaft für Geschichte des französischen Protestantismus, Paris.

Chalamet, Christophe; *1972, Prof. Dr. theol, Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Genf; 2003–2011 Professor für Geschichte der evangelischen Theologie an der Universität Fordham, New York.

Christ–von Wedel, Christine; *1948, Dr. phil., Historikerin, Spezialgebiet Humanismus und Reformation; Präsidentin des Vorstandes von Mission 21, Basel.

de Boer, Erik Alexander; *1957, Prof. Dr. theol., Professor für Reformationsgeschichte an der Freien Universität Amsterdam und für Kirchengeschichte an der Theologischen Universität Kampen, a.o. Prof. für Patristik an der Free State University Bloemfontein.

Dermange, François; *1962, Prof. Dr. theol., Professor für Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Genf.

Elsig, Frédéric; *1972, Prof. Dr. litt., Professor für Kunstgeschichte des Mittelalters am Institut für Kunstgeschichte der Universität Genf.

Ferrario, Fulvio; *1958, Prof. Dr. theol., Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Waldenserkirche, Rom.

Fleischmann-Bisten, Walter; *1950, Dr. theol., Historiker und Theologe, seit 1984 Generalsekretär des Evangelischen Bundes in Deutschland, Leiter des Konfessionskundlichen Instituts in Bensheim.

Fornaçon Frank; *1958, Pastor der Evangelisch–Freikirchlichen Gemeinde Kassel-West, «Kirche im Hof», Mitglied des Präsidiums des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland (Baptisten), Beauftragter der Vereinigung Evangelischer Freikirchen in Deutschland für die Reformationsdekade, Ahnatal. |13|

Gundlach, Thies; *1956, Dr. theol., Vizepräsident des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Leiter der Abteilung «Kirchliche Handlungsfelder», Hannover.

Heitz-Muller, Anne-Marie; *1978, Dr. theol. in evangelischer Theologie, Spezialgebiet Frauen- und Reformationsgeschichte, zurzeit Gemeindeassistentin, Straßburg.

Hirzel, Martin Ernst; * 1965, Pfr. Dr. theol., Beauftragter für Ökumene und Religionsgemeinschaften des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK), Bern; bis 2006 Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Waldenserkirche, Rom.

Jecker, Hanspeter; *1954, Dr. phil., Dozent am Theologischen Seminar Bienenberg, wissenschaftliche Mitarbeit bei diversen Forschungsprojekten zum Täufertum, Konferenz der Mennoniten der Schweiz, Basel.

Käβmann, Margot; *1958, Professorin Dr. Dr. h.c., Botschafterin des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für das Reformationsjubiläum 2017, Berlin.

Koch, Kardinal Kurt; *1950, Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, Rom.

Körtner, Ulrich H. J.; *1957, Prof. Dr. theol., Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

Leppin, Volker; *1966, Prof. Dr. theol., seit 2010 Professor für Kirchengeschichte in Tübingen; 2000–2010 Professor für Kirchengeschichte in Jena.

Lexutt, Athina; *1966, Prof. Dr. theol, Professorin für Kirchen– und Theologiegeschichte am Institut für Evangelische Theologie der Justus-Liebig-Universität Gießen.

Locher, Gottfried Wilhelm; *1966, Dr. theol., Ratspräsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK), Bern; Mitglied des Präsidiums der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), Wien.

Mehendinţu, Viorel; *1939, Dr. theol., Erzpriester der Rumänisch-Orthodoxen Kirche, Stuttgart.

Müller, Michel; *1964, Pfarrer, Präsident des Kirchenrates der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich.

Opitz, Peter; *1957, Prof. Dr. theol., Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte von der Reformation bis zur Gegenwart an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich und Leiter des Instituts für Schweizerische Reformationsgeschichte, Zürich. |14|

Park, Jong Wha; *1954, Dr. theol., Dr. h.c., Hauptpastor der Kyungdong Presbyterianischen Kirche in Seoul, Vorsitzender des Verwaltungsrats von Kukmin Daily Newspaper, Seoul; bis November 2013 leitender Vorsitzender des koreanischen Gastgeberausschusses der 10. ÖRK-Vollversammlung, Busan, Südkorea.

Rahner, Johanna; *1962; Prof. Dr. phil., Professorin für Systematische Theologie am Institut für Katholische Theologie der Universität Kassel.

Sallmann, Martin; *1963, Prof. Dr. theol., Professor für Neuere Kirchen- und Theologiegeschichte und Konfessionskunde an der Theologischen Fakultät der Universität Bern.

Schindehütte, Martin; *1949, Pfarrer, seit Ende 2013 im Ruhestand, zuvor Bischof für Ökumene und Auslandsarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Hannover.

Schneider, Nikolaus; *1947, Dr. theol. h.c., Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Berlin.

Tarr Czelovszky, Klára; *1971, Dr. theol., Leiterin der Abteilung Ökumenische und Außenbeziehungen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Ungarn, Budapest; Mitglied des Präsidiums der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), Wien.

Thönissen, Wolfgang; *1955, Prof. Dr. theol., Professor für Ökumenische Theologie an der Theologischen Fakultät Paderborn und Leitender Direktor des Johann-Adam-Möhler-Instituts für Ökumenik, Paderborn.

Thompson, Karen Georgia A.; *1965, Pfarrerin, Leiterin der Abteilung Ökumenische und Interreligiöse Beziehungen, Vereinigte Kirche Christi, Cleveland (OH), USA.

Tveit, Olav Fykse; *1960; Pfr. Dr. theol., Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Genf.

Visser, Douwe; *1953, Dr. theol., Geschäftsführer für Theologie, Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen, Hannover.

Wallraff, Martin; *1966, Prof. Dr. theol., Professor für Kirchen– und Theologiegeschichte, Universität Basel.

Wang, Aiming; *1963, Pfr. Dr. theol., Dr. h.c., Ordinarius (Systematische Theologie, Historische Theologie, Hermeneutische Theologie), Vizepräsident des Nanjing Union Theological Seminary, Nanjing, China.

Williams, Lord Rowan Douglas; *1950, Dr. theol., The Rt Revd & Rt Hon Baron Williams of Oystermouth, Rektor des Magdalene College, Cambridge, UK; ehem. Erzbischof von Canterbury. |15|

Wushishi Ibrahim Yusuf; *1964, Dr. theol., Pfarrer der Nigerian Baptist Convention, Mitglied des Exekutivausschusses der Christian Association of Nigeria(CAN) und Christian Health Association of Nigeria (CHAN), Generalsekretär des Christian Council of Nigeria. (CCN), Lagos. |16|

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Einführung

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Michel Müller, Zürich

Eröffnungspredigt

Zu Apg 11, 1–18

Liebe Gemeinde

Viele von Ihnen werden nun also 3–4 Tage und Nächte hier in Zürich verbringen anlässlich des Kongresses, den wir mit diesem Gottesdienst eröffnen. Ich vermute, dass manche von Ihnen zu Hause berichten werden, wollen oder müssen, was Sie hier Sinnvolles getan haben. Sie sind in einer bedeutenden Stadt der Christentumsgeschichte, und deshalb sind Sie hierhergekommen. Andere kommen her wegen der Streetparade und des Zürich Film Festivals, das gestern zu Ende ging. Sie könnten hier auch völlig überteuerte Designerhandtaschen oder Luxusuhren kaufen. Ob die Daheimgebliebenen da vorwurfsvolle Fragen stellen oder es gar einen medialen Sturm auslöst? Vielleicht nicht. Aber es stellt sich eine andere, die entscheidende Frage: Kann an einem solchen Ort, hier und heute, der Geist Gottes uns auf eine Art begegnen, dass es einen Sturm auslöst? Erwarten wir überhaupt so etwas? Oder wozu sind Kongresse sonst da?

Werden wir uns im Nachdenken über Reformation rechtfertigen müssen für unser Tun und Nichtstun? Kommt es denn überhaupt auf uns an? Mit Petrus fragen auch wir doppeldeutig: «Wer bin ich, dass ich Gott hätte in den Weg treten können?»

