Abhandlungen über die Psalmen, Band 2 - Hilarius von Poitiers - E-Book

Abhandlungen über die Psalmen, Band 2 E-Book

Hilarius von Poitiers

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Beschreibung

Hilarius' "Abhandlung über die Psalmen" ist ein mindestens ebenso großes Werk wie die "Bücher über die Dreieinigkeit", aus dem wir sogar noch mehr über den Autor erfahren können. Die "Bücher über die Dreieinigkeit" sind ein Appell an alle Christen der Zeit, geschrieben für künftige Generationen ebenso wie für sie selbst; so charakteristisch es in vielerlei Hinsicht für den Autor ist, so sehr verbergen der Umfang des Werkes und seine ausgeprägte Rhetorik seine Persönlichkeit. Aber die "Abhandlung über die Psalmen", die uns fast in der Form von Notizen eines Stenographen erreicht zu haben scheinen, so kunstlos und redselig ist ihr Stil, zeigen uns Hilarius von einer anderen Seite. Er belehrt seine vertraute Gemeinde, und er kennt seine Schäfchen so gut, dass er alles ausschüttet, was ihm durch den Kopf geht. In der Tat scheint er oft laut über Themen nachzudenken, die ihn interessieren, anstatt sich an die Bedürfnisse seiner Zuhörer zu wenden. Die praktische Ermahnung findet tatsächlich einen viel kleineren Raum als die mystische Exegese und die spekulative Christologie. Doch werden abstruse Fragen niemals durch eine stilistische Entfaltung noch undurchsichtiger gemacht. Die Sprache ist frei und fließend, immer die eines gebildeten Mannes, der durch Übung Leichtigkeit erlangt hat. Und hier verrät er, so seltsam es einem Leser der anderen Werke auch erscheinen mag, eine Vorliebe für poetische Worte, was zeigt, dass er an anderer Stelle bewusst auf solche Verzierungen verzichtet hat. Doch auch hier schwelgt er nicht in eindeutigen Reminiszenzen an die Dichter. Dies ist Band zwei von zwei.

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Abhandlungen über die Psalmen

 

Band 2

 

HILARIUS VON POITIERS

 

DIE SCHRIFTEN DER KIRCHENVÄTER

 

 

 

 

 

 

Abhandlungen über die Psalmen 2, Hilarius von Poitiers

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849660581

 

Cover Design: Basierend auf einem Werk von Andreas F. Borchert, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=35892522

 

Der Text dieses Werkes wurde der "Bibliothek der Kirchenväter" entnommen, einem Projekt der Universität Fribourg/CH, die diese gemeinfreien Texte der Allgemeinheit zur Verfügung stellt. Die Bibliothek ist zu finden unter http://www.unifr.ch/bkv/index.htm.

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT:

Der hundertachtzehnte Psalm. 2

א Aleph. 6

ב Beth. 15

ג Gimmel. 22

ד Daleth.32

ה He. 39

ו Vau. 49

ז Zain. 55

ח Heth. 59

ט Theth. 69

י Jod. 74

כ Caph. 84

ל Lamed. 90

מ Mem. 99

נ Nun. 106

ס Samech. 118

ע Ain. 125

פ Phe. 134

צ Zade. 142

ק Koph. 148

ר Resch. 155

שׂ Sin. 160

ת Tau. 164

Der hundertneunzehnte Psalm. 168

Der hundertzwanzigste Psalm. 181

Der hunderteinundzwanzigste Psalm. 189

Der hundertzweiundzwanzigste Psalm. 197

Der hundertdreiundzwanzigste Psalm. 205

Der hundertvierundzwanzigste Psalm. 211

Der hundertfünfundzwanzigste Psalm. 218

Der hundertsechsundzwanzigste Psalm. 225

Der hundertsiebenundzwanzigste Psalm. 236

Der hundertachtundzwanzigste Psalm. 244

Der hundertneunundzwanzigste Psalm. 252

Der hundertdreißigste Psalm. 259

Der hunderteinundreißigste Psalm. 262

Der hunderzweiundreißigste Psalm. 281

Der hundertdreiundreißigste Psalm. 286

Der hundertvierundreißigste Psalm. 289

Der hundertfünfunddreißigste Psalm. 306

Der hundertsechsunddreißigste Psalm. 315

Der hundertsiebenunddreißigste Psalm. 324

Abhandlung über den Psalm. 324

Der hundertachtunddreißigste Psalm. 333

Der hundertneununddreißigste Psalm. 361

Der hundertvierzigste Psalm. 372

Der hunderteinundvierzigste Psalm. 383

Der hundertzweiundvierzigste Psalm. 388

Der hundertdreiundvierzigste Psalm. 396

Der hundertvierundvierzigste Psalm. 410

Der hundertfünfundvierzigste Psalm. 423

Der hundertsechsundvierzigste Psalm. 428

Der hundertsiebenundvierzigste Psalm. 437

Der hundertachtundvierzigste Psalm. 442

Der hundertneunundvierzigste Psalm. 448

Der hundertfünfzigste Psalm. 453

Fußnoten. 455

 

 

Abhandlungen über die Psalmen 2

 

Bibliographische Angaben:

 

Titel Version: Abhandlungen über die Psalmen. (BKV) Sprache: deutsch Bibliographie: Abhandlungen über die Psalmen. In: Sämmtliche Schriften des heiligen Hilarius. (Sämmtliche Werke der Kirchen-Väter 10 bis 13), Kempten 1833. Unter der Mitarbeit von: Uwe Holtmann.

 

 

 

Der hundertachtzehnte Psalm.

 

Vorrede.

 

Vorrede zu ps. 118. 1.

Diejenigen, welche zum Unterrichte in der vernünftigen und vollkommenen Weisheit vorbereitet werden, müssen sogleich von dem Alphabete der Buchstaben an unterwiesen werden, damit sie die vollkommene und wahre Ansicht gleichsam von dem Beginne der ersten Unterweisung an erlangen.  Weil dieses der heilige Apostel Paulus wußte, daß nämlich nur jene Weisheit die wahre, und die einer nützlichen Lehre sey, welche von dem frühesten Alter und schon von dem Beginne der Kindheit anfängt, so schrieb er unter den großen und erhabenen Lehren des Glaubens und des Eifers im zweiten Briefe an den Timotheus folgendes:627 „Du aber bleibe bei dem, was du gelernt und geglaubt hast; denn du weißt ja, von wem du es gelernt hast. Auch kennst du von Kindheit an die heiligen Schriften, welche dich unterweisen können zur Seligkeit.“ Dieses sey des gegenwärtigen Psalmes wegen gesagt, in welchem, weil in ihm die Erkenntniß der Wahrheit zur Unterweisung der menschlichen Unwissenheit kund gethan werden sollte, der Gang der Lehre eben nach dem Anfange mit den Buchstaben des Alphabetes eingerichtet ist. Denn nach den Buchstaben der Hebräer fangen jedesmal acht Verse nach einander mit demselben Buchstaben an. Die ganze Zahl der Verse aber besteht aus hundert sechs und siebenzig Versen. Denn da die ganze hebräische Sprache aus zwei und zwanzig Buchstaben besteht, und auf jedesmal acht Verse ein Buchstabe trifft; so gibt es, wenn man die jedesmaligen acht Verse mit der Zahl der Buchstaben multiplizirt, diese Verse-Zahl. Die Ursache also, warum dieser ganze Psalm die Ordnung der Buchstaben durchläuft, glaube ich, sey diese, daß, wie die Kleinen und die Unwissenden, welche die erste Anleitung zum Lesen erhalten sollen, zuerst diese Buchstaben des Alphabetes, aus welchen die Worte zusammengefügt sind, kennen lernen müssen, so auch die menschliche Unwissenheit zur Sittlichkeit, zur Zucht, zur Erkenntniß Gottes durch diese jedesmalige Achtzahl eines jeden Buchstabens, wie gleichsam durch die Anfangsgründe der Kinderlehre, unterrichtet werden möchte.

 

2.

Denn schwer und ungemein schwierig ist es für den Menschen, durch sich selbst, oder durch weltliche Lehrer den Sinn der himmlischen Vorschriften zu erfassen; und unsere schwache Natur ist für den Unterricht in den göttlichen Lehren nur durch die Gnade dessen, welcher dieselben gegeben hat, fähig. Denn die, welche das, was ihnen gerade in die Hände kommt, nur oberflächlich lesen, glauben, es liege in den Worten, in den Namen und in den Sachen kein Unterschied. Wenn es aber schon die Sprache bei ihrem gewöhnlichen Gebrauche nicht zuläßt, daß wir annehmen, durch verschiedene Benennungen der Dinge sey nicht Verschiedenes bezeichnet, dürfen wir dann glauben, diejenigen, welche Gottes Aussprüche vortrugen, seyen so unwissend und so verworren gewesen, daß sie entweder an Worten Mangel hatten, um sich ihrer zu bedienen, oder daß sie die Unterscheidungs-Arten nicht kannten?

 

3.

Denn Mehrere glauben, wenn sie die Worte Gesetz, Satzung, Gebote, Zeugnisse, Gerichte hören, welche Moses alle in dem verschiedenen Sinne einer jeden Art gebraucht hat, diese seyen Eines und dasselbe; indem sie nicht wissen, daß etwas anders das Gesetz, etwas Anders die Satzung, etwas Anders das Gebot, etwas Anders das Zeugniß, etwas Anders das Gericht sey; daß aber diese Ausdrücke in ihren Bedeutungen weit von einander sich unterscheiden und abweichen, bezeugt uns der achtzehnte Psalm, in welchem die eigentliche Bedeutung einer jeden Benennung und Art enthalten ist.628 „Denn das Gesetz des Herrn ist unbefleckt, und bekehret die Seelen. Das Zeugniß des Herrn ist getreu, und unterweiset die Kleinen. Die Gerechtigkeit des Herrn ist gerade, und erfreuet die Herzen. Das  Gebot des Herrn ist lichtvoll, und erleuchtet die Augen. Die Furcht des Herrn ist heilig, und dauert in Ewigkeit. Die Gerichte des Herrn sind wahrhaft, gerechtfertigt in sich selber.“ Es gibt also Unterschiede in allen Dingen; und ein weiser und verständiger Mann muß in dem, was geschrieben steht, unterscheiden, wo das Gesetz, wo das Gebot, wo das Zeugniß, wo die Satzungen, und wo die Gerichte bezeichnet sind, damit nicht jene Dinge, welche die prophetische Rede mit bewunderungswürdiger Andeutung der Eigenthümlichkeit einer jeden Sache unterschieden hat, die Schwäche unserer Unwissenheit durch Mangel an Belehrung und Kenntniß verwirre. Darum hat dieser größte und die übrigen an Reichhaltigkeit weit übertreffende Psalm dieses alles nach den einzelnen Buchstaben unterschieden; auf daß durch diese Grundbestandtheile der Wörter der Sinn und die Unterscheidung der Lehre, wie man glauben und leben und zur Erkenntniß des Herrn angeleitet werden soll, angegeben werden möchte.

