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2000 Jahre Entdeckungsgeschichte: Raimund Schulz nimmt uns mit auf die großen Abenteuerfahrten der antiken Welt und berichtet von Begegnungen mit fremden Kulturen – von Sibirien bis in die Sahara, von Indien bis nach China. Zugleich ordnet er das erste Zeitalter der Entdeckungen ein in eine große Weltgeschichte der Antike. Die Antike war eine Welt des Aufbruchs. Lange vor Kolumbus wagten sich Menschen des Mittelmeerraums in die Sahara und nach Sibirien, befuhren das stürmische Eismeer der Nordsee und erreichten China über Land und Meer. Raimund Schulz folgt ihren Spuren, beschreibt die Begegnung mit fremden Kulturen und fragt danach, wie es kam, dass antike Seefahrer Afrika umrunden und den Atlantik überqueren wollten. Er erzählt die packende Geschichte der kleinen und großen Abenteurer, ihrer Ziele und Hoffnungen. Erst ihre Vor stöße ins Unbekannte setzten die Erkenntnisschübe in Technik, Geographie, Kosmologie und Philosophie in Gang, die zu unserer europäischen Wissenskultur gehören und die Expansion der frühen Neuzeit ermöglichten.
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Seitenzahl: 1277
RAIMUND SCHULZ
ABENTEURER DER FERNE
DIE GROSSENENTDECKUNGSFAHRTEN UND DAS WELTWISSEN DER ANTIKE
KLETT-COTTA
Meiner Mutter (* 4. August 1932 † 29. Januar 2016) in Dankbarkeit
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Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg
Unter Verwendung eines Aquarells von Peter Conolly (1935–2012) © akg-images / Peter Connolly
Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde
Printausgabe: ISBN 978-3-608-94846-2
E-Book: ISBN 978-3-608-10950-4
Dieses E-Book entspricht der aktuellen Auflage der Printausgabe
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
Einleitung oder: Ein Amerikaner in Karthago
I. Eine Welt in Bewegung
1. Kapitäne und Krieger der Bronzezeit
Schatten der Vergangenheit und Abenteurer zur See
Kreta und die Kontakte der Minoer
Italische Krieger in Mykene
Zusammenbruch der Paläste
»Seevölker« im Nildelta
2. Phöniker und Euböer auf dem Weg in die Ferne
Der Aufstieg der phönikischen Hafenstädte
Das größte Abenteuer: Die Umrundung Afrikas?
Das Dorado von Tartessos
Die euböisch-phönikische »connection«
Pithekussai, die Stadt der Mutigen
Umrisse einer neuen Ordnung im 8. Jahrhundert v. Chr.
3. Wunderinseln, Bestien und schöne Frauen
Maritimes Geheimwissen und Erinnerung an große Taten
Geschichten von Schiffbrüchigen und wundersamen Inseln
Bestien und Prinzessinnen
Kontakte mit dem Osten
Geschichten der Philister und Hebräer
Verschriftlichung der hebräischen und griechischen Epen
4. Odysseus
Lernen und leiden
Neue und alte Irrfahrten
Komplexe Geschichten, aber keine Fantasy
Erfahrungen und Wissen einer Welt im Aufbruch
Keine reale Irrfahrt, aber codiertes Wissen
Abenteuer an den kolonisatorischen Randzonen – der Süden
Die Zonen der Protokolonisation im Nordosten
Über den Okeanos zum Jenseits
Inseln im Okeanos
Die Phäaken
Menelaos in der Südsee
Neue Lehren und Horizonte
II. Jünger Apolls
1. Geheimnisse des Nordens
Die letzte Fahrt des Odysseus
Der wundersame Aristeas
Der Weg ins westliche Sibirien
Zu den Höhen des Altai: Der Kampf der Einäugigen mit den Greifen
Apoll und die Hyperboreer
Die Bernsteinroute
2. Go West! Die Fernfahrten der kleinasiatischen Griechen
Griechischer Jüngling trifft keltische Prinzessin
Die Kelten der Hallstattkultur
Phokaia und der Aufschwung der kleinasiatischen Hafenstädte
Phokaiische Krieger in Tartessos und Massilia?
Der Seehandelsweg nach Tartessos – und zu den Zinninseln?
Kolaios und die Samier in Tartessos
3. Eine neue Ordnung der Welt
Die Naturphilosophen in Milet
Göttliche Wegweiser – das Orakel von Delphi
Neue religiöse Modelle: Seelenlehre und Wiedergeburt
Pythagoras und seine Lehren
Revolutionäre kosmologische Modelle: Die Erde als Kugel?
III. Jenseits des Mittelmeeres
1. Verlockungen des Südens
Der Aufstieg der Perser und die Ausweitung des karthagischen Einflusses im Westen
Die westafrikanischen Küsten und die Nilfrage
Das karthagische Ausgreifen in den Nordatlantik – die Expedition des Himilko
Der Periplus des Hanno an der westafrikanischen Küste
Die Anlage von Kolonien und die Erkundung des Senegal
Gold und andere Produkte
Eine Ostpassage um Afrika?
2. Der Weg nach Timbuktu
Transsaharische Karawanenrouten
Die Expedition der Nasamonen
Timbuktu und der Niger
Das große Ziel? – Eine Verbindung der transsaharischen Landrouten mit dem westafrikanischen Flusssystem
3. Persiens Vorstoß nach Indien
Kambyses in der libyschen Wüste
Indien
Die Indien-Expedition des Skylax von Karyanda
Eine Alternative? – Fahrt auf dem Ganges
Der Periplus über Indien
Die Integration der Expeditionsberichte in eine Gesamtdarstellung der Welt: Hekataios aus Milet
4. Das Wesen des Menschen in der Welt
Die Perserkriege und ihre Deutung
Der geistige Aufbruch in der Zeit des Staunens: Der Mensch als Maß aller Dinge
Diskussionen über Natur (physis) und menschliche Ordnungen (nomoi)
Die Neuentdeckung der Vergangenheit – Herodots »Historien«
Der nomos der Völker
Vergleichende Ethnographie und persische Anregungen
Die wundersamen Randvölker: Indien und Arabien
IV. Neue Welterkenntnis und das Ausgreifen in den Okeanos
1. Große Entwürfe
Herodots Kritik an der ionischen Geographie
Astronomische Interessen
Das Weltbild des Aristoteles
2. Der Vorstoß in den nordwestlichen Okeanos
Die keltische La-Tène-Kultur
Pytheas’ Suche nach den Zinninseln
Thule und der Vorstoß zum Polarkreis
Die Bernsteinrouten
3. Der Nahe und Ferne Osten
Das facettenreiche Bild der Perser
Der wache Blick des Söldners: Xenophons persische Freunde
Der Wissensdurst des Arztes: Ktesias über Indien
4. Alexanders Suche nach den Enden der Welt
Der makedonische Musenhof
Alexanders Feldzug gegen Persien
Alexander am Kaspischen Meer und am Hindukusch
Das indische Abenteuer
In Taxila!
Auf dem Weg zum Ganges?
Durch Wüste und Meer
Alexanders maritimes Denken
V. Die Erkundung des Ostens
1. Seleukiden und Mauryas
Das Erbe Alexanders
Die Seleukiden und das Mauryareich
… und wieder: Ärzte als Vermittler
2. Griechen am Ganges
Megasthenes über die Gesellschaft und Regierung des Mauryareiches
Griechen erobern das Gangestal
König Menander und die Begegnung mit dem Buddhismus
3. Expeditionen der Ptolemäer und die Geographie des Eratosthenes
Die Erkundungsfahrten der Ptolemäer im Roten Meer
In den Südsudan und nach Meroe
Griechen in Meroe und am Blauen Nil
Alexandria und das neue Erdbild des Eratosthenes
Eudoxos von Kyzikos und der Seeweg nach Indien
VI. Die Erschließung des Nordens durch die Römer
1. Amerika rückt näher
Der Fall Karthagos und die Expedition des Polybios
Die Fahrt des Eudoxos an der westafrikanischen Küste
Inseln im Atlantik: Von Madeira zu den Kanaren
Auf nach Amerika?
2. Roms Vorstoß in die mitteleuropäischen Binnenräume
Poseidonios im Keltenland
Das römische Interesse an der Welt
Caesar an der spanischen Atlantikküste
Vorstoß ins »freie Gallien«
Die Britannienexpedition und ihre Deutung
Caesar als Ethnograph – die Erfindung der Germanen
3. Zur Elbe und Ostsee
Weltherrscher und Welteroberer: Die Neuordnung des Augustus
Alte Gegner und neue Ziele
Römische Karten und Weltvorstellungen als Grundlage militärischer Strategien?
Feldzüge zur Elbe und Kriegsschiffe im Nordmeer
Angriff auf das Marbodreich und der Feldzug des Germanicus
Die Ostsee
Expeditionen der Kaufleute und die »Bernsteinstraße«
VII. Die Globalisierung Eurasiens
1. Pfeffer und Weihrauch
Der Aufschwung der kaiserzeitlichen Wirtschaft
Der Hunger nach fernöstlichen Produkten
Die kaiserliche Kriegspolitik
Finanzielle Interessen, aber keine Handelspolitik
Gewinne und Kosten des Indienhandels
Die Schiffe der Indienfahrer
Der Persische Golf und die arabischen Handelsnetze
Alexandria, das Tor zum Osten
Der Periplus des Roten Meeres
Somalia und Arabien
Indien!
2. Die Juweleninsel
Neue Herausforderungen
Die Juweleninsel
Das Geheimnis des Rajias
Die Seidenleute
3. »Korallen und Seide«
Nach Kattigara! – Alexandros segelt ins chinesische Meer
Eine »Gesandtschaft« des Königs An-tun
Das Wunder der »Seidenstraßen«
Die Expeditionen des Zhang Qian
Die chinesische Expansion in das Tarimbecken
Das Reich der Kushanas als Drehscheibe des Handels
Pan Chao und die Suche nach einer Verbindung zu Rom
Die Agenten des Maes Titianus in China
4. Von Kattigara bis Thule … ohne Amerika?
Transfer medizinischer Kenntnisse und religiöser Bewegungen
Die Verarbeitung des Weltwissens in der Perspektive des Reichsdieners – Die naturalis historia des Plinius
Facetten der Geographie – römische Schriftsteller und die Weltkarte des Ptolemaios
Die östlichen Weltgegenden zwischen Ideal und Realität
»Vertraute Weltränder« – Indien und Germanien als Gegenwelten und Spiegel des eigenen Niedergangs
Utopische Reiseromane als Gegenmodell
Das ferne Abenteuer als Ausweg aus gesicherter Nähe
Der nördliche Okeanos und die letzte Botschaft der Antike
Eine verpasste Chance?