Das formuliert der Apostel zunächst einmal ganz zurückhaltend in der Tradition eines Mose oder Jeremia. Der Geist Gottes baut an seiner Kirche! Wer wären die einzelnen Dienerinnen und Diener – und wenn es der erste Papst wäre –, dass er dem Geist entgegen treten könnte? Der Geist ist bei Lukas frei, Fakten zu schaffen, denen die Kirche dann folgen kann, folgen muss mit ihren Handlungen. Hier konkret folgt die Taufe dem Empfang des Geistes. Manchmal ist es bei Lukas auch umgekehrt, und der Geist folgt erst der Taufe. Der Geist ist frei. Denn es ist Gottes Geist. Aber das heißt nicht, dass er nicht wirkt. Sein Wirken darf erwartet werden, und zwar auch überraschend und gegen eigene wohlgepflegte theologische Überzeugungen. Die Geschichte der Kirche ist entsprechend dem dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses auch die Geschichte des Heiligen |20| Geistes. Nun haben die christlichen Kirchen ausgeklügelte Systeme entwickelt, um das Wirken des Geistes zu prüfen und zu domestizieren. Ja, wir müssen den Geist prüfen. Dazu verpflichten uns die Irrungen und Wirrungen der Kirchengeschichte, gerade auch unserer eigenen. Darum müssen wir fragen: Wie sind die letzten 500 Jahre als Wirkung des Geistes Gottes zu verstehen? Wie hätte Lukas seine Geistgeschichte fort-geschrieben? Kämen die Protestanten darin vor, als eine Wirkung des Geistes? Manche Vertreter anderer Kirchen würden das wohl auch nach 500 Jahren bezweifeln. Wir hier in der Zürcher Kirche hingegen glauben das. Unsere Kirchenordnung (KO) bekennt, dass Kirche «gebaut wird durch Gottes Geist»1. Punkt – Doppelpunkt: Nicht nur wir, sondern eine Vielzahl von Kirchen, die in den letzten Jahrhunderten entstanden sind und von hier und Wittenberg und all den Reformationsorten ausgegangen sind, sehen sich im Glauben als Wirkungen des Geistes Gottes. Aber wie geht das zusammen: der eine Geist und die vielen Kirchen?

Der vor Jahren verstorbene Ökumeniker Oscar Cullmann verstand die Vielfalt der christlichen Kirchen geradezu definitorisch als eine Wirkung des Geistes. So schreibt er in seinem berühmten Buch «Einheit durch Vielfalt»: «Wer den Reichtum der Fülle des Heiligen Geistes nicht respektiert und Uniformität will, sündigt gegen den Heiligen Geist»2. Und ist es dann nicht umgekehrt auch als Wirkung des Geistes zu betrachten, dass es da nach wie vor neben den protestantischen Kirchen eine römisch–katholische Kirche gibt? Deshalb könnte gelten: «In den ökumenischen Beziehungen ist dies wichtig: Das, was der Geist in den anderen gesät hat, nicht nur besser zu kennen, sondern vor allem auch besser anzuerkennen als ein Geschenk auch an uns»3. Das war nun nicht Cullmann mit seiner Idee der Charismen in allen Kirchen, sondern ein Zitat des römischen Bischofs! Und gleich anschließend sagt Papst Franziskus in diesem kürzlich geführten Interview mit der Jesuitenzeitschrift «Civiltà Cattolica»: «Wir müssen vereint in den Unterschieden vorangehen. Es gibt keinen anderen Weg, um eins zu werden. Das ist der Weg Jesu.» «Vereint in den Unterschieden» ist vielleicht nicht dasselbe wie «versöhnte Verschiedenheit», wie wir Protestanten sie verstehen, aber auch nicht etwas völlig |21| anderes als das Konzept unserer Leuenberger Gemeinschaft. Ist dies die aktuelle Herausforderung für uns alle – gerade auch gegenüber den jungen Kirchen wie den Pfingstkirchen, die den Geist programmatisch im Namen tragen? Wir reden hier von der mittlerweile zweitgrößten Gruppe im weltweiten Christentum – wie werden wir eigentlich mit ihnen Reformation feiern und Erneuerung thematisieren, erbitten, erfahren? Und wie werden wir mit den ganz alten Kirchen umgehen? Werden wir allen Ernstes bald nach 500 Jahren Reformation des tausendjährigen Schismas gedenken müssen?

Wirklich: Wir müssen sie alle prüfen, die Geister, und gerade das kann und soll eine Aufgabe eines Kongresses von theologischen und kirchenleitenden Fachleuten sein. Wir besprechen die Geschichte und deren Folgen, lernen daraus und beziehen daraus auch unsere Inspiration. Wozu sonst sollten wir uns treffen? Ist unsere Lage also ähnlich wie jene derer, die damals in Jerusalem zu prüfen und zu entscheiden hatten?

Wer sind wir? Wer bin ich? Diese Fragen stellt derselbe Petrus, der gesagt hat, man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen. Eine Haltung, die Martin Luther in Worms vor Augen hatte, als er sagte, er müsse seinem Gewissen mehr gehorchen als Kirche und Kaiser: «Hier stehe ich und kann nicht anders.» Wirklich so gesagt oder nicht: Es macht ja den Reiz solcher Sätze aus, dass sie exemplarisch etwas vom Wesen des Geschehenen auf den Punkt bringen. Da steht ein Einzelner vor Machthabern und vor Gott, vom Geist bewegt, seinem Gewissen und dem Wort Gottes treu zu sein, gegen den Rest der Welt. Da kommt es plötzlich auf den einen Einzelnen an, der tapfer Rechenschaft ablegt. Der in Gottes Namen «etwas Tapferes tut.» Diese Wendung, «etwas Tapferes tun» steht in Zürich beispielhaft für das Wirken Zwinglis. Sie wurde in einem anderen Zusammenhang als Luthers Satz geschrieben, und doch galt und gilt auch hier: Wenn der Geist Gottes uns durch die Schrift dazu bringt, dann müssen wir ihm folgen. «Tuont um Gottswillen etwas Dapfers», schrieb Zwingli. Sie können es in der Sakristei nachlesen. Wer wären wir, ihm entgegenzutreten? Dabei ist die Spannung, ja Widersprüchlichkeit auszuhalten: Nein, es geht hier nicht um einzelne heroische Gestalten, sondern um Christi Kirche, gebaut durch seinen Geist. Nie aber geht es, ohne dass eine oder einer, auch von uns, diesem Geist folgt. Nein, nicht um uns geht es, aber eben auch nicht ohne uns. Wer sind wir heute?

Wer bin ich? Noch einmal leihe ich mir Worte vom römischen Bischof Franziskus, der so antwortet: «Ein Sünder, der vom Herrn angeschaut wird.» Ein Sünder, weil selbst vermeintlich unfehlbare Entscheide nicht |22| an Gottes Stelle treten können? Ein Sünder, der es wagen darf, etwas zu tun, weil er vom Herrn angeschaut wird, anders ausgedrückt in unserer Tradition: weil er zugleich Sünder und Gerechter ist?

Was aber ist es dann, was für uns zu tun ist, hier und heute und in den nächsten Jahren als protestantische Kirchen? Wir hier in Zürich feiern gerade 50 Jahre Frauenordination. Dafür erhalten wir zwar eine gewisse Aufmerksamkeit, aber keinen Applaus, zu selbstverständlich müsste es eigentlich in einer modernen Gesellschaft sein. Zölibat? Das ist bei uns Protestanten seit Katharina von Bora, der Lutherin, und Anna Zwingli, geborene Reinhart, kein Thema mehr. Wir haben in vielen evangelischen Kirchen Schluss gemacht mit der Normierung bestimmter Lebensweisen und der Diskriminierung derer, die anders sind. Und das, weil wir evangelisch sind und nicht zum Trotz. Gut. Aber: Was bleibt für uns zu tun, dort, wohin der Geist uns leiten will?

