Abenteuer Via Francigena - Esther Kleinhage - E-Book

Abenteuer Via Francigena E-Book

Esther Kleinhage

3,8

Beschreibung

1.000 km von Lausanne nach Rom, durch die Schweiz und Italien wandert Esther Kleinhage auf den Spuren Sigerics, Erzbischof von Canterbury, der die Pilgerroute Richtung der ewigen Stadt erstmals um das Jahr 990 dokumentiert hat. Der Weg hält viele Abenteuer für sie bereit, unvorhergesehene Hindernisse bringen sie so manches mal fast zum Aufgeben. Doch die Begegnungen mit anderen Pilgern und Menschen entlang ihres Weges ermuntern sie und bestätigen sie in ihrem Wunsch, sich immer wieder alleine auf Fußreise zu begeben und sich wochenlang auf ein Leben fern des Alltagstrotts einzulassen.

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Für Nelli und Jörg

…und meinen Schutzengel…

Auf ein Neues

Trainings-Tag 1: Entlang des Genfer Sees

Trainings-Tag 2: Begegnung mit einem Vollzeit-Pilger

Trainings-Tag 3: « Singing in the Rain »…

Trainings-Tag 4: Ein typischer April-Tag

Trainings-Tag 5: Das Ende der Trainingswoche

Tag 1: Aller (Neu-)Anfang ist schwer

Tag 2: „Es könnte so schön sein“

Tag 3: Noch immer Regen

Tag 4: Sonnige Momente

Tag 5: Alles wird gut

Tag 6: Die Tage werden länger – und besser

Tag 7: Unbekannte Flur-Mitbewohner

Tag 8: Luxus als letzte Alternative

Tag 9: Unvergeßliche Begegnungen

Tag 10: Schleichende Einsamkeit

Tag 11: Am Ticino

Tag 12: Wiedersehen

Tag 13: Die Po-Überquerung

Tag 14: Pilgern durch eine Stadt in Partystimmung

Tag 15: Ich lerne die Bedeutung des Wortes « Furt »

Tag 16: Ein Tag voller Höhepunkte

Tag 17: Auf Abwegen

Tag 18: Im Regen Richtung Pass

Tag 19: Neblige Enttäuschung

Tag 20: Morast und Kälte

Tag 21: Als ob alle Elemente gegen mich wären…

Tag 22: Das Loch im Boden –und andere Widrigkeiten

Tag 23: Mein Tag am Meer mit wichtigen Begegnungen

Tag 24: Wiedersehen

Tag 25: In Pilgergesellschaft

Tag 26: Der Tote nebenan

Tag 27: In Hagel, Blitz und Donner

Tag 28: Das wunderbare Gegenteil des Vortages

Tag 29: Fußwäsche zum Abendessen

Tag 30: Alle Wege führen nach … Siena

Tag 31: Dem Wind lauschen

Tag 32: Eine Herberge wie ein Gefängnis

Tag 33: Ein traumhafter Tag

Tag 34: Der Luxus eines Einzelzimmers

Tag 35: Am See

Tag 36: Eine weitere Herberge wie ein Gefängnis

Tag 37: Heiße Therme bei heißen Temperaturen

Tag 38: Heiße Schokolade gegen Unwetter und andere Widrigkeiten des Tages

Tag 39: Unschöne Begegnung mit einem Schäfer-Hund und schöne Begegnung mit Anne

Tag 40: Der nicht enden wollende Weg

Tag 41: Ankommen

Tag 42 und 43: Pilgertradition bis zum Ende

16., 17. und 18. August 2013: Wiedersehen

Auf ein Neues

Ende Juli 2012 stand ich mitten in Spanien, auf der Nordroute des Jakobsweges, vor einem Schild mit Kilometerangaben. Nach Rom zeigte es 1‘820km, nach Santiago de Compostela 456km. Allerdings war ich zu diesem Zeitpunkt schon rund 1‘500km bis zu diesem Schild gelaufen und rechnete mir so flugs aus, dass ich von meinem Heimatort Lausanne aus schneller nach Rom gelaufen wäre als nach Santiago de Compostela. Es war für mich das erste Mal, dass mir vor Augen geführt wurde, dass es mehr als ein Pilgerziel gibt, dass sich Pilgerwege durch ganz Europa in alle Himmelsrichtungen ziehen. Intensiver dachte ich darüber damals erst einmal nicht nach; nach den Erfahrungen auf dem Jakobsweg glaubte ich, für einige Zeit genug gepilgert zu haben.