 

4.

Mehrere aber sind der Meinung, daß die Einfalt des Glaubens zur vollkommenen Hoffnung der Ewigkeit genügen könne; als wenn das, was nach dem Urtheile der Welt Unschuld ist, der Unterweisung in der himmlischen Lehre nicht bedürfte. Weil sich aber die Sache anders verhält, darum wurde jetzt die Kenntniß unschuldig in Gott zu leben, und in der Unschuld der Religion gemäß zu verharren mit großer Fülle prophetischer Erörterung auseinander gesetzt, weil es schwer ist, daß Jemand durch sich selbst, das ist, durch weltlichen Unterricht diese Kenntniß der religiösen Unschuld und den wahren Wandel eines frommen und unschuldigen Lebens erreiche. Auch der Apostel wußte, daß die menschliche Natur an sich zu schwach sey, um diese Kenntniß der Lebensweise zu erlangen. Denn da er629 von den Gaben  der Gnadengeschenke und Geschenke Gottes sprach, fügte er nachdem er das Wort der Weisheit vorangestellt hatte, sogleich das Wort der Erkenntniß bei; denn dieses von Gott verliehene Geschenk der Bekenntniß folgt auf das der Weisheit; weil der Gebrauch der Weisheit durch den Gebrauch der Erkenntniß vollkommen wird.

 

6.

Es stoßt uns aber im gegenwärtigen Psalme auch noch diese Schwierigkeit auf, daß, da wir nur zwei Psalme nach den hebräischen Buchstaben verfaßt erhalten haben, nämlich den hundert zehnten und eilften, so daß von dem ersten bis zu dem zwei und zwanzigsten Buchstaben nach den Hebräern die Anzahl der Verse entspricht, und jeder Vers mit einem nach der Ordnung des Alphabetes treffenden Buchstaben anfängt, jetzt in diesem Psalme jeder Buchstabe des Alphabetes jedesmahl mit acht Versen anfängt. Da aber in dem Psalme alle Vorschriften, wie man leben, glauben und Gott gefallen soll, enthalten sind; so sind alle Anfangsbuchstaben in derjenigen Zahl begriffen, welche vorzugsweise durch ihre vollkommene und religiöse Bedeutung, da alle ihre Theile sich einander gleichmäßig entsprechen, vollkommen ist. Denn erstens sind, wenn man sie in zwei Theile theilt, diese einander gleich; ferner stimmen, wenn sie in vier Theile getheilt wird, auch diese mit einander überein; so daß die Bedeutungen derjenigen Psalmen, welche in dieser Zahl stehen, sie mag nun einfach oder vervielfacht seyn, zeigen, daß die Fülle dieser Zahl heilig und religiös sey. Diese Zahl ist aber auch in dem Gesetze heilig. Denn es ist630 geboten, daß der, welcher geboren wird, am achten Tage das Zeichen der Beschneidung erhalten sollte. Dieses ist auch bei der Beschneidung des Herrn631 beobachtet worden; und nach dieser Anzahl der Tage wurde er, obwohl er der Beschneidung nicht bedürfte, im Tempel geopfert, damit an seinem Leibe das schwache menschliche Fleisch beschnitten würde. Diese Zahl reiniget auch alle Arten Thiere, daß sie zum Opfer würdig befunden werden; denn am achten Tage müssen sie nach dem Gebote632 geopfert werden. In dieser Zahl wurden ferner in den Tagen der Sündfluth633 diejenigen ausgewählt, welche das menschliche Geschlecht fortpflanzen sollten. Die Hauptsache unserer Lehre und Belehrung also ist hier unter dieser vollkommenen Zahl alle Buchstaben des Alphabetes hindurch vollständig zusammengefaßt, unter der Zahl, vor welcher weder ein Opferthier für Gott rein war, noch auch Jemand, weil die Beschneidung noch nicht eintrat, in die Geschlechtsfamilie aufgenommen wurde, und von welcher die abermalige Fortpflanzung der Menschen ihren Anfang nahm. Der erste Buchstabe enthält nun folgende Verse.

 

 

 

 

א Aleph.

 

Text

Erster Buchstabe א Aleph.

„Selig sind die Unbefleckten auf dem Wege, die da wandeln in dem Gesetze des Herrn. Selig sind die, welche in seinen Zeugnissen forschen, von ganzem Herzen ihn suchen. Denn nicht die, welche Unrecht thun, sind auf seinen Wegen gewandelt. Du hast befohlen, daß deine Gebote streng beobachtet werden sollen. O möchten meine Wege zur Beobachtung deiner Satzungen gelenkt werden! Dann werde ich nicht beschämt werden, wenn ich schaue auf alle deine Gebote. Ich werde dir danken in der Aufrichtigkeit meines Herzens dafür, daß ich gelernt habe deine Gerechtigkeit. Deine Satzungen will ich beobachten; verlaß mich nicht ganz und gar.“

 

1.

„Selig sind die Unbefleckten auf dem Wege, die da wandeln in dem Gesetze des Herrn. Selig sind die, welche in seinen Zeugnissen forschen, von ganzem Herzen ihn suchen.“ Man darf die Ordnung des Gesagten nicht unbeachtet lassen; denn erkennen wir diese nicht genau, so begreifen wir auch den Gang der angeführten Seligkeit nicht. Denn es heißt nicht zuerst: „Selig sind die, welche in den Zeugnissen Gottes forschen;“ sondern es heißt zuerst: „Selig sind die Unbefleckten auf dem Wege.“ Denn das Erste ist, daß man seinen Wandel bestärke, ihn nach der allgemeinen Tugend und Rechtschaffenheit durch das Streben nach Unschuld einrichte, und den Weg der Wahrheit betrete; dann folgt, daß man in Gottes Zeugnissen forsche, sein Herz reinige und läutere, und so zur Ergründung derselben erscheine. Und dieser Ordnung gedenket auch ein anderer Prophet, indem er spricht:634 „Säet euch selbst in Gerechtigkeit, und ärntet euch in der Frucht des Lebens und erleuchtet euch mit dem Lichte der Erkenntniß.“ Nicht das Erleuchten, sondern unser Säen ist zuerst geboten; so daß wir, wenn wir zuvor uns selbst, das ist, unsern Lebenswandel zur Hoffnung auf die Früchte gesäet, und dann, was gesäet worden ist, eingeärndet haben, alsdann uns mit dem Lichte der Erkenntniß erleuchten. Es muß also diese Ordnung beobachtet werden, nämlich die des Säens, des Aerntens und des Erleuchtens. Denn Mehrere von uns beeilen sich, sich eher zu erleuchten, als zu säen und zu ärnten; da doch die Saat und Aernte gleichsam eine Vorbereitung zur Erhaltung des Lichtes ist.

 

2.

Die erste Seligkeit also ist diese, daß diejenigen selig sind, welche unbefleckt sind auf dem Wege; aber nicht auf  einem zufälligen, unbestimmten und irre führenden Wege, sondern auf dem Wege, auf dem man nach dem Gesetze des Herrn wandelt. Denn Mehrere sind der Meinung, sie hatten einen nützlichen und nothwendigen Weg eingeschlagen; allein sie werden nicht unbefleckt seyn auf dem Wege, weil sie nicht in dem Gesetze des Herrn wandeln. Man muß aber diesen Weg nicht nur betreten, sondern auch auf ihm fortgehen. Denn noch Niemand hat, so lange er auf dem Wege war, dasjenige erreicht, wozu er durch den Weg zu gelangen suchte, wie der heilige Paulus sagt:635 „Nicht, als hätte ich es schon erfaßt, oder als wäre ich schon vollkommen; ich strebe aber darnach, ob ich es ergreifen möge, wozu ich selbst von Christus ergriffen bin.“ Also wandelte er noch fort; allein er wandelte fort, indem er das, was hinter ihm lag, vergaß, und nach dem, was vor ihm lag, zu gelangen strebte. Wer also auf diesem Wege wandelt, der ist selig, der nämlich, welcher mit Vergessung der Vergangenheit nach der Erfüllung der Hoffnung strebt, welche er von der Zukunft hegt. Und welches der Weg sey, auf dem jeder Wanderer selig ist, lehrt der Herr mit den Worten:636 „Ich bin der Weg.“ Wer also sich fest an seine Gebote hält, der ist selig; indem er die sündhaften Neigungen des Fleisches bezähmt, indem er die Ausschweifung des Geistes in Schranken hält, indem er den Hunger der Habsucht überwindet, indem er den Ruhm zeitlicher Ehren vermeidet. Wer also bei diesen Geboten beharrt, der ist unbefleckt auf dem Wege, und wandelt in dem Gesetze des Herrn.

 

3.

Der Beisatz aber, in welchem es heißt: „In dem Gesetze des Herrn, ist nicht überflüssig; denn es gibt auch ein Gesetz der Sünde, von welchem der heilige Apostel sagt:637  „Ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, welches dem Gesetze meines Geistes entgegenkämpft, und mich unter dem Gesetze der Sünde gefangen hält.“ Weil es also auch ein Gesetz der Sünde gibt, deßwegen ist das Gesetz des Herrn genannt worden. Denn gäbe es nicht auch ein äußeres Gesetz, so hätte der Prophet nicht zur nähern Bestimmung das Gesetz des Herrn als Beisatz hinzugefügt.

 

 

4.

