Abby Cooper - Mörderische Visionen - Victoria Laurie - E-Book

Abby Cooper - Mörderische Visionen E-Book

Victoria Laurie

4,9
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mit ABBY COOPER erwartet den Leser ein origineller und unglaublich witziger Chick-Lit-Krimi, der Einblicke in die Welt eines professionellen Mediums verschafft.

Um einem Freund einen Gefallen zu tun, legt Abby Cooper bei einer griechischen Hochzeit das Tarot. Dabei erregt sie die Aufmerksamkeit des Brautvaters, der ein berüchtigter Mafiaboss ist. Er will, dass Abby seine Frau Dora wiederfindet, die vor einiger Zeit verschwunden ist. Darüber hinaus treibt in der Stadt ein Vergewaltiger sein Unwesen, und die Polizei bittet Abby um ihre Hilfe bei den Ermittlungen. Und als sei das alles noch nicht genug, hat Abbys Geliebter, der attraktive Polizist Dutch, eine neue und ausnehmend hübsche Partnerin zugeteilt bekommen, die es offenbar darauf abgesehen hat, ihm den Kopf zu verdrehen.

Der Lesespaß ist vorprogrammiert!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 471

Veröffentlichungsjahr: 2023

Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
15
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



VICTORIA LAURIE

Abby Cooper

Mörderische Visionen

Roman

Ins Deutsche übertragen von

Angela Koonen

Zu diesem Buch

Eigentlich wollte Abby Cooper nur einen romantischen Abend mit ihrem Geliebten, dem attraktiven FBI-Agenten Dutch, verbringen, als Kendal, ein guter Freund, das professionelle Medium um Hilfe bittet: Sie soll auf einer griechischen Hochzeit Tarotkarten legen. Abbywilligt ein, doch kaum dort angekommen, stellt sie fest, dass einer der Gäste ein Auftragskiller ist – und dass sie und Kendal mitten in einer Mafiahochzeit gelandet sind. Die beiden versuchen, sich so schnell und so taktvoll wie möglich aus dem Staub zu machen, aber zu spät: Abby hat die Aufmerksamkeit des Brautvaters, des berüchtigten Mafiabosses Andros Kapordelis, erregt. Dieser verlangt nun, dass Abby seine seit zwanzig Jahren vermisste Frau Dora aufspürt. Als Abby sich weigert, beginnt er, ihr nach bester Mafiamanier zu drohen. Dann bittet auch noch die Polizei Abby um Mithilfe bei der Suche nach einem Vergewaltiger, der die Stadt schon seit Längerem heimsucht. Und als sei das alles noch nicht genug, hat Abbys Geliebter Dutch eine neue und ausnehmend hübsche Partnerin zugeteilt bekommen, die es offenbar darauf abgesehen hat, ihm gehörig den Kopf zu verdrehen …

Für meinen lieben Freund und Mentor und

einen der größten Hellseher Nordamerikas:

Kevin Allen – in großer Dankbarkeit

für deine Ideen und Gaben, deine Weisheit und Ermutigung

1

Die drei Kardinalsünden, die ein seriöses Medium niemals begehen darf, sind:

1. Eine mediale Nachricht abändern oder erfinden.

2. Das Vertrauen des Klienten enttäuschen, indem man Einzelheiten aus der Sitzung einem anderen verrät.

3. Die intuitive Gabe nutzen, um einem anderen zu schaden.

Als ich in der Blutlache des Mannes stand, den ich praktisch getötet hatte, war mir scheißegal, dass ich völlig schamlos nicht bloß eine, sondern gleich alle drei Sünden begangen hatte. Und obwohl meine karmischen Schulden durch dieses Verbrechen einen neuen, überwältigenden Höchststand erreicht hatten, verspürte ich lediglich die kranke Befriedigung, mich endlich Auge um Auge, Zahn um Zahn gerächt zu haben.

Ich war nicht immer so, wissen Sie. Vor drei Wochen noch hätte ich für das Plakat des Tugendvereins der Hellseher posieren können. Ich glaubte an meine Arbeit als professionelles Medium, gab gern hilfreiche Ratschläge und setzte mein Talent für nützliche Dinge ein, für das Gute. All das änderte sich an einem verregneten Herbstnachmittag am Tag vor Halloween. Tolle Ironie, hm?

»Kendal, das kannst du mir nicht antun!«, jammerte ich in mein Handy und steuerte im Regendunst durch den Verkehr der Innenstadt von Royal Oak.

»Abby, alle anderen habe ich schon angerufen. Du bist jetzt die Einzige, mit der ich das noch hinkriegen kann – außerdem bist du mir noch was schuldig«, mahnte Kendal.

»Ach komm, Kendal! Muss ich meine Schuld denn unbedingt morgen Abend begleichen? Das ist für mich der mieseste Zeitpunkt überhaupt.«

»Das ist nicht meine Hochzeit, Abby. Schließlich habe nicht ich das Datum ausgesucht, sondern das Brautpaar.«

Ich schnaubte frustriert. Ich wollte nicht Ja sagen. Ich hatte sogar das starke Gefühl, dass ich Nein sagen sollte, aber mein Kollege steckte in einer Klemme. Außerdem hatte er mir vor ein paar Monaten ausgeholfen, als ich mich einige Wochen lang erholen musste, nachdem ich mit einem Psychopathen aneinandergeraten war. Er hatte recht: Ich war ihm einen großen, einen ganz großen Gefallen schuldig. Und bei anderen in der Kreide zu stehen mochte ich überhaupt nicht.

Das Blöde an Kendals Bitte war, dass mein Freund am selben Tag von seiner Ausbildung beim FBI in Quantico zurückkommen würde und der Abend unser Abend sein sollte, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Dutch war vorher Polizist beim Royal Oak PD gewesen und hatte sich beim FBI beworben. Wir waren noch nicht lange zusammen und eigentlich mussten wir unsere Beziehung erst noch vollziehen – weshalb dieser Abend so wichtig war.

»Kendal, ich flehe dich an, gibt es denn niemand anderen? Irgendeinen Hellseherpraktikanten? Einen arbeitslosen Schauspieler, der den Leuten was vormachen kann?«

»Niemanden, ich schwöre. Und der Auftritt ist wirklich wichtig für mich. Er ist für Ophelia Kapordelis und ihren Vater Andros. Ein schwerreicher Mann übrigens. Es ist nicht wenig, was er mir bezahlt, und ich kann die Kohle gut gebrauchen. Außerdem bist du mir was schuldig.«

Ich nahm das Handy vom Ohr und streckte ihm die Zunge raus. Wenn er das noch einmal wiederholte, würde ich durch die Leitung kriechen und ihm einen Knoten in die Nase machen. Ich seufzte demonstrativ und startete einen letzten beherzten Versuch. »Kannst du es nicht auch allein machen?«

»Eine ganze Hochzeitsgesellschaft? Abby, bist du verrückt? Selbst zu zweit werden wir froh sein können, wenn wir die dreißig Leute durchkriegen. Ich habe der Braut zwei Hellseher versprochen, sie hat bereits für zwei bezahlt und sie wird zwei bekommen, weil du es mir schuldig bist!«

Meine Augenbrauen zogen sich bedrohlich zusammen. Verdammt, er hatte es wieder gesagt. »Aber ich weiß doch nicht mal, wie man Tarotkarten deutet!«, schrie ich.

Zu Beginn unserer Unterhaltung hatte Kendal erwähnt, dass die Braut einen Tarotkartendeuter bestellt hatte. Er hatte den Auftrag zusammen mit einem Freund angenommen, der ebendies beherrschte. Leider war der vor einer Stunde wegen eines Blinddarmdurchbruchs ins Krankenhaus eingeliefert worden – darum nun Kendals hektischer Anruf.

»Ich kann es dir beibringen. Komm einfach eine Stunde vor der Hochzeitsfeier zu mir nach Hause. Und wir gehen es zusätzlich noch einmal durch, wenn wir in dem Saal angekommen sind. Es ist ziemlich einfach. Wahrscheinlich kapierst du es sofort. Und wenn du mal hängen bleibst, kannst du die Karte einfach hinlegen und sagen, was dir gerade in den Sinn kommt. Du hast quasi alle Freiheiten, okay?«

Inzwischen war ich in meinen Stellplatz in dem Parkhaus eingebogen, das gegenüber von meiner Praxis lag. Meine Niederlage vorausahnend, ließ ich die Stirn aufs Lenkrad sinken. Ich würde aus der Geschichte nicht mehr herauskommen.

Ich ließ sein »Okay?« in der Luft hängen und suchte weiter nach einem Ausweg. Meine Intuition summte laut und ich wusste, dass meine Crew – die Geister, die mich leiteten, und die diversen Engel, die ich bei solchen Angelegenheiten konsultierte – mir den Rücken stärkte.

Doch leider war ich Kendal den Gefallen wirklich schuldig. Er steckte in der Klemme und brauchte mich und der Auftrag war extrem gut bezahlt. Er hatte sein Honorar erhöht, sodass es einen Riesen pro Nase gab. Mein Konto würde sich wirklich freuen.

»Na gut«, sagte ich und schloss die Augen.

