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Zwei Dinge weiß man über Gabriel Álvarez: Er hat ständig blaue Flecken – und er trägt sie in einem unglaublich schönen Gesicht. Gabriel wird nicht aufs College gehen, doch das hat auch keiner von dem Jungen erwartet, der immer wieder in Schlägereien verwickelt ist und in dessen Auto jede Woche ein anderes Mädchen steigt. Niemand weiß, dass er die Aufnahmeprüfung an einer englischen Musikhochschule bestanden hat. Kurz bevor er seinen Traum verwirklichen kann, bringt ein Schicksalsschlag sein Leben zum Stillstand, und damit die Gitarrensaiten unter seinen Fingern zum Verstummen. Völlig unerwartet verknüpft sich sein Leben mit dem der schillernden Influencerin Joy Evans. Langsam schafft sie es, seine Welt wieder in Bewegung zu setzen, während ihre jedoch immer weiter auseinanderbricht. Denn Joy kämpft nicht nur mit Verlusten, sondern vor allem gegen ihren eigenen Körper. Als Gabriel erkennt, wie dringend sie Hilfe braucht, will er ihr unbedingt beistehen. Doch das Flugzeug in seine mögliche Zukunft wird mit oder ohne ihn abheben. Und er hat nur diese einzige Chance.
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Trisha Brown
A joyful SUMMER
A joyful SUMMER
© 2024 VAJONA Verlag GmbH
Originalausgabe bei VAJONA Verlag GmbH
Lektorat: Madlen Müller
Korrektorat: Lara Späth und Vera Schaub
Umschlaggestaltung: VAJONA Verlag GmbH unter
Verwendung von Motiven von 123rf
Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Für dich.
Du bist schön.
Und du bist es wert, dass dir gute Dinge passieren.
Hinweis
In diesem Roman werden Themen wie häusliche Gewalt, Tod, der Konsum/Missbrauch von Alkohol,
Drogen und Medikamenten thamatisiert, ebenso die expliziten Darstellungen einer schweren Essstörung und damit einhergehende Gedanken und Verhaltensweisen.
Gabriel’s spanish version
Hotel California
Gipsy Kings
(Orig. Eagles)
Die Zigarette glimmt zwischen meinen Fingern auf, als ich daran ziehe. Noch während ich den Rauch ausstoße, lehne ich mich wieder vor und platziere meine Unterarme auf den Knien.
»Kriegst du eigentlich was mit?«
Damit reißt Ian mir die Cappy vom Kopf, was mir sofort das Gefühl gibt, als versenge mir die Sonne den Schädel. Er und Grey lachen, worin ich halbherzig einsteige und mir die zerzausten schwarzen Haare zurückstreiche.
»Der kriegt überhaupt nichts mit«, beantwortet Ian seine Frage selbst und springt vom Rand des Brunnens auf die Plattform.
Von allen Plätzen, an denen wir herumlungern, ist mir der hier der zweitliebste, nach dem Carrey Hillside, einem von gerade mal drei Hügeln in der Umgebung. Der Stadt-Springbrunnen hat so was Barockes. Dazu steht das riesige Teil noch auf drei steinernen Podesten aus rotbraunem Klinker, und um hier sitzen zu können, was gar nicht gern gesehen ist, muss man die erst mal überwinden. Aber dann kann man es sich auf dem glatten, weißen Stein des Brunnens bequem machen und wenn man Glück hat, weht einem ein leichter Wind kühlende Tropfen in den Nacken. Ich reiße die schwarze Cappy aus Ians Hand und setze sie mir auf den glühenden Kopf zurück. Ich lache noch immer mit ihnen, selbst wenn ich gar nicht so amüsiert bin.
»Was habe ich denn gesagt?« Ian hebt gönnerhaft die Brauen.
»Dass du ein Arschloch bist?«
Diesmal ist das Lachen tatsächlich auf meiner Seite und Ian verzieht den Mund auf der Suche nach einer schlagfertigen Antwort. Einen kurzen Moment bin ich überzeugt, es aus der Nummer heraus geschafft zu haben, doch nun meldet sich Grey von der Seite. Greyson Carter ist mein ältester Freund. Oder bester Freund. Irgendwie so was. Aus mehreren Gründen ist das gar nicht so selbstverständlich, weil er ein völlig anderer Typ ist als ich. Nicht unbedingt in seinem Inneren, denn er ist oftmals genauso abgefuckt wie ich. Aber seine Fähigkeiten, so zu tun, als fände er Leute wie Ian und diese ganze Collegetruppe interessant, sind ausgebauter. Seine Leistungen auf der High School waren besser, sein Werdegang ist durchorganisierter, seine Klamotten und seine Haare sind weniger schwarz, was bedeutet, sie sind blond. Grey ist einfach durchweg mehr US-Staatsbürger als ich, was besonders für seine Eltern von existenzieller Bedeutung ist. Er würde nie etwas, das ich ihm anvertraut habe, achtlos weitertratschen. Und das ist toll, aber leider ist es auch der Grund, warum die Diskussion um meine Aufmerksamkeitsspanne nun erneut aufflammt. Wüsste er, dass dieser klitzekleine Funken Wahrheit in seiner Aussage steckt, hätte er die Klappe gehalten.
»Leir kann sich nicht konzentrieren, wenn Joy Evans in der Nähe ist«, gibt er stattdessen zu Protokoll.
Ian legt eine betont skeptische Miene auf, dreht mir den Rücken zu und sieht in die Ferne. »Ich bin mir nie sicher, ob das dein Ernst ist.«
»Meiner?«, stoße ich hervor und lache; nun sogar aufrichtig. »Ich habe diesen Bullshit noch nie behauptet!«
»Mag sein«, überlegt er und wendet sich mit schiefem Grinsen wieder zu mir herum. »Aber es ist schon auffällig, dass King Leir immer die Fassung verliert, wenn Queen TikTok auftaucht.«
King Leir ist natürlich eine Anspielung auf Shakespeare, den er bescheuert findet, und ich bin mir sicher, er kennt King Lear auch nur, weil wir uns in der High School durchquälen mussten.
Ich ziehe ein letztes Mal an der Kippe und schnipse sie von mir.
»Bullshit«, wiederhole ich und starte eine Offensive. »Was ist jetzt mit heute Abend?«
Das war nicht so clever. Ian und Grey sehen mich einen Moment an, dann brechen sie in so lautes Gelächter aus, dass sich eine Gruppe Nerds auf der unteren Plattform zu uns umdreht. Wenn auch nur kurz, denn ich glaube, sie haben ziemlichen Schiss vor uns.
»Das war meine Frage, du Genie!« Grey klatscht mir die flache Hand gegen den Hinterkopf. »Ich wollte wissen, ob du heute Abend dabei bist, aber du warst abgelenkt.«
»Joy Evans ist ja auch geil.« Ian zuckt mit den Schultern. »Doof wie Bohnenstroh und ständig das Handy vor der Fresse, aber geil.«
»Nicht mein Typ«, behauptet Grey, lehnt sich vor und stützt sich auf die Knie.
Wie ein Preisrichter, der sein Urteil überdenkt, wendet sich Ian wieder der Szene vor dem Brunnen zu. »Aber sie muss ja dabei nichts sagen.«
Grey grinst. »Haken an der Sache: Die würde dich nicht ranlassen.«
Diese Aussage halte ich für ziemlich wahrheitsgemäß.
»Die kriege ich, da wette ich mit dir!«
»Niemals« Grey lacht, doch Ian streckt ihm die Hand entgegen.
»Die Wette mache ich mit dir. Heute Abend«, erklärt er, als wäre ihm der Sieg bereits sicher. »Sie kommt nämlich. Olivia hat sie eingeladen.«
Ich muss mich bemühen, den Kopf nicht nach hinten zu drehen, um Greys Gesicht zu beobachten. Denn ich habe schon seit einer ganzen Weile den Verdacht, dass er auf Ians Schwester Olivia steht. Jedenfalls hat er mal angedeutet, dass Schwestern von Freunden problematisch sind.
Grey zögert kurz, dann schlägt er ein. »Alles klar, versuch dein Glück.«
»Wie scheiße seid ihr?«, stoße ich hervor und melde mich nun endlich zu Wort. Ungewollt und nicht zu meinem Vorteil. Ein Reflex. Vielleicht, weil ich auch eine jüngere Schwester habe und allein die Vorstellung, wie jemand so über sie spricht, mir die Galle hochkommen lässt. Eventuell auch, weil solche Wetten unter aller Sau sind, selbst wenn es um Queen TikTok geht, wie die beiden sie nennen, wobei ich weiß, dass sie sich eher auf Instagram herumtreibt.
Grey und Ian mögen eine Liga sein. Ian mit richtig viel Geld, Grey mit mittelmäßig viel Geld. Aber so etwas ist eigentlich nicht Greys Niveau. Irgendwo muss man eine Grenze haben.
»So einen Scheiß könnt ihr euch sparen!«, füge ich noch hinzu.
»Aha«, macht Ian, richtet seinen Finger auf mich und grinst, was mich die Augen verdrehen lässt.
»Wenn einer so über meine Schwester spricht, knote ich ihm die Zunge um den Kopf.« Perfektes Argument. Danke Rafaela.
