Abschlussfahrt - Jochen Till - E-Book

Abschlussfahrt E-Book

Jochen Till

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Beschreibung

Abschlussfahrt, das heißt: Party, Party, Party! Wen wundert's also, dass sich Jonas und seine Freunde weder für italienische Kirchen noch für schiefe Türme interessieren. Viel wichtiger findet Jonas, was die Mädchen machen, was die Sache mit Nele zu bedeuten hat und wo man Alkohol kaufen kann. Schließlich will er zünftig auf seinen achtzehnten Geburtstag anstoßen! Dass er nach jeder Menge Bier plötzlich mit Nele allein auf dem Zimmer landet, war aber nicht geplant ...

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Inhalt

Impressum

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

Epilog

Der Autor über sich selbst

Autoreninformation

Als Ravensburger E-Book erschienen 2012 Die Print-Ausgabe erschien erstmals 2008 unter dem Titel „Absch(l)ussfahrt“ in der Ravensburger Verlag GmbH © 2008 Ravensburger Verlag GmbH Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbHISBN978-3-473-38491-4www.ravensburger.de

Prolog

Die Toskana (ital. Toscana) ist eine Region in Italien und grenzt im Norden an Ligurien und die Emilia-Romagna, im Osten an die Marken und an Umbrien und im Süden an Latium. Die Bezeichnung leitet sich vom in der Antike hier ansässigen Volk der Etrusker her.

Kapier ich nicht. Müsste es dann nicht eigentlich Truskana heißen?

Die Toskana hat eine Fläche von rund 23000 km² und 3,61 Millionen Einwohner. Die Hauptstadt der Toskana ist Florenz im Norden der Region. Weitere wichtige Städte sind Pisa, Siena, Grosseto und Lucca.

Lucca, genau. Da werden wir wohnen. In einer Jugendherberge. Ich werde meinen achtzehnten Geburtstag in einer italienischen Jugendherberge feiern. Na, super. Ja, ja, ich weiß. Ich bin eigentlich viel zu alt für die zehnte Klasse. Aber meine Eltern hatten mich bei einem Ausflug im Wald vergessen und es dauerte zwei Jahre, bis ich wieder nach Hause gefunden hatte, also wurde ich erst mit acht eingeschult. Bullshit, natürlich. Ich bin zweimal hängen geblieben, das ist alles. Soll vorkommen. Halb so wild. Das einzig Blöde daran war, dass es zweimal hintereinander passiert ist.

Die Achte war mein Verhängnis. Nicht, dass ich zu dumm gewesen wäre. Ich hatte nur in dieser Zeit irgendwie keinen Bock auf Schule, also bin ich eher selten hingegangen. Beim zweiten Mal brachte ich es auf sage und schreibe einhundertsiebenundvierzig unentschuldigte Fehlstunden. Und zur Belohnung wurde ich nicht nur auf die Realschule abgestuft, sondern durfte die Achte dort gleich noch mal machen. Dreimal die Achte, ich bin jetzt schon eine Legende bei uns an der Schule, das vergessen die nie, das wird noch in fünfzig Jahren den Enkelkindern erzählt, zur Abschreckung. Wenn du nicht immer brav lernst, holt dich der Jonas, und dann bleibst du in der achten Klasse, bis du schwarz wirst! Genau so.

Das hört sich jetzt vielleicht so an, als ob ich auch noch stolz darauf wäre, zweimal hängen geblieben zu sein. Aber das ist es nicht. Ich bin nicht stolz darauf. Allerdings bereue ich es auch nicht, kein bisschen. Das waren zwei sehr lockere Jahre, die ich nie missen wollen würde, mit allem Drum und Dran. Okay, auf den Ärger mit meinen Eltern hätte ich gerne verzichtet, sie mit Sicherheit auch, aber wir haben es alle überlebt, und mittlerweile biete ich ihnen auch keinen Grund mehr zur Klage. Das ist jetzt mein drittes Jahr als Klassenbester, was allerdings nicht bedeuten soll, dass ich zum Streber mutiert bin, auf keinen Fall. Mir fällt das alles nur ziemlich leicht, keine Ahnung warum. Ich mache immer meine Hausaufgaben und das reicht auch schon, großartig lernen muss ich dann gar nicht mehr. Auf diese Weise habe ich es geschafft, dass ich nach den Sommerferien wieder aufs Gymnasium darf und mein Abi machen kann. Für mich ist das also im Grunde genommen gar keine richtige Abschlussfahrt. Zum Glück, denn ich habe sowieso noch keine Ahnung, was ich mal werden will. Absolut null. Aber ich habe ja jetzt noch drei Jahre Schonfrist bis nach dem Abi. Vielleicht fällt mir in der Zwischenzeit was ein. Hoffentlich. Sonst muss ich nämlich Jura studieren. Der Traum meiner Eltern. Träumt weiter. Nicht mit mir. So viel steht fest. Als Anzugträger und Paragrafenverdreher sehe ich mich auf gar keinen Fall. Immerhin etwas, was ich schon weiß: was ich nicht werden will. Jetzt müsste ich eigentlich nur noch eintausendzweihundertsiebenundachtzig andere bezahlte Beschäftigungsmöglichkeiten ausschließen und ich hätte meinen Traumberuf. Wie viele Berufe es wohl gibt? Ob das auch bei Wikipedia steht? Ach, egal. Nicht so wichtig. Erst mal muss ich dieses blöde Referat hinter mich bringen. Hey! Ein weiterer Beruf, den ich ausschließen kann: Reiseführer in der Toskana. Das scheint noch langweiliger zu sein als Anwalt.