»Super! Also, die Feier findet im Plaza Casino in der Innenstadt statt. Komm doch gegen sechs vorbei, dann fahren wir zusammen hin. Weißt du noch den Weg zu mir?«

»Ich werd’s schon finden.«

»Gut. Mach dich ein bisschen schick. Denk dran, das ist eine reiche Familie.«

»Kendal?«, fragte ich mit geschlossenen Augen und heruntergezogenen Mundwinkeln.

»Ja?«

»Damit ist dann meine Schuld beglichen, okay?«

»Kein Problem, Süße. Dann bis morgen.«

Ohne Tschüss zu sagen, klappte ich das Handy zu. Ich war auf mich selbst sauer und fürchtete, es an ihm auszulassen. Ich wollte nicht zu dieser Hochzeit und war stinkig, weil ich nachgegeben hatte.

Ich richtete mich auf, zog den Zündschlüssel heraus und griff nach meiner Handtasche auf dem Beifahrersitz. Wenn Kendal doch nur meinen Anrufbeantworter an die Strippe bekommen hätte, hätte ich ihm wahrscheinlich bis nach der blöden Hochzeit ausweichen können. Aber als das Telefon klingelte, hatte ich gehofft, es wäre Dutch, sodass ich gar nicht erst aufs Display geschaut, sondern gleich abgenommen hatte. Ich stieg aus und ging mürrisch durch das Parkhaus und über die Straße zu meinem Bürogebäude.

Ich wohne und arbeite in einer Vorstadt von Detroit namens Royal Oak. Ich fühle mich dort wohl, weil es recht bunt zugeht und die Leute aufgeschlossen und tolerant sind. Die Stadt ist ziemlich einzigartig: Niemand wird ausgegrenzt – von den Obdachlosen, die in den Hauseingängen der Innenstadt Zuflucht suchen, über die gepiercten, aufmüpfigen Jugendlichen, die sich in verschiedenen Clubs und Musikläden rumtreiben, bis zu den Besserverdienern mit Van, zwei Kindern und dem obligatorischen Labrador namens Buddy, denen ich immer gähnend hinterhersehe. Alle sind willkommen. Das ist das perfekte Klima für einen kleinen Sonderling wie mich.

Aber machen Sie sich jetzt kein falsches Bild. Auch wenn mein Beruf surrealistisch klingt – mein Privatleben ist leider ziemlich langweilig. Ich lebe in einem kleinen Haus mit drei Zimmern, an dem schon so lange renoviert wird, wie ich es besitze. Ich habe einen kleinen Dackel namens Eggy und ein Auto mit hundertdreißigtausend auf dem Tacho. Ein ausschweifender Abend besteht bei mir darin, mit meinem Freund auf dem Sofa ein Baseballspiel zu gucken.

In einer Sache allerdings habe ich das große Los gezogen: Mein Freund ist Mr Sexy – so nenne ich ihn insgeheim. Dutch ist fast eins neunzig groß, hat hellblonde Haare und wunderschöne dunkelblaue Augen. Beim Anblick seines Körpers würde jeder griechische Gott vor Neid erblassen und sein Bariton hat quasi einen Pawlow’schen Effekt auf mich – ich fange an zu sabbern, wenn er mit mir redet.

Wir haben uns durch eine Partnerbörse im Internet kennengelernt. Dass ich mit ihm einen Volltreffer gelandet hatte, war mir sofort klar gewesen. Er brauchte dazu ein bisschen länger. Ein bisschen dabei geholfen hat der Umstand, dass ich zu der Zeit von einem mehrfachen Mörder bedroht wurde und dies Dutchs Beschützerinstinkt weckte. Das größte Hindernis zwischen uns war mein Beruf: Er hatte sich nur schwer damit anfreunden können. Ich meine, mit wie vielen Hellsehern sind Sie bisher zusammen gewesen?

Zum Glück hat er sich dann doch damit arrangiert und wir waren fast so weit, den nächsten Schritt in unserer Beziehung zu machen, als ein Anruf kam und Dutch Bescheid erhielt, dass das FBI ihn nehmen würde. Das war vor acht Wochen gewesen und seitdem war er also in Virginia zur Ausbildung. Morgen Vormittag würde er nach Royal Oak heimkehren und ich erwartete den Tag in etwa so geduldig wie ein Fünfjähriger den Weihnachtsabend.

Morgen Abend, an Halloween, wollten wir uns wiedersehen, und wir hatten vor, Süßigkeiten an die Kinder der Nachbarschaft zu verteilen, dann ganz romantisch bei Kerzenschein zu Abend zu essen und uns anschließend wieder miteinander vertraut zu machen. Mein neu erstandenes Kostüm – französisches Zimmermädchen – war nur eines der aufregenden Extras, die ich mir für diesen Abend überlegt hatte. Jetzt musste ich die Verabredung verschieben. Verfluchter Mist.

Ich überquerte die Straße und eilte durch den Regen in die Eingangshalle des Bürohauses. Es ist ein großer brauner Ziegelbau, der plump und unförmig einen ganzen Straßenblock einnimmt und mit den wuchtigen Verzierungen und spitzwinkligen Ecken ein Musterbeispiel architektonischer Unentschlossenheit darstellt – quasi ein LSD-Trip der Architektur.

An diesem Morgen ging ich zu Fuß in den zweiten Stock. Ich war jetzt über dreißig und die Aussicht, mich nach drei Jahren zum ersten Mal wieder jemandem nackt zu zeigen, spornte mich an, dem Wackelpeter in meinem Luxuskörper neue Festigkeit zu verleihen.

Schnaufend kam ich auf dem Treppenabsatz an und ging den Flur zu meiner Praxis hinunter – Tür Nummer 222. Sie liegt rechts zwischen einer Steuerberaterkanzlei und einer Computergrafikfirma. Wenn Sie eine feine Nase haben, können Sie einfach dem Duft der Räucherstäbchen folgen, die ich ständig anzünde. Keine überkandidelten Düfte – ich hab’s lieber herb. Bisher hat sich niemand beschwert und ich nehme das als stille Zustimmung meiner Nachbarn.

Als ich um die Ecke des Ganges bog, sah ich einen großen Mann vor meiner Tür auf und ab schreiten. Die Gewitterwolke über meinem Kopf verflüchtigte sich in dem Moment, als ich sein Gesicht sah.

»Milo!«, rief ich und lief auf ihn zu.

Er gab einen Laut der Verblüffung von sich, als ich ihn stürmisch umarmte. »Tag, Abby. Wie ich sehe, bist du wieder zu Kräften gekommen«, meinte er lachend.

Ich strahlte ihn an. Milo Johnson war Polizist beim Royal Oak PD und bis zum letzten August Dutchs Partner gewesen. Da spielte er Lotto und räumte den Hauptgewinn ab. Natürlich nicht ganz ohne Hilfe von meiner Wenigkeit. Er hatte die Zahlen getippt, die ich ihm genannt hatte.

»Na, kommst du, um mir meinen Anteil zu geben?«, fragte ich schelmisch grinsend und hielt ihm die offene Hand hin.

Milo ist ein umwerfender Mann: groß, schwarz und elegant. Er hat fein geschnittene Gesichtszüge und ein fantastisches Lächeln, wenn ihn etwas freut. Als er auf meine ausgestreckte Rechte schaute, bekam ich sein ansteckendes Lachen zu hören.

»Um ehrlich zu sein, ja.« Er griff in die Tasche seines teuren Mantels. »Schließlich wäre es ungerecht, wenn ich das Geld allein behalten würde, wo es doch deine Zahlen waren, mit denen ich gewonnen habe.«

Er drückte mir einen Scheck in die Hand und ich sah mehr Nullen als in meinem ganzen bisherigen Leben. Meine Heiterkeit war wie weggeblasen. Halb erregt, halb schockiert sah ich abwechselnd ihn und den Scheck an.

»Milo«, sagte ich ein bisschen atemlos, »ich habe nur Spaß gemacht. Ich habe nicht im Geringsten erwartet, dass du mir was abgibst.«

»Abby, bist du noch ganz dicht? Mensch, Mädchen, nimm das Geld und hau ab.«

Einen Moment lang wippte ich auf den Zehen. Ich hielt an die zwei Millionen Dollar in der Hand und merkte plötzlich, wie ich zu schwitzen anfing bei dem Gedanken, was ich mir alles dafür kaufen und wie viel Spaß ich damit haben könnte. Ich fragte mich, ob sich meine reiche Schwester auch so fühlte, wenn sie ihre Kontoauszüge ansah. Für mich war der Augenblick so surreal, dass ich die Sache gar nicht so richtig begriff. Ich wollte den Scheck gerade einstecken, als mein intuitives Telefon schrillte.

Bei den meisten Leuten ist Intuition nur ein beiläufiger Gedanke, der aus dem Unterbewussten ins Bewusstsein vordringt, eine Werbeunterbrechung des Alltagsprogramms. Bei mir ist das etwas völlig anderes. Meine Intuition ist mehr wie eine Dauerwerbesendung mit Surround-Sound und ich bin meistens das unfreiwillige Publikum. Da ich sie seit vier Jahren tagtäglich nutze, habe ich inzwischen äußerst empfindliche Antennen für die Botschaften, kribbelnden Warnungen und beiläufigen Einfälle, für die Summlaute, die zusammenhanglosen Gedanken und die wechselnden Druckgefühle in meinem Körper.