Die protestantischen Kirchen Frankreichs als ein ganz aktuelles Beispiel haben dieses Jahr einen großen Schritt getan mit ihrer Union. «Ecoute – Dieu nous parle», heißt es dort, und wenn Gott spricht: Wer könnte ihm entgegentreten? Er beruft uns zu Zeugen, témoins, in einer modernen Gesellschaft. Auf die noch relativ reichen deutschsprachigen Kirchen sehe ich die Frage zukommen: Wie lange werden wir uns die Erhaltung einer Struktur leisten wollen, die den tatsächlichen Erfordernissen und der Größe gar nicht mehr entspricht? Und die dem Auftrag, das Evangelium allen Völkern in Wort und Tat zu verkündigen, Mittel entzieht?

Wer bin ich, dass ich das sage? Kein anderer als der, der an seinem Ort, mit seiner Kirche und mit seinen Gaben das Notwendige tun soll und will. Der sich im Rahmen seiner Möglichkeiten bemüht, dem Geist nicht entgegenzutreten. Dem Geist, der «auch den anderen Völkern die Umkehr zum Leben gewährt», wie es Lukas zusammenfasst.

Ich meine und sage es offen: Wir müssen hinaus aus unseren alten Mauern. Hinaus in die Welt – nicht in die Welt, wie wir sie gerne hätten, sondern in die Welt, wie sie nun einmal ist. Zu den Menschen, die nun einmal sind, wie sie sind. Wir müssen die Sicherheit gegenseitiger Bestätigung in geschlossenen Kirchen verlassen, uns selbst vergessen und den Menschen begegnen in ihren tatsächlichen Bedürfnissen, gerade auch den spirituellen, also geistlichen.

Hinausgehen. Das kann man auch mal während eines Kongresses versuchen, hinausgehen aus sich selbst, sich hinsetzen auf eine Bank, den Menschen zuschauen, mit jemandem ein Wort wechseln. Auch in Zürich |23| hat’s ganz einfach Menschen. Die Ökumene beginnt in der persönlichen Begegnung mit meinem Nächsten, auf den ich höre, für den ich beten kann, dem ich dienen kann. Wer, wenn nicht ich?

Dann wird die weltweite Kirche, die Ökumene, eine spirituelle und eine diakonische Ökumene sein, eine Kirche, die betet und dient, die aus dem Wort Gottes geboren wird, die genährt wird am Tisch des Herrn. An diesen Tisch sind alle geladen, die der Herr einlädt, der gegenüber Petrus erklärt hat: «Was Gott für rein erklärt hat, das erkläre du nicht für unrein.»

Wer bin ich, dass ich Gott hätte in den Weg treten können?

Amen

|24|

Gottfried Wilhelm Locher, SEK, Bern

Eröffnungsrede

Reformation: Das Evangelium im Mittelpunkt

Die Reformation wird 500 Jahre jung: 2017 werden sich die Kirchen der Reformation an den berühmten Thesenanschlag Martin Luthers an die Türe der Schlosskirche in Wittenberg erinnern. Und 2019 wird des Beginns der Predigttätigkeit Huldrych Zwinglis auf der Kanzel des Großmünsters gedacht werden. Schon jetzt zeigt sich: Das Reformationsjubiläum hat das Potenzial, weltweit viel Dynamik auszulösen. Es ist Anlass, der Freude über die Wiederentdeckung der Befreiungsbotschaft des Evangeliums auf vielfältige Weise Ausdruck zu geben. Diese hat ihr Zentrum in der Botschaft von der Rechtfertigung des Menschen vor Gott allein durch den Glauben an Jesus Christus. Oder anders ausgedrückt: Der Mensch kann bestehen in Zeit und Ewigkeit, weil Gott ihn liebt. Das Evangelium soll im Mittelpunkt stehen und gefeiert werden. Das ist die Botschaft der Reformation. Eine befreiende, beglückende Botschaft. Die evangelischen Kirchen feiern also nicht sich selber. Der Reformation ging es um die Erneuerung der einen Kirche. Dem Reformationsjubiläum kommt deshalb von Anfang an eine ökumenische Dimension zu.

Zeit für die Vorbereitung

Hier in der Schweiz und erst recht in Deutschland sind die Vorbereitungen fürs Reformationsjubiläum schon angelaufen. Doch manches ist noch offen. Diese Gelegenheit haben der Schweizerische Evangelische Kirchenbund und die Evangelische Kirche in Deutschland ergriffen und Sie alle hier nach Zürich zu einem internationalen Vorbereitungskongress eingeladen. Sein Ziel ist es, gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir das Reformationsjubiläum feiern möchten und welche Bedeutung die Botschaft der Reformation für die Kirche und Gesellschaft von morgen haben kann.

Wir freuen uns, dass Sie von nah und fern, aus über 35 Ländern und fünf Kontinenten, hierher nach Zürich gereist sind. Sie stehen dafür, dass die Botschaft der Reformation sich weltweit in den verschiedensten Kontexten ausgebreitet hat und Menschen bis heute bewegt. Die verschiedenen Erfahrungen und Horizonte, die Sie mitbringen, werden |25| unseren Kongress bereichern. Dabei sollen Brücken zwischen Menschen mit kirchlichem und universitärem Hintergrund geschlagen werden. Wir wollen miteinander in ein kritisch-konstruktives Gespräch eintreten über die Epoche der Reformation, um neue Perspektiven auf unsere kirchliche und gesellschaftliche Gegenwart zu gewinnen.

Die Schätze gegenseitig entdecken

«Über die Zeit, in der wir die reformatorischen Traditionen gegeneinander ausspielten, sind wir hinaus. Wir wollen vielmehr die Schätze entdecken, die sie bergen.» Dieser Satz Wolfgang Hubers anlässlich des Calvinjahres 2009 ist wegweisend für diesen Anlass und den Weg bis 2017. Wir wollen den Reichtum der jeweiligen anderen Tradition sehen und voneinander lernen. Ökumene ist Lerngemeinschaft.

Zürich – ein Ursprungsort der Reformation

Für diesen Kongress sind wir Gast bei der Evangelisch–reformierten Landeskirche des Kantons Zürich in Zürich, einem Ursprungsort der Reformation. In Zürich und dann an anderen Orten in der Schweiz, etwa in Bern, St. Gallen, Basel und in Genf, hat die Reformation bekanntlich eine eigene Wendung genommen. Ganz vergessen sind die unversöhnlichen Urteile Luthers über Zwingli und das bedauerliche Scheitern des Marburger Religionsgesprächs 1529 ja noch nicht. Doch nach der Leuenberger Konkordie und den ihr vorangegangenen guten Erfahrungen, die es neben der konfessionellen Gleichgültigkeit zwischen Lutheranern und Reformierten im Laufe der Kirchengeschichte auch gab, wissen wir: Die Reformation war eine Epoche evangelischer Gemeinsamkeiten, auch wenn dies aus politischen und teilweise persönlichen Gründen nicht von allen Akteuren gesehen wurde. Da ist die Freude darüber umso größer, dass sich in diesen Tagen Lutheraner, Reformierte, Unierte und Angehörige weiterer Konfessionen in dieser Form erstmals in dieser Stadt begegnen, die neben Wittenberg und später Genf für den weltweiten Protestantismus eine große Bedeutung hatte. Ohne Zwingli, Bullinger und Calvin wäre die Reformation wohl ein deutschsprachiges und nordeuropäisches Phänomen geblieben. An diesem Kongress wird also evangelische Katholizität sichtbar werden, zu der die Vielfalt dazugehört. Ein Stück weit haben wir dies soeben im Gottesdienst erlebt. |26|

Erinnern für die Zukunft

«Erinnern für die Zukunft.» Dies soll in den nächsten Tagen die Devise sein. Reformationsgedächtnis soll primär heißen, nach dem Stellenwert der reformatorischen Botschaft in den evangelischen Kirchen und der Gesellschaft heute zu fragen. Vermögen die Kirchen Gottes Wort der Versöhnung und Veränderung genügend kräftig zu bezeugen? Wie steht es mit der Klarheit und Verständlichkeit ihrer Verkündigung? Die Interpretation der reformatorischen Befreiungsbotschaft heute und damit theologische Fragestellungen sollen im Zentrum dieses Kongresses und des Jubiläums stehen.