Der Toskanische Archipel umfasst neben Elba, der drittgrößten Insel Italiens, unter anderem auch die kleineren Inseln Giglio, Capraia, Pianosa, Montecristo, Giannutri und Gorgona.

Inseln, genau. Da wollten wir eigentlich hin. Auf eine Insel. Nach Malle. Wie die 10c. Die fahren nach Malle auf Abschlussfahrt. Wir fahren in die Toskana. Wegen der Kultur. Und den tollen Kirchen. Und dem Schiefen Turm. Und weil Goethe mal da war. Ohne Scheiß. Das war Wuttkes Begründung. Nur weil er unser Klassenlehrer ist und wir Geschichte und Deutsch bei ihm haben und dieser fucking Goethe irgendwann mal durch die Toskana gelatscht ist, müssen wir jetzt auch dahin. Und wenn ich müssen sage, dann meine ich auch müssen. Gefragt wurden wir nämlich nicht. Unsere Eltern wurden gefragt. Und die haben dann auch entschieden. Schließlich würden sie das alles ja bezahlen, also wäre es nur gerecht, wenn sie das entscheiden. An uns hat dabei natürlich keiner gedacht. Ich war immer der Meinung, eine Abschlussfahrt sei dazu da, um noch mal richtig Spaß zu haben. Leider verstehen Eltern anscheinend keinen Spaß, wenn es um ihre fast volljährigen Kinder geht, meine schon gar nicht.

Toskana. Kultur. Kirchen. Das wird in etwa so spaßig und aufregend wie eine Chihuahua-Beerdigung auf dem Hundefriedhof. Und je mehr ich darüber lese, desto tiefer sinkt meine Hoffnung, dass es doch noch ganz lustig werden könnte.

Wirtschaft: Hauptsächlich Tourismus und Landwirtschaft (vor allem Wein und Olivenöl). Zu den bekanntesten toskanischen Weinen zählen der Chianti, der Sassicaia und der Vino Nobile di Montepulciano.

Na, immerhin. Zu saufen gibt es wenigstens schon mal was. Ich hoffe nur, die haben auch gescheites Bier da unten. Keine Lust, auf meinen Achtzehnten mit einem gepflegten Glas Chianti anzustoßen. Ich mag keinen Wein. Das nervt mich eigentlich noch am meisten. Dass ich meinen Achtzehnten nicht gebührend zu Hause feiern kann, mit Party und Freunden und allem Drum und Dran. Klar, mit den Jungs aus meiner Klasse wird es bestimmt auch ganz lustig, die meisten sind echt okay, trotzdem, zu Hause wäre mir doch lieber gewesen. Und selbst wenn dann nachgefeiert wird, das ist nicht das Gleiche. Achtzehn wird man nur einmal und nur an diesem einen Tag.

Ein weiterer wichtiger Wirtschaftsfaktor ist seit der Herrschaft der Etrusker die Stahlproduktion in der Gegend um Piombino. Die Rinderrasse Chianina, die größte Rinderrasse der Welt, hat ihren Ursprung ebenfalls in der Toskana.

Ja, super. Das wird ja immer besser. Wir verbringen fünf Tage in einem Gebiet, das für seine Rindviecher berühmt ist.

Im Vergleich mit dem BIP der EU ausgedrückt in Kaufkraftstandards erreicht die Region einen Index von 118.0 (EU-25:100) (2003).

Wie bitte, was? Das lassen wir mal lieber weg, am Ende muss ich es noch erklären.

»Jonas?«

Meine Mutter. Kann man denn in diesem Haus nicht mal in Ruhe ein blödes Referat schreiben? Nicht jetzt, Mama. Ich muss mich auf diesen stinklangweiligen Text konzentrieren.

»Jonaaas!«

Ja, ist ja gut, verdammt.

»Was ist denn?«, brülle ich genervt zurück.

»Herr Schneider ist da!«, ruft sie. »Komm, du hast Fahrstunde!«

Wie, jetzt? Schon so spät? Ich schaue auf die Uhr an meinem Computer. Oh, tatsächlich, kurz vor fünf. Das ist ja perfekt. Ich habe sowieso keine Lust mehr auf dieses Scheißreferat, das kann bis morgen warten. Autofahren macht auch viel mehr Spaß.

»Jonas! Kommst du?«, ruft meine Mutter.

»Ja, ja! Gleich! Moment noch!«, rufe ich zurück und fahre den Computer runter.

Noch so eine Sache, die mir diese blöde Toskana versaut. Genau in der Woche, in der wir weg sind, hätte ich den Termin für meine Führerscheinprüfung haben können. Okay, das wäre auch so gewesen, wenn wir nach Malle gefahren wären. Trotzdem: Die Toskana ist schuld. An allem. Basta.

1

Fünfzehn Stunden Zugfahrt. Fünfmal umsteigen. Morgen früh um 8:20 Uhr sind wir dann in Lucca. Na vielen Dank auch.

