Abstecher nach Tetuan - Günther Melchert - E-Book

Abstecher nach Tetuan E-Book

Günther Melchert

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Beschreibung

Hinrich, der seinen Freund Alejandro auf eine Geschäftsreise nach Marokko begleitet, wirkt nicht gesund. Dennoch fährt er alleine nach Tetuan voraus, als sich Alejandro in der spanischen Enklave Ceuta mit einem Geschäftspartner trifft. Obwohl Alejandro ihn warnt, nicht alleine in die Altstadt von Tetuan zu gehen, begibt sich Hinrich dorthin und droht, in dem Labyrinth aus verwinkelten Gassen verloren zu gehen. Wie ein rettender Engel taucht ein junger Marokkaner auf. Hinrich ist hingerissen von Hassan, der ihm die Kasbah zeigt. Doch dann kommt es zu Missverständnissen und Irritationen und Hassan verschwindet. Nicht die einzige böse Überraschung, die Hinrich verkraften muss. Auch die fremden Gerüche und die Hitze setzen ihm zu, außerdem der Whisky, den er wie eine Medizin in sich kippt, um sein zunehmendes Unwohlsein zu mildern. Hinrich scheint zu halluzinieren, gerät in Panik und ergreift die Flucht ... Davon ahnt Alejandro nichts. Er wartet am verabredeten Treffpunkt auf seinen deutschen Freund und muss bald erkennen, dass Hinrich nicht kommen wird ...

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Es geschah in einem der letzten Sommer des verflossenen Jahrtausends, aber in mancher Hinsicht ist es trotzdem noch aktuell. Alejandro Alvarez, ein gewichtiger Mann mittleren Alters mit dunkelbraunem, gewelltem Haar und blasser, ungesunder Gesichtsfarbe, die ihn sogar im Süden Spaniens als Großstädter entlarvte, deutete, mit der linken Hand seinen Pkw steuernd, mit der rechten auf rautenförmige, in der Morgensonne glitzernde Felder, die aussahen wie schneebedeckt.

„Sind das Salinen?“, fragte sein deutscher Freund Hinrich Winkler, der auf dem Beifahrersitz Mühe hatte, seine langen Beine unterzubringen. Die Männer, die Deutsch sprachen, weil Alvarez in Deutschland studiert hatte und Winkler in den romanischen Sprachen unzureichend bewandert war, fuhren von Sevilla in südlicher Richtung zum Küstenort Algeciras, um dort mit der Fähre nach Afrika überzusetzen. Alvarez hatte in Tanger zu tun, nach Absprache mit einem Geschäftspartner, der mit Antiquitäten, Keramik, Zinn-, Messing- und Silberwaren handelte. Winkler, ein Buchhändler, der sich einen gepflegten Balbobart hatte wachsen lassen, um sein schwach entwickeltes Kinn zu kaschieren, begleitete ihn.

Winkler wohnte in Köln, aber die beiden Männer Ende vierzig hatten sich in der Kunsthalle Düsseldorf kennengelernt und in einem Lokal an der Königsallee, der so genannten „Kö“, in eingehenden Gesprächen ihre gemeinsame Vorliebe für den spanischen Lyriker und Dramatiker Federico Garcia Lorca entdeckt. Tage später besuchten sie im Schauspielhaus eine Aufführung seines Stücks „Das Haus der Bernarda Alba“ und fassten für die nächste Saison den Besuch der „Bluthochzeit“ ins Auge. Weitere Abende verbrachten sie in der Altstadt an der „längsten Theke der Welt“ beim obergärigen dunklen „Altbier“. Bei Gegenbesuchen verfiel Winkler in der Konzerthalle von Madrid der Musik des blinden Komponisten Joaquin Rodrigo, etwa seinem „Concierto de Aranjuez“ und der „Fantasia para un gentilhombre“, der „Fantasia für einen Ehrenmann“. Im Süden von Spanien entwickelte er jedoch eine Neigung, die ihm weniger zur Ehre gereichte: der profanen Neigung zum Kognak „Fundador“…

„Ja, die Felder sind Salinen“, bestätigte Alvarez, indem er Winklers Frage während der Fahrt nach Algeciras beantwortete. „Sie sind langweilig, kalt und fantasielos wie so vieles Moderne. Früher hat man Gerüste gebaut aus Bündeln von Reisig. Darüber lief die Salzlösung. Das Wasser ist dann verdunstet.“

