Ach du dickes Ei! - Meine Kinder, die Hühner und ich - Katrin Sewerin - E-Book

Ach du dickes Ei! - Meine Kinder, die Hühner und ich E-Book

Katrin Sewerin

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Beschreibung

Katrin Sewerin ist Tierärztin und liebt Tiere. Dennoch hätte sie sich nie träumen lassen, dass sie eines Tages auf einem idyllischen Bauernhof leben und "Mama" einer munter gackernden Hühnerschar sein würde, die in der Familie viel unerwarteten Trubel auslöst. In "Ach du dickes Ei!" erzählt sie von den Abenteuern, die sie und ihre Kinder gemeinsam mit ihren geliebten Hühnern erleben. Als ihre Kinder Emma und Tom sich weitere Haustiere wünschen, ersinnen Katrin Sewerin und Ehemann Werner die perfekte Abschreckungsstrategie: Ein kategorisches Nein zu Hasen, Hamstern oder dem heiß ersehnten Golden Retriever. Stattdessen schlagen die beiden vor, Hühner anzuschaffen – und rechnen damit, dass der Nachwuchs nicht-bepelzte Tiere öde finden wird. Doch weit gefehlt. Und so ziehen Henni, Isabella, Layla und der verschüchterte Möchtegern-Hahn Momo in den Garten und erobern bald auch die Herzen der Familie. Liebevoll und mit viel Witz erzählt Katrin Sewerin von den Abenteuern mit dem gackernden Familienzuwachs, von den erstaunlichen Erkenntnissen über die Intelligenz und Gefühlswelt der Hühner und vom großen Glück, das die gefiederten Freunde mit sich bringen.

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Seitenzahl: 294

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Katrin Sewerin

Ach du dickes Ei! Meine Kinder, die Hühner und ich

Eine Familiengeschichte

Mit Illustrationen von Josephine Mark

Knaur e-books

Über dieses Buch

Als ihre Kinder Emma und Tom sich weitere Haustiere wünschen, ersinnen Katrin Sewerin und Ehemann Werner die perfekte Abschreckungsstrategie: Ein kategorisches Nein zu Hasen, Hamstern oder dem heiß ersehnten Golden Retriever. Stattdessen schlagen die beiden vor, Hühner anzuschaffen – und rechnen damit, dass der Nachwuchs nicht-bepelzte Tiere öde finden wird. Doch weit gefehlt. Und so ziehen Henni, Isabella, Layla und der verschüchterte Möchtegern-Hahn Momo in den Garten und erobern bald auch die Herzen der Familie. Liebevoll und mit viel Witz erzählt Katrin Sewerin von den Abenteuern mit dem gackernden Familienzuwachs, von den erstaunlichen Erkenntnissen über die Intelligenz und Gefühlswelt der Hühner und vom großen Glück, das die gefiederten Freunde mit sich bringen.

Inhaltsübersicht

Ausgerechnet HühnerRaus aus den Federn!Zarte AnnäherungsversucheUnerwünschter BesuchAch, du schickes Ei!Gefahr am HimmelMission impossibleHahn im WahnKüken im BettFamilienzwist im HühnerstallFriede, Freude, GrillhähnchenEierleiGermany’s next Top-ChickenDa fliegen die FedernHühner unter HausarrestKlein, aber o wehWäschewechselNicht ganz dichtGluckenglückWir sind dann mal wegGockel gut, alles gutNachwortLiteraturDanksagung
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Ausgerechnet Hühner

Ich hätte lügen sollen. Dass ich plötzlich eine Tierallergie habe – gegen alles, was kreucht und fleucht. Artenübergreifend. Nur nicht gegen unseren Hund. Aber der ist ja auch ein Pudel. Der haart nicht. Der pupst nur. Es wäre so viel einfacher gewesen, sich eine Ausrede aus den Fingern zu saugen als jetzt das. Andere Eltern machen das doch auch. Ich hätte auch schlichtweg »Nein, gibt’s nicht!« sagen können. »Keine weiteren Tiere. Basta!« Aber wäre das glaubwürdig gewesen? Ich meine, ich bin Tierärztin. Haben Tierärzte nicht das Haus voller Tiere? Und wir? Wir haben gerade mal einen einzigen Hund. Na ja, wenn’s nach mir ginge, hätten wir mindestens zwei Hunde wie früher. Meinetwegen sogar Emmas Herzenswunsch, einen Golden Retriever, auch wenn der überall im Haus seine Haare verteilt. Doch da ist ja noch mein Mann, und dem ist der Trubel jetzt schon zu groß. Ins Haus kommt ihm nichts mehr. Wegen Urlaub und so. Und so heißt: Arbeit, Dreck, Verpflichtungen. Eigentlich verstehe ich ihn sogar. Trotzdem: Ich kann meinen Kindern schlecht Wünsche abschlagen. Und gegen Tiere kann ich naturgemäß wenig einwenden. Wäre auch seltsam, an meiner Stelle. Also habe ich meinen Mann überredet.