VIII. Wie die Alte Welt in die Neue kam
Das Ende des Aufbruchs und der Verlust der mediterranen Einheit
Isidor von Sevilla über die Welt
»Reale« Zielprojektionen – Antipoden und irdisches Paradies
Geographisch-kosmologische Grundlagen der Fernerkundung: Erdkugelthese, Klimazonen und Umfangsmessungen
Das lateinische Christentum als Traditionsbrücke
Der Beginn des Aufbruches: Mobilität, Wissenstransfer und Aristoteles-Renaissance des 12. und 13. Jahrhunderts
Die »Öffnung des irdischen Paradieses« und die Suche nach dem Priesterkönig Johannes – von Rubruk bis Marco Polo
Die Südverlagerung der paradiesischen Welten und der Vorstoß der Portugiesen nach Afrika
Kolumbus und die Westfahrt über den Atlantik
Die Alte in der Neuen Welt
Epilog
Dank
Anhang
Zeittafel
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Personenregister
Länder- und Ortsregister
Tafelteil
Es war eine Zeit, als unendlich viele Völker der Menschen über die Erde sich hin und her bewegten.
(Kypria Frg. 1(1))
In Karthago(2) lebte einst ein geheimnisvoller Fremder, der sich für verborgene Schriften interessierte. Er stamme – so seine Geschichte – von einem riesigen Festland jenseits des Atlantiks(1). Viele Menschen lebten dort, an einer großen Bucht siedelten Griechen(1), die Herakles(1) über das Wasser geführt hatte. Zwischen dem Festland und Spanien(1) gebe es vier Inseln, unter ihnen Ogygia(1), das Eiland der Nymphe Kalypso(1). Zu ihnen könnten nur Ruderschiffe gelangen, weil das Meer sehr träge sei. Eine Insel sei heilig, von mildem Klima und voller Wohlgerüche. Denn auf ihr schlafe der Gott Kronos(1) in einer Höhle aus goldenem Gestein. Alle 30 Jahre entsenden die Griechen des großen Westlandes eine Opfergesandtschaft, die nach 30 Jahren durch eine neue abgelöst werde. Der Fremde – so schließt die Erzählung – habe selbst zu einer solchen Gesandtschaft gehört, sei aber nicht auf das Festland zurückgekehrt, sondern habe »vieler Menschen Länder durchreist«, bis er sich in Karthago niederließ auf der Suche nach Weisheit und Wissen.
»A strange story«, würde der Engländer sagen. Für antike Hörer war sie gar nicht abwegig. Geheimnisvolle Inseln, ferne Kontinente und Seefahrer, welche die Weiten des Ozeans überwinden auf der Suche nach Abenteuern und Weisheit – das waren beliebte Themen selbst der seriösesten Gelehrten. Zu ihnen gehörte Plutarch(1), der die Geschichte im 1. Jahrhundert n. Chr. aufzeichnete.1 Doch was hat es auf sich mit den Inseln im Atlantik(2) und dem Land im fernen Westen? Ist es Amerika(1), wie der große Astronom Johannes Kepler und andere glaubten? Und wenn der Fremde von dort stammte und Griechen(2) auf ihm lebten, kann man daraus schließen, dass die Antike 1500 Jahre vor Kolumbus(1) von Amerika wusste? Oder(1) ist alles nur Seemannsgarn, von dem die Welt des Mittelmeers(1) so unendlich viel gesponnen hat.
Niemand weiß bis heute eine befriedigende Antwort. Doch eines ist sicher: Plutarch(2) verfasste seine Geschichte in einer Zeit, als die geographische Weltkenntnis der Antike auf ihrem Höhepunkt stand und sich von dem Wissen der Westeuropäer vor den Fahrten des Kolumbus nur unwesentlich unterschied: Binnen eines Jahrtausends hatten Griechen und Römer ihren geographischen Horizont bis nach Java(1) und zum Chinesischen Meer im Osten, zum Ural und in die sibirischen Steppen im Norden, in das innere Afrika bis zum Niger(1) und Tschadsee, im Nordwesten nach Skandinavien und wahrscheinlich Island ausgedehnt.
Nur wenige zweifelten an der Kugelgestalt der Erde, und so gehörte auch die Möglichkeit einer Fahrt von Spanien über den Atlantik nach Indien, ja sogar die Annahme unbekannter Kontinente im Okeanos für die Intellektuellen und geographisch Interessierten zum Allgemeingut. Dieses Buch möchte erklären, wie es dazu kam, was die Alten dazu trieb, die Grenzen des Vertrauten zu durchbrechen, wie weit sie kamen und welche Konsequenzen die stete Erweiterung des Welthorizontes für die Entwicklung von Politik, Gesellschaft und Kultur hatte.
Warum es eine solche, die gesamte Antike umfassende Darstellung bisher nicht gibt – das letzte Werk aus dem Jahre 1963 ist konzeptionell veraltet,2 neuere Arbeiten konzentrieren sich auf bestimmte Epochen, Zielgebiete und Einzelunternehmungen3 –, hat mehrere Gründe. Antike Entdeckungsgeschichte war und ist aufgrund der schwierigen Quellenlage – wir haben keinen einzigen vollständig erhaltenen Expeditionsbericht im Original – und ihrer Deutungsvielfalt ein delikates Arbeitsfeld. Gewagte Thesen stehen neben Hyperkritik, die jedem Rekonstruktionsversuch den Boden entzieht. Hinzu kommt die Magie spektakulärer Themen wie Atlantis, Thule oder die Hyperboreer, die nicht nur versierte »Außenseiter« anziehen, sondern Tummelplatz esoterischer Phantasten sind, kurzum: Der antiken Entdeckungsgeschichte haftet immer ein wenig der Geruch des Unseriösen an. Das mag wohl ein Grund dafür sein, warum sie die zünftigen Heroen der Althistorie lange Zeit ignorierten. Sie suchten das Wesen der Antike durch die Analyse ihrer kulturellen, politischen, rechtlichen, militärischen und wirtschaftlichen Entwicklungen zu ergründen und konzentrierten sich meist auf klassische Akteure wie Sparta, Athen und Rom im Zentrum der mediterranen Welt. Wohl richtete sich der Blick auch auf deren »Ränder«, doch in der Regel nur dann, wenn es sich um militärische Großereignisse wie die Perserkriege, den Alexanderzug, die Punischen Kriege oder das Ausgreifen Roms(1) in die europäischen Binnenräume handelte. Diese Vorgänge wurden auch in ihrer entdeckungsgeschichtlichen Dimension gewürdigt, doch hieraus ein zentrales Arbeitsfeld zu entwickeln, kam den wenigsten Gelehrten in den Sinn.
So blieb die antike Entdeckungsgeschichte lange ein Randthema, das hierzulande nur von einigen prominenten Einzelforschern bearbeitet wurde, wie Richard Hennig, Albrecht Dihle oder Dieter Timpe. Hennigs Arbeiten sind jedoch vielfach veraltet, Dihles und Timpes Studien widmen sich bestimmten Räumen (Osten bzw. Nordeuropa) und Spezialproblemen (vornehmlich der Ethnographie). Dagegen standen und stehen Gelehrte aus Ländern mit einer eigenen langen entdeckungsgeschichtlichen Tradition (wie Spanien oder England) dem Thema offener gegenüber, doch auch hier überwiegt die Spezialforschung zu territorialen und maritimen Großräumen (Indischer Ozean, Nordsee etc). Einen neuen Impuls brachte die mit dem Zerfall des Sowjetimperiums und dem Internetzeitalter einsetzende Globalisierung. Die von ihr angestoßenen »turns« der Geschichtswissenschaft suchten sich von alten Begrenzungen zu lösen, ringen aber bis heute um das methodische Profil einer modernen Welt- und Globalgeschichte. Auch die Antike wurde in diesen Trend eingefügt; manche sprachen von Globalisierungsvorgängen, die um 3000 v. Chr. einsetzten;4 im Zuge des »spatial turn« entdeckte man die antike Geographie wieder als Untersuchungsobjekt, dem sich inzwischen eine Reihe jüngerer Gelehrter widmet,5 und auch die Ethnographie, lange ein Orchideenfach spezialisierter Philologen, gewinnt international an Interesse.6 Gut erschlossen ist ebenfalls die disparate Quellenlage. An Kommentaren und Fragmentsammlungen mangelt es nicht.7
Allerdings ist es bis heute nicht gelungen, klare methodische und inhaltliche Kriterien zu entwickeln, mit denen man all diese Initiativen in ein Gesamtbild antiker Entdeckungen einfließen lassen und deren welthistorische Bedeutung bestimmen könnte, obwohl die Analyse der Anfänge historischer Globalisierungs- und Vernetzungsvorgänge eine Fülle von Erkenntnissen verspricht. Antike Fernexpeditionen waren Voraussetzungen transregionaler Kulturkontakte, kolonialer Siedlungsbewegungen, militärischer und machtpolitischer Expansion sowie wirtschaftlicher Verflechtungen. »Heiße« Phasen der Öffnung wechselten ab mit Perioden des Innehaltens, der Selbstvergewisserung, der Sammlung und Neujustierung von Kräften, die dann wieder der Ferne entgegenstrebten.
All das führte regelmäßig zu einer Neubewertung (»reevaluation«) der Welt, indem man Vertrautes an Neuem maß und Unbekanntes dem Bekannten einfügte. Dieser Prozess schlug sich in einer pulsierenden literarischen Produktion auf verschiedenen Gebieten nieder.8 Exploration und Expansion dynamisierten das Denken und setzten Erkenntnisschübe im Bereich geographischer, ethnographischer und philosophischer Weltkenntnis in Gang, die zu den klassischen Traditionskernen europäischer Wissenskultur gehören. Doch bis heute fehlt eine moderne Synthese, die Fernerkundungen über einen längeren Zeitraum nicht isoliert und für sich genommen würdigt, sondern in den Gesamtzusammenhang der antiken Geschichte einordnet. Das Buch wagt den Versuch einer integrierten Entdeckungsgeschichte: einer Gesamtdarstellung von Expansion und Fernerkundung im Rahmen der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen.
