9,99 €
Seit Kindestagen in England hat Catherine die schwärmerischen Erzählungen ihrer Großmutter Prunella über Südfrankreich und die Côte d’Azur gehört. Als sie nach ihrer Scheidung ein wenig Geld zur Verfügung hat, lädt sie ihre mittlerweile 78-jährige Großmutter Prunella kurz entschlossen zu einer Reise in das Stranddorf Gigaro ein, in dem ihre Großmutter vor genau 60 Jahren ihre ersten Ferien allein und im Ausland verbracht hat. Auf der Reise erfährt Catherine, dass diese Ferien viel mehr für ihre Großmutter waren: Sie hat dort damals die Liebe ihres Lebens, den Rettungsschwimmer Lucien, kennengelernt. Die beiden verlobten sich, doch die Beziehung scheiterte und Prunella ging zurück nach England in ihr altes Leben, brach jeden Kontakt mit Lucien ab. Ohne das Wissen ihrer Großmutter macht sich Catherine auf die Suche nach den Spuren von Lucien und wird bald fündig. Dabei begegnet sie auch einem Mann, der für ihr weiteres Leben von Bedeutung werden könnte...
Erstveröffentlichung 1. Februar 2021
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Mary Crestwick Blythemore
60 Jahre
und ein Tag
Roman
Copyright © 2021 Mary Crestwick BlythemoreDeutsche Version: Copyright © 2021 Bastian Richterwww.marycb.com
facebook.com/mary.crestwick.blythemore
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Sämtliche Figuren dieses Buches sind frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit Lebenden und Verstorbenen sind deshalb rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Titelfoto: Pampelonne Beach, Saint Tropez, France von Valentin B. Kremer / Unsplash.com
www.marycb.com
Das Video zum Buch
www.tiny.cc/mcb60j
“Schnell! Es ist gleich da vorne!”, rief sie mit leuchtenden Augen und zeigte mit ihrem Gehstock in Richtung Meer.
Ich hatte in diesem Moment beinahe Mühe, mit meiner Großmutter Prunella Schritt zu halten. Und das, obwohl sie gut 40 Jahre älter war als ich. Doch die so spät wie unerwartet in ihrem mittlerweile 78-jährigen Leben erfolgte Wiederbegegnung mit ihrem heiß geliebten Südfrankreich, ihrem Traumort Gigaro, nur einem schmalen Sandstrand getrennt von den einladenden Wellen des angenehm warmen Mittelmeers - all das schien ungeahnte Kräfte in ihr freizusetzen.
“Wir sind gleich da! Es ist gleich nach der Biegung!”, rief sie begeistert und lief unbeirrt weiter, während ich mit dem Union-Jack-Rollkoffer von Sainsbury’s aus dem heimischen Newbury in der Spätmittagssonne über den löchrigen Asphalt hinter ihr her holperte.
Wir hatten eine überstürzte Anreise zum Flughafen Heathrow hinter uns, danach einen holprigen Billigflug von London nach Nimes und eine schier endlose Taxifahrt durch atemberaubende Kurven entlang der Küstenstraße, wahnwitzige Spitzkehren und immer neue Kreisverkehre.
Der mürrische Taxifahrer hatte uns an einer falschen Adresse abgesetzt und war eilig davongebraust. Als wir den Irrtum bemerkt hatten, war es schon zu spät gewesen, ihn noch zurückzuwinken. Ich wollte ein neues Taxi rufen, doch meine Großmutter bestand darauf, den restlichen Kilometer zu Fuß zurückzulegen. Und einer Prunella Thornsworth widersprach man nicht, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte! Einer Prunella Thornsworth lief man brav und widerspruchslos hinterher!
Das Meer hatten wir schon von weiter oben gesehen. Und sein Anblick hatte die Augen meiner Großmutter verzückt aufleuchten lassen. Doch nun, etwas weiter unten und viel näher am Strand, konnten wir es auch riechen: Diese würzige Mischung aus Salzwasser, Tang und Algen war mir aus den Badeurlauben meiner nun auch schon eine Weile zurückliegenden Kindheit vertraut. Mit meinem Ex-Mann Andrew waren wir immer nur zum Wandern in die Berge nach Schottland gefahren. Dabei hatte ich das Meer immer so geliebt!
Ich atmete tief ein, um die Salzluft in mich aufzunehmen. Und wohl auch, weil ich mittlerweile stark schwitzend samt schwerem Koffer der Energie meiner fast 80-jährigen Großmutter kaum noch gewachsen war. Für die Nachsaison waren die Temperaturen um die 20 Grad hier schon sehr moderat. Verglichen mit Regen und Nebel bei 11 Grad vor unserem Abflug heute morgen in London-Heathrow war das für uns jedoch geradezu tropisch. Und es waren nicht nur Salz und Tang, die hier in der Luft lagen. Der Meeresduft mischte sich auf bezaubernde Weise mit dem Duft der Pinien und des Lavendels zu einer parfümreifen Mischung.