Sie fuhren an riesigen weißen Halden vorbei, und Winkler fühlte sich in das Ruhrgebiet versetzt. ‚Es gibt nur einen kleinen, aber feinen Unterschied‘, dachte er und schmunzelte, ‚bei uns sind die Halden schwarz.‘

Dann merkte er, dass die Salzhalden etliche Stellen aufwiesen, die ihm nicht geheuer waren. „Wenn ich sehe, wie unsauber die Halden wirken, zumindest dem Anschein nach, würde ich am liebsten auch auf Salz verzichten“, sagte er. „Wurst esse ich nicht mehr, seitdem ich weiß, was die Metzger darin verarbeiten.“

„Für die Wurst hat man raffinierte Gewürze – und für Salz die Raffinerien.“ Erst lachte Winkler über das Wortspiel, dann schickte er tiefschürfend hinterher: „Das stimmt, aber in diesem einen Fall soll etwas vertuscht werden, nämlich schlechte Qualität, und in jenem anderen Fall soll etwas herauskristallisiert werden: sauberes Salz.“

Alvarez verkniff sich eine Bemerkung, lächelte mit leicht geschürzten Lippen und dachte: ‚Die Deutschen können wohl nicht anders als resümieren, aber egal, Hinrich ist trotzdem ein netter Mensch.‘

Auf dem Scheitelpunkt eines mit braunem Gras bedeckten Abhangs scharrte ein schwarzer Stier von beträchtlicher Größe mit den Hufen, wirbelte Staub auf und riss Grasbüschel aus.

In Erinnerung an eine Herde, die einige Zeit zuvor am Wegrand geweidet hatte, sagte Alvarez: „Die friedlichen Rinder von eben werden von den meisten Menschen leider nur als Milch- und Fleischlieferanten angesehen, aber der Toro hier, nur bisweilen ein lieber Miura, hat anderes Kaliber.“

„Der kann einem sogar Angst machen“, bestätigte Winkler.

„Ja“, fuhr Alvarez fort, „auch hier in der Gegend züchtigt man Miuras für die Corridas, die Stierkämpfe.“

Winkler lachte so laut, dass ein Knopf seines Hemdes aufsprang und die Blöße seines gewölbten Magens freilegte. Verunsichert blickte Alvarez zu Winkler hinüber; er ahnte, etwas Falsches gesagt zu haben, und Winkler, immer noch lachend, sagte, es müsse züchten heißen, nicht züchtigen, und setzte den Unterschied auseinander.

Alvarez, der ausgezeichnet Deutsch sprach, wenn auch mit leichtem Akzent – nur mit den Idiomen stand er manchmal auf Kriegsfuß –, lachte jetzt ebenfalls, schickte aber einen besorgten Blick zu seinem Freund hinüber; dessen Lachen war nämlich unvermittelt in einen Hustenanfall übergegangen. Winkler hatte die Angewohnheit, während er hustete, die linke Hand vor den Mund zu halten und die Innenfläche seiner rechten gegen die Brust zu pressen, was seinem Husten einen dramatischen Anstrich gab.

„Du bist erkältet? Sei vorsichtig, das ist nicht ungefährlich in der Hitze.“ In der Tat herrschten, obwohl bereits der Herbst in Südspanien Einzug gehalten hatte, noch ungewöhnlich hohe Temperaturen.

„Das ist keine Erkältung, ich habe das manchmal einfach.“

„Aber du rauchst doch nicht.“

„Ich habe das Rauchen mit sieben, ich meine vor sieben Jahren eingestellt. Trotzdem huste ich.“

Mit gesenktem Nacken galoppierte der Stier jetzt die Böschung hinunter, als wollte er den Wagen, der längst an ihm vorbei war, verfolgen und auf die Hörner nehmen.

Während Winkler sich umdrehte und mit dem Daumen auf das Tier deutete, verglich er: „Wie ein Güterwagen, der einen Berg runterrollt.“

„Es gibt einen großen Unterschied“, berichtigte Alvarez. „Einem Güterwagen kann man ausweichen, er kommt auf Schienen. Aber so ein Miura kann unberechenbar sein. Und dennoch, der Vergleich mit Rollen ist angebracht. Guten Toros – ich meine den Toros, die gut sind für die Matadore – wird ebenfalls nachgesagt, sie rauschen heran wie auf Rollen.“

„Wie meinst du das?“

„Genau wie die Menschen sind die meisten Tiere Rechts- oder Linkshand oder wie sagt man. Aber die guten Stiere kommen geradeaus, scheinbar rollen sie wie auf Rädern.“

Wieder lachte Winkler. „Bei den Menschen heißt es Rechts- oder Linkshänder und bei solchen Ungetümen sagt man Hufer“, verbesserte er.