Um die Komplexität der Vorgänge zu verstehen, bedarf es tragfähiger Analysemodelle. Man benötigt ein Grundmuster von Faktoren, das den Weg weist durch die verwirrende Vielfalt raumgreifender Mobilität und erklärt, warum manche Gesellschaften die Grenzen des Vertrauten hinter sich ließen und andere nicht, weshalb sie das in bestimmten Zeiten und von bestimmten Orten aus häufiger taten als von anderswoher. Ich nenne dieses Muster eine »explorative Konstellation«. Sie war Grundlage jeder folgenreichen Entdeckungsaktion und erklärt an sich schon vieles von dem, was die Antike als Epoche besonders macht.
(1.) Zunächst muss es Menschen geben, die bereit sind, ihren heimischen Lebensraum zumindest für eine gewisse Zeit aufzugeben und die Risiken einer Fernerkundung auf sich zu nehmen. Bewegung über große Entfernung ist eine Urform menschlicher Existenz, besungen in Liedern, episch verklärt und verdichtet zu Gründungsmythen von Völkern und Religionen. Doch bedürfen zumal Gesellschaften wie die der (mediterranen) Antike, die zu 90 % vom Ackerbau lebten, einer besonderen mentalen und sozialen Disposition, die den Aufbruch ins Unbekannte auch jenseits militärischer Zwänge forcierte und ihn mit sozialer Anerkennung honorierte.
Nicht nur die Geschichte des Fremden aus Karthago(3), sondern auch andere Quellen deuten darauf hin, dass überregionale Mobilität eine relativ leicht zu wählende Alternative zum stationären Verharren war und dass diejenigen, die das Abenteuer auf sich nahmen, ähnlich große Verehrung genossen wie die Helden des Schlachtfeldes. Herakles, Odysseus, Jason oder Aeneas sind die großen Weltwanderer, durchdringen ferne Meere und Länder, bevor sie ihre Heimat wiedersehen oder eine neue gründen. Unzählige Mythen erzählen von jungen Männern, die sich in die Fremde wagen, Ungeheuer besiegen, reiche Schätze und das Herz schöner Jungfrauen gewinnen, bevor sie mündig und mächtig werden, ein Motiv, das mit der realen Welt insofern übereinstimmt, als in zahlreichen Gesellschaften der Antike tatsächlich junge Männer durch die Bewährung in der Fremde ihren Rang in der Welt der Erwachsenen erkämpfen mussten.9 Könnte es sein, dass sich aus dieser Mentalität des wagemutigen Aufbruchs unter bestimmten Umständen ein der Frühen Neuzeit vergleichbarer »spirit of exploration« entwickelte? Und wenn das so war, aus welchen Quellen speiste er sich und wie weit trug er?
Um das zu beantworten, gilt es (2.) genauer nach den Zielen der Entdecker zu fragen sowie zu ergründen, mit welchen Erwartungen und Vorstellungen sie fremden Küsten und Ländern zustrebten. Augustinus(1) bemerkt einmal, man könne an der Hafenpromenade von Karthago Mosaiken von menschenähnlichen Geschöpfen bewundern:10 Wunderwesen mit nur einem Auge mitten auf der Stirn oder dem Gesicht auf der Brust; andere haben riesige Ohren, Hundeköpfe oder nach hinten gekehrte Füße. Über sie gab es dicke Schmöker für billiges Geld.11 Sie sind die antike Variante der Aliens, welche die Raumschiffe der Zukunft in der endlosen Weite des Alls antreffen, äußerlich irgendwie menschlich, aber doch verstörend anders, mal freundlich hilfreich, mal tödlich verschlagen. Spitze oder große Ohren gehören zum vertrauten Arsenal des Unvertrauten damals wie heute, und wie in der Zukunft so lebten die antiken Aliens an der Schwelle zu Welten, die noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat.12
In den Geschichten dieser Welten zu schwelgen und sich an den Bildern ferner Wunderwesen zu erfreuen ist das eine, sich aufzumachen und den Weg dorthin zu wagen, ein anderes und viel riskanteres Unternehmen, das handfeste Motive voraussetzt. Jeder Aufbruch ist mit einer Erwerbshoffnung verbunden.13 Diese kann materieller Art sein, in Form von wertvollen Rohmaterialien und Metallen, die es zu Hause nicht gibt; sie kann in Handelsgewinnen bestehen, die sich daraus ergaben, dass man unter Umgehung von Zwischenhändlern den Weg zu fernen Schätzen fand. Sie kann aber auch politischer Art sein, wenn ein Kolonistenführer nach Macht und Einfluss strebt, der ihm zu Hause verwehrt ist, oder indem der Feldherr durch Eroberungen Ruhm, Anerkennung und Akzeptanz gewinnt; oder ideell-geistiger Art, indem der Reisende Wissen mitbringt und sich zum Experten von Routen, Ländern und Menschen erklärt, die anderen verborgen sind.
In der Regel tauchen diese Motive nicht isoliert voneinander auf – Eroberung verspricht immer auch materielle Gewinne und geht mit einer Ausdehnung des geographischen Horizontes einher. Sie bilden meist ein sich gegenseitig bedingendes Faktorenensemble. Um es vor dem Hintergrund der jeweiligen historischen Ausgangssituation zu entschlüsseln und die Dynamik antiker Entdeckungen insgesamt zu verstehen, muss man (3.) ihre politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen kennen.
Fernerkundung war und ist immer eine Gemeinschaftsleistung und schon allein deshalb eine politische Angelegenheit. Entdeckungen beruhten selten auf Zufällen, Naturereignissen oder gar dem Willen der Götter, sondern auf komplexen Entscheidungen, und diese entwickelten sich in einer politischen Ordnung und einem sozioökonomischen Umfeld, die für den Erfolg der Expeditionen wegweisend waren. Nicht ohne Grund wählte der Fremde aus der Geschichte des Plutarch(3) die Hafenmetropole Karthago(4) als neue Heimat und nicht ohne Grund war hier und in anderen Küstenstädten die Exotik der Fremde so präsent. Sie waren Anlauf- und Kulminationspunkte mobiler Abenteurer und besonders aufgeschlossen für den Aufbruch in die Fremde und die Aufnahme von Wissen über die Ferne. Das Wissen wurde innerhalb der »communities of seafarers«14 mündlich weitergegeben und seit frühester Zeit in mythischer und epischer Form codiert. Diese Codes aufzulösen gehört zu den spannendsten, aber auch heikelsten Aufgaben antiker Entdeckungsgeschichte.
Waren es aber nur die Erfahrungen und die Hoffnung auf Handelsgewinne, welche die Küstenstädte und ihre Menschen möglicherweise zu Vorreitern von Entdeckungen machten? Wie verhielten sie sich zu den Zielen der Eroberer, die behaupteten, das Ende der Welt gefunden und neue Welten erschlossen zu haben? Antike Entdeckungen vollzogen sich nicht nur in einer Atmosphäre friedlichen Handels und freundlicher Kontaktaufnahme, sondern auch kriegerischer Gewalt, die vielfach tiefe Wunden in die Räume und Gesellschaften riss, auf die Expeditionsheere und –flotten trafen. Welches Verhältnis bestand zwischen militärischer Expansion, Fernhandel und Kolonisation? Bewegten sie sich auf ähnlichen Routen und strebten den gleichen Ländern zu, und welchen Anteil hatten sie an der Erweiterung des Welthorizontes und ihrer Verarbeitung?
All diese Fragen lassen sich nur beantworten, wenn man (4.) die geographischen Rahmenbedingungen von Fernerkundungen und die Raumvorstellungen der Akteure in den Blick nimmt. Kein Kapitän, kein Seeräuber, kein Kolonistenführer und auch kein Feldherr schickt seine Mannschaft in völlig unbekannte Gewässer auf der Suche nach Phantomen. Er muss eine akzeptierte, in sich stimmige Gesamtkonzeption von der relativen Lage des Zieles im Verhältnis zu den bekannten Räumen und dem Weg dorthin besitzen, auch wenn die konkreten Umstände und die genaue Länge des Weges (noch) unbekannt sein mögen. Diese Vorgaben verschafften den Akteuren Sicherheit und Autorität, doch wie weit reichten ihre Raumvorstellungen und Ziele?
Wir glauben vielfach, das Gravitationszentrum der klassischen Antike sei der Mittelmeerraum gewesen. Mittelmeerstudien stehen hoch im Kurs und sind unverzichtbar für das Verständnis der Grundlagen und Zusammenhänge antiker Geschichte.15 Dennoch bieten auch sie nicht die ganze Wahrheit und verraten mitunter eine Perspektivverengung, die sich aus dem Interesse für politische Phänomene der mediterranen »Zentren« ergibt.
Es ist Zeit, der vertrauten Optik eine neue hinzuzufügen: das Mittelmeer (ohne dessen Besonderheit zu ignorieren) in einen größeren Zusammenhang zu stellen: dessen vermeintliche »Ränder« als pulsierende Kontaktzonen zwischen mehreren »Weltgegenden« und »Weltmeeren« zu begreifen16 sowie Menschen als Akteure des historischen Wandels ernst zu nehmen, die von der antiken Elitenliteratur gerne an den Rand gedrängt wurden.
Damit eröffnet sich eine Geschichte auch jenseits der vertrauten Spieler Athen, Sparta und Rom, eine Geschichte von Mächten und Abenteurern der Ferne, deren Perspektive nicht nur auf die mediterrane Welt, sondern weit darüber hinaus reichte und auf Gesellschaften traf, die in umgekehrte Richtung ihre Fühler an die Ränder des mediterranen Raums ausstreckten. Dieses Buch kann zwar keine Entdeckungsgeschichte der Antike aus der Sicht der Inder(1), Araber(1) oder der innerasiatischen Nomaden bieten – was immerhin eine lohnende und reizvolle Aufgabe wäre, aber den Fachleuten überlassen werden muss. Aber es kann die genannten Kulturen und ihre Menschen insoweit mit der mediterranen Geschichte verbinden, dass sie nicht als passive Objekte griechisch-römischer Exploration, sondern als gleichrangige Akteure eines interagierenden Weltgeschehens begriffen werden, die mitunter viel früher als Griechen und Römer über die Meere und Karawanenrouten in die ost- bzw. nordmediterranen Kontaktzonen gelangten.