Kurz bevor der Scheck in meiner Jackentasche verschwand, hörte ich es schrillen, als würde im Nebenzimmer jemand anrufen – es gab eine Nachricht für mich. Ich drehte den Kopf leicht zur Seite und horchte in mich hinein. Meine linke Seite fühlte sich schwer an – das Zeichen für ein Nein. Ich vergewisserte mich, indem ich im Geiste die Frage aussandte: Soll ich den Scheck annehmen? Das Schweregefühl in der linken Seite blieb.

Häufig bekomme ich Botschaften, die zum Zeitpunkt des Empfangs unverständlich erscheinen. Und diese war ja wohl hirnrissig. Warum denn nicht?, fragte ich stumm und schaute noch mal sehnsüchtig auf den Scheck. Als Antwort sah ich vor meinem geistigen Auge ein Baseballfeld.

Ich blickte Milo an und fragte: »Hattest du überlegt, das Geld an eine Baseballmannschaft zu spenden?«

Milo hatte mich die ganze Zeit aufmerksam dabei beobachtet, wie ich mit leerem Blick die Botschaft empfing. Jetzt wirkte er ein bisschen verblüfft und sagte: »Tatsächlich, ja. Der Jugendclub in meiner Nachbarschaft hat finanziell zu kämpfen. Als ich klein war, hat er mich in die richtige Richtung gelenkt und damit verhindert, dass ich in Schwierigkeiten geriet. Viele Kinder meines Alters endeten später als Dealer oder als Leiche und das blieb mir glücklicherweise erspart, weil es den Club gab. Einen kleinen Betrag haben sie schon von mir bekommen. Die können jede Kleinigkeit gebrauchen.«

Noch einmal betrachtete ich den Scheck mit hungrigen Augen und meine linke Seite wurde immer schwerer. Endlich holte ich tief Luft und riss ihn in der Mitte durch, dann noch mal quer und gab Milo die Fetzen niedergeschlagen zurück. »Milo, lassen wir es nicht bei Kleinigkeiten, sondern lass uns eine große Summe spenden und richtig was bewirken.«

Er nahm den zerrissenen Scheck und fragte: »Alles? Ich meine … das ist eine schöne Stange Geld. Du könntest deine Praxis dichtmachen und in die Karibik ziehen, wenn du wolltest.«

Ich hob abwehrend die Hand. »Bitte, mach mir nicht den Mund wässrig. Außerdem ist diese Arbeit meine Aufgabe. Es ist mir bestimmt, diesen Beruf auszuüben, und ein Lottogewinn ändert daran nichts. Glaub mir, das Geld wird in deinem Wohnviertel von größerem Nutzen sein.«

Milo klopfte mir freundlich auf die Schulter und sagte: »Ich wusste, dass du immer eine Schwäche für die gute Sache hast.«

»Was die Schwäche angeht, stimme ich dir zu. Möchtest du reinkommen?«, fragte ich und schloss die Tür auf.

»Würde ich ja gern, aber ich habe gleich eine Besprechung mit dem Captain und will nicht zu spät kommen.«

»Mit dem Captain? Ich dachte, du hast gekündigt.«

»Hab ich, aber dass Dutch und ich gleichzeitig weggegangen sind, hat das Dezernat hart getroffen. Sie haben mich gebeten, mal zu überlegen, ob ich eine Weile Teilzeit arbeiten möchte.«

»Wirst du?« Unterschwellig scannte ich bereits seine Energie.

»Meinst du, ich sollte?«, fragte er ernst.

»Ja«, antwortete ich unwillkürlich. »Da ist ein Fall, bei dem sie dringend deine Hilfe brauchen, Milo. Ein wichtiger, und du bist genau der Richtige für diese Aufgabe. Ich habe das starke Gefühl, als würdest du das Verbrechen aufklären. Aber sei vorsichtig. Die Sache ist brandgefährlich.« In dem Moment lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Ich wusste nicht warum, aber ich schauderte.

Milo blickte mich fragend an, dann nickte er nüchtern. »Eigentlich ist der Ruhestand ziemlich langweilig. Ich könnte was gebrauchen, was mich beschäftigt. Danke, ich weiß den Rat zu schätzen«, sagte er und umarmte mich kurz.

»Gern geschehen. Übrigens, Dutch kommt morgen zurück. Wie wär’s, wenn wir mittags zusammen essen gehen?«

»Das wäre großartig. Sag ihm, er soll mich anrufen, dann können wir etwas ausmachen. Ich wünsche dir ein schönes Halloween, Abby.«

Ich winkte ihm zu und betrat meine Praxis. Bei einem Blick zur Uhr wurde mir klar, dass ich mich besser beeilen sollte, wenn ich zum Einuhrtermin rechtzeitig vorbereitet sein wollte. Ich hastete durch das kleine Wartezimmer ins Büro und legte Mantel und Handtasche ab.

Die Praxisräume sind T-förmig angeordnet. Durch das Wartezimmer gelangt man geradeaus ins Büro und rechts und links in die beiden Praxiszimmer. Der rechte Raum stand derzeit leer. Anfangs hatte darin meine beste Freundin Theresa praktiziert, ebenfalls ein Medium, aber sie zog vor ein paar Monaten nach Kalifornien. Dann hatte ich den Raum an eine Massagetherapeutin untervermietet, die aber aus Angst vor dem Mörder, mit dem ich zu tun gehabt hatte, wieder gekündigt hatte. Seitdem waren mehrere Bewerber wegen dem Zimmer vorbeigekommen, aber bisher war der richtige nicht dabei gewesen.

In dem linken Praxiszimmer, einem azurblau gestrichenen Räumchen mit cremefarbenen Zierleisten und Holzboden, hielt ich meine Sitzungen ab. Dort standen zwei gemütliche Polstersessel einander gegenüber und dazwischen ein kleiner Tisch mit einem Kassettenrekorder. Ein langes Sideboard stand unter den drei Fenstern der Ostwand und das Tageslicht spielte mit den verschiedenen Kristallen, die ich darauf arrangiert hatte. Kerzen standen auf jeder freien Fläche, an der Wand hing ein Mosaikspiegel und in einer Ecke plätscherte ein Zimmerbrunnen mit Wasserfall, der dem Raum Rhythmus gab.

Mein Sitzungszimmer war für mich immer eine Oase der Erholung. Darin konnte ich völlig ich selbst sein. Da war ich nicht irgendjemandes Nachbarin, Schwester, Freundin oder Kollegin, sondern ich, Abigail Cooper, das professionelle Medium. Das war nämlich der kleine Schönheitsfleck, der mein Selbstbewusstsein immer beeinträchtigt hatte, und nur in diesem Zimmer brauchte ich nicht zu fürchten, dass mich deswegen jemand ablehnte. Ich konnte völlig ich selbst sein, und darum war es für mich der kostbarste Platz auf der Welt.

Kurz blieb ich in der Tür stehen und ließ die Ruhe des Raumes auf mich wirken. Sie war so wohltuend wie eine kalte Dusche an einem heißen Tag. Noch ein kleiner Seufzer, dann zündete ich die Kerzen und Räucherstäbchen an, nahm eine unbespielte Kassette vom Sideboard und legte sie in den Rekorder. Danach setzte ich mich in einen der weißen Sessel und schloss die Augen, um mich innerlich auf die erste Sitzung vorzubereiten.

Also, ich habe eine Menge Bücher über Hellseher gelesen, die sagen, dass sie vorher stundenlang meditieren. Ich bin Steinbock und Steinböcke haben nicht so viel Geduld. Ich brauche zwei Minuten, um meinen Kopf von Ballast zu befreien und mich auf die kommende Aufgabe einzustellen. Das ist wie vor einer Prüfung. Man hat gelernt, gebüffelt, es sich eingetrichtert, und in den letzten Augenblicken, bevor man das Aufgabenblatt umdrehen darf, sagt man sich: Du schaffst das … ein Kinderspiel … du weißt die Antworten! Man ist quasi sein eigener Cheerleader.

Um Punkt ein Uhr klopfte es an der Tür und ich eilte hin, um meine Klientin in Empfang zu nehmen. Sie war neu und hieß Cathy Schultz, hübsch, schätzungsweise Ende zwanzig mit schulterlangen blonden Haaren und hellrosa Lippenstift. Wir gaben uns die Hand und ich führte sie ins Sitzungszimmer. Nachdem wir Platz genommen hatten, schaltete ich den Rekorder ein, schloss die Augen und konzentrierte mich auf ihre Energie.

»Cathy, als Erstes möchte ich Ihnen gratulieren. Sie haben gerade am College eine Prüfung bestanden?«

»Ja, diesen August«, sagte sie.