Die bleibende Wirkung der Reformation

Als Teil einer Gedächtniskultur bringt das Reformationsjubiläum aber auch die Aufgabe mit sich, sich an die Vergangenheit zu erinnern. Die Reformation hat die Welt geprägt. Sie hat eine vielfältige Wirkung auf die frühneuzeitliche Gesellschaft ausgeübt. Einzelnen Spuren, etwa im Bereich des Verhältnisses von Kirche und Staat, soll in diesen Tagen exemplarisch nachgegangen werden. Wie stehen Kultur, Wirtschaft und Politik heute zur Reformation? Um solche Fragen soll es in diesem Zürcher Kongress auch gehen. Im Mittelpunkt der Debatten soll jedoch, wie gesagt, Reformation als gegenwärtige Aufgabe stehen. Evangelische Glaubensinhalte und Weltverantwortung wirken in unseren Gesellschaften bis heute. Welches Potenzial hat die Botschaft der Reformation für Kirche und Gesellschaft morgen?

Das Reformationsjubiläum als ökumenische Aufgabe

Reformationserinnerung soll also nicht der Selbstdarstellung von Kirchen, Konfessionen und Kulturräumen dienen, sondern zur produktiven und gemeinsamen Gestaltung des heutigen Kircheseins anstiften. Voraussetzung dafür ist, dass die damals gestellten theologischen Fragen neu bedacht werden. Voraussetzung dafür ist auch, dass wir uns immer wieder kritischen Anfragen stellen. Ich freue mich sehr, dass wir gleich schon mit dem Referat von Rowan Williams, dem ehemaligen Erzbischof von Canterbury, mit einer etwas anderen Sicht auf die Reformation konfrontiert werden (ein Blick von außen ist es angesichts der Tatsache, dass die Kirche von England in ihren Anfängen eng mit Zürcher Reformatoren verbunden war, nicht). |27|

Wenn Reformationserinnerung also der Gestaltung des Kircheseins heute dienen soll, schließt dies, wie zu Beginn gesagt, eine ökumenische Dimension ein. An diesem Kongress wollen wir bewusst auch das Gespräch mit ökumenischen Partnern suchen. Im Hinblick auf das Verhältnis zur römisch-katholischen Kirche bedeutete es einen großen Schritt, wenn es uns gelänge, eine gemeinsame Sicht auf die Geschichte der Reformationszeit zu gewinnen, wie sie gerade jüngst das Dokument des vatikanischen Einheitsrats und des Lutherischen Weltbundes «Vom Konflikt zur Gemeinschaft» angeregt hat. Nicht nur die evangelischen Kirchen, sondern auch die römisch-katholische Kirche ist bekanntlich von der Reformation geprägt. Heute bietet sich die zukunftsträchtige Chance einer gemeinsamen ökumenischen Auseinandersetzung. Dies könnte die große Besonderheit des Reformationsjubiläums im beginnenden 21. Jahrhundert sein. Im Hinblick auf das Verhältnis zu denjenigen Freikirchen, die sich auf die radikale und damals verfolgte Reformationsbewegung berufen, bedeutet die ökumenische Dimension des Reformationsjubiläums für uns eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit.

Der Kongress: Einladung zur Zusammenarbeit

Neben der Reflexion soll dieser Kongress aber auch ganz praktisch eine Plattform für den Austausch von Ideen bieten. Aus verschiedenen Kirchen werden Vorhaben und Perspektiven im Blick auf das Reformationsjubiläum präsentiert werden. Schön wäre es, wenn Kooperationsmöglichkeiten angedacht und gemeinsame Projekte auf lokaler, regionaler, nationaler oder internationaler Ebene angestoßen würden. Zunächst aber soll dieser Kongress bei Ihnen allen die Motivation für die aktive Teilnahme am Reformationsjubiläum fördern und das Interesse wecken für die Reformation und ihre Bedeutung für die Gegenwart. Dabei soll die Reformation als vielgestaltig und der Protestantismus als weltweite und plurale Bewegung sichtbar werden.

Für diesen Kongress und das Reformationsjubiläum insgesamt scheint mir wichtig, was Zwingli am Ende seines «Kommentars über die wahre und falsche Religion» von 1525, der ersten Darstellung der evangelischen Lehre überhaupt, schreibt: «Alles, was ich hier gesagt habe, habe ich zur Ehre Gottes, zum Nutzen der christlichen Gesellschaft und zum Besten der Gewissen gesagt. Gott sei gedankt.»

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Nikolaus Schneider, EKD, Hannover

«Was ist das Reformationsjubiläum? Wem gehört es? Warum sind wir alle hier zusammen in Zürich?»

Sehr geehrte Damen und Herren

Das Reformationsjubiläum 2017 ist ein Ereignis von Weltrang!

In Deutschland ging der erste Anstoß zum Thema «Reformationsjubiläum» schon 2003 aus den Reihen der katholischen Kirche hervor, nämlich von Kardinal Kasper auf der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Winnipeg. Kardinal Kasper verwies damals auf dieses Datum 2017 und stellte die Frage nach den ökumenischen Dimensionen des Ereignisses. Bald danach nahm der damalige Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Prof. Dr. Wolfgang Böhmer, den Ball auf und lud Staat und Kirche ein, das Reformationsjubiläum 2017 gemeinsam in den Blick zu nehmen.

Wir sind dankbar, dass gegenwärtig nicht nur die Bundesregierung, sondern auch viele Bundesländer und betroffene Kommunen bei der Vorbereitung des Jubiläums mitwirken. Und es gehört zweifellos zu den eher seltenen Ereignissen im Deutschen Bundestag, dass alle Parteien – also auch die Linken – gemeinsam im Oktober 2011 den Beschluss gefasst haben, dass das Reformationsjubiläum 2017 als «ein Ereignis von Weltrang» von der Bundesregierung zu fördern und zu unterstützen sei.

Wir werden also in Deutschland ein großes Jahr mit Kirchentagen und einer Weltausstellung der Reformation in Wittenberg feiern. Es werden nationale Ausstellungen, erstklassig restaurierte und museumspädagogisch herausragende touristische Attraktionen etwa in Wittenberg, Eisenach, Eisleben und Torgau Menschen in das «Kernland der Reformation» locken. Große Fachkongresse ziehen ein Fachpublikum nach Wittenberg, Halle und Berlin.

Der Wissenschaftliche Beirat, der die staatlichen und die kirchlichen Partner inhaltlich berät, hat im Jahre 2009 «Perspektiven für das Reformationsjubiläum 2017» vorgelegt. Da heißt es unter anderem:

Es gilt «auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 die Relevanz, die die Reformation weit über Theologie und Kirche hinaus für die unterschiedlichen Bereiche unserer gegenwärtigen Kultur besitzt, herauszustellen |29| und nach deren Deutungspotenzial in einer von Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung bestimmten Zeit zu fragen. Solche Gegenwartsdeutung … stellt angesichts der Signatur des Protestantischen in der modernen westlich geprägten Kultur einen Beitrag zur Bewahrung wie zur Fortentwicklung der Identität dieser Kultur dar.»4

Nun kann man natürlich fragen, ob eine von kirchlichen und staatlichen Stellen getragene Vorbereitung des Reformationsjubiläums gut und richtig ist. Schimmert hier nicht vielleicht eine veränderte Wiederauflage der alten Verbindung von Thron und Altar, von Staat und Kirche, ja, von Preußen und Protestanten durch, die niemand ernsthaft wünscht? Doch eine kulturelle «Signatur des Protestantischen», die unsere Gesellschaft, die auch unseren Lebensraum Europa prägt, bleibt eben nur «Signatur». Für eine inhaltliche, theologisch fundierte Ausgestaltung des Reformationsjubiläums ist das nur ein Baustein. Wir sind davon überzeugt, durch unsere genuin theologischen Beiträge der Gefahr einer Neuauflage der überholten Allianz von Thron und Altar widerstehen zu können.