Wenigstens konnte ich meiner Mutter ausreden, mich bis zum Zug zu begleiten. Das hätte mir gerade noch gefehlt, eine Abschiedsarie, wie sie die meisten hier um mich herum über sich ergehen lassen müssen. Da werden Sechzehnjährige von ihren Müttern geherzt und gedrückt und mit Tränen in den Augen geknutscht, als würden sie in den Krieg ziehen. Hallo? Wir fahren nur für fünf Tage in die Toskana! Das Einzige, was uns dort passieren kann, ist, dass uns der blöde Schiefe Turm auf den Kopf fällt.

»Hast du auch wirklich alles? Deinen Ausweis? Den Auslandskrankenschein? Hast du den eingesteckt?«

»Ja, Mama.«

Adrian. Die arme Sau. Seine Mutter zupft einen Fussel von seinem T-Shirt.

»Wirklich? Bist du sicher?«

»Ja, Mama.«

»Zeig ihn mir. Wo ist er? Ich will ihn sehen.«

»Der ist ganz unten im Rucksack, Mama. Da komm ich jetzt nicht dran.«

»Aber so etwas Wichtiges packt man doch nicht nach unten! Das muss man doch immer griffbereit haben! Weiß Herr Wuttke eigentlich, dass du auf Nüsse allergisch bist? Hast du ihm das gesagt?«

»Aber das hast du ihm doch schon tausendmal gesagt, Mama.«

»Das weiß ich, dass ich ihm das schon tausendmal gesagt habe. Ich habe aber gefragt, ob du es ihm auch noch mal gesagt hast. Damit er auch genau weiß, dass du mein Sohn und auf Nüsse allergisch bist. Nicht, dass er dich verwechselt und dann haben wir den Salat und dein Auslandskrankenschein steckt ganz unten im Rucksack und dann ist es zu spät.«

»Aber ich bin doch der einzige Adrian bei uns in der Klasse, Mama. Warum sollte er mich verwechseln?«

»Wo ist denn eigentlich euer Herr Wuttke? Ah, da drüben steht er ja. Los, komm mit!«

Sie packt ihn an der Hand und zieht ihn an mir vorbei in Richtung Wuttke.

»Manche Mütter sind echt die Pest«, sagt eine weibliche Stimme neben mir.

Ich drehe mich um. Nele. Sie grinst mich an.

»Allerdings«, grinse ich zurück. »Aber sie können ja nichts dafür. Man muss sie nur richtig erziehen.«

Nele lacht. Ich mag Nele. Nicht so. Nur so. Sie ist witzig. Auf intelligente Art witzig. Das sind die wenigsten. Und darum mag ich sie. Seit der Faschingsparty bei Wuttke letztes Jahr. Wir waren die Einzigen, die sich nicht verkleidet hatten. Das verbindet. Wir saßen den ganzen Abend lang zusammen in einer Ecke und haben wunderbar bösartig gelästert. Ich weiß, das macht man eigentlich nicht. Aber wer einmal Darth Vader, Schneewittchen, Godzilla, Spongebob und einer übergewichtigen Manga-Elfe beim Ententanz zugesehen hat, kann einfach nicht anders. Gott, was haben wir an diesem Abend gelacht. Und seitdem mag ich sie. Sie mich auch, denke ich. Aber alles wirklich nur rein platonisch und in der Schule. Privat haben wir überhaupt nichts miteinander zu tun. Sie steht auf Jude Law. Und ich auf Pink. Nele sieht aber eher aus wie Avril Lavigne mit kürzeren Haaren und nicht ganz so magersüchtig. Und ich sehe aus wie … niemand. Ehrlich. Mein Gesicht ist absolut nichtssagend. Stinknormal. Total langweilig. Ich hasse mein stinknormales, langweiliges Gesicht. Nicht so sehr, dass ich jetzt einen Schönheitschirurgen daran herumschnippeln lassen würde, davor hätte ich dann doch zu viel Schiss. Ganz davon abgesehen, dass das sowieso nichts bringen würde. Bei mir würde nur ein Komplettaustausch helfen. Gebt mir den Kopf von Leonardo di Caprio. Oder Josh Hartnett. Oder dem aktuellen Freund von Pink, wer immer das auch sein mag, egal, Hauptsache nicht mehr meine langweilige Visage. Aber so weit ist die Medizin wohl leider noch lange nicht. Na ja, was hilft’s? Ist nicht so wichtig. Meine Fresse, mein Problem.

»Hast du Henny schon irgendwo gesehen?«, fragt Nele und blickt sich suchend um.

»Nein, bis jetzt noch nicht.«

»Oh Mann, dieses Ding ist vielleicht schwer«, stöhnt Nele und streift ihren Rucksack ab.

Ein Klirren ertönt, als sie den Rucksack auf dem Boden absetzt. Ich schaue sie fragend an.

»Das wird eine lange Zugfahrt«, zwinkert sie mir zu. »Da braucht man jede Menge Proviant.«

Okay, alles klar. Die Mädels fangen schon während der Fahrt an zu feiern. Wird bei uns nicht anders sein.

»Wodka?«, frage ich.

»Bacardi«, antwortet Nele. »Für den Wodka ist Henny zuständig. Was gibt’s bei euch?«

»Ich hab für den Anfang ein paar Dosen Becks dabei. Seba wollte sich um den Hartsprit kümmern.«

Sebas Familie besitzt einen Getränke-Großhandel, sehr praktisch. Möchte nicht wissen, wie viele Flaschen er da schon gezockt hat. Uns ist jedenfalls noch auf keiner Party der Hartsprit ausgegangen.