»Klasse. Aber das war keine Zwischen-, sondern eine Abschlussprüfung. Sie haben den Masterabschluss gemacht, ja?«

Cathy strahlte und sagte: »Ja, das ist richtig.«

»Und haben Sie auch gerade einen Job gefunden?«

»Heute um drei gehe ich zu meinem dritten Vorstellungsgespräch bei einer Werbeagentur.«

»Super! Ich habe den Eindruck, dass Sie die Stelle bekommen werden, oder zumindest, dass man Sie dort nehmen will, aber Sie werden vielleicht um einen Aufschub bitten, bevor Sie dort anfangen.«

»Äh … das hatte ich eigentlich nicht vor.«

Daraufhin machte ich die Augen auf und blickte sie fragend an. »Wirklich? Meinem Gefühl nach werden Sie vorher Zeit brauchen, um sich um etwas Bestimmtes zu kümmern.«

Das kommt ständig vor. Ich spreche einen Eindruck aus, der zu dem Zeitpunkt unpassend erscheint und wenig später vollkommen zutrifft. Ich dachte, das wäre wieder so ein Moment, und ging nicht weiter darauf ein.

»Also gut, dann nur für den Fall, dass Sie sich vorher um etwas kümmern müssen, sage ich Ihnen, dass das in Ordnung ist. Und wie ist das mit Ihren Kopfschmerzen?«

»Was für Kopfschmerzen?«, fragte sie.

Ich griff mir an die Schläfen und sagte stirnrunzelnd: »Na, Ihre Kopfschmerzen. Sind Sie deswegen schon beim Arzt gewesen?«

»Ich habe keine Kopfschmerzen«, sagte sie und guckte mich an, als käme ich vom Mars.

Ich fragte bei meiner Crew nach. Aber die bestand darauf, dass die Information korrekt war, also sagte ich: »Tja, das ist wirklich seltsam, denn ich spüre ganz deutlich, dass Sie wegen Kopfschmerzen zum Arzt gehen werden, der aber feststellen wird, dass alles in Ordnung ist.«

Cathy schüttelte den Kopf und sah mich nur verständnislos an. Ich ließ das Thema fallen und bat meine Crew um ein neues. »Wer ist der Skifahrer?«, fragte ich.

»Der Skifahrer?«

»Ja. Haben Sie gerade einen Mann kennengelernt, der gern Ski fährt? Ich glaube, er ist dunkelhaarig.«

»Mein Freund hat braune Haare«, bot sie an.

»Fährt er gern Ski?«

»Nicht dass ich wüsste.«

Ich konzentrierte mich stärker und fragte: »Ist Ihr Freund gemein zu Ihnen?«

»Nein, im Gegenteil, er ist richtig lieb.«

»Sind Sie erst seit Kurzem zusammen?«

»Nein, seit drei Jahren.« Cathy bekam allmählich einen ungeduldigen Unterton.

»Ach so. Meinem Eindruck nach gibt es einen Mann mit dunklen Haaren, der gern Ski fährt. Er ist ein ziemlich unangenehmer Typ. Könnte sein, dass er Sie anbaggert und mit Ihnen flirten will, aber Sie sollten sich nicht auf ihn einlassen. Er ist gefährlich.«

»Ist das jemand, den ich kenne?«

»Ich bin mir nicht sicher. Mir kommt er neu vor, und wenn Sie ihn anhand meiner Beschreibung nicht erkennen, hat er sich Ihnen wohl noch nicht genähert. Möglich, dass er anfangs nett wirkt, aber er ist ein Wolf im Schafspelz. Also seien Sie vorsichtig.«

Cathy starrte mich bloß verwirrt an. Ich ließ das Thema fallen. »Jetzt empfange ich etwas über Nachlässigkeit. Schieben Sie Angelegenheiten gerne vor sich her? Zum Beispiel Besorgungen?«

Endlich bekam ich von Cathy lächelnde Zustimmung. »Ja, das hört sich ganz nach mir an.«

»Meine Crew sagt mir, dass sie sich ein bisschen Mühe geben und sich das abgewöhnen sollten. Ich höre insbesondere, dass Sie es nicht bis zur letzten Minute aufschieben dürfen, Lebensmittel einzukaufen. Sie müssen solche Dinge gleich erledigen und nicht immer wieder auf später verschieben.«

»Na ja, ich gehe wirklich ungern einkaufen. Eigentlich will ich das schon seit Tagen tun und hab’s noch nicht bis in den Laden geschafft.«

»Meine Crew sagt: Tun Sie es gleich, denn andernfalls bekommen Sie Probleme – vielleicht hat der Laden sonst schon geschlossen oder Ihnen geht etwas anderes durch die Lappen.«

»Na gut«, sagte sie.

Aus irgendeinem Grund konnte ich es bei dem Rat aber noch nicht bewenden lassen. Meine Gedanken drehten sich weiter darum. »Cathy, ich weiß auch nicht so recht, warum meine Crew da so beharrlich ist, aber es ist wirklich wichtig. Sie dürfen Ihre Besorgungen nicht aufschieben, das wiederholen sie in einem fort.«

»Ich hab verstanden. Sagen Sie ihnen, die Nachricht ist angekommen.«

Trotzdem wirbelte mir immer wieder der gleiche Satz durch den Kopf. Ich bat um ein anderes Thema, es blieb aber bei der alten Nachricht. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich, hörte aber immer nur »Einkaufen gehen«. Zum ersten Mal in meinen viereinhalb Jahren als professionelles Medium war ich ratlos. Ich kam an dieser Nachricht nicht vorbei. Nach einer sehr langen Pause machte ich die Augen auf und sah Cathy gequält an. Mir war klar geworden, was meine Crew damit bezweckte.

»Cathy, Sie werden mich für verrückt halten, aber mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Es kommt immer wieder nur die Mahnung, nichts aufzuschieben. Darum werde ich die Sitzung jetzt abbrechen. Ich werde Ihnen nichts dafür berechnen, weil es nur fünfzehn Minuten gedauert hat. Außerdem meine ich, Sie sollten den Einkauf unbedingt noch vor Ihrem Vorstellungsgespräch erledigen.«

Cathy sah mich ziemlich bestürzt an und sagte schließlich: »Äh, na gut, das ist wirklich sehr seltsam.«

»Da bin ich ganz Ihrer Meinung«, bestätigte ich ihr, wobei meine Wangen sich leicht röteten. »Hören Sie, wenn Sie einen neuen Termin vereinbaren möchten, wäre ich nur zu gern bereit dazu. Das ist mir noch nie passiert. Ich verstehe so wenig wie Sie, warum es so wichtig ist, dass Sie den Einkauf sofort angehen, aber mehr kann ich Ihnen im Augenblick nicht sagen.«

»Ich verstehe.« Sie wirkte sehr enttäuscht. »Ich kann Sie ja anrufen, wenn ich die Stelle bekommen habe. Dann vereinbaren wir einen neuen Termin.«

»Gerne«, sagte ich und war mir völlig darüber im Klaren, dass das eigentlich eine Absage war. Ich gab ihr die bespielte Kassette und brachte sie zur Tür.

Verlegen lächelnd nahm sie das Band entgegen und fragte: »Sind Sie sicher, dass ich Ihnen nichts schuldig bin? Ich meine, ich zahle gern für Ihren Zeitaufwand.«

Und zum zweiten Mal an diesem Tag lehnte ich Geld ab, das ich gut hätte gebrauchen können. »Nein, wirklich, lassen Sie nur. Es tut mir leid, so was ist mir noch nie passiert.«

»Schon gut, Abby«, sagte sie freundlich. »Ich melde mich, wenn ich den Job habe.« Lügner, Lügner …

Was an meinem eingebauten Lügendetektor wirklich nervt, ist, dass ich häufig aus Höflichkeit so tun muss, als würde ich von der Lüge meines Gesprächspartners nichts merken.

»Das wäre großartig«, sagte ich lächelnd. »Viel Glück bei dem Vorstellungsgespräch.«

Sie winkte mir, als sie den Flur hinunterging, und ich lehnte den Kopf an den Türrahmen. Bisher hatte ich also eine heiße Liebesnacht gecancelt, eine Zweimillionendollar-Einzahlung auf mein Konto verhindert und mich um zukünftige Termine mit Cathy und allen ihren Bekannten gebracht. Von allen Tagen, die ich besser hätte im Bett bleiben sollen, war dieser der Spitzenreiter.

Ich seufzte und schleppte mich ins Büro, setzte mich an den Schreibtisch und überlegte, was ich mit meiner Zeit bis zum nächsten Klienten anfangen sollte. Ich schielte zum Telefon und fragte mich gerade, wen ich denn mal anrufen könnte, als es klingelte. Ich fuhr erschrocken zusammen.

»Abigail Cooper am Apparat«, meldete ich mich in höchst geschäftlichem Ton.

»Hallo, Süße«, antwortete ein dunkler Bariton in bester Bogart-Manier.

Meine hängenden Schultern strafften sich augenblicklich und auf meinem Gesicht machte sich ein Lächeln breit. »Hallo, mein Schönster. Was für eine nette Nachmittagsüberraschung.«

»Ja, hab ein paar Minuten Zeit, bevor sie uns mit unseren Partnern zusammenbringen und uns die Einsatzanweisungen geben, darum dachte ich, ich rufe mal an und hinterlasse was Unanständiges auf dem Anrufbeantworter.«

»Oh, und jetzt bekomme ich es live zu hören. Das ist ja mein Glückstag heute!«, schnurrte ich.