Ich will das an zwei inhaltlichen Akzentsetzungen verdeutlichen:

1. Das Reformationsjubiläum feiert das Heilshandeln Gottes in Jesus Christus!

Der 31. Oktober 1517 ist ein Symboldatum für die Wiederentdeckung der befreienden Kraft des Evangeliums. Die immer wieder neu faszinierende Erzählung vom Anschlag der 95 Thesen Martin Luthers zur Buße an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg hat sich in das kulturelle Gedächtnis unseres Landes eingeprägt. Wir feiern mit diesem Datum nicht den Geburtstag unserer evangelischen Kirche – den sehen wir im Übrigen im Heilshandeln Jesu Christi und dem gemeindegründenden Reden und Handeln der Apostel gut aufgehoben. Wir feiern, dass das Evangelium mit diesem Ereignis einen neuen Weg zu den Menschen gefunden hat. Und wir feiern die befreienden theologischen Kerngedanken, die in den vier soli der Reformation zum Ausdruck kommen:

die grundlegende Christuszentrierung, das solus Christus;

die neu entdeckte Bibelfrömmigkeit, das sola scriptura; |30|

die staunenswerte Gnadentheologie, die sola gratia;

die befreiende Glaubenskonzentration, das sola fide.

Das sind die entscheidenden inhaltlichen Orientierungspunkte für die Feier und Gestaltung des Reformationsjubiläums. In einer Welt, die ihre eigenen religiösen Wurzeln leicht vergisst, wird es immer wichtiger, sich an theologisch bedeutsamen Symboldaten und Kerngedanken zu orientieren.

Heute sind Menschen in einer ganz anderen Weise auf der Suche nach einem gnädigen Gott als zu Luthers Zeiten. Menschen, die von ihrer Geburt an darauf getrimmt sind, zu arbeitsmarkttauglichen Kompetenzträgern zu werden, brauchen den ganz anderen Klang, den das Heilshandeln Gottes in ihr Leben einspielt. Während die Spirale von Leistung zu Effizienz zu noch mehr Leistung und immer weiter gesteigerter Effizienz beständig weitergedreht wird, brauchen Menschen den Einspruch des Evangeliums: Nicht die Leistung und das Können, nicht die Anstrengung und der eigene Erfolg entscheiden über mich und meinen Wert.

Menschen brauchen die Erinnerung an die fundamentale Einsicht der Reformatoren, dass uns der Christusglaube ein Leben ohne Angst, ohne den inneren Zwang zur Selbstrechtfertigung und Selbstüberhöhung schenkt. Dass uns der Glaube frei macht vor Gott und für Gott. Und dass diese Freiheit uns in den verantwortlichen Dienst ruft für andere Menschen und für unsere Welt. Dem Evangelium geht es um Kernthemen für alle Menschen. Es geht um die Fragen nach einer unverfügbaren Menschenwürde, nach dem Verständnis einer gemeinschaftsförderlichen Freiheit, nach einer nachhaltigen sozialen Verantwortung aller Menschen füreinander und für die Welt.

Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, diese Kerneinsichten der Reformation für unsere Zeit so zu formulieren, dass sie innerhalb und außerhalb unserer Kirchen verstanden werden. Wir suchen und brauchen eine solche Auskunfts–, Sprach– und existenzielle Anschlussfähigkeit, die auch Fernstehenden und Ungeübten verständlich machen kann, warum das Reformationsjubiläum ein Erinnerungsfest an Gottes Heilshandeln in Jesus Christus ist und zugleich auch zentrale Bedeutung für das gegenwärtige und zukünftige Leben in der modernen Gesellschaft hat. |31|

2. Das Reformationsjubiläum 2017 gehört in unsere ökumenische Kirchengemeinschaft

Die Evangelische Kirche in Deutschland will 2017 feiern – fröhlich, selbstbewusst und selbstkritisch und offen für unsere ökumenischen Geschwister.

In Deutschland haben wir eine zehnjährige Reformationsdekade vereinbart. In zehn thematischen Jahresschritten versuchen wir seit 2008 die «Länge und Breite und Höhe und Tiefe» (vgl. Eph 3, 18) der auf das Evangelium bezogenen Bedeutung der Reformation auszuloten – einschließlich der Schatten und Grenzen dieser Bewegung. So geht es im Jahr 2013 mit dem Thema «Reformation und Toleranz» darum, auch die Grausamkeiten und Zerstörungen zu bedenken, die Luther und die Reformation mit ihrer Intoleranz bewirkt haben. Dabei wollen wir zugleich das bei uns oftmals mit einem nationalen Pathos gezeichnete Bild vom «deutschen Helden Martin Luther» korrigieren. Die neuere Lutherforschung zeigt deutlich: Luther war eine ambivalente Persönlichkeit, mit bewundernswerten Eigenschaften und mit nachhaltigen theologischen Inspirationen. Aber er war auch ein heftiger Polemiker und beschämender Antijudaist.

Im Blick auf diese «Schattenseite» der Reformation wird eine konfessionsverbindende Kommission zwischen der EKD und der römisch-katholischen Kirche in Deutschland unter dem Leitgedanken «healing of memories» den Versuch unternehmen, die uns noch heute belastenden Bilder und Typisierungen der Reformation zu klären. Wir wollen vor Gott und voreinander die Wunden zur Sprache bringen, die unsere Erinnerung bis heute prägen. Wenn dies gelänge, wäre die gemeinsame Feier eines Versöhnungsgottesdienstes im Jahr 2017 ein deutlicher Fingerzeig auf die befreiende und heilende Kraft des Evangeliums und ökumenisch ein großes Zeichen.

Wir haben unsere römisch-katholischen, orthodoxen und freikirchlichen Geschwister zur Mitwirkung am Reformationsjubiläum eingeladen, auch wenn die einen bei der Reformation eher an die Spaltungen und Trennungen der Westkirche denken, die anderen einen inneren Bezug zu den reformatorischen Themen noch nicht explizit entwickelt haben und die Freikirchen eine auch schmerzliche Geschichte mit den Landeskirchen erinnern. Die EKD hat mit der Deutschen Bischofskonferenz einige Verabredungen getroffen, um unsere Gemeinschaft zu stärken: So werden nicht nur die 95 Thesen ökumenisch kommentiert, |32| sondern auch eine evangelisch-katholische Schrift erarbeitet mit dem Arbeitstitel «Was jeder vom Christentum wissen sollte.»

Die ökumenische Dimension und die internationale Ausrichtung des Reformationsjubiläums 2017 ist der EKD ein zentrales Anliegen. Darin unterscheiden wir uns von den Jubiläen, die seit 1617 alle einhundert Jahre gefeiert worden sind.

Es ist, historisch gesehen, nicht nur zweifelhaft, ob es 1517 den berühmten Thesenanschlag an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg überhaupt gegeben hat. Es kann auch bezweifelt werden, ob die 95 Thesen schon als eine neue reformatorische Theologie anzusehen sind oder ob sie nicht doch gute katholische Theologie im damaligen Sinne waren. Unbestreitbar aber ist, dass der Aufbruch Martin Luthers und seiner Generation von Reformatoren alle unsere Kirchen beeinflusst hat – wenn auch zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Weisen. Die Niederländer erzählen deshalb eine andere Reformationsgeschichte als die Schwestern und Brüder in Afrika. Die Evangelische Kirche in Italien lebt mit anderen Reformationsgeschichten als die großen Kirchen in Skandinavien.

Aber genau deswegen sind wir hier in Zürich zusammengekommen: Wir wollen voneinander Geschichten der Reformation hören, wollen wahrnehmen, welche Wurzeln unsere reformatorischen Kirchen haben, welche Gegenwart sie gestalten, welche Hoffnungen sie leiten. Wir wollen voneinander erfahren, welche theologischen Einsichten uns besonders wichtig sind und welche Unterschiede unseren gemeinsamen Reichtum ausmachen. Wir wollen in unserer Vielfältigkeit und mit unserer Vielstimmigkeit nach gemeinsamen Formulierungen für den Kern des Reformationsereignisses suchen, das vor 500 Jahren von Zürich, Wittenberg und vielen anderen Orten ausging. Damit Christusgeschichten als Befreiungsgeschichten auch für heutige Menschen und für unsere heutige Welt Bedeutung gewinnen.