»Wie geht es ihr eigentlich?«, fragt Ian, nun ohne jeden Spott in der Stimme.
Automatisch weiche ich seinem Blick aus. Und auch Greys, der wahrscheinlich eher daran interessiert ist, wie ich mit dieser Frage umgehe.
Ich sehe wieder nach vorn und zurück auf Joy Evans, die noch immer damit beschäftigt ist, Fotos von sich machen zu lassen.
»Es geht ihr gut«, antworte ich kurz angebunden und beobachte, wie das Shooting in diesem Augenblick offenbar beendet wird. Ihre Freundin Katie schraubt die Spiegelreflexkamera vom Stativ. Man kann ihnen nicht nachsagen, sie würden es nicht professionell aufziehen. Katie kenne ich besser als Joy, die im wahren Leben Joyce heißt. Aber ihre knapp achtzigtausend Follower bei Instagram wissen das glaube ich gar nicht. Und es werden immer mehr. Anfang des Sommers waren es achtundsiebzigtausend, das war vor zwei Monaten. Eventuell könnte es an den Bikini-Fotos liegen, doch vielleicht ist dieses ganze Influencer-Ding irgendwann auch einfach ein Selbstläufer. Ich habe keine Ahnung.
Was ich jedoch weiß und was meiner Meinung nach eine objektive Einschätzung ist, ist Joys Äußeres, das ohne Zweifel einen großen Teil zu ihrem Erfolg beiträgt. Sie hat blonde Haare, die bis zu ihrer Taille reichen, grüne Augen, diesen Hauch von Sommersprossen und ist extrem hübsch, um es platt auszudrücken. Besonders in den weißen Sommerkleidern, die sie ständig trägt. Ihr ganzes Auftreten als schöne Cheerleaderin mit süßem Lächeln ist so weit von meiner Welt entfernt, dass die reale Welt wahrscheinlich in Chaos implodiert, sollte sie je mit mir sprechen.
Als jetzt das Equipment eingepackt wird, bemerke ich erst, dass eine Traube ihrer Anhänger zugeschaut hat und sich nun an sie herantraut. Joy Evans ist nicht nur in der Welt bekannt, sondern natürlich auch in unserem kleinen Seaford. Ich glaube, sie ist die berühmteste Person, die diese nichtssagende Stadt am Rand von Maryland jemals hervorgebracht hat.
»Schreibt sie da Autogramme?«, fragt Grey und reißt mich aus den Gedanken.
»Ist mir vollkommen egal«, entgegne ich und stehe auf. »Ich muss los, wir sehen uns heute Abend.«
Grey schlägt bei mir ein und Ian lässt es sich nicht entgehen, eine letzte Zigarette zu schnorren. Es ist schon eine Kunst, so viel Geld zu haben und nie eigene Zigaretten zu besitzen. Aber wahrscheinlich liegt es daran, dass so auch keine bei ihm gefunden werden können, die das Bild des perfekten Sohnes trüben könnten.
Obwohl es mir an diesem unmenschlich heißen Tag absolut an Elan fehlt, bin ich froh, mich aus der Sonne rausbewegen zu können. Meine durch den zerrissenen Stoff der Hose freiliegenden Knie brennen. Joy Evans ist in ihren weißen Klamotten cleverer als ich in meinen immer nur schwarzen, unter denen sich die Haut heute wie ein Brennstab aufheizt. Als ich sie, Katie und mindestens fünfzehn andere in einigem Abstand passiere, richten sich Joyce’ Augen plötzlich auf mich. Wahrscheinlich ist es das Geräusch, das die Schnallen meiner Stiefel bei jedem Schritt machen. Es hatte in der Nacht geregnet, weshalb ich mich heute Morgen vor der Arbeit gegen die Chucks entschieden habe. Das Ganze dauert vielleicht zwei Sekunden, dann streicht sie sich die in perfekte Locken gelegten Haare hinters Ohr und verfolgt weiter ihre Unterhaltung.
Als ich etwa eine Viertelstunde später zu Hause in den Flur trete, bemerke ich erleichtert, dass ich allein bin. Die Handtasche meiner Mutter fehlt, die Schuhe meiner Schwester ebenfalls. Der Bier-Geruch meines Vaters auch. Ich ziehe die Stiefel aus, werfe sie vor die Garderobe und gehe nach links in die Küche, wo ich auf die Uhr über der Tür sehe. Mir bleiben kaum fünfzehn Minuten, bis ich wieder losmuss. Einen Moment stehe ich unschlüssig im Raum und überlege, ob ich etwas essen oder lieber duschen soll. Beides zusammen könnte knapp werden.
»Musst du nicht zum Unterricht?«
Ich schrecke zurück, reiße den Kopf herum und stoße sogar einen kurzen, unförmigen Laut aus. »Ela! Was zur Hölle stimmt nicht mit dir?«
Das höhnische Grinsen im Gesicht meiner Schwester lässt mich die Frage noch einige Male in meinem Kopf wiederholen. Sie scheint jedenfalls auf dem Sprung zu sein, denn die Schuhe, die im Flur fehlten, trägt sie bereits.
»Ich wohne hier, du –«
»Du bist der Poltergeist dieses Hauses«, werfe ich ihr entgegen, ziehe die Cappy ab und lasse sie auf den leicht siffigen Küchentisch fallen, den keiner nach dem Frühstück abgeräumt hat. »Wobei man den wenigstens hören würde.«
Rafaela lehnt im Türrahmen, verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mir zu, wie ich den Kühlschrank öffne, um mir eine Dose Cola zu nehmen.
»Soll ich dich mitnehmen?«, frage ich.
»Weißt du denn, wo ich hin will?«
Sie legt ein künstliches Lächeln auf, während zwischen meinen Fingern die Dose zischt. Und weil sie nichts weniger erquickend findet, als mich glauben zu lassen, dass sie von einem Bett ins nächste zieht, funkeln ihre dunkelbraunen Augen hämisch. Selbst wenn mir ihre neue Frisur nicht gefällt, ihre Augen lässt sie wirklich gut zur Geltung kommen. Die Haare sind auf der rechten Seite gerade daumenlang, was exakt die Länge ist, die in einem Jahr nachwachsen konnte. Den Rest hat sie im Winter mit der Küchenschere auf Schulterlänge abgeschnitten. Auf jeden Fall sieht es so eher gewollt aus und nicht, als hätte es rasiert werden müssen, um eine Wunde zu nähen. Eigentlich habe ich kein Problem mit Kurzhaarfrisuren, es ist wahrscheinlich der Umstand des Haar-Verlusts, der mir nicht passt.
Rafaela und ich sehen uns ziemlich ähnlich, wobei ihre Haut einen dunkleren Touch hat als meine. Ihre Haare sind glatter, während ich seltsame Wellen darin habe. Wenn ich nicht bald zum Friseur gehe, haben wir auch die gleiche Haarlänge, denn diesen Sommer reichen sie mir schon über die Ohren. Vielleicht schneide ich selbst etwas ab, bevor es Anfang September losgeht.
Ich setze die Cola-Dose ab und lehne mich an die Arbeitsplatte. »Es ist mir vollkommen egal, wo du bist«, antworte ich endlich. »Solange du Abstand von diesem –«
»Halt dich doch einfach raus, Leir! Es geht dich nichts an, wie groß meine Abstände zu irgendwem sind!«
Einen langen Moment sehen wir uns an. Ich, der überlegt, ob sie diesen Satz wirklich ernst meint und sie, die für ihre siebzehn Jahre einen erstaunlich harten Blick aufsetzen kann.
»Mach, was du willst, Ela«, gebe ich betont desinteressiert zurück, obwohl es in keiner Weise zu dieser inneren Wut passt. »Wenn du das alles so witzig findest, okay. Mach. Was. Du. Willst! Aber dann geh verdammt noch mal zu Fuß zu dem Kerl!«
Mit dem letzten Wort knalle ich die Dose auf die Arbeitsplatte, was zur Folge hat, dass die Cola überschäumt. Noch während ich fluche, weil alles über meine Hand und auf den Boden läuft, wird Rafaela lauter.
»Du hast überhaupt kein Recht, dich einzumischen, wenn es darum geht, was ich mit irgendwem tue.« Am Ende ist ihre Stimme so brüchig, dass ich von dem Chaos weg und ihr ins Gesicht sehe. »Kümmere dich um deinen eigenen Kram und pass auf, dass du auch bloß nichts vergisst. Das Porto nach London ist teuer und ich schicke dir nichts hinterher!«
»Wohin willst du denn jetzt?«, frage ich, als sie aus der Küche stürmt.
»Weg!«
»Und es ist Manchester!«, rufe ich noch, doch die Haustür fällt bereits ins Schloss.
Ich starre einen Moment auf den Eingang, danach wieder auf die Cola.
Es ist Manchester. Noch zwei Monate, bis zur Abreise.
Genervt wische ich das Getränk auf, wasche mir die Hände und gehe in mein Zimmer. Schlussendlich habe ich weder gegessen noch geduscht. Ich nehme die Gitarre, setze mich ins Auto und fahre einfach.