Doch nur neun Monate später ergibt sich erneut die Möglichkeit einer zweimonatigen Auszeit in meinem (Berufs-)Leben und der Drang, meine Pilgererfahrung zu erneuern, ist grösser als das abschreckende Wissen um die körperlichen Anstrengungen. Zwischenzeitlich habe ich Paulo Coelhos „Auf dem Jakobsweg“ gelesen und verstehe mein neues Pilgerziel Rom als die logischste Fortsetzung meiner ersten Erfahrung auf europäischen Pilgerwegen.

Schon bei der Vorbereitung für diesen Weg wird klar, dass er wesentlich weniger kommerzialisiert sein wird als der Jakobsweg. Die Literatur über den Weg ist knapp.

In meinem Pilgerführer steht unter anderem, dass es ausreichend Herbergen gäbe und ein Zelt nicht nötig sei, auf Wikipedia hingegen wird das Zelt als unabdingbar aufgeführt. Mit Widersprüchen dieser Art kaufe ich meine Ausrüstung zusammen und bin, im Gegensatz zu meinen Jakobswegen, dieses Mal fast wie ein professioneller Wildnisbezwinger ausgestattet: ich habe ein Zelt im Rucksack, einen Schlafsack für bis zu -7° Celsius und eine dieser neumodischen, selbstaufblasbaren Isomatten. Dieses Mal bleibe ich dank einer Investition in leichte und outdoor- technische Kleidung auch mit Wasserflasche und Essen und der kompletten Ausstattung unter 13 Kilogramm Rucksackgewicht.

Trainings-Tag 1: Lausanne – Vevey (26.8km)Entlang des Genfer Sees

Der Abschied von Zuhause fällt mir merkwürdigerweise wesentlicher schwerer als beim Jakobsweg. Dabei soll dieses Mal doch alles viel lockerer sein. Meine Fragen und Selbstzweifel sind auf dem Jakobsweg doch alle gelöst und ausgelebt worden, ich fühle mich doch wohl und zufrieden in meinem Leben und will doch nur den Freiheitskitzel einer langen Wanderung noch einmal spüren. Vorerst möchte ich sowieso nur den Schweizer Teil der Via Francigena gehen, dann für ein paar Tage zurückkommen und den italienischen Teil danach angehen. Warum also ist mir so schwer ums Herz als ich meinem Mann Auf Wiedersehen sage?

Ich gehe am frühen Morgen im strahlenden Sonnenschein los. Für Mitte April keine Selbstverständlichkeit in Lausanne! Nach einigen Hundert Metern am Genfer See angekommen, führt mich bereits das erste der vielen zuverlässigen Schilder nach links. Ich weiß nicht, ob die Via Francigena tatsächlich besser ausgeschildert sein kann als der Jakobsweg oder ob ich einfach über die vielen gepilgerten Kilometer gelernt habe, die Schilder nicht zu übersehen, zumindest verlaufe ich mich auf der Via Francigena in der Schweiz wesentlich weniger als auf dem Beginn meines Jakobsweges.

Der Weg am See entlang ist mir die ersten Kilometer mehr als geläufig. Unzählige Male bin ich dort in meinem Leben gejoggt, einen Pilger habe ich allerdings noch nie dort laufen sehen. Ähnlich geht es wohl dem älteren Herren, den ich flotten Schrittes überholte. Die etwas repetitiven und doch so geliebten Fragen werden wieder einmal über mir ausgeschüttet. „Wohin gehen Sie?“, „Woher kommen Sie?“, „Wie lange sind Sie unterwegs?“, „Wie bezahlen Sie das?“. Am ersten Tag der Pilgerschaft sind die Antworten noch recht unspektakulär, aber „Rom“ als Ziel meiner Wanderung nimmt er mir ganz sicher nicht ab.