Lassen Sie uns darüber hier in Zürich sprechen und arbeiten!

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Bibelarbeiten

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Karen Georgia Thompson, UCC, Cleveland/Ohio

Römerbrief 3, 21–31

Der Bibeltext, den wir heute Morgen gehört haben, ist uns allen gut bekannt. Er gehört zu den Perikopen, die für die Reformation von zentraler Bedeutung wurden. Martin Luther berief sich besonders auf diesen Text als Argumentationsbasis. Luther hatte es zu seiner Zeit mit einer korrupten Kirche zu tun, mit einem Volk, das man lehrte, seinen Weg zur Ewigkeit käuflich zu erwerben, und einem Klerus, dem die Pflicht oblag, den Willen einer festen klerikalen Hierarchie auszuführen, mit offensichtlicher Unterstützung des Kaisers. Kirche und Staat traten vereint für den Ablasshandel ein, der als Mittel galt, der retributiven (vergeltenden) Gerechtigkeit Gottes zu entgehen. Die Entrichtung von Geldgaben an die Kirche in Form des Ablasserwerbs verwandelte Sündenstrafen, die der Sünder als Buß- und Reueakt auf sich zu nehmen hatte, in Finanztransaktionen.

Seine ausführliche Beschäftigung mit dem Römerbrief führte Luther zu einer gewagten Herausforderung der Kirche, und das zu einer Zeit, in der es für alternative christlich-religiöse Überzeugungen und Ansichten, die im Widerspruch zur damals herrschenden christlichen Lehre standen, kaum Chancen gab, sich Gehör zu verschaffen. Luther kam aufgrund seines Verständnisses des Römerbriefes zu der Erkenntnis, dass der Mensch durch Gottes Gnade als freie Gabe Gottes vermittels des Glaubens gerechtfertigt werde. Rechtfertigung ließe sich also nicht käuflich erwerben. Indem er die Heilige Schrift zur einzigen Quelle verbindlicher Autorität für die Kirche erhob, stellte Martin Luther die Autorität des Papstes und der römisch-katholischen Kirche in Frage.

Doch Luther war, wie wir wissen, kein Lutheraner, sondern ein römisch-katholischer Priester, der die Ausbeutung der Armen kritisierte und die Missbräuche des Papsttums anprangerte. Das führte ihn dazu, eben die Institution, in deren Dienst er stand, einer strengen Kritik zu unterziehen. Luther zahlte einen hohen Preis für seinen Wagemut: Er wurde in der Folge vom Papst exkommuniziert und vom Kaiser in Acht und Bann getan. Nach Luther werden wir erlöst sola scriptura, sola gratia, |36|sola fide – allein durch die Schrift, allein aus Gnade und allein durch Glauben.5

Wenn wir nun an das rasch auf uns zukommende 500-jährige Jubiläum der Reformation denken, ist dieser Anlass gewiss auch eine Gelegenheit, uns auf unsere Vergangenheit zu besinnen und das Werk unserer Vorgängerinnen und Vorgänger zu ehren. Und dieses historische Ereignis fordert uns zugleich auf, unsere kirchliche Gegenwart zu bedenken und die Zukunft der Kirche ins Visier zu nehmen.

Röm 3, 21–31 ist ein ebenso bekannter wie herausfordernder Text. Die Christinnen und Christen, Mitglieder der römischen Gemeinden jenes ersten Jahrhunderts, denen der Brief des Paulus vorgelesen wurde, hatten den Apostel nie gesehen und kannten ihn nicht. Unser Text schließt sich an den Schluss an, den Paulus in Röm 1, 17 zieht; den Abschluss bildet Röm 3, 20, wo Paulus schreibt: «…weil kein Mensch durch die Werke des Gesetzes vor ihm gerecht sein kann. Denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.» Damit ist der Rahmen für das, was Paulus zu sagen hat, abgesteckt.

In ihrem Buch «The First Paul» widmen Marcus Borg und John Dominic Crossan der Diskussion über das Thema «Rechtfertigung aus Gnade durch Glauben» ein ganzes Kapitel. Als Paulus «von der Rechtfertigung aus Gnade durch Glauben sprach», dachte er nach Meinung der Autoren des Buches nicht an die Art und Weise, wie wir in den Himmel kommen, sondern an die Transformation unserer eigenen Person und der Welt in unserem diesseitigen Leben. Mehr noch: Wenn Paulus Glauben und Werke gegenüberstellt, denkt er nicht an Glauben ohne Werke – was ein Unding wäre, denn Glaube umfasst stets Werke – sondern an Werke ohne Glauben, ein leider allzu häufiger Tatbestand, bisweilen aus Gründen der Gewöhnung oder von Schuld, bisweilen auch aufgrund gedankenloser Wiederholung oder kalkulierter Heuchelei.

Es ist die uns in Christus Jesus geschenkte Gnade Gottes, die Ort und Raum für Werke schafft, nicht als Vorschrift, sondern als natürliche Folge der aktiven, umgestaltenden Kraft Gottes. Weil wir Empfänger von Gottes Gnade sind, sind wir motiviert, Teilhaber von Gottes aktiver Gerechtigkeit in unserer Welt zu sein. |37|

Glaube ist die Aktion des Individuums, nicht Werke. Glaube ist unsere Antwort auf Gottes Wirken. Die Aktivität des Glaubens ist jedoch nicht unabhängig von Gottes Gegenwart und Gottes Wirksamkeit. Wäre Glaube allein auf die Aktion des Individuums zurückzuführen, gäbe es Gründe, sich seines Glaubens zu rühmen, ähnlich wie man sich seiner Werke rühmen könnte.

Walter Brueggemann und andere halten fest, dass ein Verständnis des Textes, welches impliziert, der Glaube sei eine Sache ausschließlicher Aneignung durch das Individuum, «den Text zu einer Erklärung umfunktioniere, deren Schwerpunkt auf den Folgen der Rechtfertigung Gottes für uns Menschen liegt». Doch «der Fokus des Textes», schreibt er, «liegt nicht auf der menschlichen Suche nach einem gnädigen und liebenden Gott, sondern auf dem radikalen Handeln Gottes, dessen Gnadenanspruch die ganze Menschheit umfasst.»6 Selbst wenn eine individuelle Person den Glauben besitzt, ist dies auf Gottes Gerechtigkeit zurückzuführen.

Ein rechtes Verhältnis zu Gott ist keine Verheißung für ein paar Auserwählte, sondern ist für «alle» Menschen bestimmt. Mehrmals hebt Paulus die universale Natur der Sünde hervor – «alle haben gesündigt und die Herrlichkeit verloren, die Gott ihnen zugedacht hatte», ganz wie die «Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus» allen, die glauben, zugesprochen ist. Nach Paulus zeigt Gott keinerlei Parteilichkeit im Angebot der Rechtfertigung. Es gibt keine Bedingungen oder Voraussetzungen, die zum Erwerb der Gnade Gottes erfüllt werden müssten.

Paulus vertritt diese Überzeugung «des Zugangs aller Menschen» gegenüber dem Gesetz, das den Zugang für ein bestimmtes Volk regelte. Es gibt keine Vorschriften, die eingehalten werden müssten, um das zu erreichen, was Gott frei anbietet. Allen gilt die Erlösung, die ihren Glauben auf Gott werfen.

Gott als Handelnder ist am Werk, um die Menschheit wieder in ein rechtes Verhältnis zu Gott zu bringen. Gott will ein rechtes Verhältnis zu uns schaffen, und als Ergebnis seines Handelns erfahren wir die Gerechtigkeit Gottes, wie sie sich zu unseren Gunsten auswirkt. Paulus schreibt: «Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich rede |38| aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben.» (V. 21f.)