Sein Lachen klang nicht überheblich, er amüsierte sich nur über die kleinen sprachlichen Schnitzer seines Freundes. Dieser hatte sogar gebeten, ihn zu berichtigen, und manchmal hatte Hinrich den Eindruck, Alejandro streue absichtlich den einen und anderen sprachlichen Lapsus in die Unterhaltung wie attisches Salz, um ihn zu erheitern.

Während Alvarez sich auf die mäßig befahrene Straße konzentrierte, widmete Winkler sich der Umgebung. Er sah Pinien, deren Kronen sich wie grüne Schirme über kahlen braunen Stämmen aufspannten, und es fiel ihm ein, gelesen zu haben, dass vor etwa 2000 Jahren, in der Blütezeit Roms, Pinienzapfen als Symbole für Wohlstand und Glück galten.

Korkeichen zogen an ihnen vorüber, auch Orangenbäume mit runden gelben Früchten sowie deren kleine Schwestern, die Pomeranzen, und er dachte an den Begriff Landpomeranzen. Er schmunzelte und hätte am liebsten gesagt, ‚Landpomeranzen sind auch oft giftig, gallig und so sauer wie die Früchte der Pomeranzen‘, unterließ es aber, weil es ihm zu banal und machohaft erschien und vor allem zu kompliziert, den Gedanken einzubringen.

Sie passierten jetzt einen Olivenhain, die alten Bäume wirkten knorrig, waren hohl und die Verästelungen unebenmäßig. In der Morgensonne schien ihr mattes Grün wie von feinem Silberstaub bedeckt. Durch den Anblick der alten Bäume fühlte Winkler sich in eine Märchenwelt versetzt, er gab seinen Eindruck wieder und schloss: „Im Mondlicht sehen sie aus wie in der Erde verwurzelte Gespenster.“

„Dem Klischee zufolge gelten die Deutschen als Geschäftsleute, Militaristen, Denker und Romantiker, du gehörst Gott sei Dank zu den Romantikern“, hob Alvarez hervor und fuhr fort: „Wenn du den verwilderten Oleaster siehst, einen Bruder der Olivenbäume, dann gerätst du noch mehr ins Schwärmen. Das Einzige, was mich an den Olivenbäumen reizt, die ich jeden Tag sehe, sind seine Früchte, die Oliven.“

Die Freunde unterhielten sich miteinander über die Mittelmeerflora, und Alvarez wunderte sich, wie gut Winkler sich auskannte, besser als er selbst. „Mir geht es oft so“, bekannte Winkler, „über fremde Angelegenheiten weiß ich besser Bescheid als über die eigenen. Ich war auf dem Petersdom in Rom, in der St. Pauls Cathedral in London, ich habe den Sankt-Veits-Dom auf dem Hradschin in Prag besichtigt, und du hast mir die Kathedrale in Sevilla nahegebracht, ich kenne also die bedeutendsten gotischen Kirchen Europas, aber auf die Treppe des Kölner Doms, der sozusagen vor meiner Haustür steht, habe ich noch keinen Fuß gesetzt.“

Plötzlich kamen zu ihrer Rechten Menschen in ihr Blickfeld, die auf weiträumig angelegten Plantagen arbeiteten. Frauen in bunten Röcken und weißen Kopftüchern, Männer in grauen Umhängen und mit breitkrempigen Hüten pflückten in gebückter Haltung, kniend oder hockend Baumwolle – von aufgesprungenen Fruchtkapseln, aus denen viele schneeweiße Samenhaare quollen.

„Wie im Mittelalter“, schauderte Winkler, „eine schreckliche Arbeit, ich schwitze schon beim Zusehen, und trotzdem … Es hat Atmosphäre und Stil und sieht malerisch aus in seiner Buntheit – wie im Film. Es fehlt nur noch, dass die Arbeiter und Arbeiterinnen singen, dann ist Hollywood perfekt.“

„Wenn du Musik hören willst, musst du das Radio einschalten“, sagte Alvarez und zeigte auf das Autoradio. Winkler sah betroffen aus dem Fenster. „Es sollte keine blöde Retourkutsche auf deine Bemerkung sein“, begütigte Alvarez den empfindsamen Freund und fuhr fort: „Ich schätze deine romantische Ader, aber das hier ist nicht Kino, sondern Realität; in anderen Gegenden haben wir inzwischen auf moderne Maschinen umgestellt, die Baumwolle pflücken.“

Alcásar von Sevilla