»Oder ich zeig’s dir einfach morgen Abend …«

Meine Schultern sackten in sich zusammen. Mist. Ich hätte es beinah vergessen. »Äh, Dutch? Wegen morgen Abend …«

»Ich dachte, ich bringe was vom Chinesen mit. Du magst doch Chinesisch?«

»Ja, weißt du, die Sache ist die …«

»Du magst kein Chinesisch?«

»Nein. Ich meine, doch. Aber es gibt ein Problem wegen morgen Abend …«

»Was für ein Problem?«

»Äh, erinnerst du dich an Kendal Adams? Er ist der Kollege, der meine Kliententermine übernommen hat, als ich im Krankenhaus lag. Und, äh, deswegen bin ich ihm leider einen Gefallen schuldig und den fordert er ausgerechnet jetzt ein. Morgen Abend.«

Stille.

Ich lachte nervös und sprach weiter: »Weißt du, er wurde für eine Hochzeitsfeier gebucht, zusammen mit einem anderen Kollegen, aber der liegt mit Blinddarm auf dem OP-Tisch. Kendal hat es bei allen anderen probiert, aber nur ich war verfügbar, und da ich ihm was schuldig bin, habe ich mich bereit erklärt, mit ihm bei dieser Hochzeit zu arbeiten …«

Stille.

»Ich hab mich mit Händen und Füße dagegen gewehrt und gesagt, dass ich schon was anderes vorhabe, aber er war dermaßen hartnäckig und hat mir ständig unter die Nase gerieben, dass ich ihm was schuldig bin, und, na ja, ich hab nachgegeben. Das tut mir wirklich schrecklich leid! Können wir uns vielleicht am Samstag statt am Freitag sehen?«

Eine ganze Weile herrschte bedrückendes Schweigen, bevor Dutch endlich antwortete. »Ich komme morgen Nachmittag nach Hause. Dann reden wir weiter.« Und damit legte er auf.

Ich behielt den Hörer noch so lange am Ohr, bis das Freizeichen kam. Tränen hingen an meinen Wimpern. Jetzt konnte ich die Liste meiner Pleiten um einen Posten erweitern.

Ein paar Stunden später kroch ich nach Hause und wollte am liebsten alles hinschmeißen. Der Nachmittag war nicht besser geworden, im Gegenteil, ich hatte noch drei schwierige Sitzungen absolvieren müssen. Ich schloss die Haustür auf und wurde von Eggy begrüßt, meinem zwölf Pfund schweren Dackel, der mir das Gesicht abschleckte, sowie ich ihn hochnahm. Dieser wilde, schlabbernasse Begrüßungsrausch ist das Beste an einem Hund, denn danach ist jeder Tag gleich ein bisschen besser.

Eggy leckte und stupste und zappelte auf meinem Arm und schlug mit dem Schwanz einen Trommelrhythmus. Ich grinste übers ganze Gesicht. Nach einer Minute hörte ich von oben: »Abby? Bist du das?« Dann kamen schwere Schritte die Treppe herab.

»Hallo, Dave«, rief ich und setzte Eggy ab.

Dave McKenzie ist mein Handwerker. Er sieht aus, als wäre er dem Film Easy Rider entsprungen: groß, breitschultrig, lange blonde Haare zum Pferdeschwanz gebunden, dichter Vollbart, abgewetzte T-Shirts, zerrissene Jeans und eine Kette an der Gürtelschlaufe, an der sein Portemonnaie hängt. Von Nahem entdeckt man die Spuren gelebter Jahrzehnte, zum Beispiel das Grau im Bart, die Krähenfüße in den Augenwinkeln und den leicht rundlichen Bauch fünfzigjähriger Männer.

Anfang März hatte ich ein Haus gekauft, das »viel Potenzial« hat, so die Wortwahl der Maklerin, aber die Arbeit daran wuchs mir ziemlich schnell über den Kopf. Ein Klient, der jemanden kannte, der jemanden kannte, gab mir damals Daves Telefonnummer und in einer verzweifelten Stunde rief ich ihn an. Er war ein Geschenk des Himmels, denn er verwandelte mein heruntergekommenes Häuschen in ein trautes Heim.

Ursprünglich war es ein Spitzdachbungalow gewesen, dann hatte der vorige Besitzer eine Treppe hineingebaut und das halbe Dach in ein Schlafzimmer umgewandelt. Weil das so klein war und ich den Stauraum eines Dachbodens nicht brauchte, ließ ich Dave die Zwischenwand einreißen und das Schlafzimmer vergrößern. Jetzt war er gerade dabei, die alte Dachisolierung zu entfernen.

»Wie läuft’s?«, fragte ich.

»Ganz gut«, antwortete er unverbindlich und fügte mit forschendem Blick hinzu: »Du siehst furchtbar aus.«

»Mensch, tolles Kompliment, das haut mich glatt um.«

»Nein, wirklich, du siehst scheiße aus. Was ist passiert?«

»Es würde schneller gehen zu erzählen, was nicht passiert ist«, sagte ich und wandte mich der Küche zu, um Eggy mit seinem Abendessen zu versorgen.

»So schlimm, hm?«

»Hab den Tag in ›Schwarzer Donnerstag‹ umbenannt.« Ich holte eine Dose Hundefutter aus dem Schrank.

»Dann sollte ich dir wohl erst morgen erzählen, was mit dem Dach los ist.«

Ich stockte mit der Dose in der Hand und blickte Dave scharf an. »Was ist mit dem Dach?«

»Nichts, was ich nicht hinkriegen würde …«

Eggy ermahnte mich kläffend, dass ich sein Abendessen verzögerte. Also nahm ich den Dosenöffner aus der Schublade und meinte leichthin: »Ich nehme an, das war die gute Nachricht. Willst du mir die schlechte auch noch verraten?«

Dave wechselte unruhig das Standbein. »Na schön, dann kurz und schmerzlos. Als ich die alte Isolierung runterholte, fiel mir ein leichter Wasserschaden an den Sparren auf. Sieht so aus, als hätte der Vorbesitzer die Erneuerung zwanzig Jahre aufgeschoben. Werde wahrscheinlich drei Viertel der Dachsparren auswechseln müssen.«

Stöhnend stellte ich Eggy sein Fressen auf den Boden. Als ich mich wieder aufrichtete, schloss ich die Augen und fragte: »Wie viel?«

»Gute Frage. Die kurze Antwort lautet: keine Ahnung. Möglich, dass es nicht so schlimm wird wie befürchtet und dass nur der kleine Abschnitt betroffen ist, den ich bisher freigelegt habe …«

Mein Radar meldete sich. »Nein, es ist schlimmer, glaub mir, es ist schlimmer.«

Dave sah mich mitfühlend an und seufzte. »Ich könnte gleich morgen früh zum Baumarkt fahren und sehen, ob ich beim Holz einen Rabatt aushandeln kann. Wie wär das? Und bei den Arbeitskosten kann ich dir auch ein bisschen entgegenkommen.«

Ich rang mir ein Lächeln ab. Dave arbeitete für lumpige fünfzehn Dollar die Stunde und versuchte trotzdem noch Arbeitszeit unter den Tisch fallen zu lassen. Er war ein großzügiger, gutmütiger Mensch, der mir zum Freund geworden war, darum setzte ich um seinetwillen mein Schauspielergesicht auf.

»Quatsch. Das ist überhaupt kein Problem, ehrlich. Außerdem habe ich morgen Abend einen fetten Auftrag; das Honorar reicht dicke für die Reparatur. Wirklich, das ist kein Problem. Ich war bloß neugierig.«

»Also gut. Dann fange ich morgen damit an. Ich werde die gesamte Isolierung runterholen. In deinem Schlafzimmer könnte es also ziemlich kalt werden, bis ich fertig bin.«

»Macht nichts. Ich habe jede Menge Wolldecken. Das wird schon gehen.«

»Gut, also dann«, sagte Dave und trat von einem Fuß auf den anderen, während er nach einer eleganten Art suchte, das Thema zu wechseln. »Ich sollte mich mal vom Acker machen. Ich will nicht, dass die alte Dame einen Anfall kriegt, weil ich zum Abendessen nicht da bin.« Die schnoddrige Erwähnung seiner Lebensgefährtin störte mich nicht. Ich wusste, dass Dave ihr völlig ergeben war.

»Wir sehen uns dann morgen«, sagte ich und begleitete ihn zur Tür.

Nachdem er weg war, ging ich in die Küche an den Kühlschrank und schaute nach, was er Essbares enthielt. Es gab einen Karton Eier, Sojamilch, Ketchup, ein halbes Glas Mixed Pickles und Bagels. Cathy war nicht die Einzige, die das Einkaufen ständig aufschob. Seufzend holte ich die Pfanne heraus und verquirlte ein paar Eier. Eggy stand bei Fuß, während ich sie briet. Seine Vorliebe für Eier hatte ihm den Namen eingebracht und so gab ich ihm ein bisschen ab, nachdem ich mir die Hauptportion auf einen Teller geschoben hatte. Wir speisten in kameradschaftlichem Schweigen.