Walter Brueggemann und andere Kommentatoren schreiben: «Gottes Gerechtigkeit ist keine Eigenschaft, die mit Gottes Güte oder Gottes Unveränderlichkeit vergleichbar wäre. Obwohl wir uns Gottes Gerechtigkeit nie von Gott abgetrennt vorstellen dürfen, ist Gottes Gerechtigkeit ein Geschenk, das Gott uns Menschen in seiner Gnade verleiht. Gottes Gerechtigkeit ist ein Ausdruck von Gottes Handeln, um Gottes Anspruch auf die Welt erneut zur Geltung zu bringen.»7

Luther rang mit diesem Text vor fast 500 Jahren, in einer Welt, die in keinem rechten Verhältnis zu Gott stand. Luther blickte sich in der ihn umgebenden Welt um und sah in ihr die Notwendigkeit zu einem tiefgreifenden Wandel. Die in der Kirche herrschende Korruption war an sich nichts Neues. Der Ablasshandel war keineswegs nur für reiche Leute bestimmt; er zielte genauso auf die Armen ab. So bereicherte sich die Kirche ständig, während das Volk immer ärmer wurde. Luther war nicht nur darauf bedacht, die kirchlichen Zustände zu verändern; seine Motivation erstreckte sich ebenso sehr auf die Situation der Armen und Ausgeschlossenen. Die Reformation veränderte das Leben der Menschen. Die Reformation veränderte die Kirche. Die Reformation veränderte die Welt.

500 Jahre später vermögen wir die Änderungen zu erkennen, welche das Eingreifen der Reformatoren innerhalb und außerhalb der Kirche bewirkt hat. Dabei war die Reformation keineswegs ein vollkommenes Experiment; sie hatte auch den Ausschluss von Personen zur Folge, deren Interpretation und Verständnis Gottes von den Reformatoren als häretisch angesehen wurde. Und wir werden das Reformationsjubiläum im Kontext einer ökumenischen Gemeinschaft begehen, die immer noch dem Tag entgegensieht, an dem die Kirche geeint ist, gemäß der Fürbitte Jesu für seine Jüngerschaft: «damit sie alle eins seien» (Joh 17, 21). Manche sehen in der Reformation die Ursache der Kirchenspaltung. Trennungen sind auch innerhalb unserer eigenen protestantischen Kirchenfamilie auszumachen. Hier haben sich Kirchen noch und noch aufgrund verschiedenartigster Differenzen gespalten. Unsere christliche Familie manifestiert sich unter den verschiedensten Namen: Methodisten, Anglikaner, |39| Orthodoxe, Lutheraner, Baptisten, Pfingstkirchler, Heiligkeitskirchen, Evangelikale, wobei jede dieser Gruppierungen sich noch in Untergruppen unterteilt. Wie rechtfertigen wir die Tatsache, derart uneins in der Frage zu sein, wie wir Gott, Jesus, den Heiligen Geist oder die Sakramente verstehen, wenn wir erkennen, welchen Weg Gott für uns alle aufgetan hat, um mit Gott durch Christus versöhnt zu sein?

Ungeachtet der Frage, wie wir uns den Inhalt von Röm 3, 21–31 in diesen Tagen und Monaten im Vorfeld der Reformationsfeiern neu aneignen, sind wir alle mit dem Leben und Werk Luthers und der anderen Reformatoren und deren Beitrag zur Gestaltung – oder vielleicht zur Neugestaltung – des Christentums konfrontiert: Wie wollen wir unseren christlichen Glauben heute als unsere Religion leben und in die Praxis umsetzen?

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Margot Käßmann, Berlin

Johannes 3, 1–15 (Lutherübersetzung 1984)

Lieber Kongressteilnehmerinnen und Kongressteilnehmer

Was für ein Text am frühen Morgen! Das ist wirklich ein harter Brocken und es ist schwer, sich ihm in 30 Minuten anzunähern. Denn wir haben es mit einem gut durchdachten, tiefgründigen und durchkomponierten Abschnitt zu tun. Nur beim Evangelisten Johannes finden wir dieses «Nikodemusnachtgespräch», das aufhorchen lässt. Was ist gemeint? Wenn Sie nach der ersten Lektüre denken: Das ist mir zu komplex, schwer verständlich, kann ich Sie beruhigen: Das findet sogar der große Johannesexeget Rudolf Bultmann. Das ganze Gespräch atmet, so Bultmann, «die Atmosphäre des Mysteriösen», entfaltet es doch «das Geheimnis der Wiedergeburt, des Menschensohns und des Zeugnisses.»

Schauen wir uns die Situation zunächst näher an. Ein Mann namens Nikodemus, offenbar bekannt, von Jesus sogar als «Lehrer Israels» angesehen (3, 10), kommt zu Jesus nach Anbruch der Nacht. In der Literatur und in vielen Predigten wird das als Ängstlichkeit interpretiert: Der Mann mit einer führenden Position im Hohen Rat wagt es nicht, öffentlich mit Jesus zu sprechen. Aber wovor sollte er Angst haben? Um seinen Ruf? Der Evangelist Johannes selbst sieht Nikodemus wohl als opportunistisch an. Jedenfalls sagt er über die «Oberen», die sich aus Furcht nicht offen zu Jesus bekennen: «Doch auch von den Oberen glaubten viele an ihn; aber um der Pharisäer willen bekannten sie es nicht, um nicht aus der Synagoge ausgestoßen zu werden. Denn sie hatten lieber Ehre bei den Menschen als Ehre bei Gott.» (12, 42f.)

Der Neutestamentler Klaus Wengst stellt dementsprechend die These auf, dass Nikodemus als Einzelperson für Johannes eher uninteressant sei. Vielmehr stehe er für eine Gruppe von «heimlichen Sympathisanten aus der Oberschicht, die sich nicht offen bekennen, weil sie befürchten, aus der Synagoge ausgeschlossen zu werden. Weil sie ihren sozialen Status nicht aufs Spiel setzen wollen…»8. Ein hartes Urteil. Dass Nikodemus Jesus als von Gott gekommenen Lehrer (3, 2) anspricht, sich aber nicht zu |41| ihm bekennt, das wirft Johannes ihm offensichtlich vor und damit vielen, die sich ebenso verhalten. Hier findet sich wohl auch ein latenter Antijudaismus bei Johannes. Der flackert auch in den exegetischen Betrachtungen zu unserem Text immer wieder auf, etwa bei Emmanuel Hirsch, wenn er schreibt: «Der Jude ist in einen Dienst gebunden, der seinen Blick verschließt für eine Gotteskindschaft, die als Wundergabe Gottes in das erdgebundene Leben sich senkt.»9

Nikodemus taucht mehrfach auf im Johannesevangelium. Er tritt für ein faires Verfahren gegen Jesus ein (7, 50f.) und er ist es, der gemeinsam mit Josef von Arimatäa für eine würdige Bestattung sorgt (19, 39ff.). Wäre es nicht auch möglich, dass Nikodemus schlicht Interesse an der Lehre Jesu hatte, nachdenklich war und offen das Gespräch suchte? Dass es abends stattfand, ist nicht außergewöhnlich. Der Talmud beschreibt, dass Rabbiner sich manches Mal nachts in die Tora vertieften:

«Preiset den Herrn, alle Diener des Herrn, die ihr in den Nächten im Hause des Herrn steht.» (Ps 134,1) «Was heißt: in den Nächten? Rabbi Jochanan erwiderte: Das sind die Schriftgelehrten, die sich nachts mit der Tora befassen. Die Schrift rechnet es ihnen an, als würden sie sich mit dem Opferdienst befassen.» (bMen 110a)

Die Situation könnte doch schlicht sein: Zwei Männer kommen am Abend zusammen und führen ein intensives Gespräch über die Grundfragen des Lebens und des Glaubens. Das gibt es doch auch noch heute. Vielleicht sogar hier auf unserem Kongress in Zürich! Und in der Tat sogar mit und auch unter Frauen! Abseits von aller Geschäftigkeit des Alltags gibt ein solcher Abend Raum für Dialoge, die tasten, fragen, nicht gleich alles unter Ergebnisdruck stellen. So verstehe ich dieses Gespräch, ein Ringen um Antworten im Glauben, die alle nicht leicht zu finden sind. Und es ist gut, wenn es solche Gespräche gibt. Allzu selten stellen wir uns diesen Glaubensfragen: Glaubst du an Auferstehung? Kann ich sagen, dass Jesus Christus für mich der Weg, die Wahrheit und das Leben ist? Was heißt Gottessohnschaft? Was bedeutet mir die Taufe? Und sind wir offen genug für Menschen wie Nikodemus, die interessiert sind, aber nicht gleich konvertieren oder sich bekennen? Ich denke, wir brauchen mehr Nikodemusnachtgespräche in unserer Zeit! |42|