Der folgende Vers des ersten Buchstabens dann lautet: „Selig sind die, welche in seinen Zeugnissen forschen, und von ganzem Herzen ihn suchen.“ Im ersten Verse heißt es: „die da wandeln in dem Gesetze des Herrn;“ im zweiten: „welche in seinen Zeugnissen forschen;“ im vierten denn der dritte ist nur eine Ergänzung des zweiten,) sagt er, indem er von den Geboten spricht: „Du hast befohlen, daß deine Gebote streng beobachtet werden sollen;“ im fünften von der Satzung: „O möchten meine Wege zur Beobachtung deiner Satzungen gelenkt werden!“ im sechsten wieder von den Wirkungen der Gebote: „Dann werde ich nicht beschämt werden, wenn ich schaue auf alle deine Gebote;“ im siebenten von den Gerichten: „Ich werde dir danken: o Herr, in der Aufrichtigkeit des Herzens dafür, daß ich gelernt habe deine Gerichte;“ im achten von der Satzung: „Deine Satzungen will ich beobachten; verlaß mich nicht ganz und gar.“ Wenn also etwas anderes das Gesetz, etwas anderes das Gebot, etwas anderes das Gericht, etwas anderes die Satzung und etwas anderes das Zeugniß ist, so müssen wir nothwendig den, welcher dieses alles festgesetzt und aufgestellt hat, um die Gnade und das Geschenk der Erkenntniß bitten. Dieses Ganze wird aber überhaupt Gesetz genannt. Allein es ist unter diesen Dingen etwas Besonderes, welchem die Benennung des Gesetzes eigenthümlich beigelegt ist.

 

5.

Was ist also das Gesetz? Es ist,638 wie der Apostel sagt, der Schatten des Zukünftigen, was von den übrigen Dingen nirgends geschrieben steht, daß nämlich entweder die Satzung, oder die Zeugnisse, oder die Gebote ein solcher Schatten wären; sondern es ist dieses nur dem Gesetze eigenthümlich, wie der Apostel in sehr vielen Stellen lehrt, daß das Gesetz nicht nach dem Sinne des Buchstabens betrachtet, sondern daß nach dem Geiste der Lehre der Schatten des Zukünftigen in ihm erkannt werden müsse. Denn er sagt:639 „Du sollst dem Ochsen, wenn er drischt, das Maul nicht verkörben. Und fügt bei: Sorget Gott für die Ochsen“? „Oder ist dieses nicht unsertwegen gesagt und geschrieben?“ Und wiederum:640 „Habt ihr, die ihr das Gesetz gelesen, nicht gehört, daß Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Magd, und einen von der Freien? Aber der von der Magd war nach dem Fleische geboren, und der von der Freien vermöge der Verheißung.“ Und weil das Gesetz der Schatten des Zukünftigen ist, fügte er hinzu:641 „Dieses hat einen bildlichen Sinn; denn diese (zwei Weiber) bedeuten die zwei Testamente.“ Alles also, was den Schatten der geistigen Lehren in sich faßt, muß man Gesetz nennen, weil das Gesetz geistig und der Schatten des Zukünftigen ist.

 

6.

Das Gebot des Herrn aber ist das, worin die Beobachtung und Bewahrung der Vorschriften enthalten ist; wie z. B.642 „Du sollst nicht tödten, du sollst nicht ehebrechen,“ und andere dergleichen. Und weil diese einfach und einleuchtend sind, und uns durch ihre Beobachtung zum wahren Lichte führen, deßwegen sieht geschrieben:643 „Das Gebot  des Herrn ist lichtvoll, und erleuchtet die Augen.“ Von dem Gesetze aber hätte man dieses nicht sagen dürfen, da es durch den Schatten des Zukünftigen heilig ist, und die Seelen durch die Kenntniß des Zukünftigen bekehrt; das Gebot hingegen erleuchtet durch seine Beobachtung.

 

7.

Weil also diejenigen selig sind, welche in den Zeugnissen Gottes forschen, und weil etwas anderes das Gesetz, etwas anderes das Gebot, etwas anderes das Zeugniß u. s. w. ist, so muß man kennen lernen, was dieses für Zeugnisse Gottes seyen. Denn das Buch des ganzen Gesetzes wurde unter Zeugnissen gegeben. Moses nämlich rief, als er das Buch des Bundes geben wollte, den Himmel und die Erde zum Zeugnisse an. Auch sind sehr viele Dinge zu Zeugnissen bestimmt worden, indem Jakob sagte:644 „Zum "Zeugnisse diene euch dieser Hügel, und Zeugniß sey dieser Stein.“ Und bei Josua sieht geschrieben:645 „Nehmet zwölf Steine, damit sie zum Zeugnisse dienen euern Kindern.“ Auch der Herr sagt nach der Heilung des Aussätzigen:646 „Opfere deine Gabe, wie es Moses verordnet hat, damit sie ein Zeugniß haben.“ Der Apostel beschwört den Timotheus unter mehrerem andern in seinem Briefe an diesen vor Zeugen mit den Worten:647 „Ich beschwöre dich vor vielen Zeugen, und vor Gott, welcher Alles lebendig macht, und vor Jesu Christo und den auserwählten Engeln, daß du dieses beobachtest.“ Es gibt also mehrere und unzählige Zeugnisse Gottes; und wollte Jemand in diesen vermittelst der Erkenntniß des Gesetzes, der Propheten, der Evangelien und der Apostel forschen, so würde er in der Seligkeit verharren, und er würde wissen, daß er nicht gleichsam auf einer leeren und öden Erde lebe, sondern daß  er bei einer jeden Sünde einen Zeugen habe. Denn voll ist Alles von den göttlichen Zeugnissen; und dieser ganze Raum, den man für leer hält, ist angefüllt mit Engeln Gottes, und es gibt nichts, was nicht diese Schaar der göttlichen Diener bewohnte.

 

8.

Wer also durch die Lehre Kenntniß hievon erlangt hat, der weiß, daß er vor Zeugen lebe. Und obschon die schwache menschliche Natur zu Fehlern geneigt ist, so scheuet sie sich doch wenigstens, vor einem Zeugen zu sündigen, wovon uns der allgemeine Gebrauch und die Gewohnheit überzeugt. Denn wer fürchtet sich nicht, vor einem Zeugen zu stehlen? Wer wählt zu einem Verbrechen einen andern, als einen geheimen Ort? Wer wünscht zu einem Ehebruche nicht entweder einen einsamen Ort, oder die Nacht? Und sollte auch einmal, wenn die Leidenschaften schon aufstammen, der Geist zum Vergehen bereit seyn, so wird doch die ungestüme Heftigkeit des rasenden Willens durch das Entgegentreten eines Zeugen im Zaume gehalten, und eine plötzliche Dazwischenkunft hat schon manchmal die unordentliche, ausschweifende menschliche Natur wieder zur Besinnung zurückgeführt. Wenn also die Furcht vor einer Dazwischenkunft das schon im Herzen beschlossene Verbrechen verzögert; was wird dann erst ein Christ thun müssen, welcher weiß, daß er von allen Seiten von so vielen geistigen Kräften, welche, ich sage nicht, von seinen Werken, sondern sogar auch nur von seiner Gesinnung Zeugniß geben, umringt ist? fürchten wir nicht, wann uns die Antriebe unserer Schwachheit zu dem Entschlusse, einer unreinen Neigung zu gehorchen, verleiten wollen, die Chöre der Engel, welche uns auf allen Seiten umgeben, und die Welt, welche voll von himmlischen Dienern ist? Denn wenn die Engel der Kleinen täglich unsern Vater sehen, welcher im Himmel ist; so haben wir auch die Zeugnisse derjenigen zu fürchten, von welchen wir wissen,  daß sie sowohl um uns sind, als auch täglich vor Gott stehen. Ja auch selbst vor jenem Teufel, von welchem eben Antriebe zu unsern Sünden ausgehen, und alle seine Zeugen müssen wir fürchten, der jeden Augenblick diese ganze weite Welt durchwandelt; dem es angenehm ist, wenn wir sündigen, damit er sich mit dem Zeugnisse unserer Sünden rühmen kann. Denn dieses ist die ihm eigenthümliche Arglist, daß er zur Sünde anreizt, und die Sünder anklagt. Denn es heißt:648 „Oder weißt du nicht, daß der Teufel zugegen ist, der Ankläger euerer Brüder?“

 

9.

Und weil auch Mächte, welche uns Feind sind, mit den übrigen auf ihrem Zeugnisse beharren, so war es angemessen, daß der Prophet nur an die Heiligen erinnerte, da er sagte: „Selig sind die, welche in seinen Zeugnissen forschen,“ das heißt, nicht in fremden, sondern in jenen, welche Zeugnisse Gottes sind. Es darf aber das Forschen in den Zeugnissen Gottes nicht nachlässig seyn; darum heißt es: „welche von ganzem Herzen ihn suchen.“ Nicht theilweise darf man sich auf die himmlische Lehre verlegen, sondern von ganzem Herzen muß man Gottes Zeugnisse suchen; damit, weil es auch andere gibt, die nicht von Gott sind, wir diejenigen, welche, wie wir wissen, von Gott sind, ohne das Herz auf andere Nebensachen zu richten, erforschen mögen.

 

10.