Je näher wir dem Strand kamen, desto mehr verbargen sich die Meter für Meter feudaler werdenden Anwesen in den Hügeln entlang der Straße hinter immer höheren Mauern. Wir liefen durch eine Art Schlucht aus Backstein, Rauputz und Beton, die von der Sonne unbarmherzig beschienen wurde und die nur ab und zu von einem Löwenzahn am Straßenrand oder einem vertrockneten Olivenbaum aufgelockert wurde, der sich zwischen die schmale Straße und die Grundstücksmauern quetschte. Wäre die Straße nicht so steil Richtung Meer abgefallen, wir hätten kein Wasser und keinen Horizont sehen können.
Wenige Meter weiter machte die Straße eine scharfe Biegung nach rechts, doch in der Kurve bog eine steile Treppe Richtung Meer ab. Großmutter nahm ohne Zögern die Treppe und rannte sie Stufe für Stufe in atemberaubender Geschwindigkeit nach unten. Bei ihrem letzten Besuch hier vor 60 Jahren war sie vermutlich keinen Schritt schneller gelaufen, und ihr Gehstock, der zu Hause ihr ständiger Begleiter war, schien hier zum reinen Accessoire, zum Zeigestock verkommen zu sein.
“Schau da! Die alte Kirche!”, rief sie begeistert und zeigte mit dem Stock auf ein windschiefes Türmchen, das zwischen den üppig grünen Oleanderbüschen am Ende der Treppe hindurch lugte.
Ich schaute. Aber nicht auf die Kirche, sondern erst auf die steile Treppe vor mir und dann auf unseren schweren Koffer neben mir. Erst seufzend und dann schulterzuckend nahm ich den Koffer beim Griff und wuchtete ihn ungelenk vor mir her die Treppe herunter.
“Wir hätten definitiv ein neues Taxi rufen sollen!”, rief ich Grandma hinterher.
“Kommst du, Catherine?”, rief meine Großmutter ungeduldig von weiter unten.
Ich nickte wortlos und befürchtete, dass sie mir als nächstes anbieten würde, den Koffer ein Stück zu tragen. Ich konnte sie gerade noch entzückt “Hier ist es!” rufen hören, bevor sie am Ende der Treppe in einer Seitengasse verschwand.
Vor meinem geistigen Auge malte ich mir aus, welche Vorwürfe meine Mum und mein Onkel Marc mir machen würden, wenn ich ihre Mutter hier im Straßengewirr von Gigaro verlieren würde. Sie waren schon nicht sonderlich begeistert gewesen, als ich Großmutter die Reise zu ihrem Geburtstag geschenkt hatte. Und noch weniger darauf gefasst, dass Großmutter ohne Zögern zusagen würde und auf einer Abreise am übernächsten Tag bestehen würde.
Gefühlte zwanzig Minuten nach Großmutters “Hier ist es!” kam auch ich am unteren Ende der Treppe an. Zwischenzeitlich hatte ich erwogen, ob es nicht sinnvoller wäre, den Koffer über die Treppen nach unten rollen zu lassen und dann am Treppenende die Einzelteile wieder zusammenzusuchen.
Ich blickte nach links durch das aus altem Backstein gemauerte Rundbogentor und sah zu meiner Verblüffung meine Großmutter vergnügt auf einer Schaukel hin- und her wippen. Sie saß mit dem Rücken zu mir und dem Backsteintor und betrachtete das zweistöckige, pastellgelbe Haus mit den kleinen Balkonen im ersten Stock und den alten Tonschindeln auf dem Dach immer wieder von oben bis unten.
“Maison Lumière!”, flüsterte sie mir zu, als ich den Koffer neben ihr abgestellt hatte.
Und so leise, als ob jeder anderer Laut die Idylle und ihr Glück zerstören könnte, fügte sie an: “Es ist noch wie damals!”
Die Selbstverständlichkeit, mit der die 78-jährige Frau auf der Kinderschaukel Platz genommen hatte, erübrigte meine Frage, ob das das Haus wäre, in dem sie als 18-jährige einen Sommer in Südfrankreich verbracht hatte. Diese Schaukel war ihr wohlbekannt. Sie musste sie zielgerichtet angesteuert haben. Es war quasi ihre Schaukel. Heute wie damals.
“Es ist nicht mehr bewohnt?”, fragte ich unsicher und ein wenig an mich selbst gerichtet, während ich meinen Blick über die schmucke, aber etwas in die Jahre gekommene Fassade von Maison Lumière gleiten ließ.