Aber schauen wir uns den Dialog näher an, den Rudolf Bultmann übrigens in der Komposition bei Johannes als traditionelles Schulgespräch10 versteht:

Erst einmal stellt Nikodemus gar keine Frage, sondern erkennt Jesus als Lehrer im Glauben an. Wir befinden uns ja ganz am Anfang des Evangeliums. Johannes der Täufer hat erkannt, dass der Geist Gottes bei Jesus ist, und die Hochzeit zu Kana mit dem Weinwunder sowie die Tempelreinigung sind erste Zeichenhandlungen. Niemand kann solche Zeichen tun, wenn Gott nicht mit ihm ist, erkennt Nikodemus. Darauf reagiert Jesus mit seiner zentralen These: «Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.» (3, 3)

Das Reich Gottes kommt im Johannesevangelium nur in diesem Kontext vor, in Vers 3 und in Vers 5. In anderen synoptischen Evangelien wird es ja immer wieder mit dem Vergleich eingeführt, dass wir uns Kindern annähern müssen, um Zugang zu finden. So etwa Mk 10, 15: «Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solchen gehört das Reich Gottes» oder auch Mt 18, 3: «Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.» Im Grunde ist das Johannesevangelium noch radikaler: nicht nur wie ein Kind werden, nein, neu geboren werden. Was kann das heißen?

Genau das fragt Nikodemus: «Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?» (Joh 3, 4) Das ist, finde ich, eine sehr angenehm realistische Frage! Kann denn ein alter Mann neu anfangen? Gibt es das wirklich, als alte Frauen alles hinter sich lassen, noch einmal zurück auf Los? Ich sehe solche Thesen mit wachsendem Unbehagen. Beim Hamburger Kirchentag im Mai dieses Jahres war ich auf einem Podium zur Zukunft des Alterns in Deutschland. Eine Wissenschaftlerin beschrieb, dass wir alle immer älter werden, ständig Neues lernen sollen, neue berufliche Wege einschlagen, uns neu orientieren… Ich habe tiefe Erschöpfung gefühlt. In unserer Gesellschaft sollen wir uns alle verjüngen, ob durch Botox oder Haarimplantate, neu aufbrechen sollen wir, mobil und flexibel sein. Vielleicht möchte ich aber gar nicht mehr ständig neu anfangen, sondern endlich mal Ruhe haben und alles lassen wie es ist? Da kann die Forderung, neu geboren zu werden, ja auch Stress auslösen! Oder ist etwas ganz anderes gemeint als der Jugendwahn unserer Zeit? |43| Ein Geburtsvorgang ist ein tiefgreifendes einmaliges Geschehen. Es geht doch Johannes viel mehr um eine Erfahrung von Neu-Werden, die das Leben neu orientiert. Nicht aus mir selbst, aus Gnade lebe ich, aus Gottes Lebenszusage und nicht aus meinen Leistungen definiere ich den Sinn meines Lebens, im Glauben finde ich Halt im Leben und im Sterben – sola gratia und sola fide, wie die Reformatoren es konzentriert ausgedrückt haben.

Was kann das aber heißen, aus dem Geist geboren? Erst wird vom Geist gesprochen, dann vom Wasser: «Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.» (3, 5)

O ja, jetzt kommen wir in diffiziles ökumenisches Minengelände! Da gibt es diejenigen, vor allem Baptisten, die sagen: erst der Geist, dann das Wasser – der Taufe! Für die Reformierten ist diese Frage nach Geistwirken besonders wichtig. So heißt die Frage 53 im Heidelberger Katechismus, dessen 450. Jubiläum wir 2013 feiern: «Was glaubst du vom Heiligen Geist?» Und die Antworten lauten:

Erstens:

Der Heilige Geist ist gleich ewiger Gott mit dem Vater und dem Sohn.

Zweitens:

Er ist auch mir gegeben und gibt mir durch wahren Glauben Anteil an Christus und allen seinen Wohltaten. Er tröstet mich und wird bei mir bleiben in Ewigkeit.

Für die Getauften ist der Heilige Geist in dieser Tradition also bleibender Beistand Gottes.

Aber ich bin Lutheranerin und frage mich natürlich: Warum hat der ökumenische Kongress gerade mir einen solchen Text vorgegeben?

Für Martin Luther wurde immer klarer: Die Taufe ist das zentrale Ereignis und Sakrament. Hier sagt Gott einem Menschen Gnade, Liebe, Zuwendung, Lebenssinn zu. Und alles Scheitern, alle Irrwege des Lebens können das nicht rückgängig machen. Gehen wir zur Taufe zurück, brauchen wir keine Buße, kein Bußsakrament: Wir sind erlöst, wir sind längst Kinder Gottes. «Baptizatus sum» – ich bin getauft. In den schwersten Stunden seines Lebens hat Martin Luther sich das gesagt und daran Halt gefunden. |44|

Und: Jeder, der aus der Taufe gekrochen ist, ist Priester, Bischof, Papst. Von da her hat Luther auch den Respekt gegenüber Frauen entwickelt. Sie sind getauft und damit stehen sie auf gleicher Stufe. Zu sagen: Wir sind getauft und damit vor Gott gleich, war ein theologischer Durchbruch und zugleich eine gesellschaftliche Revolution. Aus diesem Taufverständnis entwickelte sich durch die Jahrhunderte die Überzeugung, dass Frauen in der Tat jedes kirchliche Amt wahrnehmen können. Mir ist wichtig, die theologischen Hintergründe deutlich zu machen, gerade da, wo von anderen Kirchen die Ordination von Frauen in Pfarr- und Bischofsamt infrage gestellt wird. Es geht nicht um Zeitgeist, es geht um Theologie.

Das gilt auch mit Blick auf Rassismus. In Südafrika erzählte ein Missionar, dass viele weiße Farmer sich in der Zeit der Apartheid dagegen wehrten, dass ihre schwarzen Arbeiter getauft werden sollten. «Dann sind sie ja wie wir» – o ja, eine tiefe theologische Einsicht, denn genau so ist es! Die Taufe ist ein Zeichen gegen alle rassistischen, sexistischen und anderen Ausgrenzungen innerhalb der Gemeinschaft der Kirche.

Zölibatäres Leben galt vor der Reformation als vor Gott angesehener, der gerade Weg zum Himmel sozusagen. Für viele Reformatoren war der Schritt zur Ehe ein Signal, dass auch Leben in einer Familie, mit Sexualität und Kindern von Gott gesegnetes Leben ist. Die öffentliche Heirat von bisher zölibatär lebenden Priestern und Mönchen und Nonnen war ein theologisches Signal. Die Theologin Ute Gause erklärt, sie sei eine Zeichenhandlung, die «etwas für die Reformation Elementares deutlich machen wollte: Die Weltzuwendung und demonstrative Sinnlichkeit des neuen Glaubens»11. Nun wird ja den Evangelischen im Land eher unterstellt, dass sie weniger sinnlich seien als die römischen Katholiken oder die Orthodoxie. Die Reformatoren aber wollten gerade deutlich machen: weltliches Leben ist nicht weniger wert als priesterliches oder klösterliches. Es geht darum, im Glauben zu leben im Alltag der Welt – da dürfen Protestanten auch sinnlich sein.

Und das finde ich in unserem Bibeltext für heute Morgen bestätigt. Im Johannesevangelium heißt es: «Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch: und was vom Geist geboren ist, das ist Geist.» (Joh 3, 6) Das muss doch gerade kein Dualismus sein, auch wenn es in der Exegese oft so gesehen wird: sarx und pneuma! Natürlich sind wir als Menschen eingebunden in die Zusammenhänge unseres Lebens. Wir wären doch |45|