Hierauf folgt dieser Vers: „Denn nicht die, welche Unrecht thun, sind auf seinen Wegen gewandelt.“ Im ersten Verse wird der Weg nur in der Einheit erwähnt, in diesem dritten sind mehrere Wege. Hieraus kann man erkennen, daß man auf vielen Wegen zu dem Einen gelange:  und wer auf diesem unbefleckt ist, der ist selig. Was aber die sehr vielen Wege, und den Einen betrifft, darüber hat Jeremias Gleiches bezeugt, mit den Worten:649 „Stehet auf den Wegen still, und erkundiget euch um die ewigen Wege des Herrn; und fraget, welches der gute Weg sey.“ Auf mehrern Wegen also muß man stehen, und um mehrere sich erkundigen; und diese mehrern sind sowohl Wege des Herrn, als auch ewig; und auf diesen muß man sehen, welches der beßte Weg sey. Es gibt mehrere Wege, mehrere Gebote Gottes, mehrere Propheten, durch welche alle man zu dem Einen Wege gelangt; aber die, welche Unrecht thun, wandelten nicht darauf. Denn wären sie bei dem Gesetze geblieben, so würden sie bis zu jenem beßten Wege des neuen Testamentes gelangt seyn. Es gibt einen Weg durch Moses, es gibt einen durch Jesum, es gibt einen durch David, es gibt einen durch Isaias, es gibt einen durch Jeremias, es gibt einen durch die Apostel; und auf diesen allen muß man zu dem gelangen, welcher gesagt hat:650 „Ich bin der Weg;“ und: „Niemand kommt zum Vater, ausser durch mich.“ Etwas Aehnliches, muß man annehmen, sey unter dem Worte der Perle gesagt. Denn der Kaufmann muß viele Perlen kaufen, damit er Eine Perle von großem Werthe erhalte. Da von den Perlen die Rede ist, genügt es zu ihrer Ehre, daß sie Perlen genannt wurden; von jener Einen Perle aber, welche gefunden wurde, heißt es, daß sie großen Werth habe; so heißt es auch, wo der Prophet von mehrern Wegen redet, daß sie sowohl Wege des Herrn, als auch ewig seyen; da aber unter diesen Wegen gesucht wird, welches der nützlichste Weg sey, wird der, welcher gefunden worden, als der beßte gepriesen. Obgleich also sowohl jene Wege ewig, als die Perlen schon durch ihren Namen selbst achtungswürdig sind, so muß man doch auf vielen Wegen stehen, damit man den guten  Weg finde, und alle Perlen verkaufen, damit man die von welcher gefunden wurde, daß sie großen Werth habe, ankaufe.

 

11.

Nun folgt dieser Vers: „Du hast befohlen, daß deine Gebote streng beobachtet werden sollen.“ Oben haben wir erwähnt, daß etwas anders durch die Gebote, etwas anders durch das Gesetz bezeichnet werde. Und was das Gesetz betrifft, war uns, wie ich glaube, der Apostel Zeuge, daß es der Schatten des Zukünftigen sey, da in ihm der Umriß der Wahrheit wie ein Körper im Schatten bezeichnet wird. Das Gebot aber ist das, was durch Beobachtung erfüllt werden soll; wie jenes: „Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht tödten.“ Denn in ihm ist nicht der Umriß des künftigen Bildes enthalten, sondern es umfaßt das gegenwärtige Wirken der Thätigkeit. „Du hast befohlen, daß deine Gebote streng beobachtet werden sollen.“ Wir dürfen also nichts mit unachtsamem Geiste und sorglosem Herzen thun, sondern müssen mit Sorgfalt und Bekümmerniß genau die Gebote Gottes erfüllen; auf daß wir das, was wir thun, zur Förderung unseres Glaubens, mit Ehrerbietung gegen den, für welchen wir handeln, vollbringen. Thun wir übrigens etwas mit schlaffem Willen und einem auf andere Dinge gerichteten Sinne; so wird zwar bei dem Handeln der Dienst des Körpers in Anspruch genommen werden, das Verdienst der eifrigen Ergebung aber werden wir durch die Nachlässigkeit nicht erlangen.

 

12.

„O möchten meine Wege zur Beobachtung deiner Satzungen gelenkt werden!“ Wir haben nun nach der Haltung der Gebote auch die Beobachtung der Satzungen. Was wir nun unter den Geboten verstehen sollten, haben wir schon oben gezeigt. Satzungen aber gibt es mehrere und verschiedene, nach welchen man sich in der Beobachtung einer jeden Gattung der Pflichten zu richten hat; und werden wir nicht von Gott geleitet, so werden wir durch unsere Natur nicht stark genug seyn, sie zu beobachten. Wir müssen also durch seine Gnade unterstützt und geleitet werden, um dem Gange der vorgeschriebenen Satzungen zu folgen. Es ist uns eine Satzung gegeben hinsichtlich des Knechtes, hinsichtlich des Sohnes, hinsichtlich des Vaters, hinsichtlich der Brüder, hinsichtlich der gläubigen Männer, hinsichtlich der Vorsteher der Kirche, hinsichtlich der Engel, hinsichtlich unsers Gottes und Herrn, des eingebornen Wortes Gottes. In allen und jeden Arten und Worten also muß man den Sinn der Satzung beobachten; denn wenn nicht alles dieses mit gleicher Pflichterfüllung und frommer Gesinnung beobachtet wird, so werden wir die Satzung Gottes nicht halten. Wer Ehrfurcht gegen den Vater hat, den Sohn aber haßt, der hat die Richtschnur der Satzung verloren. Wer gegen den Bruder gewissenhaft ist, den Knecht aber haßt, der hat den Pfad der Satzung Gottes verloren. Wer ehrerbietig gegen den Herrn ist, den Priester aber hasset, der hat durch seine Ehrerbietung gegen Gott keineswegs die Satzung beobachtet und erfüllt, weil er gegen die Diener der göttlichen Satzung Haß übt. Aber selbst schon bei der Wahrheit des Glaubens, das heißt, bei der Erkenntniß Gottes des Vaters und des Herrn, durch welche uns vorzüglich die Satzung bewährt wird, was ist uns da für eine Gnade Gottes nothwendig, damit wir richtig denken, damit wir aus den Zeugnissen der Propheten und Evangelien Eines und dasselbe fest halten, daß nicht in dem Einen oder Andern unsere Ansichten und unsere Reden abweichen, sondern damit wir zu allen Satzungen Gottes mit entsprechender und gleicher Beobachtung derselben in den Werken und der Lehre hingelenkt werden.

 

13.

Werden wir dieses erlangen, dann werden wir das, was in dem folgenden Verse enthalten ist, sagen dürfen.  „Dann werde ich nicht beschämt werden, wenn ich schaue auf alle deine Gebote.“ Denn wenn wir nicht auf alle seine Gebote Acht haben, nach denselben nicht wandeln werden; wenn wir die Einen vernachlässigen, die Andern nach Willkühr beobachten werden; so werden wir die Ordnung der Satzung nicht einhalten. Wird aber, indem unsere Wege gerade fortlaufen, die Beobachtung in Allem unveränderlich und sich gleich bleiben; so werden wir, von keiner Vergessenheit oder Nachlässigkeit beschämt mit Zuversicht über die Beobachtung aller Gebote uns freuen.

 

14.

Es folgt hierauf dieser siebente Vers: „Ich werde dir danken in der Aufrichtigkeit des Herzens dafür, daß ich gelernt habe die Gerichte deiner Gerechtigkeit. Deine Satzungen will ich beobachten.“ Man muß also alle Verkehrtheit des Herzens ablegen, und mit aufrichtigem und nirgends anderswohin gewandtem Herzen danken, so daß der Geist nicht zur weltlichen Sorge sich hinwendet, so daß er nicht von jenen Pfaden der Lehre Gottes auf Abwege ausschweift. Allein die Ursache dieses aufrichtigen Dankes ist die, welche im folgenden Verse enthalten ist: „Dafür daß ich gelernt habe die Gerichte deiner Gerechtigkeit.“ Erstens hat er also, seine Wege möchten zur Beobachtung der Satzungen gelenkt werden. Zweitens fügte er bei, daß er in keinem Stücke werde beschämt werden, wenn er auf alle Gebote Gottes schaue. Drittens gelobte er auch, daß er in der Aufrichtigkeit des Herzens Gott danken werde deßwegen, weil er die Gerichte seiner Gerechtigkeit gelernt habe; indem er nämlich wegen der Lehre des aufrichtigen Herzens und der Erkenntniß der Gerechtigkeit Gott preiset. Die Frucht der Erkenntniß der Gerechtigkeit ist aber diese, daß die Satzungen Gottes beobachtet werden, und darum fügte er bei: „Deine Satzungen will ich halten.“ Denn was fruchtet es, die Gerichte Gottes gelernt zu haben, wenn  nicht auf unsere Kenntniß die Beobachtung der Satzungen folgt?

 

15.

Allein wir müssen uns erinnern, daß, ungeachtet die Erkenntniß von Gott verliehen werden muß, wir dennoch immer bitten müssen, daß er zu dem, was wir bei der Beobachtung seiner Satzungen beobachten wollen, seine Gnade gebe; denn wir wissen, daß wir von ihm wegen Versuchungen oft verlassen werden, damit dadurch unser Glaube bewährt werde. Aber dennoch müssen wir ihn, wie der Prophet sagt, anflehen, damit er uns nicht gänzlich verlasse; er sagt nämlich: „Verlaß mich nicht ganz und gar.“ Und dieses ist auch im Texte des Gebetes des Herrn enthalten, indem es heißt:651 „Und verlaß uns nicht in der Versuchung, die wir nicht aushalten können.“ Der Apostel weiß, daß wir verlassen werden zum Behufe der Versuchung; allein er weiß auch, daß Gott das Maß unserer Schwachheit kenne, indem er sagt:652 „Gott ist getreu; er wird uns nicht über unsere Kräfte versuchen lassen.“653 Als Gott gegen den Job eine Versuchung zuließ, nahm er die Macht über dessen Seele von der Gewalt des Teufels aus, und gestattete nur, ihn nach dem Maße der menschlichen Schwachheit zu versuchen. Weil also der Prophet seiner Schwachheit sich bewußt ist, bittet er, er möchte nicht ganz und gar verlassen werden; damit der Herr seine Schwachheit, wie die des Petrus, als er von den Wellen versenkt werden sollte, aufnehme; so daß er, wenn er ihn auch der Versuchung Preis gäbe, ihn doch nicht ganz und gar, das ist, bis zur Gefahr der Seele und des Glaubens verlasse.

 

 

 

 

ב Beth.

 

Text

Der zweite Buchstabe ב Beth.

„Wodurch bessert ein Jüngling seinen Weg? Durch die Beobachtung deiner Worte. Mit meinem ganzen Herzen habe ich dich gesucht; verstoß mich nicht von deinen Geboten. In meinem Herzen bewahrte ich deine Reden, damit ich nicht sündige gegen dich. Gebenedeit seyst du, o Herr! lehre mich deine Satzungen. Mit meinen Lippen werde ich aussprechen, alle Gerichte deines Mundes. An dem Wege deiner Zeugnisse ergötzte ich mich, wie an allen Reichthümern. In deinen Geboten will ich mich üben; und betrachten will ich deine Wege. Ueber deine Satzungen will ich nachdenken.“

 

1.