Kurz nach dem kleinen Weinort Lutry muss ich dem See erstmals den Rücken zukehren und ein Stück an der Hauptstraße entlang laufen. Doch der kleine Ort Cully, den ich bald darauf erreiche, verzaubert mich wie üblich mit seinem verschlafenen Charme und lässt mich die Asphaltstrecke schnell vergessen. Die folgende Strecke am See entlang verläuft auf natürlichen und fast wilden Wegen und gefällt mir ausgesprochen gut. Doch nach ein paar Buchten ist der entspannte flache Teil der Tagesetappe vorbei. Durch den abgelegenen Bahnhof von Epesses klettere ich unzählige Stufen immer höher in die Weinberge. Für eine erste Tagesetappe und mit dem noch ungewohnten Gewicht des Rucksacks eine echte körperliche Herausforderung. Der weitere Verlauf durch die Weinberge wird zwar wieder flacher, aber die Sonne strahlt heiß auf meinen fast schattenlosen Weg und ich nutze jede der wenigen mit Weinranken halbschattig überdachten Rastmöglichkeiten. Die körperliche Müdigkeit hat mich schon eingeholt. Meine Schultern und Knie leiden am meisten, aber auch in meinem Kopf und in meine Gedanken hat sich eine erste Müdigkeit eingeschlichen. Gleichzeitig überwiegt die Freude an der Natur und der Bewegung. Die Ausblicke auf den strahlend blauen und in der Sonne glitzernden Genfer See unter mir sind eine Belohnung für die Seele.

In Bögen und hügelig durch die Weinberge geht es stetig auf Vevey zu. Die hässliche und so gar nicht ins Bild passende Zentrale von Nestlé ist von dort oben schon von weitem zu sehen. Nach dem hübschen und alten Weinbergsort Saint Saphorin mache ich erneut eine Pause und setze mich einfach wenige Meter oberhalb des Weges auf einen kleinen Abhang. Die Erfahrung vom Jakobsweg wiederholt sich: ich werde von einem schweizerdeutschen Paar, die Pilger sein könnten obwohl ich ihre Rucksäcke als etwas zu klein empfinde, nicht bemerkt, obwohl sie in Steinwurfweite an mir vorbeilaufen.

Die Via Francigena führt mich von den Weinbergen auf die Hauptstraße hinunter und durch den Ort Corseaux nach Vevey. An der Nestlé Zentrale vorbei gehe ich Richtung See und erreiche die in meinem Buch als Pilgerherberge ausgeschriebene Riviera Lodge, die sich selbst allerdings „Vevey Hotel and Guesthouse“ nennt. Die Rezeption öffnet erst eine halbe Stunde nach meiner Ankunft, aber ich erlaube mir, in der Empfangshalle Platz zu nehmen und meine Müsliriegel auszupacken. Als die junge Empfangsdame eintrifft, teilt sie mir mit, dass alle Betten belegt seien. Weder habe sie einen Platz in einem Schlafsaal noch ein Zimmer für mich übrig. Die Tatsache, dass das Etablissement auf einer Internet-Buchungsseite als „verfügbar“ gekennzeichnet ist, interessiert sie nicht. Immerhin verweist sie mich an die Touristeninformation nur ein paar Meter entfernt.

Dort kann man mir so recht auch nicht weiterhelfen. Man verweist mich auf einen Campingplatz in 3.5km Entfernung, von dem ich allerdings weiß, dass er noch nicht geöffnet hat. Dann verweist man mich auf einen Campingplatz einige Kilometer vor Vevey, was aber bedeuten würde, zurückzulaufen und die Kilometer an den nächsten Tag dazu zu addieren und die Vorstellung begeistert mich nicht wirklich. Als letzte Alternative schickt man mich zur Pension Bürgli, die die einzige günstige Unterkunft im Ort sei. Dort wird mir die Tür vom Sohn der Familie geöffnet, der nach seiner Mutter ruft und die mir dann mitteilt, dass sie für ein Einzelzimmer ohne Bad aber mit Frühstück 60 CHF verlange. Trotz Pilgerstolz entscheide ich mich gegen diese Pension, der Geruch und die ganze Atmosphäre sagen mir zu diesem Preis nicht zu – so steige ich in den Zug und bin in einer Viertelstunde wieder daheim und kann eine weitere Nacht bei meinem Mann verbringen.