Etwas zu früh stehe ich vor Harold Hewitts Haus in Camden, dem gehobenerem Viertel von Seaford. Es ist ein großes, massives Gebäude, das zum einen Teil mit Efeu bewachsen ist. Allerdings muss ich nicht ins Haus selbst, sondern in den Anbau. Eine Abzweigung führt nach rechts auf einen von unzähligen Blumen gesäumten Weg mit einer Gartenbank und in den Boden eingelassenen Lampen. Am Ende findet man eine weitere Haustür.
Ich könnte aussteigen, reingehen und dem Schüler zuhören, der vor mir dran ist. Doch ich lehne mich im Sitz des Volvos zurück und öffne Instagram. Siebzehn Likes auf meinen letzten Post, der zeigt, wie ich vorgestern rauchend am St. Mary’s River saß. Und weil ich noch Zeit habe und mich unbeobachtet fühle, suche ich das Profil von Joy Evans.
Jetzt ist es fast zu spät, um pünktlich zu sein, als ich endlich auf die Klingel drücke. Sekunden darauf öffnet Mrs. Hewitt.
»Danke«, sage ich und erwidere ihr Lächeln, bevor ich durch den kurzen Flur zum Unterrichtsraum auf der rechten Seite gehe.
Es ist selten, dass sie mir öffnet, und kommt im Grunde nur vor, wenn sie ihrem Vater gerade zufällig etwas vorbeibringt. So etwas wie Wasser oder eine vergessene Tablette.
Als ich eintrete, bin ich überrascht, dass bis auf meinen Lehrer niemand im Zimmer ist. Ich habe nicht einmal mitbekommen, dass der Schüler vor mir bereits gegangen ist. Mrs. Hewitt verabschiedet sich und schließt die Tür hinter mir.
Harold Hewitts Tochter ist ungefähr Mitte vierzig, was schon alles ist, was ich über sie weiß. Sein Alter hat er mir nie verraten, wobei ich auch nicht gefragt habe. Allerdings erzählt er gerne Anekdoten, und diese enden meistens mit:
»Das ist lange her. Wenn du wüsstest, wie alt ich bin ...« Dann zwinkert er grundsätzlich mit dem linken Auge. »Aber das ist ein streng gehütetes Geheimnis.«
Mein Lehrer hat raspelkurze graue Haare, ist spindeldürr und trägt eine kleine Brille. Sein Gesicht ist faltig, und wenn er die Zahnstocher-Beine übereinanderschlägt, wickelt er den Fuß noch einmal um die Wade herum. Ich habe das auch mal versucht und es tut richtig weh. Kombiniere ich diese Hinweise miteinander, komme ich summa summarum auf hundertdreizehn Jahre. Wahrscheinlicher ist, dass er irgendwas zwischen achtzig und neunzig ist. Das sind jedoch nicht die wirklich besonderen Merkmale dieses Mannes. Es ist das Tempo, in dem seine Finger über die Saiten fliegen.
Der Raum ist groß. Links befindet sich ein weißes Sideboard, über dem vier Gitarren hängen, die zusammen so viel wert sind, dass ich davon ein College bezahlen könnte, würde ich denn auf eines gehen. In der Ecke dahinter stehen drei hohe, weiße Regale, in denen er meiner Vorstellung nach, sämtliche Noten dieser Welt aufbewahrt. Daneben, und damit gegenüber der Tür, befindet sich ein hellgraues Sofa. An der Wand rechts ist ein Fenster. Zwischen diesem und der Sitzecke sind noch einmal vier Gitarrenständer aufgereiht, wovon einer immer leer ist, weil Mr. Hewitt ausnahmslos mit dieser einen spielt. Die Elftausend-Dollar-Taylor-Custom. Er sagt, sie sei das zweitbeste Instrument, das er je hatte. Das Beste sei seine erste Gitarre gewesen.
Eine seiner Anekdoten ist, wie er als Kind eine Mutprobe absolvieren musste, die verlangte, in seiner Heimatstadt Manchester ein Geisterhaus zu betreten. Darin hatte er zwar keine Gespenster, wohl aber eine Gitarre gefunden und mitgenommen. Er war zehn Jahre alt gewesen. Wenn das so stimmt, spielt er entweder seit einhundertdrei Jahren oder zumindest seit siebzig.
Während ich mich setze, frage ich mich unwillkürlich, ob ich auch so enden werde. Als kauziger alter Mann, weit weg von zu Hause, um die junge Generation zu drillen, ihre Fingerübungen zu machen.
»Du bist spät«, stellt er fest, ohne sich umzudrehen.
Er steht an einem der Regale und sucht das Heft heraus, das wir zurzeit durchgehen. Ich frage mich seit jeher zwei Dinge: Warum bereitet er das nicht früher vor, und warum lässt er die Noten nicht einfach draußen liegen? Es ergibt für mich keinen Sinn, dass er sie nach jeder Stunde zurückräumt. Ich bin nahezu jeden Tag hier.
Endlich dreht er sich um. Ich sitze bereits auf meinem Stuhl und öffne den Reißverschluss der schwarzen Schutzhülle.
Er lächelt wissend. »Es ist nicht so leicht, oder? Vor allem im Sommer.«
Ebenfalls seit jeher fällt mir beim ersten Satz des Tages auf, dass er naturgemäß anders klingt als sämtliche andere Leute um mich herum. Und damit frage ich mich auch, ob ich diesen Akzent mit der Zeit übernehmen werde. Macht man das nicht automatisch? Ich sollte das wahrscheinlich besser vermeiden, weil Grey und Ian mich verprügeln, wenn ich irgendwann nach Hause komme und wie King Charles klinge.
»Es geht schon«, behaupte ich.
Ich könnte auch einfach die Wahrheit sagen. Nämlich, dass ich mich ganz schön am Riemen reißen muss.
Anscheinend glaubt Mr. Hewitt mir ohnehin nicht, denn sein faltiges Gesicht zeigt nun so etwas wie Häme. »In deinem Alter habe ich schon viele Jahre gespielt«, beginnt er und setzt sich auf den Stuhl mir gegenüber.
Diese beiden Holzstühle stehen mitten im Zimmer und sind nicht sonderlich bequem. Vor meinem ist noch ein Notenständer.
Kaum sitzt er, schlägt er die Beine übereinander, wickelt seinen Fuß um die Wade und faltet die Hände auf dem Notenheft. »Aber weil ich auf diese Schule wollte, musste ich üben. Jeden Tag, viele Stunden. Meine Geschichte ist nicht so anders als deine, Gabriel. Wäre ich nicht gut genug gewesen, hätten sie mir kein Stipendium gegeben und ich hätte diese Schule niemals besuchen können.« Ich meide seinen Blick, als ich die Gitarre aus der Hülle ziehe und mir auf den Schoß lege. »Ich hätte auch lieber in der Sonne gesessen«, schließt er, und sein Lächeln ist unverkennbar wohlwollend.
Das hat allerdings nur zur Folge, dass ich mich schlecht fühle und mich frage, ob er uns am Brunnen gesehen hat, obwohl ich seiner Meinung nach in meinem dunklen Zimmer hätte sitzen und üben sollen.
»Ist schon okay«, sage ich erneut.
»Du musst nur durchhalten, Gabriel.«
Gabriel. Dieser Name ist manchmal wie der Spott Gottes. Lässt mich wie den Erzengel heißen und wie einen Anhänger des Leibhaftigen aussehen. Eigentlich einer von Gottes besseren Witzen, denn ich mag Unvereinbarkeiten. Mr. Hewitt ist nahezu der einzige Mensch, der mich so nennt. Meine Schwester sagt Leir, was schlicht von Gabriel rückwärts kommt. Ein Name, den sie sich schon als Kind ausgedacht hat und den mittlerweile fast jeder benutzt. Meine Mutter sagt Schatz. Mein Vater Schmarotzer.
»Du wirst all diese Prüfungen bestehen, die auf dich zukommen. Aber Talent ist nicht ausreichend, Gabriel. Harte Arbeit unterscheidet dich am Ende von denjenigen, die es nicht schaffen.«
Und so schiebe ich das besagte Talent zur Seite, als er das Heft auf den Ständer platziert. Dieses Stück hat wirklich absurd viele Noten.
Wenn man bedenkt, dass ich nicht sonderlich geübt habe, lief es richtig gut. Was Mr. Hewitt mir auch mitteilt, kurz bevor er mich eine halbe Stunde später verabschiedet.
»Bis Morgen, Gabriel«, fügt er hinzu, als ich mit eingepackter Gitarre aufstehe. Dazu schenkt er mir ein herzliches Lächeln, das ich erwidern muss.
Wie immer reiche ich ihm die Hand und wie immer hat er einen festen Händedruck. Es ist, als läge seine ganze Kraft in diesen Fingern, die auf den ersten Blick so zerbrechlich wirken wie sein gesamter Körper.
»Bis morgen«, sage ich und schultere die Tasche.
»Und üben. Würdest du üben, könntest du das Stück vielleicht fehlerfrei.«
Ich starre ihn an. Ertappt, überführt und vorgeführt gleichermaßen. Schließlich lächelt er und ich wende mich schmunzelnd zum Gehen, wohl wissend, dass ich nicht noch einmal damit durchkommen werde, ohne mir einen sehr langen Vortrag über Disziplin anhören zu müssen.