Im zweiten Buchstaben dir folgenden acht Verse hat sich der Prophet selbst die Frage, auf welche er antworten will, vorgelegt, indem er sagt: „Wodurch bessert ein Jüngling seinen Weg?“ Dieses wird von Seite des Fragestellers gesagt. Hierauf wird nun gleichsam die Aeusserung des Antwortenden beigefügt: „Durch die Beobachtung deiner Worte.“ Man muß aber in das Auge fassen, daß nach der Erörterung, welche wir im Anfange entwickelt haben, die wahren und vollkommenen Unterweisungen zur Furcht Gottes in diesem Alphabete der Buchstaben enthalten seyen, durch welches wir gleichsam zur Ausübung des Bekenntnisses Gottes vermittelst der Anfangsgründe der Kindheit gebildet werden. Demnach muß man annehmen, daß der Prophet nicht ohne Grund gesagt habe: „Wodurch bessert ein Jüngling seinen Weg?“ Es ist zwar zu wünschen, daß ein jedes Alter von diesen sündhaften Neigungen seines  Körpers hinweg zum Streben nach Unschuld geleitet werde; denn selbst auch eine späte Besserung ist nützlich durch das Vergessen der Sünden. Allein der Prophet, welcher einen Gott wohlgefälligen Mann bilden will, wartet mit der Unterweisung durch die Lehre Gottes und die Gebote der Furcht nicht bis nach einer langen und anhaltenden Gewohnheit zu sündigen; sondern er will, daß die im Sündigen noch unerfahrnen Jahre, und das Alter, welches noch keine Vergehen kennt, nicht nur zu dem Streben nach einstiger Unschuld angeleitet, sondern auch schon in der Jugend daran gewöhnt werden sollten. Denn es ist schwer, von der Gewohnheit abzulassen, es ist schwer, von Dingen, mit welchen man vertraut geworden ist, sich loszureißen, die Gewohnheit faßt ein starkes Band in sich; und daher wird derjenige der beßte Verehrer Gottes seyn, welcher nicht bloß die Vergebung der Sünden von dem Verbrechen befreit, sondern schon jene Unbekanntschaft mit den Sünden als unschuldig erwiesen hat.

 

2.

Es kannte der Prophet Jeremias die glücklichen Verhältnisse dieses Alters, denn er sagt:654 „Gut ist es für den jungen Mann, wenn er das schwere Joch von seiner Kindheit an trägt; er wird einsam dasitzen, und schwelgen.“ Er erwartet nicht des Greisenalters frostige Jahre, nicht seine durch das Alter schon starr gewordene Gewohnheit zu sündigen. Er will einen lange kämpfenden Krieger; er will einen solchen Diener Christi, welchen nicht einmal die Erinnerung an frühere Sünden beflecken würde. Denn es haben zwar diejenigen, welche in einem schon vorgerückten Alter geglaubt haben, durch das Geschenk der Gnade die Verzeihung des Vergangenen, aber es verläßt sie der Beschaffenheit des Gewissens zur Folge nicht die Erinnerung  an das Vollbrachte. „Gut,“ sagt er, „ist es für den Jüngling, das schwere Joch zu tragen.“ Ungerne tragen Jahre, welche an das Gehorchen nicht gewöhnt sind, diese Bürde; indessen fühlt das noch zarte Alter, weil seine Kraft im Zunehmen begriffen ist, das Lästige der schweren Bürde nicht. Allein was wird er, nachdem er in der Jugend die Last auf sich genommen hat, thun? „Sitzen,“ sagt er, „wird er da einsam, und schweigen.“ Selten ist der, bei dem die Vollkommenheit der Furcht Gottes mit dem Fortschreiten der Jahre zunimmt; und darum wird er einsam sitzen, indem er die ausschweifenden Gesellschaften der Jugend verläßt, und sich sogar von der Versammlung der erst neulich gläubig gewordenen Alten entfernt; denn es paßt nicht für ihn, zu sagen:655 „Der Sünden meiner Jugend, o Herr, gedenke nicht.“ Er wird auch schweigen, weil er das Stillschweigen als für den Glauben und die Jugend schicklich ansieht; er wird sich nicht in das Getümmel der zeitlichen Geschäfte mischen, sondern aus Bescheidenheit schweigen, sich nur mit der göttlichen Erkenntniß der Geheimnisse beschäftigen, und die Worte Gottes mit stiller Beobachtung der Dinge und der Werke bewahren.

 

3.

Hierauf kehrt der Prophet zu seiner Person zurück, damit man einsehen möge, daß er das, was er oben gesagt hat, in Beziehung von sich auf sich gesagt habe, indem er spricht: „Mit meinem ganzen Herzen habe ich dich gesucht; verstoß mich nicht von deinen Geboten.“ Es scheint sich mit der Güte Gottes nicht zu vertragen, daß er von seinen Geboten Jemanden verstosse; allein die beigefügten Worte und der Sinn der Worte, welcher im vollkommenen Sinn der himmlischen Lehre dargelegt ist, haben nichts Zweifelhaftes, nichts Widersprechendes in sich. Soll man also  glauben, daß der, welcher nach dem Propheten656 lieber die Reue, als den Tod der Sünder will, Jemanden von seinen Geboten verstoße? Fern sey es, dieses zu glauben! Aber auch der Prophet denkt hier nicht so, zumal, da er Gott mit ganzem Herzen gesucht hat.

 

4.

Allein die Lösung der Schwierigkeiten muß man eben in dem suchen, woraus sie zu entstehen scheinen. Denn was der Prophet gedacht habe, läßt sich leicht erkennen. Wir lesen bei Jeremias folgende Stelle:657 „Verflucht sey derjenige, welcher die Werke des Herrn nachlässig vollbringt.“ Wir lesen auch in den Evangelien die Stelle:658 „Denn jedem, der da hat, wird gegeben, daß er Ueberfluß habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das, was er hat, genommen werden.“ Demnach wird der, welcher hat, im Ueberflusse haben; der aber, welcher nicht hat, wird selbst das, was er hat, verlieren. Der Prophet ist nicht dem Loose des Fluches ausgesetzt; denn er vollzog die Werke Gottes nicht nachlässig, da er ihn mit ganzem Herzen suchte. Dann bittet er mit Zuversicht, er möchte nicht von den Geboten Gottes verstoßen werden; weil er ihn mit ganzem Herzen suche. Denn nach den Evangelien wird dem Habenden gegeben, dem aber, welcher nicht hat, auch das, was er hat, genommen werden. Gott wird also nur dem nehmen, welcher nicht hat, so wie er auch nur den Nachlässigen verstossen wird. Er ist aber so voll Güte, daß er den Habenden mit Ueberfluß beschenkt; und er will so wenig, daß Jemand nicht habe, daß er dem, der nicht hat, selbst das, was er hat, nimmt.

 

5.

Er verstoßt also Niemanden, ausser den Widerspenstigen, und er verwirft Niemanden, ausser den Nachlässigen. Denn der Prophet brachte diese Ursache vor, warum er bat, nicht von den Geboten Gottes verstossen zu werden, weil er Gott nicht zum Theile oder nachlässig, sondern mit ganzem Herzen gesucht hätte; und hieraus ersehen wir, daß der von den Geboten verstossen werde, welcher seiner großen Sorglosigkeit wegen nicht würdig ist, daß er zugelassen werde; und das ist nicht eine Folge des Neides dessen, welcher abhält, was aus der Schuld dessen, welcher es nicht verdient, hervorgeht.

 

6.

Der dritte Vers des zweiten Buchstabens ist folgender: „In meinem Herzen bewahrte ich deine Reden, damit ich nicht sündige wider dich.“ Wir wissen, daß etwas diesem Ausspruche Aehnliches gelesen werde, wo es heißt:659 „Das Geheimniß des Königes geheim halten, ist gut.“ Wir wissen, daß auch Paulus, als er an die im Glauben noch kleinen Korinther schrieb, einige Aussprüche Gottes geheim gehalten habe, indem er sagt:660 „Ich gab euch Milch zu trinken, nicht Speise; denn ihr konntet es nicht tragen, und könnet es jetzt noch nicht.“ Wir lesen auch im Evangelium,661 daß, wenn man in einem fruchtbaren und ergiebigen Acker einen Schatz findet, den Acker kauft, und den Schatz daselbst verbirgt. Wir wissen,662 daß man die Perlen nicht den Schweinen vorwerfen, und das Heilige nicht den Hunden geben dürfe. Wir sehen also, daß wir Einiges in dem Innern unseres Herzens bewahren, dessen Bekanntmachung uns die Schuld einer unverzeihlichen Sünde zuzieht. Denn er sagte so: „In meinem Herzen  bewahrte ich deine Reden, damit ich nicht sündigte wider dich;“ denn obwohl die übrigen Sünden nach den verschiedenen Umständen entweder gegen uns selbst, oder gegen andere begangen werden: so werden doch dann eigene gegen Gott begangen, wenn man das, was man in dem geheimen Innern der Herzen bewahren sollte, zur allgemeinen Kenntniß bringt und Jedermann verräth.

 

7.

Es muß aber bei dem nun folgenden vierten Verse die Ordnung der Lehre in das Auge gefaßt werden. Der erste Vers handelte von der Beobachtung der Gebote Gottes von Jugend auf; der folgende davon, daß er mit ganzem Herzen Gott gesucht habe, damit er nicht von den Geboten Gottes verstossen werde; dann folgte, daß er die verborgenen Geheimnisse der Weisheit, und die geheimen Mysterien Gottes im Innern seines Herzens bewahrt habe. In dem vierten bittet er nun darum, daß er ihm seine Satzungen kund thun möchte; und er fleht, nachdem er zuvor das ehrende Lob ausgesprochen hat, mit den Worten: „Gebenedeit seyst du, o Herr! lehre mich deine Satzungen.“ Was die Satzungen betrifft, darüber haben wir in der vorigen Abhandlung Einiges gesprochen, und es ist unnöthig, das Nämliche öfters zu widerholen. Es kostet also eine sehr große und besondere Mühe, diese Kenntniß der Satzungen Gottes zu erlangen, und die schwache menschliche Natur erreicht nicht leicht die Kenntniß so vieler und so großer Dinge; und deßwegen bittet er um Belehrung, weil es das Geschenk der göttlichen Güte ist, die Unwissenheit des menschlichen Geistes zum Behufe der angemessenen und einer jeden Gattung der Pflichten entsprechenden Beobachtung derselben zu unterweisen.

 

8.