Trainings-Tag 2: Vevey – Aigle (26.8km)Begegnung mit einem Vollzeit-Pilger

Stilecht ist es natürlich nicht, seinen Pilgertag mit einer Zugfahrt zu beginnen… Ich komme mir auch reichlich fehl am Platz vor in dem überfüllten Abteil, unter all den herausgeputzten Menschen, die ihren Arbeitstag beginnen.

In Vevey läuft die Via Francigena am See entlang, gemütlich und wenig anstrengend. Die Statue vom kleinen Charlie Chaplin kann ich nicht finden, dafür ist die überdimensional große Gabel, die hier als Hingucker für das örtliche Museum mitten im See steckt, nicht zu übersehen. Immer in Ufernähe erreiche ich Montreux. Mein Geruchssinn ist schon an diesem zweiten Tag wieder erwacht, was bei strahlendem Sonnenschein in einem blumengeschmückten Ort wie Montreux auch nicht verwundert. Die Statue von Freddie Mercury an der Promenade von Montreux kenne ich schon und finde sie auch problemlos wieder.

Kurz danach lasse ich mich für eine Pause nieder. Drei Damen mit Hund sprechen mich an und fragen, ob ich auf der Via Francigena unterwegs sei. Die ersten Menschen, die wissen, dass man von Lausanne nach Rom pilgern kann. Ich sei nicht die erste Pilgerin für diese Saison, sagen sie mir. Mir wird bewusst, dass es auf dem Jakobsweg vor allem die Begegnungen und Wiedersehen mit anderen Pilgern waren, die mich motivierten. Die Via Francigena scheint dafür eine denkbar unpassende Wahl, da nur ein Bruchteil der Pilgerzahlen vom Jakobsweg auf dieser Strecke unterwegs sind. Ich bin mit dem Wissen gestartet, tage- und vielleicht wochenlang alleine unterwegs zu sein. Doch während meiner Pause an der Promenade von Montreux meine ich, in dem jungen Mann mit grünem Rucksack, der an mir vorbeischlenderte, einen Rompilger zu erkennen. Vielleicht werde ich ihn später einholen.

Vorbei geht es am Schloss Chillon mit seinen Touristenströmen und Busparkplätzen und bis Villeneuve immer am See entlang. Ich liebe diese Strecke, weil mich Wasser seit jeher fasziniert – und weil ich weiß, dass ich nach Villeneuve „meinen“ See verlassen werde.

Nach der kleinen Ortschaft Roche muss ich meine für später geplante zweite Pause vorziehen. Das Wetter ist für Mitte April unglaublich gut und ich bin an die warmen Temperaturen und die Sonne, die mir auf den schattenlosen Asphaltwegen trotz Kappe gnadenlos auf den Kopf scheint, nicht gewöhnt. Auf einer langen geraden Strecke parallel zu den Eisenbahngleisen breche ich unter einem kleinen Bäumchen, das ein wenig Schatten spendet, regelrecht zusammen. Ich bin froh, an eine Erste-Hilfe-Decke gedacht zu haben, die ich immer und überall ausbreiten und mich so auch im feuchten Gras einige Minuten lang ausstrecken kann.

Nur wenige Minuten weiter auf meinem Weg nach dieser Pause sehe ich einen Pilger am Wegrand pausieren, der nicht wie ich eine leichte Erste-Hilfe-Decke hat, sondern regelrecht auf einer Picknickdecke schläft. Ich schleiche vorsichtig um ihn herum, will ihn einerseits nicht wecken, will aber nicht meine erste wirkliche Begegnung mit einem Pilger verpassen. Da er tief zu schlafen scheint, ziehe ich weiter, werde aber nach wenigen Metern von ihm zurückgepfiffen. Wahrscheinlich hat er sehr wohl mitbekommen, dass jemand um ihn herum schleicht und wollte sich erst selbst ein Bild dieser Person machen bevor er sich in ein Gespräch verwickeln lässt. Er lädt mich ein, auf seiner Picknickdecke Platz zu nehmen und bietet mir einen Kaffee an.