Eine solche Ausrichtung braucht zwar immer einen Standpunkt – sonst wird sie beliebig – und dieser wird nach wie vor der griechisch-römische Zivilisationsraum bleiben (für den ich mich kompetent fühle). Diesen Standpunkt jedoch mit der Perspektive anderer Großräume zu verbinden, gehört zu den notwendigen und faszinierenden Aufgaben einer modernen Entdeckungsgeschichte. Sie ermöglicht es, die griechisch-römische Antike aus ihrer geographischen und historiographischen Vereinzelung zu lösen und in den Rahmen einer Weltgeschichte der Vormoderne einzuordnen, die mehr ist als eine Vorgeschichte historischer Globalisierung.
Die Reichweite der Fernerkundung hing – das ist der letzte in Rechnung zu stellende Faktor – natürlich (5.) immer auch davon ab, welche technischen und materiellen Mittel zur Verfügung standen. Ist es richtig, dass der Aufbruch über das Meer nur von solchen Orten möglich war, die über einen ausreichenden Baumbestand und Metalle zum Bau von Schiffen verfügten? Ist Mangel oder Reichtum der Wegbereiter von Fernerkundungen? Und wie steht es generell mit der Orientierungsfähigkeit und den nautischen Künsten der Antike?
Grundsätzlich neigen wir dazu, die Leistungsfähigkeit antiker Entdecker zu unterschätzen, was mitunter in einen hyperkritischen Umgang mit den Quellen mündet. Seefahrer der Antike fuhren angeblich nur entlang der Küsten und scheuten die offene See wie der Teufel das Weihwasser; widrige Winde und Strömungen sowie der stürmische Winter bildeten vermeintlich unüberwindbare Barrieren, genauso wie menschenfeindliche Wüsten. Die Nutzung von Karawanenrouten außerhalb der gemäßigten Breiten sei nur Einheimischen, nicht aber dem Mittelmeermenschen möglich gewesen – so einige der Vorbehalte. Man kann sie getrost ad acta legen.
Die Meinung, antike Seefahrt habe sich ausschließlich oder vornehmlich an der Küste entlang und nie im Winter (mare clausum) abgespielt, ist von der Forschung seit längerem als Mythos entlarvt.17 Er lebt dennoch immer wieder auf, zum einen weil schon die Optik antiker Quellen und moderner Beobachter durch die Seekriegsgeschichte geprägt ist, die sich aus besonderen, aber nicht zu verallgemeinernden Gründen vornehmlich in Küstennähe abspielte. Bisher wurden Wracks im mediterranen Raum ausschließlich in Küstennähe gefunden. Das liegt aber daran, dass nur in den flachen Küstengewässern Funde möglich sind, dagegen das Mittelmeer mit einer mittleren Tiefe von 1450–1500 m (die der Ostsee beträgt nur 55 m) und die vielbefahrenen Hauptbecken mit einer Tiefe von 3000–5000 m im Hochseebereich Sichtungen und Bergungen antiker Wracks so gut wie ausschließen.18 Bei alldem schwingt mitunter eine gewisse Skepsis gegenüber dem technischen Stand und der Innovationsfreudigkeit antiker Nautik mit,19 die ohne Kenntnis des (wohl erst im 11. Jahrhundert n. Chr. in China(1) entwickelten) Magnetkompasses20 angeblich Hochseefahrten ausschloss und nicht in der Lage gewesen sein soll, gegen den Wind zu kreuzen.
Auch diese Bedenken sind von der Forschung mehrfach überzeugend zurückgewiesen worden. Manöver zum Kreuzen gegen den Wind war antiken Seglern auch ohne Lateinsegel seit dem frühen 1. Jahrtausend v. Chr. (durch Querraffen des rechtwinkligen Hauptsegels und Drehen des Mastes bei ausreichender Kieltiefe) möglich und es gibt bedenkenswerte Thesen, dass einige einen solaren Kompass an Bord führten.21
Tatsächlich gab es spätestens seit der mittleren Bronzezeit nicht nur im Mittelmeer(2), sondern auf fast allen Weltmeeren hochseetaugliche Schiffe. Man braucht gar nicht auf die vielzitierten Ozeanfahrten der (Lapita-)Polynesier zu verweisen, um zu zeigen, dass Menschen seit frühester Zeit auch ohne technische Hilfsmittel und Instrumente wie Magnetkompass und Sextant weite Strecken über das offene Meer außer Sichtweite der Küsten mehr oder weniger regelmäßig zurücklegten.22 Auch im Mittelmeer segelte man schon seit ca. 2000 v. Chr. von Kreta nach Ägypten sowie von Sizilien nach Sardinien Strecken von bis zu 200 km, was ungefähr der Fahrtlänge der frühen Polynesier im Pazifischen Ozean entsprach.23 Im Laufe der Antike haben sich die Distanzen erhöht und die saisonalen Zeiten der Seefahrt auf das ganze Jahr ausgedehnt. In der Kaiserzeit überquerte man die rund 1000 km des Arabischen und Indischen Meeres, und für große Getreidetransporter war eine Direktfahrt von Alexandria nach Sizilien und ins westliche Mittelmeer auch im Winter Standard.24
Das sparte nicht nur Zeit, sondern bot nautische Vorteile. Jeder Fahrensmann weiß, dass schwere Stürme auf hoher See leichter abzuwettern sind, dagegen die größten Gefahren in Land- und Küstennähe lauern, wo Untiefen und Riffe, unkalkulierbare Strömungen, Strudel und Fallwinde (zumal einer Lee-Küste) sowie Piraten der Fahrt schnell ein Ende setzen können. Nicht ohne Grund ist die Sorge, im Sturm oder in der Nacht an eine (womöglich unbekannte) Küste verschlagen zu werden, ein immer wiederkehrender Topos der antiken Literatur.25
Wenn dennoch Handels- und Kriegsschiffe die Küstenfahrt bevorzugten und sich auch die meisten Erkundungsfahrten entlang des fremden Gestades bewegten,26 dann hatte das wenig mit der Angst vor dem offenen Meer oder gar der Unfähigkeit zu tun, außer Landsicht zu segeln, sondern mit praktischen Erwägungen. So nutzten mediterrane Segler schon immer (und noch heute) besonders im Sommer die thermischen Küstenwinde: die nach Sonnenaufgang einsetzende auflandige Seebrise und die nächtliche Landbrise, um (mit »halbem Wind«) Fahrt aufnehmen und gegen die auf See vorherrschende Windrichtung ansteuern zu können, was neben anderen Argumenten auch die Vorstellung ad absurdum führt, antike Schifffahrt habe vornehmlich bei Tage stattgefunden. Oft hat man Nachtfahrten über das offene Meer der Tagesfahrt sogar vorgezogen, weil der unbewölkte Nachthimmel eine exaktere Navigation nach den Sternen ermöglichte (»Nachtsprung«).27
Wenn Frachter abends die Häfen ansteuerten, dann auch deshalb, weil der nächtliche Landwind schwächer als die Seebrise am Tage ist.28 Hinzu kamen logistische, kaufmännische und handelspolitische Erwägungen: Wenn ein Kapitän zur Erkundung von Fernrouten oder zur Anlage von Handelsplätzen und Kolonien in fremde oder nur halbwegs bekannte Gewässer aufbricht, dann sucht er geeignete Partner, Siedlungs- und Anlegepunkte naturgemäß nicht auf offener See, sondern auf küstennahen Inseln oder an den Küsten selbst, vorzugsweise in der Nähe des Mündungsgebietes von Flüssen, die Trinkwasser und einen Weg ins Landesinnere bieten. Die regelmäßige Wasser- und Nahrungsaufnahme an der Küste ersparte zudem die Mitführung von größeren Mengen an Verpflegung und schuf Raum für Handelswaren oder Ruderer bzw. Marinesoldaten. Umfangreichere Warenmengen an Bord konnte man auf einer Fahrt entlang der Küste (in Form der Kabotage) in kürzerer Zeit einer viel größeren Kundschaft anbieten.29
Dagegen waren die mit zahlreichen Ruderern betriebenen Kriegsschiffe von vornherein nicht in erster Linie für die Hochseeschifffahrt, sondern für das schnelle Manöver, den Rammstoß und/oder für das Entern in Küstennähe konstruiert (was nicht heißt, dass sie leicht umgerüstet nicht auch Routen über das offene Meer bewältigen konnten). Um Gewicht zu sparen und den Bordraum mit möglichst vielen Ruderern bzw. Marinesoldaten zu füllen, mussten auch sie auf Proviant verzichten und abends an Land Nahrung und Schlafmöglichkeiten suchen. Überlebende einer Seeschlacht hofften auf die rettende Küste, und die Kommandeure suchten die Sichtverbindung zu dem an Land postierten Feldherrn.
Aber es gab eben auch Konstellationen wie die Suche nach wertvollen Metallen oder Produkten unter Umgehung von Zwischenhändlern und Zwischenstationen, in denen diese Erwägungen keine Rolle spielten.
Ein wesentlicher Grund für die in diesen Fällen gefragte Fähigkeit, ohne Landkontakt das offene Meer zu überqueren sowie schier endlose Strecken am Rande der trockensten Wüsten zu meistern, besteht darin, dass die Menschen der Antike in einem viel engeren Bezug zur Natur lebten, Botanik, Tierwelt und Ökologie sinnlich viel intensiver wahrnahmen als der moderne Mensch. Positionen wurden nach dem »Pfad der Sterne« und den »Zeichen der Natur« bestimmt: auf hoher See nach Geruch, Farbe, Temperatur des Wassers, nach den Winden und der Atmosphäre, der Bewegung und dem Vorkommen von Vogel, Fisch und Pflanzenresten sowie der in allen Kulturen, auch der Inder und Polynesier, praktizierten Aussendung von Vögeln zur Bestimmung der Küsten- und Landnähe; zu Lande nach der Bewegung von Dünen, Markierungen und Oberflächenstrukturen.30 Deshalb konnten antike Seefahrer und Landreisende in der Regel, wenn nicht militärische Großoperationen die Koordinierung mehrerer Verbände erforderten, auf präzise Karten verzichten. Nase, Auge, Gehör und der über Generationen geschärfte siebte Sinn bildeten verlässliche Hilfen, zumal wenn sie mit dem Wissen von Karawanenführern und Lotsen sowie verbesserten Transportmitteln verbunden wurden.31 Im Falle der Hochseenavigation kommt hinzu, dass sie sich in Räumen entwickelte, die vergleichsweise geringe maritime Schwierigkeiten bereiteten. Das Mittelmeer gleicht in dieser Hinsicht den melanesischen Gewässern und unterscheidet sich vom Nordatlantik, aber auch vom Roten Meer.32 Es ist ein vergleichsweise berechenbarer maritimer Großraum. Die Luftströmungen sind im Sommer regelmäßig, der Himmel ist überwiegend heiter, es gibt selten Nebel, schwache, nur in wenigen Regionen (Kleine Syrte, Meerengen) gefährliche Gezeiten33 und keine Wirbelstürme. Stürme sind heftig aber kurz. Man meidet die Seefahrt im Winter vor allem deshalb, weil der bedeckte Himmel die Sternennavigation erschwert.