Es folgt dann auch eine Erwähnung von den Gerichten Gottes, indem er sagt: „Mit meinen Lippen sprach ich aus alle Gerichte deines Mundes.“ Wie groß ist hier die Verschiedenheit der Gegenstände und der Benennungen! Zuerst werden von Jugend auf die Gebote Gottes bewahrt; dann wird Gott mit ganzem Herzen gesucht; hierauf werden Gottes Reden geheim gehalten, und es wird Belehrung über die Satzungen begehrt; jetzt werden die Gerichte kund gethan. Allein es könnte vielleicht scheinen, der Prophet habe sich selbst vergessen, und sich weder seiner noch der fremden Worte mehr erinnert. Denn in diesem Buche der Psalmen lesen wir:663 „Deine Gerichte sind wie ein tiefer Abgrund.“ Der Apostel Paulus spricht:664 „Unerforschlich sind die Gerichte Gottes;“ und wiederum der Prophet:665 „Denn groß sind deine Gerichte, und unaussprechlich;“ wie sollte nun der Prophet es wagen zu sprechen: „Mit meinen Lippen sprach ich aus alle Gerichte deines Mundes?“ Allein der Prophet sagte hier nichts weder gegen sich, noch gegen einen andern Propheten von gleichem Geiste. Denn er sagt nicht: „Mit meinen Lippen sprach ich aus alle deine Gerichte;“ sondern er sagt: „Alle Gerichte deines Mundes;“ indem er weiß, daß ein Unterschied sey, zwischen den Gerichten Gottes, und den Gerichten des Mundes Gottes. Hat er etwa, als er sprach: „Deine Gerichte sind wie ein tiefer Abgrund;“ gesagt: Die Gerichte deines Mundes sind wie ein tiefer Abgrund? Jetzt aber sagt er: „Die Gerichte deines Mundes sprach ich aus.“ Jene Gerichte also, welche durch die Propheten oder durch die Worte Gottes bekannt seyn konnten, hat auch der Prophet nicht verschwiegen; und diese sind darum kund gethan worden, auf daß sie gelehrt würden.

 

9.

Nach der öffentlichen und standhaften Bekanntmachung der Gerichte des Mundes Gottes aber folgt dieses: „An dem Wege deiner Zeugnisse ergötze ich mich, wie an allen Reichthümern.“ Der Prophet fürchtet sich nicht vor den Zeugen seines Wandels, sondern er findet Freude an ihnen; und es ist ihm angenehm, zu wissen, daß er Zuschauer und Beobachter habe. Denn es erschrickt bei jeder Dazwischenkunft die Furcht des befleckten Gewissens; wo hingegen das Vertrauen auf einen schuldlosen Wandel fest ist, dort ist die Dazwischenkunft mehrerer Zeugen willkommen. Allein der Prophet ergötzt sich nicht an einer gewöhnlichen Freude; denn er ergötzet sich wie an allen Reichthümern;“ und zwar nicht allein an Reichthümern, sondern „an allen Reichthümern.“ Es gibt einen Reichthum an Gold, an Silber, an Geld, an Kleidern, an Häusern, und an deren Weinstöcken, Oelbäumen oder Früchten; aber der Prophet des Herrn ist durch die Frucht der Lehre vollkommen, und an den Schätzen des Gesetzes und der prophetischen Unterweisungen reich, und, obschon in früherer Zeit, dennoch mit den Vorschriften der Evangelien und Apostel nicht unbekannt. Denn auch Paulus kannte diese Reichthümer, welcher zu den Korinthern sagt:666 „Ich danke meinem Gott allezeit eurethalben für die Gnade Gottes, die euch in Christo Jesu gegeben ist; daß ihr durch ihn in Allem reich geworden seyd, in aller Lehre und in aller Erkenntniß.“ Hierin also ist er reich, und an diesem ergötzet sich der Prophet. Uebrigens darf man nicht glauben, daß er an der Erwerbung zeitlicher Güter Freude gehabt habe, da er nur durch die Verachtung des Zeitlichen und die Armuth an demselben in dem Herrn reich seyn konnte.

 

10.

Weil er aber an den Wegen der Zeugnisse Gottes Freude fand, mußte er das auch thun, woran er Freude hatte; und es unterliegt keinem Zweifel, daß er es thue. Denn er sagt im siebenten Verse: „In deinen Geboten will ich mich üben; und betrachten will ich deine Wege.“ Es ist also Uebung und Ausdauer nöthig, damit man den Gebrauch der nöthigen Dinge erhalte; denn die Schlaffheit der menschlichen Herzen ist gefährlich und lästig; und damit nicht die Gewöhnung an Müssiggang sich einschleiche, muß eine anhaltende Uebung angewendet werden. Allein es ist auch hier die Ordnung in der Lehre beobachtet worden. Denn zuerst muß man sich üben in den Geboten Gottes; dann muß man seine Wege betrachten; denn wenn nicht die Ausübung der Werke des Glaubens vorausgeht, so wird man die Kenntniß der Lehre nicht erlangen, und wir müssen zuvor dem Glauben gemäß handeln, damit wir die Kenntniß erhalten. Unter den Wegen also verstehen wir, zufolge der obigen Erklärung, das Gesetz, die Propheten, alle Evangelien und die Apostel; und diese betrachtete der in den Geboten Gottes sich übende Prophet, um sie kennen zu lernen.

 

11.

Er schloß aber die Zahl Acht mit diesem Verse: „Ueber deine Satzungen will ich nachdenken; nicht vergessen will ich deine Reden.“ Der Prophet weicht von der Ordnung der vollkommenen Lehre nicht ab. Er übet sich in den Satzungen Gottes, über welche er um Belehrung bat, so wie er über die Gebote nachdenkt. Denn mit den Geboten hat es diese Bewandtniß, daß sie uns zur Beobachtung und Ausübung der Unschuld anweisen; wie folgendes ist: „Du sollst nicht tödten, du sollst nicht ehebrechen,“ und andere dergleichen. In diesen also übt er sich, (denn auf diesen beruht die Uebung im Wirken) um sich durch die Uebung des  Gegenwärtigen für das Zukünftige zu bestärken. Satzungen aber sind die, nach welchen667 ein hebräischer Knecht, welcher sechs Jahre lang Sclave war, hierauf im siebenten Jahre frei wird; und nach welchen668 man nach einer sechsjährigen Fruchtbringung den Acker unbebaut lassen muß, und die übrigen Dinge, welche hinsichtlich der Beobachtung der Satzungen angeordnet wurden, die in der Vollbringung der gegenwärtigen Obliegenheit einen reichhaltigen Stoff zur Betrachtung für die zukünftige Hoffnung in sich haben. Und er denkt deßwegen über dieselben nach, wie er sich in den Geboten übet, weil durch die Uebung die angenommene Gewohnheit in Anwendung erhalten wird, das Nachdenken aber sich auf das erstreckt, was er noch nicht erhalten hat, damit er durch Nachdenken das, was er verlangt, erreiche, und damit er nicht die Reden und Verheissungen, ohne es zu bemerken, vergesse.

 

 

 

 

ג Gimmel.

 

Text

Der dritte Buchstabe ג Gimmel.

„Vergilt deinem Diener, und ich werde leben; und ich werde beobachten deine Worte. Enthülle meine Augen, und ich werde betrachten die Wunder deines Gesetzes. Ein Fremdling bin ich auf der Erde; verbirg nicht vor mir deine Gebote. Meine Seele verlangt, daß669 ich mich nach  deinen Gerichten sehne zu jeder Zeit. Du schaltest die Stolzen; verflucht sind die, welche abweichen von deinen Geboten. Nimm weg von mir Schmach und Verachtung; weil ich nach deinen Zeugnissen strebe. Denn Fürsten setzen sich nieder und sprechen gegen mich; dein Diener aber übt sich in deinen Satzungen. Denn deine Zeugnisse sind mein Nachdenken, und670 meine Ueberlegungen sind deine Satzungen.“

 

1.

Diejenigen, welche kein festes Bewußtseyn eines reinen Herzens haben, können mit diesen Worten des Propheten nicht bitten: „Vergilt deinem Diener.“ Denn wenn uns auf eine unsern Werken entsprechende Weise vergolten wird, so werden wir Strafen für unsere Sünden und Vergehen erleiden. Und es ist genug, wenn Jemand wenigstens nur diese Zuversicht hat, daß er zu dem Herrn mit Freuden ruft:671 „Er hat uns nicht gethan nach unsern Sünden, uns nicht vergolten nach unsern Missethaten; denn so hoch der Himmel über der Erde ist, so weit entfernte er von uns unsere Sünden, weil er weiß, was wir für Geschöpfe sind.“ Es ist etwas Großes, an sich eine große Barmherzigkeit Gottes wahrzunehmen, und zu wissen, daß die Gewohnheit zu sündigen von sich entfernt sey, und daß man angefangen habe, der Barmherzigkeit Gottes würdig zu seyn. Dieser Prophet aber, in dessen Leib nämlich eine würdige Wohnung Gottes ist, weil er, vom heiligen Geiste erfüllt, nicht Gemeines, nicht Irdisches denkt und redet, hat diese Freiheit zu beten: „Vergilt deinem Diener!“

 

2.

Vielleicht aber ist dieses ein Beweis von ungewöhnlicher Keckheit, ohne ein bescheidenes Bekenntniß die verdiente Vergeltung zu verlangen, und nicht zu bedenken, daß er im Leibe, das ist, in einem nichtigen und widrigen Zustande sich befinde. Allein der Prophet entfernte alle Vermuthung, daß er eitel und prahlerisch sey, von sich; denn nachdem er aus Vertrauen auf seine Unschuld gesagt hatte: „Vergilt,“ fügte er im Pflichtgefühle seiner Unterwürfigkeit und mit dem Geständnisse seines Verhältnisses hinzu: „deinem Diener.“ Somit begehrt er dieses mit Zuversicht, weil er weiß, daß er ein Diener Gottes, und nicht ein Diener der Sünde sey; denn ein Jeder, welcher sündiget, ist ein Diener der Sünde.

 

3.