»Hey, da ist sie ja!«, quiekt Nele plötzlich und springt neben mir auf und ab. »Henny! Hier drüben!«

»Nele!«, quiekt es aus einiger Entfernung zurück.

Ich recke meinen Hals und sehe Henny auf uns zukommen. Und sie sieht mal wieder fantastisch aus. Absolut fantastisch. Unschlagbar fantastisch. Wunderschön. Supersexy. Eine Göttin. Leider nicht meine Göttin. Dafür war ich dann wohl nicht Gott genug. Meine langweilige Fresse wahrscheinlich, keine Ahnung. Jedenfalls hat sie mir eine höfliche, aber deutliche Abfuhr erteilt. Freundschaft, ja – Liebe, nein. Der Nächste, bitte. So in etwa. Das ist jetzt ungefähr ein halbes Jahr her, und das Einzige, was man an unserem Verhältnis seitdem als freundschaftlich bezeichnen könnte, ist die Tatsache, dass wir uns grüßen. Schade eigentlich, denn ich mag sie immer noch. Nicht mehr so wie früher, aber trotzdem, sie ist echt okay. Und wunderschön. Und supersexy. Aber das sagte ich, glaube ich, schon.

»Hi, Jonas.«

Sie lächelt mich kurz an.

»Hallo, Henny.« Ich lächle etwas länger zurück.

»Wo ist denn dein Lover?«, fragt Nele. »Hast du nicht gesagt, er kommt noch mit zum Bahnhof?«

»Ach, hör mir bloß auf mit dem!«, erwidert Henny. »Weißt du, wo der gerade ist? Das glaubst du nicht! Hat mir eine SMS geschickt, dieses Arschloch. So vor einer Stunde! Das musst du dir mal …«

Verdammt, muss dieser blöde Zug ausgerechnet jetzt einfahren? Ich verstehe kein Wort mehr! Was ist denn mit ihrem Lover? Sie hat zurzeit so einen Schleimer, sieht ein bisschen aus wie Matt Damon. Oder hat sie ihn jetzt etwa nicht mehr? Nicht, dass das für mich irgendetwas ändern würde. Aber trotzdem, interessieren würde es mich schon brennend. Kannst du nicht schneller anhalten, du dämlicher Zug? Oder wenigstens leiser? Mist!

»… hat sie doch nicht mehr alle, oder?«, dringt Hennys Stimme endlich wieder an mein Ohr.

»Hammer!« Nele schüttelt fassungslos den Kopf.

Was? Was hat er denn gemacht? Ist jetzt Schluss mit den beiden oder nicht?

»Na ja, drauf geschissen«, winkt Henny ab. »Davon lassen wir uns den Spaß bestimmt nicht verderben, nicht wahr? Hast du an den Bacardi gedacht?«

»Klar«, sagt Nele und zeigt auf ihren Rucksack. »Zwei Flaschen.«

»Sehr gut.« Henny strahlt. »Toskana, wir kommen! Können wir eigentlich schon einsteigen? Ich will unbedingt am Fenster sitzen. Und in Fahrtrichtung. Sonst wird mir schon schlecht, bevor die erste Flasche offen ist. Jonas? Weißt du, ob wir schon einsteigen können?«

»Keine Ahnung. Wo ist denn Wuttke?«

Wir recken alle drei unseren Hals in die Luft, als plötzlich Wuttkes Stimme ertönt.

»Hallo!«, versucht er gegen den Bahnhofslärm anzubrüllen. »Alle mal herhören! Ihr könnt dann gleich einsteigen! Wagen 26! Das ist der hier hinter mir! Ihr dürft euch hinsetzen, wo ihr wollt! Aber versucht bitte, einigermaßen zusammenzubleiben!«

Die Ersten drängen bereits auf die Türen zu, ich hänge mich an Nele und Henny.

»Moment!«, hält Wuttke uns zurück. »Moment noch!«

Er wedelt mit seiner Liste.

»So weit sind alle da!«, ruft er. »Bis auf Marlon! Hat jemand Marlon gesehen?«

Marlon. Wer sonst? In der Schule schafft er es auch nie, pünktlich zu kommen. Wir schauen uns um, aber keine Spur von Marlon.

»Der Junge bringt mich noch mal ins Grab«, seufzt Wuttke. »Könnte ihn bitte jemand mal eben schnell anrufen und fragen, wo er bleibt? Lars? Du hast doch bestimmt seine Handynummer?«

Natürlich hat er die. Lars ist Marlons bester Kumpel. Oder eher sein Sidekick, wenn man es genau nimmt. Wann immer Marlon etwas anstellt, ist Lars mit Sicherheit nicht weit und irgendwie daran beteiligt.

»Sorry!«, brüllt Lars. »Kein Guthaben!«

»Ich mach das!«, rufe ich Wuttke zu und ziehe mein Handy aus der Hosentasche.

Ich drücke Marlons Nummer, es tutet.