Es war wirklich das Abziehbild eines südfranzösischen Ferienhauses der vorletzten Jahrhundertwende. Die lavendelfarbenen Fensterläden waren alle verschlossen und das Gras im Garten konnte auch mal wieder etwas Aufmerksamkeit vertragen. Aber auch so konnte man sich lebhaft vorstellen, wie viel Leben hier einst in den Sommermonaten geherrscht haben musste.
“Die Bewohner sind scheinbar nicht da. Und es scheint auch keine Pension mehr zu sein.”, antwortete Großmutter etwas traurig.
“Wir hätten doch etwas online vorreservieren sollen!”, sagte ich leise und zog mein Smartphone aus der Tasche.
Großmutter berührte mich sanft am rechten Unterarm und rief mir empört zu: “Du und dein Internet! Wir laufen jetzt einfach durch das Dorf und suchen uns eine Unterkunft!”
Ich schaute unsicher zwischen meinem Smartphone und dem schweren Koffer hin und her und steckte das Telefon dann zurück in meine Tasche, wohl wissend, dass Großmutter keine andere Lösung akzeptieren würde.
Glücklicherweise hatten wir mit der steilen Treppe den letzten größeren Höhenunterschied zum Strand hin überwunden und ich konnte meinen Koffer jetzt leichter durch die Gassen rollen. Wir waren in der Nachsaison zur Mittagspause angekommen und alle Cafés und Geschäfte waren verschlossen. Außer ein paar streunenden Katzen und uns verirrte sich um diese Uhrzeit niemand anderes in die schmalen Sträßchen.
“Schau!”
Großmutter zeigte auf das handgemalte Namensschild einer Pension an der Hauptstraße des Ortes, nur wenige Meter, bevor sich die pittoreske Straße zur breiten Strandpromenade hin öffnete. “L’Auberge de Geneviève” stand da in weißen Lettern auf dem pastellblauen Holzbrett über der Tür.
Ohne meine Antwort abzuwarten, betrat Großmutter die Pension. Ich folgte ihr, den Koffer immer noch im Schlepptau, und drinnen erwartete uns ein Kleinod der neunzehnfünfziger Jahre mit Stofftapeten aus dunkelbraunem Cord, einem Rezeptionstresen aus abgewetztem Nussbaumholz und dahinter einem grob gezimmerten Holzregal mit einem Dutzend Schlüsseln mit altmodischen Schlüsselanhängern; sauber einer neben dem anderen an kleinen Messinghaken aufgereiht.
Ich schaute mich in der plüschigen Enge des Empfangsbereichs um. Denn eng war es. Dieses Kleinod war vor allem auch eines: Klein. Und der Einrichtung nach schien ich nach Gäste-Internet gar nicht erst fragen zu müssen.
Doch Großmutter schien es zu gefallen. Sie drückte beherzt auf die Portiersglocke aus schwerem Messing und wenig später erschien eine beleibte ältere Dame mit sauber zurückgekämmtem, grauen Haar und blauer Kittelschürze in der Seitentür. Sie stellte sich als Geneviève vor, offenbar die Inhaberin der Pension. Großmutter fing sofort an, weitschweifig mit Geneviève auf Französisch zu reden, wobei ich mit meinem Schulfranzösisch kaum Schritt halten konnte.
Zehn Minuten später wedelte Grandma mit einem Zimmerschlüssel in der Hand Richtung Treppe.
“Zimmer 31. Es ist im dritten Stock. Kommst du?”, rief sie.
Ich schaute wieder unschlüssig zwischen Koffer und Treppe hin und her, suchte in der Enge eine Fahrstuhltür und fand keine. Und Geneviève, die kaum jünger als meine Großmutter war, wollte ich auch nicht um Hilfe fragen. Und so folgte ich Grandma über die ächzende, schmale Holztreppe nach oben.
Oben angekommen hatte Großmutter schon Fenster und Fensterläden geöffnet und schaute nach draußen aufs Meer.
“Ist das nicht wunderschön?”, rief sie und klatschte die Hände zusammen.
Ich schaute mich in der engen Kammer mit den kaum 70 Zentimeter breiten Einzelbetten und den mit Blümchenmuster tapezierten Dachschrägen um und war sprachlos.
Sich zu mir umdrehend sagte Großmutter: “Ich habe extra auf dem Zimmer im dritten Stock bestanden, weil wir nur hier Aussicht auf das Meer haben.”
Ich schaute konsterniert zwischen Koffer und Fenster hin und her und stellte fest, dass ich wohl auch ein Kellerzimmer genommen hätte.