Ich lege die Gitarre auf die Rückbank, setze mich ins Auto und zücke mein Handy. Es ist viel zu früh, um bei Ian aufzutauchen, und ich habe keinen Elan, mich den herablassenden Blicken von Greys Eltern auszusetzen, wenn ich dort vorfahre, um ihn abzuholen. Obwohl ich mal wieder an der Reihe wäre, zu fahren. Meistens lasse ich die deutlich hörbaren Gedanken seiner Eltern auch schlichtweg an mir abprallen, aber heute habe ich keine Lust, mich mit dieser Art Republikanern auseinanderzusetzen.
Also mache ich mich auf den Weg nach Hause, wo es genauso anstrengend sein kann.
Rafaela ist noch nicht zurück, meine Eltern jedoch schon. Beide. Meine Mutter steht in der Küche und es riecht ziemlich gut. Es könnte Lasagne sein oder etwas in der Art.
»Hallo, mein Schatz«, begrüßt mich meine Mutter und lächelt müde, als ich in der Küchentür auftauche.
Sie hat ihre langen schwarzen Haare offen über den Schultern liegen, was dazu beiträgt, dass sie sehr jung wirkt. Tagsüber trägt sie meistens einen strengen Knoten, von dem sie allerdings Kopfschmerzen bekommt. Außerdem ist sie noch immer in ihre hellblaue Krankenhauskleidung gehüllt. Unwillkürlich frage ich mich, ob sie heute schon gesessen hat. Auf einem Stuhl, in einem Sessel, auf einer Treppe. Einfach irgendwo in Ruhe. In der Großküche oder auf den Stationen sicher nicht.
»Wo warst du?«, ertönt es hinter mir und eine eigenartige Mischung aus Wut und Nervosität greift nach mir.
»Arbeiten«, lüge ich, ohne mich umzudrehen.
Mein Vater schiebt sich an mir vorbei, stellt eine leere Dose neben das Kochfeld auf die Arbeitsfläche, öffnet den Kühlschrank und nimmt sich ein neues Bier. Der Mülleimer steht direkt unter der Arbeitsplatte. Es wäre keinen Schritt weiter gewesen, die leere Dose einfach da reinzuwerfen. Was meine Mutter nun tut. Mein Vater lehnt sich mit dem Rücken an die Platte, trinkt einen großen Schluck und fixiert mich mit schmalen Augen.
»Mit dem Ding auf dem Rücken?«
Ach, Scheiße. Die Gitarre.
Meine Mutter sieht nicht von ihrem Topf auf und mir kommt trotz der unterschwelligen Gefahr in diesem Raum der Gedanke, dass Lasagne nicht in Töpfen gemacht wird.
Ich drehe mich wortlos um und verlasse die Küche. Es ist das Beste, was ich machen kann. Alles andere, jede Antwort, die ich geben könnte, würde nur Ärger bringen. Ich höre, wie er irgendetwas auf Spanisch zu meiner Mutter sagt, aber ich kann es nicht mehr verstehen, da ich bereits auf der engen, knarzenden Treppe nach oben gehe. Dabei steige ich über Schuhe, einen Pullover sowie eine halb volle Flasche mit abgestandener Cola von Rafaela, die schon seit einigen Tagen hier steht. Zum Schluss überspringe ich die letzte Stufe, da sich das Holz, wenn man darauf tritt, so biegt, dass ich Angst habe, durchzubrechen und im Keller zu landen. Im winzigen Flur stehen drei Wäschekörbe. Den mit den schwarzen Klamotten nehme ich mit ins Zimmer, wo ich ihn vor dem Schrank fallen lasse und die Gitarre daneben platziere. Es ist heiß und stickig hier oben. Ich reiße das Fenster auf, obwohl es so gut wie nichts bringt. Anschließend sinke ich auf die Bettkante und während mein Körper etwas herunterfährt, gleitet mein Blick durch die zehn Quadratmeter geballte Lebensfreude. Morsch, düster, chaotisch. Der Wäschekorb ist eines von zwei ordentlichen Dingen im durch die Dachschrägen noch kleineren Zimmer. Auf dem Schreibtisch gegenüber steht ein Teller mit Resten einer Tiefkühlpizza, die ich mir vorgestern nach der Arbeit geholt habe. Für einen kurzen Moment frage ich mich, ob man die noch essen kann, da ich echt hungrig bin. Ich verzichte jedoch darauf. Dafür betrachte ich gedankenverloren die Gitarren. Ich besitze vier. Drei befinden sich aufgereiht neben dem Schreibtisch in ihren Ständern. Zwei Klassikgitarren, eine E-Gitarre. Die vierte, eine Western mit Stahlsaiten, steht verpackt in ihre Schutzhülle beim Wäschekorb. Diese Instrumente sind emotional und materiell mein wertvollster Besitz. Alles, was ich habe, alles, was mich auffängt. Das, worauf nun offenbar mein ganzes Leben aufbauen wird.
Es stand nie zur Debatte, dass ich auf ein College gehe. Wie und wovon auch? Ich glaube nicht, dass in dieser Familie überhaupt jemand mal auf einem war. Eigentlich merkwürdig, da doch hier alles besser ist, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Meine Möglichkeiten sind extrem begrenzt. Harold Hewitt ist der erste Mensch, der diese Grenze verschoben hat, als er im letzten Jahr meinte, er wolle mich mit nach England nehmen, damit ich an der Stretford Music Academy von Manchester vorspielen könne. Ich hatte es zuerst für einen schlechten Scherz gehalten. Nach einer ausschweifenden Rede über mein Talent hielt ich es für einen Scherz Gottes. Der macht ja öfter mal Witze, wenn ich mir mein Leben so ansehe; und sein Humor ist nicht sonderlich gut. Dann offenbarte Mr. Hewitt mir, dass er vorhabe, die Anreise und den gesamten Aufenthalt zu bezahlen, so überzeugt sei er von mir. Ob ich denn bereit wäre, für die Musik das Land zu verlassen, fragte er. Ab diesem Moment war ich aus den Angeln gerissen. Das Schlimmste, was das auslöste, war die urplötzlich aufkeimende Hoffnung. Zu Hause raus, weg, Frieden, Gitarre und einige Jahre nichts anderes. Und wenn ich mich am Riemen reiße, ist es die Chance auf ein Leben für und mit Musik. Es vergingen Wochen, in denen er beharrlich, mal mehr, meistens weniger subtil auf mich einredete.
»Wir dürfen uns nicht durch die begrenzten Vorstellungen anderer Leute definieren lassen«, zitierte er eine Frau namens Virginia Satir, von der er behauptet, sie gekannt zu haben.
Das Zitat ist schlicht und klingt nicht nach den großen griechischen Philosophen. Dennoch war es mir nicht aus dem Kopf gegangen. Nahezu ununterbrochen hatten sich die Worte in meinen Gedanken wiederholt.
Vier Tage vor Beginn der Prüfungswoche flogen wir nach Manchester.
Er hat mich in diesen Tagen spielen lassen, bis ich sicher war, meine Finger würden bluten.
Ich ging zur Prüfung.
Ich werde nie den Blick der Auditoren vergessen, wie sie da saßen, in ihrer Kleidung zwischen englischem Schick und individuellem Künstlergehabe. Die Audition kostet siebzig Pfund. Es ist ihnen egal, wer vorspielt, ihr Geld bekommen sie, ob man besteht oder nicht. Als ich den Raum betrat, wusste ich, dass ich wie ein Kandidat aussah, der nur dazu da war, ihnen in die Kasse zu spielen. Ich trug zwei Stücke vor: Klassik und Flamenco. Beim Wechsel musste ich sogar kurz an Ian denken, der wahrscheinlich Zigaretten nach mir geworfen hätte, wenn er mich gesehen hätte. Mit Grey hatte ich am Morgen telefoniert, wofür er sich sogar extra einen Wecker gestellt hatte, der wegen der Zeitverschiebung mitten in der Nacht klingelte. Er saß danach nervös und mit gedrückten Daumen in seinem dreitausendfünfhundert Meilen weit entfernten Zimmer.
Nach dem ersten Stück hatte sich die Meinung des Auditoriums offenbar geändert, denn es wurde ein zweites verlangt.
»Wenn sie dich zu Ende spielen lassen, ist das gut. Wenn sie das Zweite hören wollen, ist es sehr gut.« Die Erinnerung an Mr. Hewitts Worte hat mir in dieser Pause Mut gemacht. Ich wechselte also die Notenblätter. Die meisten benutzen heute ein Tablet, ich habe aber keins. Mr. Hewitt wollte mir für die Prüfung eines leihen, doch ich bin gewöhnt, diese zusammengeklebten Blätter zu sehen. Auf einem der Blätter, in Takt sechsundzwanzig, passierte der Fehler. Völlig falsch gegriffen, es war schlimm, zumal ich an dieser Stelle nie zuvor einen Fehler gemacht habe.
Als Ende Mai der Brief kam, in dem mir gratuliert wurde, erhielt ich auch direkt eine Liste mit Dingen, die ich zum Semesterstart brauche.
Semesterstart ist in zwei Monaten.