Später plauderte ich mit meiner Schwester Catherine, die mich aus ihrem Hotel in New York anrief. Cat ist eine clevere Geschäftsfrau mit einer eigenen Firma und die weibliche Version von Donald Trump. Sie ist Trillionen Dollar schwer, führt ein schnelles, energisches Leben und hat keine Geduld mit dummen Leuten. Bei mir spielt sie meistens die Ersatzmutter und sorgt sich um ihre kleine Schwester wie eine aufgeregte Glucke. Sie lebt in einem wohlhabenden Vorort von Boston, war aber gerade in New York, um ein Geschäft abzuschließen, was wohl ziemlich gut lief, denn sie war völlig aufgedreht und redete munter wie ein Wasserfall. Ich hatte nicht das Herz, sie runterzuziehen, und erzählte darum nichts von meinem Schwarzen Donnerstag.

Schließlich hielt sie mal inne und fragte: »Bist du schon aufgeregt, weil ihr euch morgen Abend wiederseht, du und Dutch?«

Das musste ja kommen. »Leider klappt das nicht.«

»Wie? Warum denn das?«

»Erinnerst du dich an Kendal Adams, meinen Freund, der mir mit meinen Klienten half, solange ich im Krankenhaus war?«

»Vage …«

»Er hat angerufen, damit ich ihm jetzt aushelfe. Er braucht morgen einen Kollegen bei einer Hochzeitsfeier.«

»Ich verstehe nicht«, sagte sie.

»Die Braut möchte offenbar, dass Kendal zur Unterhaltung der Gäste mit jemandem zusammen Tarotkarten legt.«

»Aber du kennst dich doch damit gar nicht aus«, wandte Cat ein.

»Das habe ich ihm auch gesagt.«

»Heißt das, dass du den Leuten etwas vormachen wirst?«

»Nein. Kendal will es mir morgen beibringen. Wir treffen uns eine Stunde vorher.«

»Innerhalb einer Stunde kannst du das lernen?«

»Kendal meint, es sei wirklich einfach. Jeder könne das.«

Meine Schwester legte eine bedeutungsschwangere Pause ein, dann fragte sie: »Wo würde man Tarotkarten bekommen, wenn man sich damit mal versuchen wollte?«

»Keine Ahnung. Vielleicht in einer Buchhandlung. Warum? Willst du dir welche kaufen?«

Cat lachte und sagte: »Du weißt, ich liebe solches Zeug. Wer weiß? Vielleicht liegt deine Gabe in der Familie und ich hab auch was davon abbekommen. Vielleicht schlummert sie in mir und wartet nur darauf, genutzt zu werden.«

Ich musste herzhaft lachen, das erste Mal an diesem Tag. Ich wollte sie nicht auslachen, aber die Vorstellung, dass meine knallharte, superfeine Schwester in ihrem Dreitausenddollar-Seidenkostüm von Hermès über einem Satz Tarotkarten brütete, fand ich ungeheuer erheiternd.

»Was ist so komisch?«, fragte sie gekränkt.

»Nichts«, antwortete ich hastig. »Es kam mir nur lustig vor. Der Gedanke, wie du mit den ganzen alten Geizkrägen am Konferenztisch sitzt und ihnen ihre Zukunft aus den Karten liest … das ist einfach zum Totlachen!« Ich konnte nicht mehr an mich halten und bekam einen Kicheranfall.

»Offen gestanden weiß ich nicht, was daran lustig ist. Ich glaube eher, es macht dich ein bisschen nervös, weil du vielleicht nicht die Einzige in der Familie bist, die die Gabe hat.«

»Was?« Ich würgte mein Gekicher ab. »Das ist lächerlich.«

»Ach ja? Findest du?«

»Ach, Mensch, Cat, ich wollte dich doch nicht kränken. Mir kam nur dieses Bild in den Kopf und …«

»Oh, es ist ja schon so spät. Ich muss Schluss machen«, sagte sie abrupt.

»Cat, warte …«

»Gute Nacht.« Und damit legte sie auf.

Ach ja, ein Superabschluss eines Supertages. Ich gab auf und beschloss, ins Bett zu gehen. Als ich das Licht ausmachte und mich an Eggy kuschelte, dankte ich Gott, dass der Tag endlich vorbei war.

Um kurz vor Mitternacht schreckte mich das Telefon aus dem Tiefschlaf.

»Hallo?«, fragte ich schlaftrunken in den Hörer, knipste die Lampe an und setzte mich auf.

»Abby? Hier Milo Johnson. Du musst sofort zum Revier kommen.«

»Wie …?« Ich versuchte zu kapieren, was er da gesagt hatte, und schüttelte den Kopf.

»Du musst sofort aufs Revier kommen«, wiederholte er. »Ich habe einen Wagen zu dir geschickt, der dich abholt. Er müsste jeden Moment vor der Tür stehen.«

»Was ist passiert?«, fragte ich und hatte plötzlich Herzklopfen.

»Es geht um eine deiner Klientinnen. Sie wurde überfallen.«

»Eine meiner Klientinnen?«

»Ja, Cathy Schultz. Sie wurde heute Abend niedergeschlagen und vergewaltigt.«

»Oh mein Gott! Wo?« Jetzt war ich hellwach.

»Bei Farmer’s Market an der Twelve Mile. Wir müssen uns unterhalten.«

»Bleib, wo du bist, Milo«, sagte ich und sprang aus dem Bett. »Ich bin sofort da.«

2

Zehn Minuten nachdem ich aufgelegt hatte, betrat ich das Polizeirevier von Royal Oak und wurde die Treppen hinauf zur Kriminalabteilung gebracht. Beim Reinkommen sah ich Milo auf der Ecke seines Schreibtischs sitzen und in einer Akte blättern.

»Hallo«, sagte ich, als ich auf ihn zuging.

Beim Klang meiner Stimme schaute er auf, halb besorgt, halb wütend – ganz anders als noch am Nachmittag. Sein Jackett hing über der Stuhllehne, seine weißen Hemdsärmel waren hochgekrempelt und entblößten muskulöse mokkabraune Unterarme. Den Schlips hatte er auch ausgezogen, sodass er eine etwas derangierte Erscheinung bot. Mir gefiel dieser Milo jedoch besser. Bisher hatte ich ihn immer als makellos und geschmackvoll gekleideten Mann gesehen, aber im hemdsärmeligen Zustand war er nicht so unnahbar.

»Danke, dass du so schnell gekommen bist«, sagte er. »Tut mir leid, dass ich dich aus dem Bett geholt habe«, fügte er noch hinzu, als er meinen Aufzug bemerkte.

Ich guckte flüchtig an mir runter: Trainingshose, Schlafanzugoberteil, hastig übergeworfener Kapuzensweater. Immerhin war der Reißverschluss zugezogen.

»Tja, ich wollte wohl möglichst schnell hier sein, da ist mir gar nicht eingefallen, mich umzuziehen«, erwiderte ich verlegen. »Wie geht es Cathy?«

Milo klappte die Akte zu und legte sie, ohne hinzusehen, hinter sich auf den Schreibtisch. Er verschränkte die Arme und blickte mich aufmerksam an. »Es hat sie übel erwischt.«

»Was ist passiert?«, fragte ich und setzte mich auf einen der Klappstühle ihm gegenüber.

»Soweit wir bisher wissen, hat sie sich mit ihrem Freund im Restaurant getroffen, um ihre neue Stelle zu begießen, und es gegen halb neun verlassen. Sie sagte ihm, sie müsse noch im Lebensmittelmarkt ein paar Dinge besorgen und werde sich zu Hause mit ihm treffen. Sie wohnen zusammen in einem Haus auf der Glenwood. Um zehn war sie immer noch nicht zu Hause. Also fuhr ihr Freund zu Farmer’s Market rüber, um sie zu suchen. Er fand ihren Wagen auf dem Parkplatz, aber von ihr keine Spur. Der Laden schloss um neun und ihr Wagen war der letzte. Darauf rief er die 911 an. Die Kollegen trafen dort ein und fanden Cathy halb nackt und bewusstlos hinter dem Supermarkt neben einem Müllcontainer.«

Plötzlich wurde mir bewusst, wie heftig mein Herz klopfte und wie trocken meine Kehle war. Mir war sogar ein bisschen schwindlig. Milo stand von der Schreibtischecke auf und ging vor mir in die Hocke.

»He, ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er freundlich.

»Ich glaube, ich brauche einen Schluck Wasser«, sagte ich und brachte nicht mehr als ein Flüstern zustande.

Milo erhob sich und holte mir welches aus dem Wasserspender. Ich nahm den Pappbecher und leerte ihn mit zwei Schlucken. Milo ging noch mal und brachte mir diesmal zwei volle Becher. Einen leerte ich sofort, den anderen stellte ich auf den Schreibtisch. Nach ein paar Augenblicken ging es mir besser. Schließlich fragte ich: »Woher weißt du, dass sie meine Klientin ist?«

Milo brachte eine mir bekannte Kassette zum Vorschein. »Die haben wir in ihrer Manteltasche gefunden.«

»Wie gehabt«, meinte ich ironisch lächelnd. Im Sommer hatte er auch schon einmal eine meiner Kassetten bei einer Frau gefunden. Sie war ermordet worden.