„Hier? Mitten im Niemandsland?“ Ich kann mir nicht vorstellen, wie er hier an einen Kaffee kommen will. Doch Dominique macht sich an seinem Rucksack zu schaffen und zieht einen echten italienischen Kaffeekocher, einen Gaskocher und eine Plastikdose mit Kaffeepulver aus der Unendlichkeit seines enormen Rucksacks. Während wir geduldig warten, dass die kleine Gasflamme aus dem Wasser im Kaffeekocher Kaffee produziert, erzählt mir Dominique von sich.

„Zuerst bin ich nach Santiago gelaufen, ich hatte damals berufliche und private Sorgen und der Jakobsweg war meine Rettung. Danach bin ich nach Rom gelaufen. Und dann hat Gott mir gesagt, dass dies meine Berufung sei und so bin ich Vollzeitpilger geworden.“

Seit 16 Jahren ist Dominique auf den Pilgerwegen Europas unterwegs, mit derzeit 22kg Gepäck auf dem Rücken. Er ist viermal in Santiago angekommen, fünfmal in Rom, ist den Olavsweg gepilgert und ist natürlich auch schon in Jerusalem gewesen.

Mittlerweile ist der Kaffee aufgebrüht. Ich habe keine Tasse im Gepäck, so dass mir Dominique anbietet, abwechselnd aus seiner ziemlich ramponierten Tasse zu trinken. Ein wenig Überwindung kostet es mich, mit diesem ziemlich zahnlosen Pilger, der für alle anderen wahrscheinlich nicht mehr als ein Landstreicher ist, eine Tasse zu teilen. Doch der Kaffee ist gut, stark und aromatisch. „Der Kaffee schmeckt so richtig gut, weil ich weder den Kocher noch die Tasse jemals spüle“, erklärt Dominique mir stolz, während ich mich beinahe am Würgreiz verschlucke.

Einer Frage kann ich mich nicht erwehren: „Wovon lebst Du, als Vollzeitpilger?“

Dominique erzählt mir, dass er in vielen Herbergen kostenlos unterkomme, dass unter anderem der Priester in Saint-Maurice, wo ich am nächsten Tag eintreffen werde, ihn nicht nur kostenlos beherbergt und verpflegt hat, sondern ihm auch ein wenig Geld mit auf den Weg gegeben hat. Auch sonst würden die Leute ihn unterstützen, so sehr, dass er von seinem Überschuss ein Projekt in Serbien gegründet hat, wo er Straßenkindern hilft. Um seinen Aussagen Glaubhaftigkeit zu verleihen, zieht er mehrere Zertifikate von Klöstern, eines in Österreich, aus seinem Rucksack, die mit Unterschrift und Stempel belegen, dass er als Vollzeitpilger „auf seinem Friedensweg“ von der Kirche anerkannt sei und auch sein Hilfsprojekt wird dort lobend erwähnt. Wäre ich nicht selbst mit knappem Budget als Pilger unterwegs, ich würde ihm auch etwas gegeben.

Zum Abschluss unseres Treffen warnt er mich: „Selbst in der Türkei hatte ich weniger Bedenken und weniger schlechte Begegnungen als in Italien. Nimm Dich in Acht vor den Italienern, lass Dich niemals in ein Privathaus einladen“. Nicht gerade was ich hören möchte, alleine unterwegs nach Italien – und wie gut für mich, dass ich seinen sicher gut gemeinten Ratschlag später mehrfach ignorieren werde!

Dominique ist auf dem Weg zu seinem kranken Vater nach Paris und so laufen wir nach dem Kaffee in verschiedene Richtungen weiter.

In meinem Tagesziel Aigle habe ich mir ein Hotelzimmer reserviert. Dominique hat mir bestätigt, dass ein Zelt für die Via Francigena nicht nötig sei, aber ich habe den festen Vorsatz, mit kleinerem Budget und mehr Freiheit als auf dem Jakobsweg unterwegs sein zu wollen und so oft wie möglich zu zelten. Nur nicht wenn wie für diese Nacht Dauerregen und Kälte vorausgesagt sind. In meinem Pilgerhotel werde ich sehr freundlich empfangen, entscheide mich aber trotzdem, mir zum Abendessen eine Alternative zum Hotel-Restaurant zu suchen und lande bei einem chinesischen Schnellimbiss. Bereits um 19Uhr30 bin ich zurück auf meinem Zimmer und müde genug, mich auch von den Gastarbeitern nicht weiter stören zu lassen, die in diesem Hotel untergebracht sind und im improvisierten Fernsehzimmer im Flur vor meinem Zimmer Bier trinkend ihre Zeit absitzen.