Mit diesem Gedanken, der mich jeden Tag in diesem Haus aufrecht hält, stehe ich auf, suche mir frische Sachen aus dem Wäschekorb und gehe endlich unter die Dusche.
Zu Ian Masons fast schon allwöchentlicher Party komme ich ziemlich spät, wenn man bedenkt, dass ich zuerst nicht wusste, wie ich die Zeit bis dahin herumbekommen soll. Ich habe sie mit schlafen verbracht und bin nun müder als vorher.
Die Straße vor dem Anwesen ist ungeheuer eng. Da ich bereits einige Male aus verschiedensten Gründen hier war, wovon nur einer die Feierlichkeiten sind, weiß ich, wo ich das Auto am besten abstelle, um nicht zugeparkt zu werden. Ich bin jedoch bisher nicht davon überzeugt, dass ich auch wirklich mit dem Auto wieder von hier wegfahre, denn eigentlich hätte ich Lust, etwas zu trinken. Damit müsste ich mich vermutlich im Zaum halten, sollte ich morgen früher aufstehen wollen, um meine Finger noch in eine Ordnung zu bringen, bevor ich zum Unterricht fahre.
So oder so stelle ich den Wagen auf einer vertrockneten Wiese ab, die oberhalb eines Ausläufers des St. Mary’s grenzt und durch ein Metallgeländer gesichert ist, damit man nicht im tiefer gelegenen Fluss landet. Ganz geheim ist dieser Ort nicht, da ich mich neben fünf anderen Autos einreihe. Als ich aussteige, höre ich bereits Musik. Keine, die ich irgendwie gut fände, doch stupide genug für so einen Abend.
Auf der langen Einfahrt entdecke ich die ersten bekannten Gesichter oder sie erkennen mich. Eines von ihnen gehört Bethany Miller und ich sah es schon zu so ziemlich jeder Tages- und Nachtzeit. Als sie mich sieht, legt sich dieses vielsagende Lächeln auf ihre in Szene gesetzten Lippen. Eigentlich eine lustige Sache, da Bethany Cheerleader ist, und in meiner Vorstellung gehöre ich nicht zum Beuteschema dieser Spezies. Wobei ich so etwas oft behaupte und dann eines Besseren belehrt werde.
Wie zum Beweis auch, als ich um das imposante weiße Haus herum in den Garten gehe. Noch bevor Grey, der mich längst gesehen hat, mich erreicht, baut sich eine junge Frau vor mir auf, die mit ihren schwarzen Locken und erstaunlich langen Wimpern unbestreitbar hübsch ist. Bei der man aber auch deutlich merkt, dass sie getrunken hat. Und es ist erst kurz nach zweiundzwanzig Uhr. Die sehe ich wahrscheinlich nicht mehr lange. Sie ist ein ganzes Stück kleiner als ich und sieht mich mit ihren tiefbraunen Augen fasziniert an. Oder ängstlich. Ich bin nicht sicher. Gespannt darauf, was kommt, lächle ich, was sie sofort erwidert. Offenbar hat sie Mut gefasst, denn sie öffnet ihren Mund, um etwas zu sagen; genau als Grey bei uns ankommt, seinen Arm um meine Schultern legt und breit grinst.
»Ist der für mich?« Er deutet mit dem Kinn auf einen der beiden roten Becher in ihrer Hand und erntet dafür prompt einen bösen Blick.
Ich muss lachen, versuche es aber mit derselben Frage. »Oder für mich?«
Gerade noch aus dem Konzept, ist sie nun wieder bei der Sache und wirft die Locken zurück.
»Wenn du willst, kannst du ihn haben, ja.« Dabei hat sie einen so pikanten Ausdruck, dass man schon ein totaler Nerd sein muss, um es nicht zu verstehen. »Und falls du mehr willst, kannst du es dir bei mir abholen.«
»Okay, ist gespeichert.« Ich schmunzle.
Einen weiteren lasziven Augenaufschlag später habe ich ein Bier in der Hand und sehe ihr hinterher.
Grey hebt die Brauen. »Sollte sie nicht wenigstens ihren Namen sagen?«
Ich winde mich aus seinem Griff. »Wofür?«
Ich steige in sein Lachen ein, trinke daraufhin einen großen Schluck, erinnere mich aber, dass die Heimfahrt noch nicht geklärt ist. Das Bier werde ich auf einer der sandfarbenen Stufen wieder los, die in den oberen Teil des Gartens führen. Alles ist gesäumt von diesen Lampen auf Stöcken, und es gibt zwar keinen Pool, jedoch einen Rasensprenger, unter dem in Badehosen und Bikinis hin- und hergesprungen wird.
Manchmal weiß ich nicht, warum ich zu diesen Partys gehe. Ich bin kein richtiges Mitglied der Collegegesellschaft, ich mag die Musik nicht, ich mag die meisten Leute nicht mal. Aber ich mag auch mein Zuhause nicht. Das ist wahrscheinlich der Knackpunkt. Dann wäre da noch die Wahl zwischen aktuell Bethany und dem Bier-Mädchen. Und Grey ist ein Grund.
»Komm, setz sich da hin«, fordert dieser, grinst und deutet auf eine Gartenbank aus weißem glattem Stein, ähnlich dem vom Springbrunnen in der Innenstadt.
Im Haus der Mason-Geschwister ist nahezu alles weiß. Die Möbel, der Boden, die Wände. Egal ob drinnen oder draußen. Ich habe nicht mal eine Ahnung, was die Eltern der beiden machen, um sich so ein Leben leisten zu können. Jedenfalls arbeiten sie irgendetwas, bei dem man häufig zwei, drei Tage weg ist.
Es ist keine Villa, aber doch eine Nummer für sich. Etwa dreißig Leute sind heute hier. In unseren Garten würden die nicht passen, selbst ohne das Gerümpel darin. Besagte Geschwister bestehen aus Ian und Olivia, wobei Letztere eines Tages der Grund sein wird, weshalb ich hier nicht mehr so bereitwillig reingelassen werde. Ich bin nämlich nicht sicher, ob Ian eine Ahnung davon hat, dass ich weiß, wie das Zimmer seiner Schwester aussieht.
Ich rutsche auf der abgerundeten Lehne der Steinbank umher und nehme eine von Greys Zigaretten, die er mir vor das Gesicht hält.
»Warum sitzen wir jetzt hier?«, erkundige ich mich und Greys Schmunzeln lässt nichts Gutes ahnen.
»Wir sitzen hier, um zu sehen, wie Ian abgeschmettert wird.«
Ich folge seinem Blick und manchmal bin ich echt naiv, denn ich hätte darauf kommen können. Es geht um die kleine Gruppe, die in einiger Entfernung neben der doppelflügeligen Terrassentür steht. Bestehend aus fünf jungen Frauen. Vier kenne ich. Eine davon ist Joy Evans. Und mir dämmert es.
»Das ist nicht euer Ernst, oder?«
Grey lacht bitter. »Es geht zwar nur um zwanzig Dollar, aber Ian meint das absolut ernst.«
In diesem Moment kommt nicht Ian, sondern Olivia dazu. In der Hand eine Flasche Baileys. Das Zeug erkenne ich aus jeder Distanz, weil Rafaela, die das Gott weiß woher bekommt, es in ihrem Zimmer bunkert. Olivia beginnt jedem einzuschenken. Alle lachen, Joyce auch, wobei sie dabei allerdings eine ziemlich deutliche, ablehnende Handbewegung macht. Ich kann von hier aus nicht verstehen, was zu ihr gesagt wird, doch es wird erneut gelacht. Sie lacht mit und dann hält sie ihren Becher hin. Joyce trinkt, streicht sich die offenen und in perfekten Wellen liegenden Haare zurück und lächelt. Sie ist extrem schön. Unpassender Gedanke in dieser Situation. Aber wahr.
Olivia hebt die Hand und winkt jemanden heran. Ich bin für eine Sekunde nicht sicher, ob ich von so viel Skrupellosigkeit angewidert oder beeindruckt bin, denn es ist Ian, der dazustößt.
»Der ganze Aufwand für zwanzig Dollar?« Ich versuche mich in einem besonders geringschätzigen Blick. Das Schlimme ist, dass das Spektakel tatsächlich zu funktionieren scheint. Es dauert kaum zehn Minuten, da ist Ian bereits mit ihr in ein Gespräch vertieft. Fünfzehn Minuten später schauen sie sich irgendetwas auf seinem Handy an, schon ziemlich nah beieinander. Unterbrochen wird das Ganze nur von Olivia, die mehrmals nachschenkt. Das Tempo ist beachtlich und ich frage mich, ob das so gewollt ist. Es ist gerade eine zweite Flasche aufgemacht worden.
Ian, der seine dunkelblonden Haare nun zurückstreicht und erstaunlich nett lächeln kann, wird diese Wette gewinnen, daran habe ich mit einem Mal keinen Zweifel mehr.
»Erzählt mir, wie es ausgegangen ist«, sage ich und springe von der Bank.