»Jonas, alte Socke!«, höre ich seine Stimme. »Was geht?«

»Was geht? Der Zug geht, Marlon! Mensch, wo bleibst du denn? Wir sind hier quasi schon am Einsteigen.«

»Gemach, gemach. Keine Hektik. Auf welchem Gleis war das gleich noch mal?«

»Gleis neun. Wie lange brauchst du denn noch? Wuttke sieht nicht gerade glücklich aus.«

»Der Mann ist Lehrer, Jonas. Nicht glücklich auszusehen, gehört zu seinem Berufsbild.«

»Marlon, der Zug fährt in fünf Minuten los!«

»Ich sehe was, was du nicht siehst.«

»Was? Marlon, das ist jetzt nicht die Zeit für blöde Spielchen!«

»Ich sehe was, was du nicht siehst, und das hat ein Handy am Ohr.«

»Mann, Marlon! Jetzt hör doch endlich auf mit dem …«

»Ich sehe was, was du nicht siehst, und das steht auf einem Schlauch.«

»Marlon, ich …«

»Guck mal nach rechts!«

»Was?«

»Nach rechts gucken! Du weißt doch, wo rechts ist, oder?«

Ich drehe meinen Kopf nach rechts und blicke an den Anfang des Bahnsteigs. Dort sehe ich Marlon seelenruhig auf uns zuschlendern, eine große Sporttasche geschultert, Kippe im Mundwinkel, breites Grinsen.

Ich klappe mein Handy zu und stecke es wieder ein.

»Da kommt er!«, rufe ich Wuttke zu.

Wuttke seufzt und hakt Marlon auf seiner Liste ab. Jede Wette, im Grunde genommen wäre er mehr als froh gewesen, wenn Marlon den Zug verpasst hätte. Weniger Stress. Viel weniger Stress.

Die meisten Leute – insbesondere Lehrer und Eltern – würden Marlon wohl als Assi bezeichnen. Aber das trifft es nicht ganz. Dazu ist er nicht hohl genug. Im Gegenteil, er ist sogar ziemlich intelligent. Genau das fuchst die Lehrer ja so. Sie können ihm einfach keine schlechten Noten geben und ihn auf diese Art loswerden, keine Chance. Er ist zwar auch schon einmal hängen geblieben, aber wie gesagt, das hat nicht immer unbedingt etwas mit mangelnder Intelligenz zu tun. So habe ich ihn übrigens auch kennengelernt, beim gemeinsamen Schwänzen in der Stadt. Als dann feststand, dass ich auf die Realschule komme, war eins natürlich sofort klar: Ich musste zu Marlon in die Klasse. Wuttke sah das allerdings anders, vor allem nachdem er die Kopfnoten auf meinem letzten Zeugnis gelesen hatte. Betragen: 5. Fleiß: 6. Ordnung: 6. Aufmerksamkeit: 5. Wie soll man denn aber auch bitte schön fleißig und ordentlich sein, wenn man kaum anwesend ist? Jedenfalls stand ich an meinem ersten Tag Realschule vor Wuttkes Pult und er las meine Kopfnoten und dann schüttelte er seinen Kopf und meinte, das müsste wohl ein Irrtum sein, da hätte jemand was verwechselt, ich sollte gar nicht in seine Klasse. Ja, genau. Von wegen verwechselt. Er hatte bloß Schiss, einen zweiten Marlon zu kriegen. Dass er dem ersten schon nicht gewachsen war, zeigte sich gleich darauf.

Marlon ließ seine Faust laut auf den Tisch krachen und rief: »Nichts da! Das ist mein Kumpel! Der bleibt hier!«

Wuttke versuchte natürlich hart zu bleiben, aber nachdem erst ein paar wenige, doch kurz darauf alle aus der Klasse auf ihre Tische trommelten und rhythmisch »Der bleibt hier! Der bleibt hier!« brüllten, hatte er quasi keine andere Chance und ich war schließlich offiziell anerkanntes Mitglied der 10a. Marlon hat eine sehr ansteckende Art, wenn es darum geht, Lehrerautorität zu untergraben. Das und sein teilweise sehr böser Humor ließen ihn zum Schrecken aller Lehrer werden. Und wenn ich sehr böse sage, dann rede ich nicht davon, dass Marlon kurz vor Unterrichtsbeginn gerne mal auf den Stuhl von Frau Maatz, unserer Englischlehrerin, spuckt, um sich schlapp zu lachen, wenn sie sich reinsetzt. Nein, das ist nicht sehr böse, nicht, wenn es um Marlon geht.