Es ist meine erste Nacht wieder alleine unterwegs. Ich hatte vergessen, wie lange einsame Abende sein können und wie schwer es fallen kann, sich mit sich selbst zufrieden geben zu müssen.

Trainings-Tag 3: Aigle – Saint-Maurice (19.6km)« Singing in the Rain »…

Der Tag soll mit rund 18 Kilometern eine kurze Etappe werden, doch ich habe die ungewohnte und ziemlich intensive Steigung direkt zu Anfang des Tages unterschätzt. Die Tatsache, dass ich den Tag im Regen beginnen muss und die Temperaturen empfindlich abgekühlt haben, hilft der Motivation nicht. Der natürliche Weg durch den Wald und in friedvoller Abgeschiedenheit statt auf Asphalt am See entlang hätte eine schöne Abwechslung sein können, doch kann ich ihn eingehüllt in Regenponcho und mit allen Schichten Kleidung, die mein Rucksack zu bieten hatte, nicht wirklich genießen. Ich muss schmunzelnd an Alfred, eine Begegnung vom Jakobsweg denken, ein Gutwetter-Pilger, der an diesem Tag keinen Fuß auf den Pilgerweg gesetzt hätte.

Nach dem Waldstück erreiche ich die Weinberge oberhalb der Rhone und finde kurz in einem verlassenen Häuschen Schutz vor dem Dauerregen. Doch verfolgt mich den ganzen Tag ein ungutes Gefühl, eine Ahnung von etwas Bösem und der Aufenthalt in diesem halb zerstörten Raum, in dem ein Holzofen, ein Tisch und zwei Stühle sowie eine Matratze darauf schließen lassen, dass dieses Gebäude weniger verlassen ist als es scheint, ist mir zu gespenstisch.

In einem Tross aus Weinbergschnecken, die bei diesem feuchten Wetter zu Hunderten auf dem Asphaltsträßchen kriechen, mache ich mich vorsichtig und auf Schneckenhäuschen achtend auf den rutschigen Abstieg nach Ollon.

Hinter Ollon, immer noch im strömenden Regen, verläuft die Via Francigena einige Zeit schnurgerade am Bach La Gryonne entlang. Ich sehe kilometerweit vor und hinter mir niemanden, der mich davon abhalten könnte, mir laut Motivation anzusingen. Auf meinen Jakobswegen habe ich französische Seemanns- und Lagerfeuerlieder gelernt, die nun meinen Schritt beschwingen und mir gute Laune verschaffen.

So erreiche ich Massongex mit seiner Feriensiedlung, in die mich ein Schild mit der Aufschrift „Bar geöffnet“ lockt. In einem indischen Restaurant serviert mir ein junger Mann griechisch-englischer Abstammung einen wärmenden Kaffee und erzählt mir, ich sei für diese Saison die erste Pilgerin, die sich in seine Bar verirre.

In meinem Tagesziel Saint-Maurice folge ich Dominiques Ratschlag und habe in der Abtei reserviert. Im Gegensatz zu Dominique (und im Gegensatz zu den Informationen in meinem Pilgerbuch) wird mir ein Festpreis für das Einzelzimmer genannt und für das Abendessen wird mir nahegelegt, mich im Ort selbst zu versorgen. Mein Einzelzimmer hat einen Heizkörper, der funktioniert und den ich bis zum Anschlag aufdrehe um meine Klamotten zu trocknen. Ich verlasse meinen warmen Unterschlupf nur für eine Pizza im Ort und bin wieder früh und etwas einsam zurück in meinem Bett.

Trainings-Tag 4: Saint-Maurice – Martigny (19,4km)Ein typischer April-Tag

Am frühen Morgen sehe ich aus dem Fenster meines kleinen Zimmers, dass über Nacht Schnee auf Augenhöhe auf den so nahe scheinenden Berggipfeln gefallen ist. In meinem Zimmer ist es dank des auf Hochtouren brummenden Heizkörpers angenehm warm und alle meine Klamotten und sogar die Schuhe sind getrocknet.