»Ach, komm.« Grey hebt die Brauen und trinkt den letzten Schluck aus seinem Becher. »Wohin willst du denn?«
Erneut schaffe ich ein vielsagendes Lächeln. »Ich suche die Kleine von vorhin.«
Die Antwort gefällt ihm, denn nun lacht er. »Alles klar, dann bis morgen?«
»Mal sehen«, entgegne ich etwas undeutlicher, was er aber trotzdem richtig einordnet.
»Hängst du wieder in Camden rum? Riecht es in der Bude nicht irgendwie nach altem Mann?«
»Bis die Tage«, entgegne ich schlicht, wende mich zum Gehen und sehe mit einem letzten Blick, wie sich die Szene um Ian und Joyce auflöst. Mehr will ich gar nicht wissen, also ziehe ich von dannen, und obwohl das mit dem Bier-Mädchen nur ein Scherz war, beschließe ich, dass es keiner gewesen ist. Was eventuell daran liegt, dass ich sie zufällig sehe, während ich die Stufen der Gartentreppe hinuntergehe. Eine ihrer Freundinnen macht auf mich aufmerksam und unauffällig ist definitiv anders. Mit einem bezirzenden Lächeln kommt sie auf mich zu, ohne dass ich vorher irgendetwas hätte tun müssen.
»Wohin willst du denn?« Sie trinkt an ihrem Becher.
»Es ist langweilig hier«, antworte ich gelassen. »Ich fahre wieder.«
»Und wohin?« Sie legt den Kopf schräg und mein Mund verzieht sich zu einem leichten Schmunzeln.
»Einfach in der Gegend herum.«
»Da wollte ich auch hin. Nimmst du mich mit? «
Ich muss lachen und sie grinst mit erwartungsvollem Blick. Eine Antwort wartet sie gar nicht erst ab, sondern winkt ihren Freundinnen zu, die diese Szene natürlich beobachtet haben.
Meinen geheimen Parkplatz erreichen wir wenig später, ohne viele Worte gewechselt zu haben. Mittlerweile ist ihr Becher leer und sie wirft ihn achtlos zu Boden.
»Bist du sicher, dass du mitfahren willst?«, frage ich, als der Volvo in Sichtweite kommt. Ich will ihr zumindest die Chance geben, es sich anders zu überlegen. »Das ist nämlich mein Auto«, füge ich hinzu, bleibe daneben stehen und lege eine Hand auf das Dach.
Sie macht einen Schritt auf mich zu und ist so nah, dass sie mich berührt. »Ich will da schon seit einer ganzen Weile mitfahren.«
Ich stoße ein kurzes, lautloses Lachen aus, dann ist es mir langsam egal, und ich lasse das mit den Manieren. Beide Hände an ihre Wangen gelegt, küsse ich sie. Fast augenblicklich fährt sie mit ihren Fingern und dazugehörigen Fingernägeln unter mein Shirt, und in einer fließenden Bewegung drehe ich mich mit ihr herum, sodass sich ihr Körper zwischen mir und dem Wagen befindet. Es verspricht definitiv spannend zu werden, denn sie hebt ihr Bein an meine Hüfte und macht bereitwillig für mich Platz. Es ist allerdings noch nicht so weit, dass ich es auf einem semi-belebten Parkplatz treibe, was ein Gedanke ist, den ich erst mal zu fassen bekommen muss, so wie sie ihre Hände einzusetzen weiß. Ich beende den Kuss und möchte sie bitten, ins Auto zu steigen, als gefühlt nur wenige Meter entfernt jemand hustet. Es ist dieses spezielle Geräusch, das jeder kennt, der einmal zu viel getrunken hat und dem das ganze Zeug wieder hochkommt. Während meine Begleitung auf die andere Seite geht, trete ich in meiner Neugier einen Schritt zurück und kann hinter die parkenden Autos auf die Uferkante und das Geländer sehen. Joy Evans kauert am schmalen Durchgang zu einer Treppe für Stadtmitarbeiter auf den Knien, hält sich die Haare zurück und spuckt ins Wasser. Kein Ian weit und breit.
»Alles klar?«, fragt es von der Beifahrerseite, wobei die Tür schon geöffnet ist.
Ich will mich gerade abwenden, weil dieser Anblick da vorne nicht so recht in meine Abendplanung passt, als ich ungewollt beobachte, wie Joyce’ Handy aus ihrer Tasche fällt. Dann sehe ich, wie sie hektisch versucht, es auf dieser steilen Treppe aufzufangen. Als ich zu ihr eile, denke ich noch, dass sie zu viel getrunken hat, um so auf diesen Stufen herumzuspringen. Einen Wimpernschlag später greife ich ihren Arm.
»Bei aller Liebe«, stoße ich hervor und ziehe sie nach oben. »Das Ding ist weg!« Zur Bestätigung ertönt ein unmissverständliches Geräusch, nachdem das Telefon erst von Stufe zu Stufe prallt und schließlich im Fluss landet.
Joyce starrt einen Augenblick auf das Wasser, auf dem sich die Lichter der Umgebung spiegeln. Dann richtet sie ihre Augen auf mich. Etwa einen halben Kopf kleiner als ich und so nah, dass ich selbst in diesem schwachen Licht die Sommersprossen erkennen kann.
»Fahren wir?«, ruft eine Stimme aus einiger Entfernung.
Joyce wendet kaum merklich den Blick in Richtung meines Autos und ich werde mir bewusst, dass ich sie noch immer festhalte. Sofort lasse ich sie los, woraufhin sie mich wieder ansieht. Ich frage mich, ob sie etwas gesagt hätte, wären wir allein gewesen. Jetzt allerdings dreht sie sich um und geht.
Als ich am nächsten Vormittag aufwache, bin ich wie immer nassgeschwitzt. Es ist so unerträglich heiß im Zimmer, dass ich in Unterwäsche am Bettlaken festklebe. Und obwohl ich eigentlich früh wieder hier war, konnte ich erst irgendwann am Morgen einschlafen. Gegen halb fünf habe ich zuletzt auf die Uhr gesehen. Sarah – zu guter Letzt habe ich doch noch ihrem Namen erfahren –, habe ich schon knapp eine Stunde nach dem kleinen Zwischenfall mit Joy Evans Zu Hause abgesetzt. Nicht ohne das Angebot zu erhalten, bei ihr zu übernachten.
Ich schleppe mich unter die Dusche und suche wenig später im Kühlschrank nach etwas Essbarem. Bier, Eier, noch mehr Bier und irgendwelche Reste. Ich rieche an der Milch, und nachdem sie vorerst nicht den Eindruck macht, als müsse ich in ärztliche Behandlung, wenn ich sie zu mir nehme, hole ich mir die Packung Cornflakes vom Schrank.
»Du kannst deinen faulen Arsch bewegen und Einkaufen fahren«, ruft es aus dem Wohnzimmer.
Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass er im Sessel sitzt, die Füße auf dem ramponierten Schemel, die Dose in der linken Hand und die Fernbedienung in der rechten. Es ist Samstag, er hat frei. Meine Mutter nicht, denn sie arbeitet an sechs Tagen in der Woche.
»Ich habe es satt, dass du hier alles wegfrisst und keinen Cent für irgendetwas bezahlst«, brummt er weiter.
Ich schütte die Cornflakes in die Schüssel.
»Wo ist das ganze Geld, was du in dem Laden bekommst? Irgendetwas wirst du dort ja verdienen oder nicht?«
Ich gieße die Milch über die Flakes.
»Steckst alles den scheiß Inselaffen in den Arsch, anstatt deine Familie zu unterstützen.«
Ich nehme meine Schüssel und gehe damit wieder die Treppe hoch.
»Nichtsnutzige Plage«, höre ich noch, gerade laut genug, dass ich es verstehen kann.
Es ist fast Mittag, und als ich mit dem Frühstück fertig bin, bleibt mir noch immer eine Stunde, bis der Unterricht beginnt. Bis ich hier rauskomme.
Weil ich mich daran erinnere, einen zwanzigminütigen Vortrag über Disziplin anhören zu müssen, sollte ich erneut ungelernt bei Mr. Hewitt auftauchen, packe ich die Gitarre aus und suche nach den kopierten Noten, die ich am Bettende finde.
Das Stück spiele ich zweimal durch und zweimal mit den gleichen Fehlern. Beim dritten Versuch poltert die Stimme meines Vaters durch den Flur, und zwar beunruhigend nah.
»Höre ich von dieser Scheiße noch einen Ton, fliegst du raus!«
Damit knallt die Tür zum Bad zu.
Ich schließe kurz die Augen, atme durch und packe dann beinahe hektisch die Gitarre zurück in ihre Hülle, schiebe das Handy in die Gesäßtasche und flüchte. Ich weiß nicht, was er im Bad treibt und wie lange es dauert, aber ich muss ihn heute nicht noch einmal sehen, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt. Ich ziehe die Stiefel an, schließe sie aber nicht.
Kaum bin ich aus der Tür heraus, prallt mir die flimmernde Hitze ins Gesicht. Und als ich die Beifahrertür öffne, um die Gitarre abzulegen, bin ich mir sicher, wenn ich in diesen Wagen einsteige, werde ich wie ein Marshmallow schmelzen.