Die enge Verzahnung zwischen Land und Meer zumal im Norden sowie die zahlreichen Inseln machen das Mittelmeer(3) zusammen mit den günstigen klimatischen Bedingungen zu einem idealen Trainingsgelände für Seefahrer34, die von hier aus über die Straße von Gibraltar, den Bosporus(1) und (mittelbar über Fluss und Kanal) das Rote Meer bzw. den Persischen Golf in den Atlantik sowie in das Indische bzw. Arabische Meer fuhren und dort an die nautische und navigatorische Expertise heimischer Seefahrer anknüpften.35
Trotz alledem waren Fernexpeditionen mit enormen Gefahren verbunden: Zahllose Geschichten von Menschen fressenden Riesen und Seeungeheuern, Männer mordenden Frauen und verschlagenen Göttinnen spiegeln die Ängste in epischer und mythischer Form.36 Die Furcht vor dem Meer und die verzweifelte Suche nach dem rettenden Eiland sind klassische Topoi genauso wie der Respekt vor der grenzenlosen Steppe sowie das traurige Los des Verirrten, der von Räubern ermordet oder entführt wird und sich tot oder als Sklave fremder Herren wiederfindet. Mobilität über große Entfernungen war und blieb ein Geschäft mit hohem Einsatz und häufigen Totalverlusten, ganz abgesehen von den aus moderner Sicht fast unvorstellbaren Unannehmlichkeiten.
Leider wissen wir wenig über das Leben an Bord eines antiken Schiffes, das aus dem Roten Meer kommend die Küsten Indiens ansteuerte oder weiter in das Chinesische Meer segelte. Auch über die täglichen Nöte einer antiken Karawane an den Hängen des Hindukusch, im saharischen Fezzan oder an den Rändern der Taklamakan ist uns keine Aufzeichnung erhalten. Doch eines ist sicher: Die Entbehrungen unterschieden sich kaum von denen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit37; auch deshalb haben reiche Kaufleute lange Routen gemieden und stattdessen ihre Untergebenen auf den Weg geschickt. Andererseits blieben die logistischen Mittel, der Transport von Trinkwasser und tierischen sowie pflanzlichen Lebensmitteln nicht hinter den Standards des sogenannten Entdeckungszeitalters zurück.
Wenn dem so ist und sich die Antike offenbar im Hinblick auf die technisch-nautischen Voraussetzungen (und vielleicht in Bezug auf die explorative Mentalität) nur wenig von der Frühen Neuzeit unterschied, und wenn sie außerdem vergleichbare geographische Kenntnisse von der Welt hatte, dann erhebt sich um so mehr die Frage, warum nicht schon der Antike der epochale Entdeckungsdurchbruch gelang, den die Afrikaumsegelung der Portugiesen und die Atlantikfahrten des Kolumbus einleiteten oder – anders gewendet – warum es so lange dauerte, bis Menschen des Mittelmeerraums die Barrieren der großen Ozeane nachhaltig und folgenreich überwanden, kurzum: Warum setzt die »Frühe Neuzeit« in dieser Hinsicht so »spät« ein? Diese fundamentale Frage kann nur im Rahmen einer dichten Beschreibung des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungskontexts geklärt werden, in dem sich die Entdeckungsunternehmungen bewegten. Genau das soll im Folgenden geleistet werden.
Nimmt man die genannten Kriterien einer »explorativen Konstellation« zusammen, dann wird auch klar, weshalb eine Geschichte der antiken Entdeckungen nicht mit Homer oder anderen aus der klassischen Antike vertrauten Epochen beginnen kann, sondern dort, wo die entscheidenden Grundlagen organisierter Fernerkundungen gelegt wurden. Das ist die Bronzezeit des 3. und 2. Jahrtausends v. Chr. In dieser Zeit setzte eine fundamentale Wandlung ein. Erstmals ergänzen schriftliche Quellen die archäologische Überlieferung. Sie bezeugen größere Gemeinwesen im Osten des Mittelmeerraums (Mesopotamien, Ägypten), die unter monarchischer Regierung die Kunst des entwickelten Ackerbaus beherrschten, handwerkliche Differenzierung kannten und größere Armeen aufstellten. Politische Stratifizierung, gesellschaftliche Differenzierung sowie die Bedingungen einer wehrhaften Palastherrschaft führten dazu, dass die Eliten einen regelmäßigen Bedarf nach fernen Gütern entwickelten: vornehmlich Mineralien und Metalle (Zinn, Kupfer), aber auch Holz (für Tempel- und Schiffbau), Luxuswaren und exotische sowie medizinisch verwendbare Naturprodukte (Weihrauch, Opium, Bernstein, Perlen, Edelsteine).38 Diese Produkte gab es oft nur in entfernten Gebieten des Mittelmeerraums, der ostafrikanischen Küsten, Indiens oder des atlantischen Nordens und in Innerasien.
In vielen dieser Regionen lassen sich in der gleichen Zeit Frühformen der Bergwerkskunst und Metallurgie nachweisen. Es entstand so etwas wie ein überregionales Marktgeschehen, das Handel, Netzwerkbildung und Mobilität von Menschen über weite Entfernungen stimulierte sowie die Bildung entsprechender Kulturtechniken wie Lagerhaltung und Schrift (zunächst zur Memorierung von Gütern und in Form von Listen) anregte.39 Gleichzeitig oder wenig später spezialisierten sich an den territorialen und maritimen Transferzonen (Levante, Zypern, Kleinasien) kleinere Stadtstaaten auf den Erwerb und Transport der Produkte.
Mit der Erfindung des Segels auf Schiffen, die eine Geschwindigkeit von bis zu 5 Knoten (9 km/h) erreichten und einen Kurs von 90–1000 am Wind hielten,40 sowie mit der Domestizierung des Esels, der Lasten von bis zu 90 kg über bis zu 50 km täglich tragen konnte, standen seit dem 4. Jahrtausend revolutionäre Transporttechniken zur Verfügung, die in der Folge stetig verbessert und durch die Domestizierung des Dromedars/Kamels aus Arabien und die Einführung des Pferdes aus der russischen Steppe ergänzt wurden.41
All das mündete in eine erste heiße Phase organisierter Fernerkundung: Die ostmediterrane Welt war von Kulturen geprägt, deren Wohlstand und Identität zu wesentlichen Teilen auf der Beherrschung von maritimen oder territorialen Verbindungswegen beruhten. Dementsprechend ist seit der Mitte des 2. Jahrtausends eine Differenzierung im Schiffbau zwischen Handels- und Kriegsschiffen zu beobachten.42 Der Zugriff auf die Ferne vollzog sich – nimmt man die archäologischen Zeugnisse als Beleg – in einer Atmosphäre des Wettbewerbs, der die Bewältigung langer Wege, die Kontrolle von Seerouten und Karawanenwegen sowie den Erwerb exotischer Produkte und den Besitz seetüchtiger Schiffe zu einer Quelle von Ruhm und Reichtum machte.43 Damit waren die Grundlagen gelegt für einen über 2000 Jahre währenden Aufbruch, der am Mittelmeer begann und Schritt für Schritt entfernteren Regionen zustrebte bis zu den Grenzen der Welt … und darüber hinaus.
HERRSCHER, HÄNDLER UND HELDEN DER FRÜHZEIT
Wer einmal das Glück hat, am Strand von Kommos(1) in Südkreta(1) der untergehenden Sonne zu folgen, der hört die Rufe und sieht die Schatten: Stolze Schiffe nähern sich der Bucht, begleitet von Gesängen und gerudert von Männern mit salzverkrusteten Gesichtern, selbstbewusst, kühn und zufrieden. So wie vor 4000 Jahren, als Kommos Zwischenstation von Seefahrern war, die das Meer zu ihrer Heimat und die Ferne zu ihrem Ziel erklärten.