»Irgendwie komisch, findest du nicht?«

»Milo, ich glaube, das Irgendwie kannst du streichen«, sagte ich ernst. »Hast du sie schon abgespielt?«

»Jep. Kurz bevor ich dich angerufen habe.«

»Darum bin ich also hier.«

»Jep.«

»Aha.« Ich sah ihm forschend ins Gesicht. »Wie kann ich helfen?«

»Die Sache ist die«, begann er grinsend, »im Gegensatz zu meinem ehemaligen Partner, Dutch dem Zyniker, bin ich absolut von dir überzeugt. Ich meine, nach meinem Lottogewinn fällt es mir schwer, dich nicht für eine echte Hellseherin zu halten. Ich muss diesen Fall allein aufklären, weil die Abteilung zurzeit leider wirklich dünn besetzt ist. Ich könnte deine Antennen als Hilfe gebrauchen, um an den Scheißkerl ranzukommen. Das heißt, wenn du dazu bereit bist.«

Mein Herz schlug wieder schneller. Beim letzten Mal, als ich meine Fähigkeiten zur Lösung eines Falles zur Verfügung gestellt hatte, wäre ich fast selbst zum Mordopfer geworden. Das wollte ich nicht noch mal durchmachen. Doch wie sollte ich mir noch jeden Morgen im Spiegel in die Augen sehen können, wenn ich mich jetzt einfach drückte?

Cathy war schließlich meine Klientin gewesen. Sie war nicht grundlos zu mir gekommen. Verpflichtete mich das nicht in gewisser Weise? Ein paar Augenblicke lang war ich hin- und hergerissen, dann spürte ich, dass meine Crew an meinem Bewusstsein anklopfte. Na schön, sie wollten ihren Senf dazugeben. Also los: Soll ich mithelfen, diesen Fall zu lösen? Sofort bekam ich ein Gefühl der Leichtigkeit in der rechten Seite – das Zeichen für Ja.

»Ja, Milo, einverstanden«, sagte ich entschlossener, als mir zumute war. »Was soll ich für dich tun?«

Milo strahlte mich an und setzte sich an seinen Schreibtisch. Nachdem er Schreibblock und Kuli hervorgeholt hatte, sah er mich an und sagte: »Das ist großartig, Abby. Ich bin dir dafür dankbar. Hast du eine Möglichkeit, den Namen des Kerls zu erspüren?«

Ich seufzte laut. Namen waren noch nie meine Stärke gewesen. »Tut mir leid, Milo, an Namen komme ich nicht so gut ran. Und ich möchte wirklich ungern raten und dich womöglich in die falsche Richtung lenken. Vielleicht können wir etwas anderes versuchen.«

Milo nickte und schaute auf die Kassette. »Ja, vielleicht sollten wir erst mal über eure Sitzung sprechen. Du hast Cathy gesagt, sie solle vor ihrem Vorstellungsgespräch zum Supermarkt fahren. Wir wissen, dass sie den Rat in den Wind geschlagen hat, weil wir in ihrer Tasche die Quittung für eine Maniküre gefunden haben, und die aufgedruckte Uhrzeit belegt, dass sie eine Stunde nach eurer Sitzung dort gewesen ist. Sie war also heute Abend zur falschen Zeit am falschen Ort. Mir scheint, dass deine Äußerungen während der Sitzung, die ihr unverständlich erschienen, eine begründete Warnung waren. Zum Beispiel die Kopfschmerzen: Du hast gesagt, sie werde deswegen einen Arzt konsultieren. Der Täter hat ihr mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf geschlagen. Zurzeit liegt sie bewusstlos im Krankenhaus, wird also von einem Arzt wegen ihrer Kopfschmerzen behandelt.«

Ich nickte und war erst einmal sprachlos, wie genau die empfangene Botschaft plötzlich zutraf.

Milo redete weiter. »Leider können sich die meisten Opfer mit solch einer Verletzung hinterher nicht mehr an den Überfall erinnern. Cathys Arzt hat gerade angerufen. Zum Glück sind die Kollegen rechtzeitig bei ihr gewesen; sie ist bewusstlos, aber nicht im Koma, und im Augenblick glaubt der Arzt, dass eine Operation nicht nötig sein wird. Er sagt, die übrigen Verletzungen würden schnell verheilen und er sei vorsichtig optimistisch hinsichtlich ihres Zustands. In ein paar Wochen sollte sie wieder auf den Beinen sein. Sobald sie zu sich kommt, werden wir sehen, ob sie sich an etwas erinnern kann. Wenn du an den Namen des Täters nicht herankommst, könntest du vielleicht etwas Einfacheres probieren, zum Beispiel, womit er sie niedergeschlagen hat.«

Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her. Ich war wirklich bereit, Milo zu helfen, aber es kostete mich Überwindung. Einer Gewalttat nachzuspüren ist ein bisschen wie im Müll zu wühlen: Man kommt mit stinkenden, widerlichen Dingen in Berührung, tut es nur widerwillig und sehnt sich nach einer Dusche. Angewidert runzelte ich die Stirn, wappnete mich, dann schloss ich die Augen, um mich zu konzentrieren, und sagte mir, ich täte das zum Wohl der Allgemeinheit. Als Erstes richtete ich meine Gedanken auf die Waffe. »Aha, sie zeigen mir einen Autoreifen oder vielmehr einen platten Reifen. Ich glaube nicht, dass er sie mit einem Reifen umgehauen hat …«

»Nein, aber man braucht einen Montierhebel zum Reifenwechsel«, warf Milo ein, der zwei und zwei zusammenzählte.

Ich riss die Augen auf und lächelte ihn an. »Ja, das leuchtet irgendwie ein, hm? Demnach ist ein Montierhebel die wahrscheinlichste Waffe. Wurde am Tatort keiner gefunden?«

»Die Spurensicherung ist mit dem Gelände noch nicht fertig, aber ich glaube nicht, dass sie einen finden werden.«

Ich nickte, dann machte ich die Augen wieder zu. »Gut, frag mich etwas anderes.«

»Was kannst du mir über den Täter sagen?«

Ich konzentrierte mich und einen Moment später sagte ich: »Ich habe den Eindruck, er ist ein richtiges Dreckschwein. Mir scheint, das ist nicht seine erste Vergewaltigung …« Ich hielt inne und verfolgte den Gedanken weiter. »Ja, das ist eindeutig nicht sein erstes Mal. Habt ihr nicht vielleicht schon von ähnlichen Überfällen gehört?« Ich hörte Milo energisch schreiben. Er sagte nur kurz Ja und wartete auf meinen nächsten Hinweis.

»Dann bin ich auf der richtigen Fährte«, stellte ich fest. »Er ist also ein Wiederholungstäter. Er scheint zu glauben, dass er immer ungeschoren davonkommt. Es gibt eine Verbindung nach Vegas.«

»Las Vegas, Nevada?«

»Ja, ich sehe immer wieder Vegas vor mir. Vielleicht ist er häufig dort oder hat dort auch schon jemanden vergewaltigt. Er könnte auch spielsüchtig sein. Ich sehe viele Spielautomaten und die bunte Beleuchtung der Kasinos. Er hat also entweder eine persönliche Verbindung zu der Stadt oder er ist ein Spieler. Du solltest dich bei den Kollegen erkundigen, ob dort Frauen überfallen wurden. Außerdem ist er sehr auf die Zeit fixiert, hält sich vielleicht an einen genauen Zeitplan oder ist sehr routineverhaftet …«

»Aha.« Schnelles Gekritzel.

»Er scheint dunkle Haare und dunkle Augen zu haben. Nein, mehr als das. Er ist kein Weißer. Vielleicht ein Latino oder so. Er hat dunkle Haut …«

»Afroamerikaner?«, fragte Milo.

»Nein, kein Afroamerikaner«, sagte ich. »Eher Südeuropäer oder Lateinamerikaner. Er ist groß und es würde mich nicht überraschen, wenn er sehr gut aussieht. Meinem Eindruck nach ist er glatt rasiert und sehr gepflegt. Er scheint Geld zu haben, vielleicht durch Spielgewinne.«

»Verstanden.«

»Und er fährt Ski. Ich weiß nicht, welche Bedeutung das haben soll, aber es gibt eine starke Beziehung zum Skifahren.«

»Er betreibt das als Sport?«

»Ja … oder er hat beruflich damit zu tun. Das wird nicht so ganz deutlich, aber ich höre immer wieder Ski. Ein starker Hinweis, mit dem ich aber nichts anfangen kann.«

»Kannst du mir sagen, wo er Ski fährt?«

Ich richtete all meine Kräfte auf diese Fährte. Immer wieder sah ich ein Paar Ski, aber die Verbindung zum Täter war sonderbar. Ich war zwar nah dran zu begreifen, was meine Crew mir sagen wollte, kam aber nicht ganz drauf.