„Ich werde leben,“ sagt er, „und ich werde beobachten deine Worte.“ „Ich werde leben“ und „ich werde beobachten“ ist nicht Sache der gegenwärtigen Zeit; sondern der Inhalt dieser Worte erstreckt sich auf die Zukunft. Denn der Prophet weiß, wann jenes selige und wahre Leben der Lebenden kommen wird. Jetzt nämlich wohnen wir noch im sterblichen Staube, und sind im sterblichen Leibe, von welchem der Apostel befreit zu werden in seinem Gebete verlangt mit den Worten:672 „Ich elender Mensch! wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?“ Wir haben aber auch jetzt noch eine mit uns verbundene Materie, welche dem Gesetze des Todes und der Sünde unterworfen ist; und in der Wohnung dieses hinfälligen und schwachen Fleisches werden wir durch die Theilnahme an demselben mit der Verweslichkeit behaftet; und wird nicht der Leib zur Natur des Geistes verherrlichet, so kann die Natur des wahren Leibes nicht in uns seyn. Lasset uns den hören, welcher bedenkt, daß er in dem sterblichen Leibe wohne, indem er sagt:673 „Denn unser Leben ist verborgen mit  Christo in Gott. Wenn aber Christus, unser Leben, offenbar wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit.“ Um diese Vergeltung also bittet für sich der Prophet, damit er lebe; indem er die Zeit dieses zukünftigen Lebens in einer andern Stelle zu erkennen gibt, wo er sagt:674 „Ich will gefallen dem Herrn in dem Lande der Lebendigen.“ Er weiß, daß die Wohnung in dieser Welt nicht das Land der Lebendigen sey. Er weiß, daß wir noch nach dem Vorbilde des Gesetzes gereiniget werden müssen; denn jetzt sind wir noch mit Aas verbunden; wer aber675 nach dem Gesetze ein Aas berührt, der ist unrein.

 

4.

Aber ferne sey dieses, daß etwas hievon in dem Gesetze körperlich verstanden werde, wie wenn durch die Berührung eines Todten Jemand unrein würde. Moses selbst, der Gesetzgeber, hat bei seinem Auszuge aus Aegypten die Gebeine Josephs mitgenommen; Elisäus hat sich auf einen Todten gelegt, um ihn lebendig zu machen; der Herr selbst hat die Todten mit der Hand berührt, und in das Leben zurückgebracht. Würde nun die Berührung eines Todten Jemanden unrein gemacht haben, so würde gewiß von so großen Männern, und von dem Herrn das Gesetz nicht entheiliget worden seyn, indem dieser selbst sagt:676 „Ich bin nicht gekommen, um das Gesetz aufzuheben, sondern um es zu erfüllen.“ Allein weil das Gesetz der Schatten der zukünftigen Güter ist, darum gab er durch diese vorbildliche Bezeichnung zu erkennen, daß wir in dieser Wohnung des irdischen und sterblichen Leibes nicht rein seyn können, wenn wir nicht durch Abwaschung vermittelst der himmlischen Barmherzigkeit die Reinigung erlangen, indem nach der Umwandlung durch die Auferstehung die Natur unsers irdischen Leibes herrlicher gemacht wird.

 

5.

Sollte aber etwa Jemand glauben, daß ihm durch das Sakrament der Taufe jene vollkommene Unschuld, und jene des himmlischen Lebens würdige Reinheit wieder gegeben worden sey, so bedenke er, daß Johannes der Täufer gesagt habe:677 „Ich taufe euch nur mit Wasser zur Buße; der aber, welcher nach mir kommen wird, der ist mächtiger, als ich; der wird euch mit dem heiligen Geiste und mit Feuer taufen;“ ein solcher erinnere sich, daß der Herr selbst, nachdem er von Johannes getauft worden war, gesagt habe:678 „Ich muß mich aber noch taufen mit einer andern Taufe.“ Es ist also, wie man annehmen darf, jene vollkommene Reinigung und Läuterung auch nach dem Wasser der Taufe noch übrig; welche uns durch die Ankunft des heiligen Geistes heiligen, welche uns durch das Feuer des Gerichtes kochen, welche uns durch die Unbild des Todes von der Befleckung und der Gemeinschaft mit dem todten Fleische reinigen, welche uns durch das ergebene Leiden und das treue Blut des Märtyrertodes abwaschen wird.

 

6.

Und darum sagt der Prophet, daß er leben werde, obwohl er schon lebt, das heißt, daß er durch diesen Schatten des Lebens in jenes wahre Land der Lebendigen werde versetzt werden. Und demnach hat er, wie er gesagt hat: „Ich werde leben,“ so auch gesagt: „Ich werde beobachten deine Worte.“ Indessen werden sie679 nach dem Apostel Paulus, nur zum Theile und durch einen Spiegel beobachtet. Es gibt nämlich viele Aergernisse der Welt, welche in uns die vollkommene Beobachtung der Gebote verhindern. Ich schweige von den Naturen der Leiber, welche uns indessen entweder durch die Schwachheit oder durch die  Lockungen der Sünden antreiben, unvollkommen zu seyn. Nach der Besiegung des Todes aber und nach der Abstumpfung des Stachels werden wir, wenn wir von Angesicht zu Angesicht hören und sehen werden, wahrhaft sowohl leben, als auch die Gebote Gottes beobachten.

 

7.

Der Gang der Gedanken, welcher in dem ersten Verse enthalten ist, findet sich auch in dem folgenden. Er sagt nämlich: „Enthülle meine Augen, und ich werde betrachten die Wunder deines Gesetzes.“ Er weiß, daß die sterblichen und leiblichen Augen eine dunkle Wolke umhülle. Er weiß, daß das, was körperlicher Weise in dem Gesetze geboten wurde, der Schatten und Spiegel des Zukünftigen sey. Er hat zwar das Gesetz gelesen; aber er wünscht, die Wunder des Gesetzes zu schauen. Er weiß, daß der Sabbath heilig ist; aber er sehnt sich, in der Ruhe des ewigen Sabbathes zu wohnen. Er bedient sich zwar der ungesäuerten Brode; aber er beeilt sich, den Sauerteig der alten Natur abzuwerfen. Er schlachtet das Osterlamm; aber er verlangt bei dem Lamme zu seyn, welches durch Johannes geoffenbart wird. Er leistet dem Gesetze des siebenten Jahres Genüge; aber er begehrt, nach dem Verlaufe von siebentausend Jahren von der Welt befreit zu seyn. Er erfüllt das Gesetz des fünfzigsten Jubeljahres; aber er eilt, die Verzeihung und die Erneuerung am Pfingstfeste zu erlangen. Er weiß, daß auf das Gebot Gottes nach dem himmlischen Vorbilde von Moses ein Altar errichtet, und Aaron mit dem priesterlichen Gewande und Schmucke bekleidet worden sey; aber er beeilt sich, den Diensten des obersten Priesters, zu dessen Vorbilde dieses geschah, beizuwohnen. Auch bittet er, daß er eingeführt werden möchte in das heilige Land, in das Land, welches von Milch und Honig fließt, gleichsam als Fremdling auf dieser ganzen Erde. Zwar thun die Juden dieses alles auf körperliche  Weise; aber Paulus versteht dieses anders, indem er sagt:680 „Denn wir wissen, daß das Gesetz geistig ist.“ Diese Wunder des Gesetzes also, welche für die umwölkten Augen im Schatten dargestellt sind, begehrt der Prophet zu schauen; nämlich er verlangt, daß er, von diesem hinfälligen und schwachen Leibe befreit, diese großen und wunderbaren Dinge im Himmel, welche durch die körperliche Beobachtung des Gesetzes vorbildlich dargestellt werden, schaue.

 

8.

Die Gesinnung des Bittenden bleibt unverändert; denn er sagt hierauf: „Ein Fremdling bin ich auf der Erde; verbirg nicht vor mir deine Gebote.“ Ein Fremdling bewohnt nicht sein eigenes, sondern ein fremdes Land; auch erwartet ein Fremdling keine Frucht für seine zeitliche Mühe von demselben. Der Apostel kannte die Verhältnisse eines solchen Fremdlinges, indem er681 sagt, daß man von dem Leibe wandern, und bei Christo bleiben müsse. Der Prophet also, welcher einige Bilder des himmlischen Wandels im Glauben schaut, wohnet, obschon er im Leibe wohnt, doch nicht in seinem Eigenthume, indem die Blicke seines Geistes zum Himmel empor gerichtet sind. Er weiß, daß man im Himmel die Schätze aufbewahren muß, weil, wo der Schatz ist, dort auch das Herz seyn wird. Er war nicht in jenem Sinne ein Fremdling in seinem Lande, in welchem der Reiche nach dem Gleichnisse im Evangelium682 Scheuern erbaut, die ungemein viele Früchte fassen, und seine Seele wegen der Menge des Gegenwärtigen zum Wohlleben ermuntert, der Thor, welcher noch in derselben Nacht der Seele beraubt werden wird.

 

9.

Indem also der Prophet bekennt, daß er ein Fremdling sey, bittet er, daß die Gebote Gottes nicht vor ihm  verborgen werden möchten. Denn Niemand, als ein Fremdling in seinem Leibe, ist der Kenntniß der Gebote Gottes würdig. Da nun aber683 das Gebot Gottes lichtvoll ist und die Augen erleuchtet, so könnte es scheinen, er habe hier auf eine unschickliche Weise gefehlt, daß die Gebote Gottes vor ihm nicht verborgen werden möchten, die doch so beschaffen sind, daß sie nicht nur lichtvoll sind, sondern auch erleuchten. Allein nur das nachlässige Anhören verursacht eine Schwierigkeit des Sinnes. Denn dort ist das Gebot lichtvoll und erleuchtend, hier sind die Gebote verborgen. Lichtvoll ist das Gebot, durch welches wir zur Anschauung des Lichtes der Gebote erleuchtet werden. Durch das Gebot, welches in dem Gesetze das erste ist, durch das uns geboten wird, Gott aus ganzer Seele, und aus allen Kräften zu lieben, werden wir der Erleuchtung durch die Erkenntniß würdig gemacht. Und wie wir von der Herrlichkeit zur Herrlichkeit übergehen werden, so werden wir auch im Lichte das Licht schauen, so werden wir auch durch den Spiegel einst das Angesicht selbst sehen. Denn durch dieses Gebot des jetzt körperlichen Lebens werden wir für das Sakrament der Taufe und die Lehre Gottes erleuchtet, und sind im Besitze des Lichtes, und verbleiben in der Herrlichkeit. Durch dieses werden wir ferner die aus dem Gebote hervorgehenden Gebote sehen, durch dieses werden wir das Licht aus dem Lichte schauen, durch dieses werden wir aus der Herrlichkeit in die Herrlichkeit versetzt werden.