Da hat er schon ganz andere Sachen gebracht. Die Geschichte mit den neuen Nachbarn zum Beispiel. Die ist so böse, dass man sie eigentlich gar keinem erzählen darf. Aber Marlon erzählt sie ständig, also erlaube ich mir das jetzt auch einfach mal. Das Ganze spielte sich folgendermaßen ab: ein warmer Samstagmorgen im Juni. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, und einer von ihnen war besonders gut drauf, obwohl er in einem Käfig eingesperrt war. Marlon erwachte von diesem fröhlichen Gepiepe, viel früher als nach einer durchzechten Nacht vorgesehen. Schlecht gelaunt und mit schwerem Kopf schleppte er sich an sein Fenster, um nachzusehen, was ihn dort so unsanft geweckt hatte. Sein Blick fiel auf das Haus nebenan, vor dem ein Möbelwagen stand. Marlon erinnerte sich: Die Schulzes hatten ihre Hütte verkauft, das musste also der Einzug der neuen Nachbarn sein. Kein Grund ihn zu wecken. Das blöde Gepiepe hatte immer noch nicht aufgehört und Marlons Augen suchten genervt nach dessen Ursprung. Dann entdeckten sie ihn. Auf der Wiese des kleinen Vorgartens. Ein Vogelkäfig, aus dem irgendetwas bunt Gefiedertes unbekümmert vor sich hin fiepte. Und direkt daneben ein kleines Mädchen, das unbeholfen damit beschäftigt war, beim Hüpfen mit seinem Springseil nicht hinzufallen. Marlons Müdigkeit und sein dicker Kopf waren auf einmal verschwunden. Er wusste, was zu tun war. Während er sich anzog, rief er mehrmals laut nach seinen Eltern, um sich zu vergewissern, dass sie nicht zu Hause waren. Samstag war Einkaufstag, und sie hatten sich daran gehalten, die Luft war rein. Marlon stieg die Treppe hinunter und öffnete den Waffenschrank in der Diele. Sportwaffen, wohlgemerkt. Keine Schrotflinten, Pumpguns, Uzis oder ähnlich illegale Knarren. Marlon ist, wie der Rest der Familie, Mitglied des örtlichen Schützenvereins. Und seine Spezialdisziplin war schon immer das Luftgewehr; Vierter bei den Deutschen Meisterschaften in seiner Altersklasse.

Marlon schnappte sich sein Sportgerät und lud es mit einem Diabolo. Vorsichtshalber steckte er noch zwei in seine Hosentasche, wobei er eigentlich wusste, er würde sie nicht brauchen. Er öffnete die Terrassentür und trat hinaus in den Garten. Das Nachbargrundstück war durch einen Lattenzaun abgegrenzt, Marlon schlich sich heran und spähte durch eine Lücke. Auf der anderen Seite schleppten gerade zwei Männer ächzend einen Schreibtisch an ihm vorbei. Er wartete, bis sie im Haus verschwunden waren. Der Blick auf sein Opfer war frei.

Das Mädchen mühte sich immer noch mit seinem Springseil ab. Dann fing es an zu singen: »Alle Vögel sind scho-hon da …«

Das war genau das Zeichen, auf das Marlon gewartet hatte.

»Alle Vögel, a-lle …«

Der Lauf des Gewehrs schob sich langsam zwischen zwei Latten hindurch.

»Amsel, Drossel, Fink u-hund Star …«

Marlon atmete tief ein, hielt die Luft an und nahm Maß.

»Und die ganze Vo-ge-hel-schar …«

Das leise Ploppen eines ausgelösten Luftgewehrschusses ertönte. Fast im selben Moment riss es das Vöglein in seinem Käfig von der Stange. Eine kleine Wolke aus Federn umhüllte den Tatort. Stille. Verwirrte, neugierige Blicke eines kleinen Mädchens, das langsam auf die Behausung ihres gefiederten Freundes zuging: »Kuki?«

Es tippte mit einem Finger vorsichtig an die Gitterstäbe. »Kuki? Schläfst du?«

Es rüttelte den Käfig, Federn stiegen auf. »Kuki, sag doch was!«

Es öffnete das kleine Türchen, griff hinein und stupste Kuki vorsichtig an. Dann wurde es ihm klar. Tote Vögel singen keine Lieder. Es fing an, aus vollem Hals zu schreien. »Mama! Papa! Kuki ist im Himmel! Kuki ist im Himmel!«

Seine Eltern kamen aus dem Haus gerannt.

»Kuki ist im Himmel! Kuki ist im Himmel!«

Der Blick des Vaters fiel auf den Käfig und das offene Türchen. Er reckte seinen Kopf suchend gen Himmel. Die Mutter tat es ihm gleich. Die Kleine plärrte immer weiter.

»Da bist du aber auch selbst dran schuld!«, motzte der Vater sie an. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst die Finger von Kukis Tür lassen!« Woraufhin die Kleine natürlich noch lauter anfing zu plärren. Und Marlon es hinter dem Zaun vor unterdrücktem Lachen nicht mehr aushielt und zurück ins Haus flüchtete. Ja, ich weiß, das ist eigentlich alles andere als lustig. Das arme Mädchen. Von Kuki ganz zu schweigen. So etwas würde ich natürlich nie machen. Aber Marlon eben. Und ich schwöre, wenn er diese Geschichte erzählt, liegt jeder vor Lachen auf dem Boden. Na gut, vielleicht nicht jeder, aber wir zumindest. Marlon kann das auch viel besser erzählen als ich. So richtig enthusiastisch und mit Freude, da kann man gar nicht anders als mitzulachen. Nicht, dass ich damit irgendwas entschuldigen will. Ich weiß, ich habe nun mal einen etwas kranken Humor. Aber dazu stehe ich voll und ganz, jederzeit, kein Problem. Und darum freue ich mich auch, dass Marlon jetzt doch noch rechtzeitig aufgetaucht ist. Er ist unsere einzige Chance auf ein bisschen Spaß in der öden Toskana. Auch wenn Wuttke das sicherlich und wahrscheinlich sogar zu recht anders sieht. Sein Problem. Das wird schließlich unsere Abschlussfahrt, nicht seine.

»Ihr wartet doch wohl nicht etwa alle auf mich?«, ruft Marlon, als er bei uns angekommen ist.

»Marlon, mach die Zigarette aus!«, brummt Wuttke ihn an.