Zum Frühstück werde ich im Gebäude der Mönche erwartet. Der Père Hospitalier, ein gesetzter alter Mann, empfängt mich und führt mich schweigend durch einen langen Korridor in einen kleinen Speisesaal. Ich bin scheinbar der einzige Gast, der zum Frühstück erwartet wird. Das karge Frühstück steht bereits auf dem Tisch, an dem ich Platz nehme. Überrascht bin ich, als der Père Hospitalier sich mir gegenüber setzt und mir schweigend beim Essen zusieht. Eingeschüchtert starte ich ein paar Unterhaltungsversuche, frage ihn unter anderem nach Dominique, meinem Vollzeitpilger, aber ich habe nicht das Gefühl, dass er zum Reden gekommen ist. So beeile ich mich, mein Frühstück möglichst geräuschlos und anstandsvoll zu verputzen und bin froh, den Tisch bald verlassen zu können.

Draußen ist es kalt. Ich überlege sogar, meine Handschuhe anzuziehen, halte mir diese Möglichkeit aber als letzte Reserve gegen die Kälte offen. Wenigstens regnet es nicht mehr.

Kurz nach Saint-Maurice erreiche ich eine kleine Kapelle, die mich wieder einmal magisch anzieht. Als ich die knarzende große Eingangstür öffne, sehe ich eine kleine ältere Nonne, die am Altar beschäftigt ist und sich nun zu mir umdreht. Eine unentdeckte Besichtigung und schnelles Verschwinden ist ausgeschlossen, denn die Nonne kommt strahlend auf mich zu. Sie erzählt mir freundlich von der Geschichte der Kapelle und dass dies geschichtlich sehr wahrscheinlich der wahre Ort sei, an dem der Heilige Märtyrer Maurice getötet worden sei. Sie zeigt auf einen Stein, der über unseren Köpfen angebracht ist, und erklärt, dass nach dem Glauben die Hinrichtung auf diesem Stein stattgefunden habe und einige Menschen eine besondere Kraft spüren, die aus diesem Stein strahle. Ich spüre nicht viel, aber doch mehr als ich bisher in den Kirchen und der Abtei auf der Via Francigena gespürt habe. Doch als sie zu ihrer nächsten Frage ansetzt, formt sich ein Kloss in meinem Hals: „Wenn es nicht zu persönlich ist, darf ich Sie fragen, warum Sie auf dieser Pilgerreise sind?“ Ich zögere, denn meine vordergründigen, eher rationalen Motive scheinen mir keine ausreichende Begründung dieser aufrichtigen Frau gegenüber. „Ich glaube, ich habe auf dem Jakobsweg etwas gefunden, das ich nicht erwartet habe und ich bin auf der Suche nach diesem Gefühl.“ Trotz meiner überzeugten agnostischen Einstellung drückt diese spontane Antwort genau meine Empfindung aus.

Die Via Francigena verläuft auf einsamen Wegen durch Wälder, über reißende Waldbäche und durch eine bizarre Felsenlandschaft. Die Sonne kommt durch und es wird so warm, dass ich sogar meine Fleecejacke über dem Merinowollhemd ausziehe. Ich lasse mir bewusst Zeit. Die geplante Tagesetappe soll laut Buch nur 17 Kilometer lang sein und ich erlebe erneut, dass das Pilgern ohne Zeitdruck ein viel intensiverer Genuss ist. Wo immer es mir gefällt und ich einigermaßen trocken und geschützt sitzen kann, mache ich eine kurze Pause. Ich treffe eine Frau mit Hund, die mich spontan als Pilger erkennt und erzählt, dass sie jedes Jahr in die Bretagne für eine Pilgerschaft fährt und im Dorf Evionnaz sprechen mich zwei Frauen auf meine Wanderung an.