 

10.

Der Prophet weiß aber, daß es im Himmel mehrere Gebote gibt, er weiß, daß nach der Verschiedenheit der Dienste die Beobachtungen der Vorschriften verschieden seyen, nämlich die von Seite der Engel, der Erzengel, der Thronen, der Herrschaften, der Gewalten und der Fürstenthümer. Diese müssen allerdings so wie den Namen, so auch den Verrichtungen nach verschieden seyn, aber dennoch ihrer unwandelbaren Wesenheit gemäß die stäte Beobachtung der Gebote bewahren. Und er bittet deßwegen um die Offenbarung der Geheimnisse der himmlischen Gebote, weil er weiß, daß er in diesem irdischen Leibe ein Fremdling sey.

 

11.

Der vierte Vers des dritten Buchstabens ist dieser: „Meine Seele verlangt, daß ich mich nach deinen Gerichten sehne zu jeder Zeit.“ Nicht die den Uebrigen gemeinsame, nicht die Sprache der Welt ist die dieses Propheten; höher erhob er den Blick seines Geistes, obwohl er sich nur der Bezeichnung mit gewöhnlichen Worten bediente, indem er sagte: „Meine Seele verlangt, daß ich mich nach deinen Gerichten sehne zu jeder Zeit.“ Denn Manchen wird folgendes richtiger gesprochen zu seyn scheinen: Meine Seele sehnt sich nach deinen Gerichten zu jeder Zeit. Und vielleicht glauben Einige, daß eben dieser Sinn in diesen Worten enthalten sey.

 

12.

Allein der Prophet weiß, daß es schwierig und für die menschliche Natur sehr gefährlich sey, nach Gottes Gerichten sich zu sehnen. Denn wenn keiner, der da lebt, vor dem Angesichte desselben rein ist, wie kann dann sein Gericht ein Gegenstand der Sehnsucht seyn? Oder werden wir, da wir für ein jedes unnütze Wort werden Rechenschaft geben müssen, den Tag des Gerichtes verlangen, an dem wir in jenes unauslöschliche Feuer eingehen, an dem wir uns jenen schweren Peinen, um die Seele von den Sünden zu sühnen, werden unterziehen müssen?684 „Ein Schwert wird die Seele der seligen Maria durchdringen, so daß die Gedanken vieler Herzen offenbar werden.“ Wenn jene Jungfrau, das Gefäß Gottes, vor das strenge Gericht kommen wird, wer soll es dann wagen, sich darnach zu sehnen, daß er von Gott gerichtet werde? Job, der mit allen menschlichen Drangsalen gekämpft und den Sieg errungen hat, sprach, als er versucht wurde:685 „Der Herr hat es gegeben; der Herr hat es genommen; sein Name sey gepriesen in Ewigkeit.“ Er gestand, daß er Staub sey, und beschloß, nachdem er die Stimme Gottes aus der Wolke vernommen hatte, nicht mehr zu reden. Und wer sollte sich unterstehen, nach den Gerichten Gottes sich zu sehnen, dessen Stimme von den Himmeln herab weder ein so großer Prophet ertrug, noch die Apostel,686 welche bei dem Herrn auf dem Berge standen, ertragen konnten?

 

13.

Es hielt sich also der Prophet an die Weise der menschlichen Natur und des menschlichen Bewußtseyns, als er sprach: „Meine Seele verlangt, daß ich mich nach deinen Gerichten sehne, zu jeder Zeit.“ Denn er sehnt sich nicht nach dem Gerichte, sondern er verlangt, daß er sich sehne; ein Verlangen nach der Sehnsucht, nicht nach dem Gerichte hatte er. Denn er verlangt sich zu sehnen, das heißt, er verlangt, daß er in einer solchen Unschuld verbleib, daß er bereits sicher und ohne Furcht nach dem schrecklichen Gerichte sich sehne; indem er, weil er sich des menschlichen Zustandes bewußt ist, noch nicht nach der Sache selbst sich sehnt, sondern die Sehnsucht verlangt, so daß diese aus dem Bewußtseyn einer vollkommenen Unschuld hervorgehe. Er weiß aber, daß das Verlangen nach dieser Sehnsucht anhaltend und ununterbrochen seyn müsse; und darum fügte er bei: „Zu jeder Zeit;“ um nämlich anzuzeigen, daß wir es keinen Augenblick unterlassen dürfen, das Verlangen nach dieser Sehnsucht zu hegen.

 

14.

Hierauf folgt: „Du schaltest die Stolzen; verflucht sind die, welche abweichen von deinen Geboten.“ O des unseligen Stolzes, welcher sich für zu groß hält, um unter den himmlischen Geboten zu leben, welcher im Uebermuthe des ungläubigen Herzens die göttlichen Gebote verachtet! Es gibt sehr viele menschliche Verbrechen und Sünden, und verschiedene und unzählige sündhafte Handlungen; aber keine erregt mehr den Zorn Gottes wider uns, als der Stolz. Denn du schaltest nicht die Habsüchtigen, nicht die Unzüchtigen, welchen gewiß Tadel gebührt, sondern die Stolzen; weil Mehrere aus demselben Stolze, mit welchem sie das Menschliche verachten, auch Gott zu gehorchen verschmähen.

 

15.

Allein es mögen auch die übrigen Werke des Glaubens herrlich seyn, und es möge bei jeder Beobachtung der göttlichen Gebote Hingebung herrschen, so wird doch, wenn Stolz sich einschleicht, das Andenken an unsere guten Handlungen ausgelöscht werden.687 Mit welcher Anstrengung hat sich jener Pharisäer im Evangelium auf den Weg des Lebens gestellt, wie sich gehütet, daß er sich nicht an fremdem Gute vergriff, daß er gegen Niemanden ungerecht war, daß er nicht durch Ehebrüche sich versündigte? Er mühete sich zweimal in der Woche mit Fasten ab, und schwächte seinen Körper durch die Enthaltung von Speise mit ungemein standhafter Geduld. Mit welcher Anstrengung in der Ueberwindung des Geizes gab er dann den Zehend von seiner Habe zum Wohle der Armen? Was ist herrlicher, als dieses? was ist schwerer, als dessen Vollbringung? Allein er gerieth in die Schlinge des Hochmuthes, indem er sprach:688 „Daß ich nicht bin, wie dieser Sünder und Zöllner da,“ und durch diese Sünde verfiel der Unglückliche aus seinen  herrlichen Werken in ein schweres Vergehen, und ging, auf diese Herrlichkeit seiner Vorzüge stolz hinweg, indem der Zöllner mehr gerechtfertiget war.

 

16.

Aber warum sprechen wir von dem Pharisäer? Der Apostel hat nicht von Menschen, und nicht durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus, gegen welchen der Teufel mit aller List, die in seiner Macht stand, gerungen hat,689 einen Engel des Satans erhalten, damit ihn dieser mit Fäusten schlüge; auf daß durch die anhaltenden Beschwerden aller Leiden das Einschleichen des Stolzes verhindert werden möchte, welches der Mangel an Beschwerden begünstigen könnte. Auch hat derselbe, als er ein Gesetz in Betreff der Wahl und Einsetzung des Priesters gab, nach dem er ihn mit allen Vorzügen, die ein Bischof haben muß, zum Bischof verordnet hatte, verboten, einen Neuling zu erwählen, damit er nicht stolz würde, indem er sprach:690 „Er darf kein Neuling seyn, damit er nicht stolz werde, und in das Gericht des Teufels verfalle;“ das ist, damit er nicht durch die erst neulich erlangte Gnade der Wiedergeburt übermüthig werde, will er, daß derselbe durch vielen Leidenskampf vorher versucht werde, und daß er durch viele Dienstleistungen der Demuth und des Glaubens fortschreite. Denn ein demüthiges Herz verachtet Gott nicht, und das beßte Opfer ist ein zerknirschtes Herz; denn wer sich erhöhet, wird erniedriget, und wer sich erniedriget, wird erhöhet werden.

 

17.

Und darum „sind die verflucht, welche abweichen von deinen Geboten, weil die Stolzen getadelt werden; denn durch den Uebermuth eines stolzen Herzens werden wir verleitet, das Menschliche zu verachten und das Göttliche zu vernachlässigen. Aber die Bedeutung des hier gebrauchten Wortes darf man nicht mit Unachtsamkeit auffassen. Denn es wäre leicht gewesen, zu sagen: Verflucht sind die, welche nicht gehorchen deinen Geboten. (Von dem Einen, und den mehrern Geboten haben wir im obigen Vers691 das Geeignete gesagt.) Verflucht aber sind die, welche, durch diese Lehre der Weissagung unterwiesen, von den Geboten Gottes abweichen, das ist, durch die Begierden nach gegenwärtigen Sünden der Hoffnung der ewigen Gebote verlurstig werden. Denn wer abweicht, der vermeidet das, worin er ist, wird von einer Seite auf eine andere geleitet, und geht gleichsam durch eine Abbeugung von dem Pfade ab. Somit trifft selbst den, welcher nur leicht von den Geboten Gottes abweicht, der Ausspruch des Fluches, damit wir einsehen möchten, welch eine gefährliche Sache es sey, das gar nicht zu wissen, wovon abzuweichen verflucht ist.

 

18.

„Nimm weg von mir Schmach und Verachtung, weil ich nach deinen Zeugnissen strebe.“ Die Sünden verdienen Schmach; und darum werden die Sünder zur ewigen Schmach auferstehen. Daß aber alle Sünden Schmach verdienen, können wir in den Evangelien sehen, da, wo der Herr jene Städte scharf tadelte, in welchen mehrere Wunder geschehen wären, und die nicht Busse gethan hätten, nämlich Corozaim und Bethsaida. Womit aber bei diesen der Anfang gemacht wurde, das muß auch gegen alle, die derselben Sünde theilhaftig sind, geschehen; und dann muß er dem Menschengeschlechte, welches nicht Busse that, und nicht auf dem Wege des Evangeliums wandelte, das verweisen, was in dem Psalme enthalten ist.692