Ängste verbreiteten sie nicht, die Männer aus Syrien(1), Ägypten(1), Anatolien(1) und der Levante(1). Ihre Schiffe waren nicht viel kleiner als die Santa Maria des Kolumbus(2).1 Gebaut wurden sie im nordsyrischen Ugarit(1), eine der bedeutendsten Handelsstädte der Bronzezeit. Von dort stammten wohl auch die Kapitäne, die Kreta(1) anliefen. In Ugarit siedelten bis zu 8.000 Menschen, eine polyglotte Gesellschaft, die ihr Leben dem Meer und dem Seehandel verschrieben hatte, ähnlich wie andere Stadtkönigtümer an der Levante (z.B. Tell Kazel in Amurru(1), Byblos(1), Beirut(1), Tell Abu Hawam(1)). Wie der Erwerb von Waren und Produkten im Einzelnen organisiert war, wissen wir nicht. In Ugarit wurden Tontafeln aus dem Palastarchiv gefunden, und man kann diese mit Zeugnissen anderer Königreiche vergleichen, doch auch sie geben kein eindeutiges Bild. Eines scheint jedoch sicher und gilt nicht nur für Ugarit: Das ist die dominierende Rolle des königlichen Palastes bei der Initiierung und Abwicklung des überregionalen Güter- und Warenaustausches. Die Herrschaft und das Prestige des Königs gründeten nicht nur darauf, dass er sein Land vor Angriffen schützte, sondern auch in einer Welt permanenter naturaler Risiken in der Lage war, sich und seine Untertanen mit Gütern, Rohmaterialien und Nahrungsmitteln zu versorgen. Die Fähigkeit, diese Güter regelmäßig an sich zu ziehen, zu verwalten, zu verarbeiten und weiterzugeben, bildete den Kern der Palastwirtschaft.2
Der König agierte dabei im Zentrum eines Netzwerkes von Abhängigen unterschiedlichen Grades und abgestufter Nähe, die in seinem Auftrag Güter über See gegen heimische Produkte und Silber heranschafften.3 Ob es eine Korrelation zwischen Produkttyp und der Intensität herrschaftlicher Kontrolle gab, ist umstritten, doch sehr wahrscheinlich galt die besondere Aufmerksamkeit des Königs von Ugarit(2) wertvollen Metallen und überseeischem Getreide sowie Luxuswaren, während der Vertrieb politisch weniger bedeutsamer und existentieller Gebrauchswaren (wie Keramik) eher in den Zuständigkeitsbereich von Personen unterhalb der engeren Elite fiel.4 Es mag sein, dass die Beauftragten im Rahmen offizieller Aufträge auch auf eigene Rechnung (selbst im Getreidehandel) tätig waren und dass sich am Rande des palatialen Netzwerkes autonome Handlungs- und Erwerbsfelder öffneten, die von diesen Leuten genutzt wurden.5 Gänzlich von den Befehlen und der Aufsicht des Herrschers unabhängige Händler, die privat ihren Geschäften nachgingen, gab es jedoch in der Welt der ostmediterranen Bronzezeit nicht, sondern nur unterschiedliche Grade der Abhängigkeit innerhalb des herrschaftlichen Netzwerkes, das über diplomatische Kanäle und Verträge mit den Netzwerken anderer Könige und Reiche verbunden war. Dementsprechend ist es fraglich, ob der Begriff »Handel« (»trade«), so wie wir ihn gemeinhin verstehen, adäquat ist. Eher handelte es sich um einen weiträumigen und regelmäßigen Gütererwerb und Güteraustausch zwischen den großen und mittleren Herrschern, der nach vertraglichen Regularien und diplomatischen Formen ablief und dabei den jeweiligen Ressourcen und Bedürfnissen der Palastherrschaften Rechnung trug.
Was für Güter und Rohstoffe gilt, trifft im Prinzip auch für Menschen zu, die als Spezialisten (Ärzte, Künstler, Baumeister oder Bildhauer) an den Höfen tätig waren. Sie bewegten sich in den von den Herrschern gesponnenen Netzwerken. Sicherlich war die Reichweite palatialer Zuständigkeiten und Kontrollen nicht nur auf dem Wasser, sondern auch zu Lande begrenzt; zumal in den abgelegenen Grenzregionen, an den Küsten sowie entlang der Karawanenrouten tätigten spezialisierte Gemeinden ihre Geschäfte auf familiärer Basis und in Form von kleinen Kompanien. Doch ein völlig frei agierendes »Unternehmertum«, das über die Meere und Lande reiste und seine Dienste dem Meistbietenden anbot, gab es schon allein deshalb nicht, weil die Spezialisten von den Palästen abhängig und ohne diese nicht lebensfähig waren.6
Die für den Historiker der Entdeckungen entscheidende Frage ist, welche Impulse der Horizonterweiterung und welche Dynamiken des Weltwissens sich aus einem solchen System entwickeln konnten und für dessen Funktionieren Voraussetzung waren, inwieweit es Grundlagen für spätere Entwicklungen lieferte und wo seine Kapazitätsgrenzen und Schwächen lagen. Unbestritten ist: Die entscheidenden Antriebskräfte des globalen Gütererwerbs entwickelten sich in den Palastzentren und Hafenstädten, und sie waren auch die Ausgangspunkte der Fernfahrten. Allein die Palastherren besaßen einerseits die Ressourcen und die Autorität, um größere Expeditionen zum Erwerb von Gütern in Auftrag zu geben; andererseits benötigten sie zum Prestigegewinn und Machterhalt exotische Luxuswaren (Perlen, Elfenbein, Bernstein, wertvolle Metalle). Sie demonstrierten damit, dass sie allein das Wissen über die Routen und den Zugriff auf die fernsten Länder und ihre Produkte besaßen; indem sie diese durch palastinterne Handwerker ihren Bedürfnissen anpassten, demonstrierten sie die Macht, Fremdes zu domestizieren und die mit den exotischen Fernprodukten (z.B. Elfenbein) verbundene Magie den eigenen Zwecken zu unterwerfen.7
Allerdings schickte deshalb nicht jedes Reich regelmäßig eigene Schiffe in die Ferne; es scheint sich vielmehr eine Art Arbeitsteilung eingespielt zu haben, die auch für die spätere Zeit typisch ist: Große Territorialreiche wie die der Hethiter(1) und später der Assyrer(1) griffen auf das Spezialwissen maritim orientierter Stadtkönigtümer zurück. So konnte sich der König von Ugarit(3) eine stattliche Flotte von bis zu 100 Einheiten leisten, dagegen auf eine große Landarmee verzichten, weil er sich innerhalb des Konzerts der Großmächte als Verteiler und Verarbeiter von Waren und Naturprodukten etabliert hatte, die für die Existenz der viel mächtigeren Reiche unverzichtbar waren. Ugarit besaß als Vasall der Hethiter weitreichende Autonomie und erhielt sogar Mittel für den Bau der Schiffe. Denn diese versorgten die Hethiter mit Getreide aus Ägypten(2) und Syrien(2) sowie Olivenöl, Wein und Salz.8 Im Gegenzug lieferten die Ugariter(1) dem Nilland(1) Erze und Metalle. Zinn gelangte über Karawanenrouten aus Fernasien (Afghanistan(1)) an die Mittelmeerküsten, Kupfer aus Anatolien(2) und Zypern(1) (Alasija(1)), einer der größten Kupferlagerstätten der Welt. Beides benötigte man zur Herstellung von Bronze, dem am weitesten verbreiteten Metall der Zeit.
In Ugarit(4) gehörten deshalb Kaufleute aus Ashdod(1), Zypern(2), der Levante(2), Kreta(2) und Mykene(1) zur alltäglichen Erscheinung des Hafengebietes. Sie erwarben im Auftrag ihrer Herrscher mit Hilfe von Dolmetschern Waren aus fernen Regionen (Zinn) oder in Ugarit verarbeitete Produkte.9 Die Ugariter(2) konnten eigene Produkte in die Güterströme einspeisen: purpurgefärbte Gewänder, die an den Höfen der Großreiche so beliebt waren, sowie Wein, der ins ägyptische Nildelta(1) geliefert wurde. Ferner nutzten Handwerker die nahen Wälder zur Herstellung von Möbeln sowie Bauteilen, daneben fertigte man Produkte aus Kupfer und Gold und alles, was mit dem Schiffbau zu tun hatte.10
Solide Schiffe bildeten die Vehikel, etablierte Seerouten die unverzichtbaren Adern der Austausch- und Erwerbsnetze. In einem rund 15 Meter langen Schiffswrack des 14. Jahrhunderts v. Chr., das an der südtürkischen Küste etwa auf halber Strecke zwischen Ugarit(5) und Kommos(2) am heutigen Uluburun(1) gefunden wurde, barg man neben zehn Tonnen Kupfer in 500 Barren (wahrscheinlich aus Zypern(3)) eine Tonne reiner Zinn- und Glasbarren sowie an die 150 große Transportkrüge (pithoi) wahrscheinlich kanaanitischer Herkunft. Drei enthielten zyprische Öllampen und Schalen, sieben weitere Granatäpfel und Olivenöl, ferner Harz zum Aufbewahren von Wein, dazu 135 kleinere Keramikartikel aus Zypern, 24 Steinanker, wie man sie in Ugarit, Byblos(2) und in Zypern benutzte; schließlich eine Reihe von Luxuswaren: eine weibliche Statuette, ägyptisches Elfenbein, Straußeneier- und Schildkrötenschalen, Trinkschalen aus Fayance, Nilpferdzähne, Gold, Silber und kanaanitische Juwelen sowie Tausende Glasperlen, davon 41 aus Bernstein.11
Verblüffend sind nicht nur die enormen Entfernungen der Herkunftsländer von Roh- und Fertigwaren sowie leicht verderblichen organischen Substanzen – Bernstein muss von der Ostseeküste(1) über Land bis an die Adria(1) oder über den Balkan(1) ans Mittelmeer(4) transportiert und weiter verarbeitet worden sein12 –, sondern auch ihre Vielfalt und ihr Umfang. Ergänzt man die Waren des Uluburun(2)-Schiffes mit denen anderer Wracks sowie den Hinweisen von Dokumenten aus den Palastarchiven, so ergibt sich das Bild eines Austausch- und Erwerbsnetzes sogar über den Mittelmeerraum(1) hinaus: nach Süden am Nil(1) bis zum Land Kusch(1) (= Nubien(1)), von wo in guten Jahren bis zu 300 kg Gold (als Tribut) nach Ägypten(3) gelangten13, im Südosten über das Wadi Hammamat(1) zum Roten Meer(1) bis nach Südarabien und Somalia(1)/Eritrea(1), dem legendären Weihrauchland Punt(1), wohin die ägyptischen Pharaonen(1) schon im frühen 2. Jahrtausend ihre Schiffe lenkten, und im Nordwesten bis in den Atlantik(3) und mittelbar in die nordeuropäischen Binnenräume und Bernsteinküsten. Nimmt man den Austausch von Gütern (Lapislazuli, Kupfer, Holz) zwischen Mesopotamien(1) und der Induskultur hinzu, der um 1800 abbrach, aber als vages Wissen verarbeitet wurde, so existierte in der mittleren Bronzezeit ein eurasisches Verteilungsnetz, das im Mittelmeer(5) allerdings noch große Teile des fernen Westens und der nordafrikanischen Gewässer westlich Ägyptens aussparte.14
Bei den Uluburun(3)-Waren dürfte es sich um die Fracht eines Kleinkönigs aus Nordpalästina oder des ägyptischen Pharaos gehandelt haben; unter den Mitreisenden befanden sich wahrscheinlich levantinische Händler sowie – nimmt man die besonderen, auf zwei Personen zugeschnittenen Schwerter und Siegelsteine als Indiz – zwei hochrangige Mykener(1), die vielleicht im Auftrag ihres Herrschers den Gütertransport kontrollierten. Die Fracht und der Ort des Untergangs lassen darauf schließen, dass der Kapitän Verbindungen bis in den nordwestlichen Balkan(2) besaß, zunächst die Ägäis(1) und dann Kommos(3) ansteuerte, von wo ugaritische Schiffe mit Getreide, Öl und Keramik zurückkehrten.15