Am frühen Nachmittag erreiche ich Martigny, wo ich nun endlich campen möchte. Für die Nacht ist ausnahmsweise einmal kein Regen gemeldet. Doch an der Rezeption des Campingplatzes bietet man mir für einen günstigeren Preis als den Zeltplatz ein Bett in einem Schlafsaal an, in dem ich eventuell sogar alleine wäre. Natürlich kann ich dem Angebot für mehr Komfort für einen günstigeren Preis nicht widerstehen. Es gibt zwei Schlafsäle, in meinem stehen 3 Etagenbetten und außer mir ist tatsächlich niemand dort. So dusche ich und ziehe ins Städtchen. Mein Budget überziehend entscheide ich mich, die vielen freien Stunden bis zum Abend mit einem Besuch im Bernhardiner- Museum zu überbrücken. Das Museum finde ich ganz interessant, dass ich die Haltung der Bernhardiner auf Betonböden aber mit meinem Eintrittsgeld unterstütze, macht mich traurig. Sehr früh stehe ich im Ortskern von Martigny und warte in einer Pizzeria darauf, dass sie den Ofen anfeuern und mir die erste Pizza des Tages zubereiten. Ich habe mittlerweile gelernt, alleine meine Pizza zu essen, aber Spaß macht es mir trotzdem nicht.

So sehr ich auch versuche, meine Aktivitäten in die Länge zu ziehen, bin ich doch am frühen Abend zurück in meinem Schlafsaal mit nichts anderem mehr zu tun als ein wenig zu lesen und dann früh zu schlafen. Allerdings ist in meinem Schlafsaal zwischenzeitlich ein weiteres Bett belegt, ohne dass jedoch die zugehörige Person zu sehen ist. Lediglich eine Broschüre auf dem Bett fällt mir ins Auge, die mit „Kontaktadressen für Migranten“ betitelt ist. Im zweiten Schlafsaal debattieren Männer in einer mir unbekannten Sprache und nach der ersten Begegnung im Flur, in der sie sich mir sehr machohaft aufdrängen, vermeide ich jeden weiteren Kontakt mit ihnen.

Gegen 20Uhr30 rolle ich mich in meinen Schlafsack ein. Die zweite Person in meinem Schlafsaal habe ich noch immer nicht kennengelernt. Doch kaum sind mir die Augen zugefallen, gehen die Aktivitäten um mich herum los. Eine sympathische Frau um die Dreißig betritt das Zimmer, entschuldigt sich bei mir für die Störung, sucht Kochgeschirr zusammen und lädt mich ein, ihre portugiesische Suppe mit ihr zu teilen. Ich lehne dankend ab, ich habe ja schon gegessen und möchte eigentlich gerne schlafen. Hinter ihr taucht ein Mann auf, der schwankend im Türrahmen steht. Er ist so betrunken, dass er kaum alleine stehen geschweige denn laufen kann und auf die leisen Beschwichtigungen der Frau nicht reagiert. Zwar verstehe ich ihre Sprache nicht, aber ich nehme an, dass ihnen ein Bett im „Frauenschlafsaal“ und ein Bett im „Männerschlafsaal“ zugewiesen wurden, aber der Mann besteht darauf, sich in einem Bett in meinem Schlafsaal einzunisten und die Frau kann ihn nicht davon abhalten. Die Szene dehnt sich aus. Nachdem er sich ächzend ins Bett verfrachtet hat, versucht die Frau wohl, ihn zum Essen zu bewegen, aber er ist zu nicht mehr als lautem Grunzen und Beschimpfungen in der Lage. Irgendwann ist Ruhe eingekehrt, der Mann schnarcht leise brummend in seinem Bett, die Frau liegt im dritten Bett und das Licht ist endlich gelöscht. Mitten in der Nacht werde ich trotz meiner Ohrstöpsel wieder geweckt, als der Mann wohl der Meinung ist, die Frau müsse jetzt mit ihm vor die Tür und eine Zigarette rauchen. Sie bleibt trotz seiner lauten und wiederholten Aufforderungen im Bett und als er nach einigen Minuten wiederkommt, stinkt er nicht nur nach Alkohol und altem Fett sondern auch noch nach Zigarette. Mehrmals bereue ich in dieser Nacht, nicht mein Zelt aufgebaut zu haben. Selbst als sich die Gesellschaft am frühen Morgen noch vor mir aus dem Schlafsaal stiehlt, ist dieser Mann noch so betrunken, dass er nicht alleine seine Schuhe anziehen kann.

Trainings-Tag 5: Martigny – Orsières (20km)Das Ende der Trainingswoche