Im Auto frage ich mich unwillkürlich, ob mein Erzeuger irgendwann dahinter steigt, dass ich ihm nicht antworte. Seit Wochen ignoriere ich ihn so gut es geht. Statt auf seine ständigen Parolen einzugehen, zähle ich einfach die Tage, ab wann ich sie endgültig nicht mehr ertragen muss. Ich glaube, dass er es mitbekommt, denn ich habe das Gefühl, dass die Beleidigungen zunehmen. Als wolle er wissen, wann ich endlich die Nerven verliere. Zuletzt ist es vor zwei Wochen passiert. Manchmal entlädt sich diese ganze gesammelte Wut mit nur einem falschen Wort.
Mr. Hewitt hatte mich angesehen und zuerst dachte ich, er würde unangenehme Fragen stellen, doch das tat er nicht. Nie. Er nickte nur nachdenklich und meinte schließlich: »Deine Hände sind dein kostbarster Besitz. Bringe sie nicht in Gefahr. Nicht für Menschen, die es nicht wert sind.«
Kurz gesagt: Geh deinem verfickten Vater aus dem Weg, lass dich nicht provozieren und hör endlich auf, dich zu schlagen.
Ich bin heute sogar pünktlich. Die Scheiben lasse ich ein Stück weit unten, als ich das Auto verriegle und zum Anbau gehe. Es steht hier in praller Sonne, und wenn ich in einer Stunde wieder einsteige, werde ich wahrscheinlich in Flammen aufgehen. Ich nehme die Cappy ab, weil er sie nicht leiden kann und mir diese Vorträge in den ersten Wochen des Unterrichts bei ihm wirklich auf den Keks gegangen sind.
Während ich sie an einer Gürtelschlaufe befestige, warte ich, dass jemand mir aufmacht. Falls nur Mr. Hewitt da ist, kann es schon mal etwas dauern. Mit hundertdreizehn Jahren ist man nicht mehr so schnell.
Es ist jedoch Mrs. Hewitt, die öffnet und ein heiseres Lachen ausstößt.
Ihr Gesicht ist fleckig und ihre Augen ungeschminkt, was auffällt, weil ich sie in den drei Jahren, in denen ich hierherkomme, noch nie ohne Make-up gesehen habe. Ihre Haare sind zu einem einfachen Zopf gebunden, der sie jünger wirken lässt, aber ebenfalls eigenartig unpassend wirkt.
»Natürlich«, setzt sie leise an und es klingt mehr, als rede sie zu sich selbst. »Du kommst momentan auch samstags.«
»Habe ich etwas vergessen?«, frage ich verunsichert. »Er sagte gestern bis morgen, deshalb …«
»Es tut mir leid, dass dich niemand angerufen hat, Gabriel. Wir sind alle noch etwas durcheinander. Mein Vater ist letzte Nacht verstorben.«
Ich stehe da und sehe zu, wie sie tief Luft holt, lächelt und sich über die Augen wischt.
Ich möchte auch atmen. Ich will Luft holen.
Ich kann nicht.
Mein Körper wird von einer eisigen Welle erfasst. Sie kriecht die Beine hinauf und lässt meine Knie weich werden. Sommerhitze und panische Kälte kämpfen um Raum, und mir wird schwindlig. Endlich ziehe ich tief, und wie ich hoffe, unauffällig die Luft ein, während meine Finger sich krampfartig um den Schultergurt der Gitarrentasche schließen.
»Okay«, sage ich.
Wir können nicht vor die Tür gehen, es regnet. Okay.
Ich rufe dich morgen an. Okay.
Ein Mensch, der dir wichtig ist, ist gerade gestorben. Okay.
»Danke. Und mein Beileid«, sage ich, um mich dann umzudrehen, und nur den einen Gedanken habe, ins Auto zu kommen, bevor es darin zu heiß wird. Es steht seit fünf Minuten in der prallen Sonne.
»Gabriel?«
Ich bin bereits in der Mitte der Einfahrt, als ich gerufen werde und mich umdrehe.
»Mein Vater hat viel von dir gesprochen. Du warst für ihn mehr als nur ein Schüler.« Sie lächelt kläglich und ringt um Beherrschung. »Vielleicht könntest du auf der Beerdigung ein paar Worte sagen.«
Meine Kehle zieht sich zusammen.
Er hat viel von dir gesprochen.
Kein Mensch redet viel von mir.
Ich will auf keiner Beerdigung irgendetwas sagen, aber ich nicke schwach.
Dann sitze ich endlich im Wagen. Die Gitarre auf dem Beifahrersitz und die Scheiben beider Fenster unten, denn mein Auto ist zu alt, um eine Klimaanlage zu haben. Mein Kopf ist leer und es ist erstaunlich, wie man trotzdem funktioniert. Man sollte meinen, dass man mit leerem Kopf schnell gegen eine Wand fährt oder einen Fußgänger übersieht, aber nein. Seaford ist allerdings auch nicht so groß, dass man Beeindruckendes im Straßenverkehr erleben würde. Ich parke direkt vor unserem Haus, schalte den Motor ab und sehe die Straße mit ihren unzähligen identischen Reihenhäusern hinunter. Die Straße, in der ich die letzten vierzehn Jahre meines achtzehnjährigen Lebens verbracht habe.
Es ist Samstag. Früher Nachmittag, bei bestem Wetter.
Ich weiß überhaupt nicht, was ich jetzt machen soll. Da sind so viele neue Möglichkeiten, ohne die Verpflichtung, jeden Tag zum Unterricht gehen zu müssen. Ich könnte an den See in der Nachbarstadt Bayside fahren. Ich bin dieses Jahr erst zwei Mal dort gewesen, aber da ich die kürzeste Strecke über die Landstraße meide, müsste ich einen ziemlichen Umweg machen. Vielleicht fahre ich einfach an den St. Mary’s River, wo wir ohnehin immer sind.
»Was tust du hier?«
Ich erschrecke so sehr, dass ich sogar vom Fenster wegrücke, während Rafaela noch lacht, bevor ihr Ton schlagartig ernst und ihre Augen schmaler werden. »Alles okay?«
Ich sehe aus dem Augenwinkel, dass sie mich mustert. Doch ich meide ihren Blick und starte den Motor.
Das ruckartige Anfahren lässt sie einen Fluch ausstoßen und einen Satz zurückmachen. Kurz darauf lasse ich die Reihenhäuser hinter mir, ziehe mein Handy hervor und rufe Grey an.
Knapp eine Stunde später ist es besser. Oder verschwommener.
Ich liege auf dem Rücken und betrachte diese eine Wolke, die ungerührt am Himmel steht. Ohne den Blick von ihr zu nehmen, strecke ich meinen Arm aus, Grey drückt mir die Flasche in die Hand und ich drehe den Kopf zur Seite, um sie an den Mund zu führen. Der Whiskey ist handwarm und ich spüre ein leichtes Brennen, als er mir die Kehle hinunterfließt. Eigentlich mag ich keinen Whiskey, aber es ist das, was Grey am einfachsten auftreiben kann, weil sein Vater ihn in seinem Keller sammelt.
Es klickt ein Feuerzeug, und Grey steht nun genau so, dass er die Sonne verdeckt und angenehmen Schatten spendet. Ich strecke erneut die Hand aus und er platziert die Kippe zwischen meinen Fingern.
»Ich habe gegoogelt, ob hier schon jemand abgestürzt ist«, höre ich ihn sagen und hebe nun schwerfällig den Kopf, um zu sehen, was er macht.
Er hat mir den Rücken zugewandt und betrachtet den Abhang. Maryland ist nicht gerade für seine Gebirgsketten bekannt. Der Carrey Hillside ist einer von drei Hügeln, die es in Stadtnähe gibt. Man kann über ganz Seaford bis ans andere Ende der Stadt blicken, wo der St. Mary’s River liegt. Man muss nur den Elan haben, hier hochzusteigen.
Auf der Gipfelebene ist eine Lichtung, weshalb man der Sonne ziemlich ausgeliefert wird. Zumindest auf dem kleinen Plateau, das auf der einen Seite in den Abhang mündet, auf der anderen in Waldgebiet übergeht. Zwischen den Felsabschnitten sind immer wieder mit hellbrauner, staubtrockener Erde gefüllte Mulden. Dieser Platz ist nicht größer als ein gewöhnliches Zimmer, und selbst hier oben weht heute kein Lüftchen.
»Keiner gefallen, keiner gesprungen«, berichtet Grey weiter, dreht sich zu mir um und einen Moment sehen wir uns in die Augen.
Es ist das erste Mal, dass er seit dem Vorfall im September wieder hier ist. Er steht einige Schritte von der Kante entfernt, genau dort, wo ich eine imaginäre Linie gezogen habe, die auf keinen Fall übertreten werden darf.
Er lässt sich neben mich sinken und fordert die Flasche. Ich trinke einen großen Schluck und reiche sie ihm. Dann ziehe ich an der Kippe und muss feststellen, dass in diesen wenigen Sekunden Unachtsamkeit meine Wolke ihre Form verändert hat und ich es verpasst habe.
»Was passiert jetzt?«, fragt er zaghaft.
Die von mir verursachte Stille wird nur von den Vögeln und Zikaden durchbrochen.