»Ja, gleich«, sagt Marlon. »Was ist jetzt? Steigen wir ein?«

»Nicht gleich, sofort!«, brummt Wuttke etwas energischer.

»Ja, ja, sofort, ist ja gut«, erwidert Marlon, nimmt genüsslich einen tiefen Zug und schiebt die Kippe zurück in seinen Mund. »Sie wissen nicht zufällig, was ein Bier im Speisewagen kostet? Meine Mutter hat mir extra Geld für die Fahrt mitgegeben.«

»Zigarette aus!«, brüllt Wuttke. »Ich sag’s nicht noch mal! Und du weißt genau, was wir ausgemacht haben! Alkohol nur nach Absprache und wenn ich dabei bin! Sonst kannst du gleich hierbleiben!«

»Ich fürchte, das geht leider nicht, Herr Wuttke«, sagt Marlon und nimmt wieder einen Zug von seiner Kippe. »Wissen Sie, meine Eltern haben sich gedacht, sie nutzen meine Abwesenheit mal, um selbst wegzufahren. Eine Woche Swingerklub in der Lüneburger Heide, all inclusive. Sie sind schon unterwegs, haben mich gerade noch hier abgesetzt. Deswegen bin ich auch so spät, mein Vater hat seinen grünen Stringtanga nicht gefunden. Und in der ganzen Hektik habe ich doch glatt meinen Schlüssel liegen lassen. Bitte nehmen Sie mich mit, Herr Wuttke! Bitte, bitte! Ich weiß doch sonst gar nicht, wo ich hinsoll!«

Wuttke fehlen die Worte. Die noch anwesenden Eltern starren Marlon fassungslos an. Ich versuche krampfhaft jeden Blickkontakt mit Marlon oder Lars zu vermeiden, damit ich nicht laut loslache.

Marlon nimmt noch einen letzten Zug, wirft die aufgerauchte Kippe auf den Boden, schiebt sich an Wuttke vorbei und setzt einen Fuß auf die erste Stufe von Wagen 26.

»Was ist jetzt? Kommt ihr?«, fragt er und dreht sich zu uns um. »Die warten nicht ewig auf uns.«

Okay, der Chef hat gesprochen. Wir strömen auf die Tür zu.

Die Letzten reißen sich von den Küssen ihrer Mütter und guten Ratschlägen ihrer Väter los und folgen uns.

Wir betreten einen dieser Großraumwagen, er ist fast leer, und die meisten Leute verteilen sich sofort auf die freien Plätze. Aber Marlon läuft weiter, Lars und ich hinterher. Wir betreten den nächsten Wagen, auf der rechten Seite befinden sich einzelne Abteile, Marlon schiebt eine der Türen auf, das Abteil ist leer.

»Genau das, was wir brauchen«, beschließt er und geht hinein.

Lars und ich folgen ihm.

Marlon stellt seine Sporttasche auf den Boden und fläzt sich auf den linken Fensterplatz. »Das ist perfekt. Hier stört uns keine Sau.«

»Das ist Nichtraucher«, brummt Lars und zeigt auf ein fettes Nichtraucherschild.

»Jetzt nicht mehr«, erwidert Marlon und zündet sich eine an.

Ich wuchte meine Tasche oben in die Gepäckablage und lasse mich schräg gegenüber von Marlon auf den mittleren Sitz fallen. Lars pflanzt sich links neben mich.

»Na endlich, da seid ihr ja!« Seba steckt seinen Kopf ins Abteil. »Bin den halben Zug abgelatscht. Hättet ja ruhig mal auf mich warten können.«

Er stellt einen Rucksack und eine Kühltasche vor unsere Füße, aus der Kühltasche ertönt ein uns wohlbekanntes Klimpern.

»Vier Wodka, zwei Havana, zwei Asbach, plus jede Menge Brause zum Mixen«, zählt Seba auf. »Das sollte für die Fahrt reichen. Womit wollt ihr anfangen?«

»Warte«, sagt Marlon. »Erst wenn Wuttke durch ist.«

Seba nickt und schiebt die Kühltasche zu Marlon hinüber. Dann setzt er sich Lars gegenüber an die Tür. Marlon zieht die Kühltasche bis an die Außenwand und legt zur Tarnung seine Jacke darüber.

»Ist hier noch was frei?«

Oh, nein. Betzel, dieser Schleimer. Was will der denn hier?

»Klar«, antwortet Marlon. »Aber wenn du hier sitzt, wer kriecht dann Wuttke in den Arsch? Verpiss dich, Betzel.«

Klare Ansage, schneller Abgang. Sehr gut. Mit diesem Denunzianten im Abteil hätte ich es nicht lange ausgehalten. Diese Dreistigkeit, sich überhaupt zu uns setzen zu wollen, sagt eigentlich schon alles. Der wollte doch nur wieder Material sammeln, um uns bei Wuttke anzuschwärzen, sonst nichts. Ich habe ja schon einige Petzen in meiner Schullaufbahn erlebt, aber dieser Typ ist echt das Letzte. Der rennt schon zu Wuttke, wenn sich mal einer während des Unterrichts kurz am Sack kratzt. Echt jetzt. Das hat er tatsächlich gebracht.