»Tut mir leid, Milo, ich versteh’s nicht. Sie wollen nicht deutlicher werden oder ich habe es falsch interpretiert.«

»Ist in Ordnung. Kannst du mir sagen, wo er sich gewöhnlich aufhält?«

»In Vegas.«

»Nur in Vegas? Und was ist mit unserer Gegend hier?«

»Darüber erhalte ich keine Botschaften, ich sehe nur die Straßen von Vegas. Und immer wieder Spielautomaten. Vielleicht stammt er sogar von dort.«

»Kannst du mir sonst noch etwas sagen?«

»Mit den Frauen hat es etwas Bestimmtes auf sich. Sie scheinen irgendwie ein Bild zu repräsentieren. Es gibt starke Ähnlichkeiten zwischen den einzelnen Taten – entweder sehen sich die Frauen ähnlich oder der Tatort ist immer der gleiche. Cathy wurde neben einem Müllcontainer gefunden. Das ist bezeichnend, denn er hält Frauen für wertlos. Der Umgang mit Frauen ist für ihn wie Müll rausbringen …« In dem Moment war ich nah dran, mit der Energie dieses Mannes in Berührung zu kommen, und wurde körperlich abgewehrt. Ich riss die Augen auf und schauderte.

»Alles in Ordnung?«, fragte Milo.

Ich nickte und griff nach dem Wasserbecher. Das war mir alles zuwider und ich wollte aufhören. Milo sah mich verständnisvoll an und legte den Kuli hin.

»Du hast genug?«

»Mehr als genug«, sagte ich leise.

»Gut, dann hören wir auf. Ich sag dir trotzdem, dass du den Nagel auf den Kopf getroffen hast. Es hat in Royal Oak zwei Vergewaltigungen gegeben, beide wurden an einem Donnerstag etwa um die gleiche Zeit verübt. Die beiden Opfer sehen Cathy so ähnlich, sie könnten Schwestern sein, und beide wurden bewusstlos geschlagen und in der Nähe von Müllcontainern gefunden. Ich werde bei den Kollegen in Vegas anrufen und mal nachhören, ob sie eine Spur für uns haben.«

»Haben die anderen beiden Opfer dir etwas sagen können?«, fragte ich.

»Nein. Die eine liegt noch im Koma und man weiß nicht, ob sie in nächster Zeit aufwachen wird. Sie hat nach dem Überfall lange unbemerkt dagelegen und wäre fast gestorben. Die andere Frau war drei Tage lang bewusstlos und kann sich an den Täter überhaupt nicht erinnern. Sie ist noch ziemlich traumatisiert. Wir warten erst mal ab, ob sie sich von allein an etwas erinnert, was uns weiterhelfen könnte.«

»Ihr solltet das an die Presse geben, Milo«, sagte ich ernst. »Die Frauen hier sollten gewarnt werden.«

Milo nickte und seufzte schwer. »Das mit der Presse ist immer ein zweischneidiges Schwert. Mit der Warnung hast du sicher recht, aber du weißt auch, wie die Nachrichtensender sein können. Sie bauschen solche Fälle unverhältnismäßig auf und danach wird uns jeder, der sich ein bisschen verdächtig benimmt, als Vergewaltiger gemeldet. Das Dezernat wird mit Hinweisen überschwemmt, die die personellen Kräfte binden, aber zu gar nichts führen. Bevor ich diese Karte ausspiele, will ich erst das Möglichste tun, um den Kerl zu schnappen.«

»Und das heißt?« Ich war neugierig, wie die Polizei jetzt weiter vorgehen würde.

»Wir klappern die Umgebung ab, ob jemand etwas gesehen hat, und vielleicht haben wir ja Glück. Wenn wir bis nächsten Mittwoch keinen Durchbruch erzielen, rufe ich die Medien an und setze die Öffentlichkeit in Kenntnis.«

Ich nickte müde. Mein Adrenalinrausch war vorbei und hatte träger Erschöpfung Platz gemacht. Milo schien das zu bemerken, denn er griff zum Telefon und rief den Streifenpolizisten an, der mich zu Hause abgeholt hatte. Dann kam er um den Schreibtisch herum und half mir mit einer Hand vom Stuhl hoch. »Komm, Mädchen, bringen wir dich wieder nach Hause in dein Bett. Du siehst ziemlich mitgenommen aus.«

»Mitgenommen ist gar kein Ausdruck«, sagte ich und nahm seine Hand. »Sag mal, meinst du, ich könnte Cathy morgen besuchen? Weißt du, vielleicht kann ich durch ihre Ausstrahlung etwas intuitiv erfassen.«

»Ich bezweifle, dass in den nächsten Tagen außer den engsten Angehörigen jemand zu ihr darf, aber ich spreche mit dem Arzt und sage dir Bescheid.« In dem Moment kam mein Chauffeur. Milo nickte ihm zu und begleitete mich zur Tür. »Danke noch mal für deine Hilfe. Ich weiß das zu schätzen.«

»Gern geschehen. Ich weiß zwar nicht, wie hilfreich ich wirklich war, aber du kannst mich jederzeit wieder anrufen«, sagte ich und drückte ihm kurz den Arm, bevor ich durch die Doppeltür verschwand.

»Ich melde mich«, rief er mir hinterher und zusammen mit dem Polizisten stieg ich die Treppe hinunter.

Kurze Zeit später war ich wieder zu Hause. Als ich mich unter der Bettdecke zusammenrollte, stellte ich stöhnend fest, dass es schon zwei Uhr war. Zwei Augenblicke später war ich eingeschlafen.

Am Morgen weckte mich erneut das Telefon. Ich griff nach dem Hörer und brummte: »Wer wagt es, mich um die Zeit anzurufen?«

»Morgen, Abby, hier Milo. Tut mir leid, dass ich dich schon wieder aus dem Bett klingle, aber ich komme gerade aus dem Krankenhaus. Cathy ist wach und sie fragt nach dir.«

»Wie spät ist es?«

»Halb sieben.«

Ich stöhnte demonstrativ.

»Hier wartet ein kochend heißer Kaffee auf dich …«, säuselte Milo in den Hörer, während es im Hintergrund knisterte.

»Bist du am Handy?«, fragte ich, richtete mich ein bisschen auf und zwang meine Lider auseinander.

»Ja, ich sitze im Wagen.«

»Wo bist du jetzt?«, fragte ich, weil ich schon überlegte, wie viel Zeit mir zum Anziehen bleiben würde.

»In deiner Auffahrt.«

Milo war mir immer als die enthusiastischere Hälfte des Teams vorgekommen und plötzlich betrachtete ich Dutchs Geduld mit ganz anderen Augen. »Ich brauche also gar nicht erst zu bitten, dass du mich noch eine Stunde schlafen lässt, bevor wir zu ihr fahren?«

»Mmmm«, machte Milo, »der Kaffee ist spitze, und, oh!, was haben wir denn da? Einen köstlichen Blaubeermuffin! Er ist sogar warm. Lecker! Und der ist ganz allein für dich. Aber beeil dich lieber, mir knurrt nämlich schon der Magen.«

Milos gute Laune sorgte bei mir nur für Gereiztheit. Was soll ich sagen? Ich bin absolut kein Morgenmensch. »Tu dir keinen Zwang an. Ich ruf dich an, wenn ich wieder wach werde.« Damit legte ich auf und zog mir die Decke über den Kopf.

Es dauerte keine drei Sekunden, da wurde meine Haustür mit Faustschlägen traktiert. Eggy, der mein mitternächtliches Kommen und Gehen glatt verschlafen hatte, sprang aus dem Bett, sauste die Treppe hinunter und bellte wie ein Höllenhund.

Stöhnend zog ich mir das Kopfkissen über den Kopf und kniff die Augen zu, aber das Hämmern an der Tür wurde nur lauter und Eggys Gebell immer schriller, sodass ich schließlich aufstand und die Treppe runterstapfte. Nachdem ich Eggy sanft mit dem Fuß zur Seite geschoben hatte, öffnete ich die Tür und schnauzte: »Was bist du, ein Sadist?«

Als Antwort drückte mir Milo eine kleine Tüte in die Hand und drängte an mir vorbei ins Wohnzimmer. »Wow!«, sagte er bei einem Rundumblick. »Gefällt mir, was du daraus gemacht hast. Erstklassige Verbesserung.« Zuletzt hatte Milo das Haus gesehen, als es noch keine Möbel hatte und der Fußboden verlegt wurde.

Ich blickte ihn mürrisch an. So leicht würde ich mich nicht beschwichtigen lassen. »Milo! Das ist doch verrückt. Wenn sie jetzt wach ist, kommt es auf eine Stunde mehr oder weniger auch nicht an! Ich bin völlig übermüdet, was ich dir zu verdanken habe, und mir stehen anstrengende Sitzungen bevor!«

Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, zeigte er mir ein Gesicht, das mich rigoros in die Schranken wies. »Das habe ich schon verstanden«, erwiderte er mit gefährlicher Ruhe. »Du bist müde. Aber weißt du was? Da liegt eine junge Frau im Krankenhaus, die gerade erkennen musste, dass sie bewusstlos geschlagen und vergewaltigt worden ist, und der einzige Mensch, nach dem sie fragt, bist du. Darum tut es mir wirklich leid, dass ich dir ungelegen komme, aber um ehrlich zu sein, meine liebe Scarlett, es kümmert mich einen Scheiß!«