»So tragisch sein Tod auch ist«, setzt er nach einer Weile an, »du hast bereits die Zulassung. Es geht also weiter wie geplant.«
Ich nehme einen Zug und betrachte den grauen Rauch, der zu meiner Wolke aufsteigt, sie jedoch nie erreicht.
»Konnte er dir überhaupt noch etwas beibringen?« Grey trinkt und will nun die Zigarette zurückhaben. »Ich meine, du kannst doch eigentlich schon alles, oder?« Nun legt er sich ebenfalls auf den Rücken und starrt mit mir zum Himmel. »Aber dann müsste keiner auf so eine Schule gehen«, ruft er sich in Erinnerung, dreht den Kopf und mustert mich. »Du hast dort alle paar Monate eine Prüfung, richtig? Das bekommst du auch allein hin. Er hätte dir von hier aus sowieso nicht mehr helfen können.«
Ich strecke die Hand nach der Flasche aus, während die Wolke kurz davor ist, sich in der Mitte zu teilen. Oder ich sehe doppelt, das ist ebenso möglich.
Ich betrachte meine Finger, wie sie das Glas umschließen.
Ein alter Mann hat mir eingeredet, dass diese Finger alles schaffen können, wenn sie hart genug dafür arbeiten.
»Was willst du auf der Beerdigung eigentlich sagen?«, fragt Grey und sieht wieder nach oben.
»Ich habe keine Ahnung«, antworte ich und spreche damit zum ersten Mal, seit wir hier sind.
Am Sonntag, acht Tage später, werde ich wach und habe nicht geschlafen. Im Dämmerzustand wird mir klar, dass das keinen Sinn ergibt. Weil man nur wach werden kann, nachdem man zuvor geschlafen hat, und so komme ich zu dem Schluss, dass ich um fünf Uhr zum letzten Mal auf die Uhr gesehen habe. Jetzt ist es acht und der Handywecker klingelt unerbittlich neben meinem Kopf. Ich habe keine Kopfschmerzen. Das ist gut. Nach der vergangenen Woche ist das keine Selbstverständlichkeit.
Seit letzten Samstag ist alles eine einzige Suppe.
Eine wodkahaltige, widerliche und nichtssagende Brühe.
So genieße ich meinen Sommer ohne Verpflichtungen.
Dennoch hatte ich gestern diesen kurzen, klaren Moment, der mir sagte, ich könne so nicht weitermachen, wenn ich heute um halb zwölf auf der Beerdigung stehen und irgendetwas über Harold Hewitt erzählen soll.
Joyce
Es ist wie dieses Spiel, bei dem derjenige verliert, der zuerst zwinkert. Es geht um mich oder die Frau im Spiegel, und weder sie noch ich will sich ergeben. Letztendlich wende ich mich ab und muss wirklich einige Male zwinkern, um die Augen zu befeuchten. Fast könnte man darüber lachen, wie trocken sie in den letzten Tagen waren. Nicht eine einzige Träne kam und ich hatte jede Sekunde mehr das Gefühl, sie stecken alle in meiner Brust fest und verdrängen die Luft darin.
Ich wühle in meinen Schminksachen und habe den Kajal schon angesetzt, als mich wieder der Blick dieser Frau im Spiegel trifft und mich zu fragen scheint, was ich hier eigentlich tue. Einen langen Moment sehen wir uns an, dann bringe ich etwas Abstand zwischen uns. Ich habe keine Lust und keine Kraft dafür. Ich sehe auch keinen Sinn darin. Sollen sie denken, was sie wollen. Sollen sie alle dahinterkommen, dass ich nicht morgens so perfekt wie auf den Bildern aus dem Bett steige. Es ist mir egal.
Ich werfe mein Make-up in die Kiste zurück, als wäre so etwas ein Statement. Für was auch immer.
Ich mache einen großen Schritt nach hinten und versuche, so viel wie möglich von mir im Spiegel zu erkennen. Mein Kleid ist cremefarben. Nicht einmal dunkelgrau, geschweige denn schwarz. Als würde eine Farbe Aufschluss darüber geben, wie schlecht es jemandem geht. Als würde irgendwas von dem hier heute ausreichen, zu zeigen, was mir weggenommen wurde.
»Joy?«, ruft es über den Flur und mein Magen zieht sich zusammen, weil ich weiß, dass die Zeit vorbei ist, in der ich mich hier drin vor der Realität verstecken kann. »Wir müssen jetzt runter.«
Als meine Finger den Türknauf umschließen, versuche ich Luft zu holen. Doch ich kann noch sooft tief einatmen, es kommt nichts an.
Kaum, dass ich die Tür geöffnet habe, stehe ich auch schon vor meiner Mutter.
»Was hast du denn die ganze Zeit da drin gemacht, du bist ja noch gar nicht fertig.« Sie runzelt leicht die Stirn, lächelt daraufhin aber schwach. »Schatz, du siehst etwas kränklich aus. Du hast nicht einmal die Haare gemacht«, fügt sie in resigniertem Ton hinzu.
Sie redet schnell, hektisch, irgendwie abwesend.
Meine Haare hängen glatt und leblos über meine Schultern. Es ist mir egal.
»Nun gut«, murmelt sie, und ich glaube eher zu sich selbst.
Sie meint es nicht böse. Ich weiß, dass es ihr nicht gut geht. Dazu kommt der Stress des heutigen Tages, denn seit frühstem Morgen kommen Menschen hierher. Verwandte, die ich ewig nicht gesehen habe. Auch mehrere angeheiratete Onkel oder Tanten, die wir noch letztes Jahr in England besucht haben. Eine Großtante, die ich nur von Paketen, die sie uns schickt, kenne. Ein Onkel von der Seite meines Vaters. Bei allen anderen habe ich den Überblick verloren. Ich habe nicht mal am Frühstück teilgenommen und es erschließt sich mir nicht einmal, warum jemand sich das antut und überhaupt eines ausrichtet. Weil man es wahrscheinlich so macht.
Einige dieser Leute sehe ich damit zum ersten Mal, als ich meiner Mutter in den Garten folge. Hier steht der riesige weiße Pavillon, der auch aufgebaut wird, wenn eine Party veranstaltet wird. An meinem achtzehnten Geburtstag vor zwei Monaten stand er ebenfalls.
Die Dekoration ist hübsch, mit all den weißen Lilien. Ich glaube, dass es Lilien sind. Meine Mutter hat darüber gesprochen, aber ich kann mich nicht mehr so richtig erinnern. Die ganze letzte Woche ist wie in einem Dunstschleier verschwunden.
Unser Platz ist in der ersten Reihe. Ich will dort nicht sitzen, habe jedoch lernen müssen, dass es überall und für jede Situation Regeln gibt, die man unter gar keinen Umständen brechen darf. Die Familie sitzt bei einer Beerdigung in der vordersten Reihe. So ist das nun mal.
Ich denke nicht, mein Gefühl, dass jeder uns ansieht, als wir durch den Mittelgang nach vorne gehen, täuscht mich. Ein Meer aus fünfzig schwarz gekleideten Personen.
Vielleicht hätte ich ein anderes Kleid anziehen sollen, aber er mochte es nicht, wenn ich Schwarz trage.
Als Erstes passieren wir die Schüler, die auf der hintersten Bank ihre Plätze haben. Meine Mutter hat mehrere von ihnen eingeladen. Ich weiß nicht, ob auch alle gekommen sind.
Es folgen die Freunde der Familie. Hier habe ich keine Ahnung, wer anwesend ist, denn ich halte den Blick stur auf das braune Rednerpult gerichtet, hinter dem bereits jemand steht. Hoffentlich kein Pfarrer. Mein Großvater war gläubig, doch er verachtete die Kirche. Jede, egal welcher Religion. Er brachte oft Kommentare dazu, die meine Mutter empört mit der Zunge schnalzen ließen. Als ich mich setze, bin ich mir jedoch nicht sicher, ob man sich wirklich nach seinen Ansichten gerichtet hat.
Mir wird von hinten eine Hand auf die Schulter gelegt, die tröstlich wirken soll, das weiß ich. Meine Mutter übernimmt es, sich für diese Geste zu bedanken. Die Hand lässt von mir ab, ich schlage die Beine übereinander und klemme meine trotz der Sommerhitze kalten Finger zwischen sie. Mein Vater, der bereits rechts von mir auf seinem Platz saß und auf uns wartete, legt eine Hand auf mein Knie, streichelt kurz mit seinem Daumen darüber und zieht sie wieder zurück. Am Todestag habe ich ihn zum ersten Mal nach drei Wochen wiedergesehen. Er schreibt mir bemühte Nachrichten, seit er ausgezogen ist, aber es wird weniger. Ich bin nicht richtig wütend darüber, eher resigniert. Ich kann es ohnehin nicht ändern und ich bin wahrlich nicht das einzige Trennungskind der Welt. Unwillkürlich frage ich mich, ob seine junge Freundin hier ist, glaube es jedoch nicht. So skrupellos wäre niemand. Ich denke, dass es schwer für ihn ist, denn er mochte meinen Großvater. Es ist denkbar, dass meine Mutter meinen Vater ohne ihn nicht geheiratet hätte, da ihre Mutter, die ich nur aus Erzählungen kenne, nicht gut auf Amerikaner zu sprechen war. Und schon gar nicht auf die Tellerwäscher