»Herr Wuttke!«, hat er gerufen. »Lars spielt mit seinen Fingern im Schritt herum!«

Und Wuttke hat das auch noch ins Klassenbuch eingetragen. Lars Fischer verhält sich seinen Mitschülern gegenüber im Genitalbereich sexuell unsensibel. Zugegeben, wir haben uns natürlich halb totgelacht. Trotzdem, Betzel ist ein verdammter Schleimer und Denunziant und ein Arschloch, und mit solchen Leuten will ich so wenig wie möglich zu tun haben.

»Hey, Diego!«, ruft Marlon laut in Richtung Gang. »Hier steigt die Fiesta!«

Diego schiebt sich mitsamt Gettoblaster in unser Abteil.

»Compadres! Genau euch habe ich gesucht!«

Diego, unser Spanier und Musikbeauftragter. Man sieht ihn nur selten ohne Knöpfe im Ohr, ein Musikverrückter, DJ auf jeder Party, kennt die Charts der letzten Jahre in- und auswendig. Es war sonnenklar, dass er während der Fahrt für die Mucke sorgt und somit liebend gerne immer einen Platz an unserer Seite hat. Wobei das nicht nur an der Musik liegt, er ist auch sonst absolut in Ordnung, total entspannt und für jeden Spaß zu haben.

Diego stellt den Gettoblaster auf den freien Platz mir gegenüber, hievt seine Tasche in die Gepäckablage und setzt sich rechts neben mich. Er lupft kurz Marlons Jacke über der Kühltasche und grinst. »Ich sehe, für Verpflegung ist gesorgt.«

Marlon zwinkert ihm zu. »Für die Fahrt sollte es reichen.«

»Es geht los«, sagt Lars, und der Zug setzt sich ruckelnd in Bewegung.

Seba streckt seinen Kopf aus dem Abteil. »Kein Wuttke in Sicht.«

»Der kommt schon noch«, sagt Marlon. »Kein Ausflug ohne Predigt. Ich sage nur: Rothenburg.«

Lars nickt wissend.

»Unvergesslich«, grinst Seba.

»Legendär«, stimmt Diego zu.

Ja, verdammt. Der legendärste Tagesausflug aller Zeiten. Das war letztes Jahr. Und ich war nicht dabei. Sommergrippe, vierzig Fieber, ich hätte kotzen können. Nach dieser Fahrt ist Kauffmann aus unserer Klasse geflogen. Weil er es in einer dunklen Ecke im Foltermuseum von Rothenburg mit Kim getrieben hatte. Ohne Scheiß. Zumindest haben das alle erzählt, dann muss wohl auch was dran sein. Der Laden war brechend voll, vier Schulklassen. Der Museumsführer erklärte gerade irgendwelche Folterwerkzeuge, alle waren ruhig, und plötzlich hörte man dieses seltsame Wimmern aus dem Nebenraum. Zuerst dachten alle, das gehöre zur Show, aber als der Führer dann die Stirn runzelte und vorsichtigen Schrittes nach nebenan ging, fand er dort Kauffmann und Kim sich im Schatten einer Guillotine vergnügend. Der Typ wäre fast in Ohnmacht gefallen, hat Marlon erzählt, was ich nur allzu gut nachvollziehen kann, denn Kauffmann und Kim beim Vögeln zuzugucken, wäre wahrscheinlich selbst für den kaltblütigsten Folterknecht zu viel gewesen. Die beiden sind nämlich hässlicher als zwei Pavianärsche bei Vollmond. Und die Schulleitung kam zu dem Entschluss, dass man die beiden besser trennen sollte. Also steckte man Kauffmann in die 10b. Ein Präzedenzfall. Vorbeugende Versetzung wegen öffentlichen Koitierens im Rahmen eines pädagogischen Ausflugs. So steht es in Kauffmanns Akte. Wie gesagt, legendär.

Wir lachen alle laut und ausgiebig, bis Seba seinen Zeigefinger auf die Lippen legt und uns zuzischt: »Achtung, Wuttke im Anmarsch!«

Simultanes Verstummen. Marlon checkt kurz, ob die Kühltasche auch wirklich verdeckt ist. Diego zieht seine Kopfhörer aus der Hosentasche und steckt sie sich in die Ohren. Seba schnappt sich die Bahnzeitschrift aus der Ablage über ihm und blättert darin. Lars und ich lehnen uns zurück und schließen die Augen. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich Wuttkes Stimme höre.

»Na, da sind ja mal wieder genau die Richtigen beisammen«, brummt er. »Am besten, ich trenne euch gleich.«

Ich öffne meine Augen.

»Was denn?«, protestiert Marlon. »Wir machen doch gar nichts!«

»Ja, noch nicht«, erwidert Wuttke.

»Wir sind ganz brav«, beteuert Lars. »Ehrlich.«

»Ja, ja, ganz brav«, sagt Wuttke. »Und warum riecht es hier so nach Rauch? Marlon?«

Marlon streckt seine Nase in die Luft und schnuppert demonstrativ.

»Keine Ahnung.« Er zuckt mit den Schultern. »Ich riech nichts. Ihr?«

Allgemeines Kopfschütteln. Seba blickt von der Zeitschrift auf.

»Das ist ja mal interessant, Herr Wuttke«, sagt er. »Wussten Sie eigentlich, dass die Bahn mit zweihundertzwanzigtausend Mitarbeitern einer der größten Arbeitgeber in ganz Deutschland ist?«

»Wie … Was?«

Wuttke verliert den Faden.

Sehr gute Taktik. Der Feind muss verwirrt werden.