Schiffe wie das von Uluburun(4) waren Archen von Männern, die keine ethnischen Grenzen kannten, multilingual, mutig und entschlossen, jede Chance zum Erwerb von Waren und Rohstoffen zu nutzen.16 Sie gehörten zu den ersten Entdeckern der Alten Welt. Auch wenn sie im Auftrag oder mit Erlaubnis ihrer Herrscher handelten und in Konkurrenz zueinander um die Gunst des Königs rangen, so träumten sie einen Urtraum der Menschheit: Reichtum, Ruhm und Teilhabe an den Pfründen der Macht17: Sinaranu(1), einer der persönlichen Händler (Tamkars) des ugaritischen Königs, war bei seinen Fahrten nach Kreta(3) so erfolgreich, dass er – von Naturalabgaben und Steuern befreit – zu großem Reichtum gelangte und im Rahmen offizieller Aufträge mit eigenem Schiff Güter wie Bier, Öl und Getreide erwerben konnte. Dem König musste er lediglich Geschenke abliefern.18
Wahrscheinlich sind es diese im Einzelnen schwer zu bestimmenden Handlungsspielräume, die jeder Herrscher seinen Beauftragten zumal auf dem Meer einräumte und einräumen musste, die zur Erweiterung der Seeverbindungen und des geographischen Horizontes wesentlich beitrugen. Manche Ugariter(3) fuhren, nachdem sie in Kommos(4) Wasser geladen, die Schiffe ausgebessert und den Herrschern der Paläste in Phaistos(1) und Knossos(1) Waren verkauft hatten, nicht gleich nach Ägypten(4) oder die Levante(3) zurück, sondern steuerten den fernen Westen an. Eines der Schwerter des Uluburun(5)-Wracks stammt aus Unteritalien(1). Von hier setzte man vielleicht über nach Sizilien(1) und Sardinien(1). Die Insel besaß im Südwesten einige der begehrtesten Schätze der damaligen Welt: reiche Erze, Eisen, Kupfer, Zinn und Silber. Die Ugariter und andere Seefahrer der levantinischen Küste hatten Handelsverbindungen geknüpft, die von einem Ende des Mittelmeeres(6) fast bis an das andere reichten.19
In zentraler Position lag Kreta(5). Es besaß wie die Levante(4) weder Kupfer noch Zinn. Deshalb versuchten sich die Minoer(2) schon während der Altpalastzeit in das ostmediterrane Handelsnetz der Ugariter(4) und Zyprer(1) einzuklinken und dehnten ihre Kontakte über die Kykladen bis nach Westanatolien(1) (Milet(1)) aus. Eine Liste von Schiffsladungen mit Zinn aus dem syrischen Handelzentrum Mari(1) nennt kretische Dolmetscher und Kreta als Zielgebiet. In einem Mari-Text erscheint ein kretischer Zinn-Aufkäufer für Ugarit(6) (offenbar war Ugarit Verteilungshafen am Ende der östlichen Zinnroute).20 Noch enger waren die Beziehungen zum Land der Pharaonen(2), das kretische Künstler, Architekten, Textilhersteller sowie Heiler mit kretischen Heilpflanzen anzog. Im Gegenzug verlud man neben Elfenbein, Getreide v. a. Silphium aus dem Gebiet der Kyrenaika.21 Der Wind begünstigt eine direkte Seeroute von Kreta in das Nildelta(2) oder weiter westlich zur späteren Kyrenaika(1) und von dort nach Ägypten(5). Ein bronzezeitliches Schiff bewältigt pro Tag bis zu 150 km, die Direktfahrt von Kreta nach Ägypten dauert mehrere Tage und erfordert die Navigation nach den Sternen. Beides hatten die Minoer wohl von den Ägyptern(1) gelernt, deren Schiffe denen der Kreter(1) sehr ähneln.22
Es wundert so nicht, dass die Minoer(3) auch nördlich ihrer Insel aktiv waren. Die Ägäis(2) war schon seit dem 3. Jahrtausend aufgrund der Seekundigkeit ihrer Bewohner und einiger Metallvorkommen in den ostmediterranen Warenaustausch integriert.23 Hier trafen die Minoer auf die mykenische Palastkultur, deren Eliten minoische Künstler und ihre Kenntnisse der Metallverarbeitung schätzten. Ferner versorgten sie die Mykener(2) wahrscheinlich mit ägyptischen Produkten (Elfenbein, nubisches Gold). Umgekehrt lockte die Minoer die Chance, Silber von den Ägäisinseln sowie Kupfer (und Silber?) aus den Laureionminen bei Athen(1) zu erwerben.24 Dagegen benötigten die Herrscher von Mykene(2), Tiryns(1) und Pylos(1) Gold, Bernstein (vielleicht sogar indischen Pfeffer), ferner Rohmetalle, um ihren Status und die Loyalität der Aristokratie zu sichern, aber auch um die Armee zu unterhalten; ein Teil des Zinns und der 200 Kupferbarren des Uluburun(6)-Wracks könnte für die Herstellung von Bronzeschwertern an den Höfen in Pylos oder Mykene bestimmt gewesen sein. Dagegen boten die Herrscher Keramik, Olivenöl und Textilien.25
Am Ende des 15. Jahrhunderts endete der friedliche Austausch zwischen Kreta(6) und Griechenland(1). Die Mykener(3) eroberten Knossos(2) und übernahmen deren Handelsbeziehungen. Der Großteil der mykenisch-minoischen Produkte wurde weiterhin in das palatiale Austausch- und Versorgungssystem des Ostens eingespeist, einiges gelangte in den Westen. Der westliche Herrschaftsbereich der mykenischen Palastkultur war ein natürlicher Ausgangspunkt für die Überfahrt nach Süditalien(1) und in die Adria. Er(2) verlängerte den Seehandelskorridor entlang der Südküste Kleinasiens(1) und der Ägäis(3), wobei man mitunter die direkte Route über das offene Meer von Zypern(4) über Kreta und Sizilien(2) bzw. Malta(1) bis Sardinien(2) nahm.26
Der entscheidende Grund für die Westorientierung war die Suche nach Zinn und Kupfer.27 Mykenische Keramik sowie einfaches Glas und Fayanceperlen in Italien(1) und Sardinien deuten auf Kontakte zum Verarbeitungszentrum von Rohbernstein in Frattesina di Fratta Polesine(1) (Rovigo(1) in Venetien(1)). Ferner gelangte Zinn aus Zentral- und Westeuropa(1) über Italien in den Mittelmeerraum(2). Vielleicht suchten die Mykener auch die Geheimnisse der Landverbindung von der Poebene(1) in die Bernsteingebiete des Baltikum(1) zu erkunden und Anschluss an den atlantischen Bernsteinhandel zu finden; Bernsteinartefakte und Perlenfunde weisen auf Verbindungen bis nach Britannien(1).28
Bei alldem handelte es sich anfangs nicht um einen regelmäßigen Gütererwerb bzw. -austausch, sondern um tastende Versuche der Erkundung, die sich erst im 13. Jahrhundert v. Chr. zu einer von Sardinien(3) bis Zypern(5) reichenden »metallurgical koiné« verdichteten.29 Die Kontaktaufnahme mykenischer Kapitäne mit einheimischen Ethnien überschritt kaum den Radius einer vorgelagerten Insel oder Küstensiedlung mit Anlageplätzen. Ägäisch-mykenische Handwerker oder Händler mögen hier einige Zeit verweilt haben; dass sie selbst mit ihren Waren ins Landesinnere zogen, ist unwahrscheinlich. Die Weitergabe mykenischer oder ägäischer Produkte bis nach Britannien(2) erfolgte über lokale Netzwerke von Zwischenhändlern nach Art eines Staffellaufes von Nachbarschaft zu Nachbarschaft und sehr selten durch einen einzelnen Händler. Unter den nach Italien(2) verschifften Waren mykenischer und zypriotischer Herkunft (Kupferbarren) sind sehr wenige, für den Osten so typische Luxuswaren nachgewiesen. Das entspricht der Bevölkerungsstruktur der Siedlungen. Ihnen fehlten die Produktions- und Organisationsstrukturen des im Osten etablierten palatialen Austauschsystems.30
Anstelle der interpalatialen Netzwerke entstanden maritime Transferkanäle zwischen dem Ägäisraum(4) und Italien(3) sowie Sardinien. Sie öffneten(4) auch den im Westen lebenden Menschen eine Tür in die reiche Welt der ostmediterranen Paläste. Alle archäologischen Indizien sprechen dafür, dass seit dem 14. Jahrhundert Krieger aus Italien(4), von den Quellen Sherdana(1) genannt, die Routen in umgekehrter Richtung nutzten, die ihre mykenischen »Handelspartner« auf der Suche nach Zinn und Bernstein erschlossen hatten. Sie führten hochwertige, in Italien gefertigte Langschwerter mit sich, die als Stoß- und Hiebwaffe eingesetzt den ledernen Brustschutz des Gegners viel wirksamer durchschlugen und dessen Bronzehelm stärker beschädigten als die östlichen Stichschwerter und so eine neue Form des erfolgreichen Nahkampfes ermöglichten; wahrscheinlich reagierten die mykenischen Eliten als erste auf diese Herausforderung, nahmen einige westliche Kämpfer in ihre Armeen auf und rüsteten ihre eigenen Soldaten mit den »modernen« Waffen aus.31
Die neuen Schwerter entfalteten ihre größte Wirkung zusammen mit einer zweiten Innovation: Während die für Fernfahrten konzipierten Handelsschiffe auf Windkraft setzen, benutzten die Mykener rudergetriebene Einheiten, die auf Schnelligkeit hin konzipiert waren und unabhängiger von der Windrichtung operieren konnten. Jede Ruderreihe benötigte 25 Mann, später spricht man von Fünfzigruderern (Pentekonteren). Irgendwann in der Zeit von ca. 1300 bis 1200 v. Chr., also in dem gleichen Zeitraum, in dem die italischen Schwerter eingeführt wurden, stattete man diesen Schiffstyp mit einem im Rumpf einsetzbaren Segelmast und Geitautakelage aus.32 Er war dazu prädestiniert, andere Schiffe sowie Küstenstädte zu überfallen; und er konnte Krieger aufnehmen, die mit den neuen Schwertern für solche Operationen am besten geeignet waren, wie entsprechende Vasenbilder zeigen.33
Mit dem neuen Schiffstyp und der italisch-mitteleuropäischen Nahkampftechnik besaßen die Mykener Mittel ganz neuer Art, um die ostmediterranen Küsten und Eilande mit unerwarteten Angriffen zu überziehen: Ein hethitischer König beklagte, ein Einwohner von Ahhiyawa (Mykener) habe eine Basis in Anatolien(3) errichtet und einen Raubzug auf Zypern(6) unternommen. Plünderungsfahrten der Mykener zielten auch auf den Herrschersitz von Troia(1), der Silber verarbeitete und die Einfahrt in das Marmarameer(1) kontrollierte; von dort stießen sie vielleicht in den Schwarzmeerraum(1) vor. 1208 v. Chr. griffen sie mit den Sherdana(2) und anderen Kriegern über See das Pharaonenreich unter Merenptha (1213–1203) an.34
An sich ist diese Entwicklung wenig überraschend. Der auf Verträgen und Diplomatie beruhende Güteraustausch zwischen den Palästen war ja keine »transnationale Friedensordnung«, die Kriege oder Raubzüge verhinderte. Jede Ordnung produziert Menschen und Menschengruppen, die an der Ordnung teilhaben, sie aber gleichzeitig stören, indem sie nach alternativen Erfolgswegen suchen. Gewalt auf dem Meer und vom Meer aus gehörte zum Erscheinungsbild des Mittelmeeres(7), seit es Schiffe gibt, doch die Mykener(4) brachten einen aggressiven Zug in die ostmediterrane Welt, der sich auch in der Bedeutung militärischer Heldentaten innerhalb der mykenischen Kultur spiegelt.35 Er bildete eine riskante, aber im Erfolgsfalle sehr lukrative Alternative zu den friedlichen Austausch- und Erwerbsformen: Geraubte Luxuswaren bereicherten den königlichen Schatz, Gefangene arbeiteten als Sklaven beim Bau der Paläste sowie bei der Textil-, Keramik- und Ölherstellung.
Die Mykener(5) erschlossen ein Feld der Bereicherung, das wie ein Magnet auf andere Kriegergruppen wirkte und die Zahl der Mitkämpfer stetig erhöhte. Zu ihnen gehörten an erster Stelle diejenigen, deren Kampftechnik ihnen den Weg gewiesen hatte. Anfangs dürften es nur Einzelne oder kleine Gruppen von Sherdana(3)-Kriegern gewesen sein, die mitkämpften und die mykenischen Herren mit der Handhabung der neuen Waffen vertraut machten.36 Sie sind die ersten Spezialisten, die anders als Ärzte und Baumeister nicht innerhalb des Austauschsystems der ostmediterranen Palastnetzwerke tätig waren, sondern von außen in das Palastsystem eindrangen bzw. sich ihm anlagerten. Zieht man historische Migrationsmodelle zum Vergleich heran und verbindet sie mit den archäologischen und schriftlichen Belegen der späten Bronzezeit, dann dürften den ersten Pionieren von Generation zu Generation größere Schübe organisierter Verbände (mit ihren Familien) gefolgt sein, die sich nicht nur in Mykene(4), sondern am gesamten östlichen Mittelmeer(8) ausbreiteten und andere Fremdvölker mit sich zogen.37 Sie alle suchten ihr Glück im reicheren Osten und seinen prachtvollen Palästen, agierten teilweise auf eigene Faust als Piraten, ergänzten aber auch als Nahkämpfer die Streitwagenarmeen der östlichen Könige und Kleinkönige, die landeseigene Infanteristen wohl nur unregelmäßig aushoben.38 Die Amarnabriefe erwähnen Sherdana (Schardana/Scherden)-krieger, die neben ägyptischen Streitwagenabteilungen kämpften. Später zogen sie für den Pharao in die Schlacht von Kadesch(1) (Qadesch am Orontes(1) 1275 v. Chr.) gegen die Hethiter(2), die sich ihrerseits auf die Fremdvölker der kleinasiatischen Lukka(1) und Schekelesch(1) stützten. Sherdana tauchen ferner innerhalb einer gemischten Abteilung der an der Nordgrenze operierenden ägyptischen Armee auf; vielleicht war ihre Erfahrung im Nahkampf ein mitentscheidender Grund dafür, dass Pharao Merenptha gegen Ende des 13. Jahrhunderts den Angriff der Mykener und anderer Fremdvölker (unter ihnen ebenfalls Sherdana) auf das Pharaonenreich zurückschlagen konnte.39 In Mykene übernahmen Sherdanagruppen offenbar die Bewachung und Verteidigung von Bergregionen, wo der Einsatz von Streitwagen nicht möglich war. Ein Fresko aus Pylos(2) (13. Jh.) zeigt vermutlich eine (mit inzwischen etwas verkürztem Schwert italischer Herkunft und Speer ausgestattete) Einheit bei der Abwehr von Eindringlingen. Auch der König von Ugarit(7) ergänzte die einheimische Kriegerelite (marayannu) mit Sherdana-Kämpfern.40 Die aus Italien(5) stammenden Schwert- und Lanzenfunde aus dem Uluburunschiff lassen vermuten, dass Sherdana-Kämpfer als Schutzmannschaften auf Handelsschiffen mit wertvoller Fracht dienten.41
Wie und auf welcher Grundlage die fremden Krieger in die Armee der Paläste integriert wurden, ist nicht ganz klar. Der häufig benutzte Begriff »Söldner« impliziert ein freies Kriegertum, das sich von den Herrschern auf Vertragsbasis und für entsprechende Entlohnung (Sold) anwerben ließ.42 Für ein solches Verfahren gibt es aber keine Belege, wohl aber für die Tatsache, dass nach gescheiterten Überfällen und Niederlagen gegnerische Gefangene in die siegreiche Armee eingegliedert und für ihre Waffenerfolge mit Land und Beuteversprechen belohnt wurden.43 Ob sich diese Gruppen allerdings gänzlich in das Kontrollsystem der Palastwirtschaften integrieren ließen, ist ungewiss. Auch wissen wir nicht, in welchem Verhältnis die angesiedelten Fremdkrieger zu ihren frei agierenden Stammesgenossen standen. Nach wie vor gab es nachrückende Kriegergemeinschaften aus dem Westen, die zwischen den Netzwerken der Palastwirtschaften agierten und ihre Angriffsziele je nach Gelegenheit auswählten. Schon allein deshalb bildeten sie mit den »integrierten« Kriegern einen schwer kontrollierbaren Unsicherheitsfaktor, der dazu beitrug, dass viele Palastherrschaften gegen Ende des 13. Jahrhunderts in eine tödliche Krise gerieten.
Über die Einzelheiten wissen wir wenig. Sie lassen sich nur aus der Analyse der katastrophalen Folgen nach den Kriterien der historischen Plausibilität und unter Berücksichtigung von Einzelindizien erschließen. Fest steht, dass seit ca. 1200 viele mykenische Palastburgen zerstört oder aufgegeben wurden. Das gleiche Schicksal traf Ugarit(8) und andere Vasallenkönigreiche der Hethiter(3) wie Amurru(2) mit seiner bedeutendsten Stadt Tell Kazel (Sumur(1)). Das Hethiterreich erlebte um 1900 einen Niedergang, bevor die Hauptstadt Hattusa(1) zerstört und verlassen wurde.
Heute werden meist mehrere, regional unterschiedliche Gründe dafür verantwortlich gemacht; das Hethiterreich fiel sicherlich anderen Krisenfaktoren zum Opfer als die syrischen Küstenstädte. Die Spannbreite reicht von ökologischen Veränderungen (Klimaschwankungen, Dürreperioden, Erschöpfung der Agrarflächen) und naturalen Katastrophen (Erdbeben) über den Zerfall des palatialen Austauschsystems bis zu Rebellionen und einem allgemeinen Systemkollaps der Paläste, deren (Hyper-) Organisation in Krisen überlastet war und bei Angriffen in sich zusammenbrach. Für viele Gründe lassen sich Indizien und plausible Argumente finden, doch mitunter neigt man dazu, den militärischen Faktor auszublenden.44 Der Untergang einer ganzen Reihe von Territorialherrschaften und Fürstentümer in einem überschaubaren Zeitraum gänzlich ohne Angriffe von außen wäre allerdings singulär. Tatsächlich gibt es eindeutige Hinweise auf kriegerische Bedrohungen und Konflikte: So hatten die Herrscher von Mykene(5) und Tiryns(2) vor ihrem Untergang ihre Verteidigungsanstrengungen erhöht und die Festungsanlagen ausgebaut sowie Produktionsstätten zur Metallverarbeitung hinter die Palastmauern verlagert.45 In Athen(2) und anderswo wurden neue errichtet, und die Herren von Pylos(3) verstärkten den Küstenschutz. Nicht alle Paläste waren befestigt; das bedeutet allerdings nicht, dass es keine Gefahren gab, sondern nur, dass sie auf unterschiedliche Schwerpunkte verteilt waren. In Kleinasien(2) und Ugarit(9) suchte man gegen »Angreifer zur See« alle Kräfte zu mobilisieren. Die Forschung fasst die Angreifer unter dem Begriff »Seevölker« zusammen, weil ägyptische Texte sie als »vom Meer«, »vom Ozean« oder als »von den Inseln inmitten des Meeres« kommend bezeichnen. Häufig nahm man an, sie stammten aus dem Ägäisraum(5), Westanatolien(2) und Kilikien(1); archäologische Zeugnisse (Waffen und Keramik) sprechen aber für die Herkunft großer Gruppen aus Italien(6); unter den Angreifern befanden sich auch die Sherdana.(4)46
Nun waren allerdings Piraterie und das Kriegertum der Sherdana(5) ein dem ostmediterranen Raum bekanntes Phänomen. Vielleicht waren die von Pylos(4) ergriffenen Abwehrmaßnahmen Routine, während die Kleinkönige weiter im Osten erst kurz vor den Angriffen von befreundeten Regenten aufgefordert wurden, ihre Städte zur Seeseite mit Mauern zu umgeben.47 Außer dass sich die Zahl der westlichen Krieger- und Piratenverbände sprunghaft erhöhte, müssen zumindest im Falle von Mykene(6) kurz vor den Angriffen langfristig angelegte Schwächen zum Ausbruch gekommen sein oder sich ungünstige Konstellationen so geballt haben, dass die Angreifer erst jetzt erfolgreich waren.