Und nun liege ich wach und könnte mich ohrfeigen. Meine erste Nacht mit Hühnern! Hühner! Ausgerechnet Hühner! Doch das war die einzige Alternative zu einem »Haustier«, bei der mein Mann noch mitgemacht hat: Sie machen drinnen keinen Dreck, sind nützlich, und der Nachbar kann sie während des Urlaubs versorgen, wenn wir zwei Wochen hinter unserem Hund her durch die Berge keuchen, statt faul am Strand zu liegen. Strand mag er nicht, der Hund. Keiner hatte geahnt, dass Emma begeistert aufschreien würde, als wir ihr verkündeten, Hühner seien die einzige Option für ein neues Tier. Ein Huhn ist mindestens so weit von einem Golden Retriever entfernt wie der Nord- vom Südpol, und daher hatten wir, ehrlich gesagt, damit gerechnet, dass Emma dankend ablehnt und der Kelch an uns vorübergeht. Diese Strategie ist nicht aufgegangen.

Nun sind sie da, die Hühner, seit heute Abend. Sicher ist, dass sie hier wenigstens gut ins Bild passen. Freilaufendes Federvieh gehört doch zur Landidylle wie das Salz an die Salzstangen. Schließlich leben wir seit ein paar Jahren auf einem ehemaligen Bauernhof, umgeben von Feldern, Wiesen und Wäldern, fernab vom Schuss. Die nächsten Lebewesen sind ein paar Kühe, die der »Nachbar« auf der Weide neben unserem Küchenfenster grasen lässt. An manchen Tagen ist der Postbote der einzige Draht zur Zivilisation. Da tut es schon mal gut, beim Frühstück, wenn das Fenster offen ist, die Kühe schmatzen zu hören. Die äußeren Umstände sind also – zugegeben – hühnerkompatibel und geradezu perfekt. Nachbarn, die sich an ihnen stören könnten, gibt´s nicht.

Der Mond scheint durchs Fenster in unser Schlafzimmer, und ich betrachte nachdenklich meinen Mann. Werner ist ein Prachtexemplar, aber ich wette, er ist total hühnerinkompatibel! Landidylle kann er genießen, frische Eier auch, aber sich um Hühner kümmern? Geht gar nicht! Dabei soll der Mensch, genetisch gesehen, ziemlich viel mit dem Huhn gemeinsam haben – na ja, Werner kräht nicht. Der schnarcht nur. Der Einzige, der bald krähen wird, ist Momo, unser Hahn, der seit ein paar Stunden mit seinen drei Damen im Hühnerdomizil neben unserem Haus nächtigt. Und Momo ist das Problem. Werner hatte gesagt: »Kein Hahn! Nur Hennen! Kommt mir nicht mit einem Hahn zurück!« Und ich hatte ihm hoch und heilig versprochen: »Natürlich, kein Hahn, wo denkst du hin?« Denn den richtigen Hahn zu finden ist genauso schwer wie den richtigen Ehemann. Beides ist selten von Erfolg gekrönt. Das habe ich Werner wiederum nicht gesagt.

Hätten wir keine kleinen Kinder, wäre ein Hahn auch kein Problem. Im Gegenteil. Ein Hahn in einer Hühnerherde ist eine Bereicherung, denn man hat viel mehr zu beobachten. Aber nun kann ich nicht schlafen. Das Krähen am frühen Morgen ist gar nicht mal das, was ich am meisten fürchte. Ich stelle mir weit schlimmere Szenarien vor. Wie die Kinder das Weite suchen, wenn der Hahn auf sie zustürmt, um seine Hennen vor ihnen zu beschützen. Wie er ihnen in die Augen pickt und ihre Arme zerkratzt. Gruselig! Dabei sollten die Hühner doch gerade für die Kinder sein. Ein entspannendes Hobby. Die Kinder, zumindest Emma mit ihren beinahe elf Jahren sollte sie allein versorgen. Verantwortung übernehmen, wie man so schön sagt, sich mit den Tieren beschäftigen statt mit dem Fernseher oder dem Handy. Wieso habe ich mich nur vom Züchter breitschlagen lassen und bin mit drei Hennen und einem Hahn nach Hause gekommen? Emma und Tom hofften natürlich gleich auf Küken und lagen mir genauso wie der Züchter in den Ohren: »Bitte, bitte, einen Hahn!« Wer kann meinen beiden Goldstücken schon widerstehen? Tom ist fast vier und sieht mit seinem blonden Wuschelkopf aus wie ein Schelm par excellence. Und unsere zierliche Emma mit ihren blonden, langen Haaren hat uns alle fest im Griff. Ein süßer Blick aus ihren unterschiedlich farbigen Augen – eins blau, eins braungraublau – und schon tun wir, was sie sagt. Dem Züchter gegenüber hatte ich meine Bedenken natürlich geäußert, und er hat mir versprochen, dass wir den Hahn – sollte es Schwierigkeiten geben – zurückbringen dürfen. Allerdings ist das mit dem Einhalten von Versprechen ja so eine Sache. Und wer will außerdem, dass es so weit kommt? Zu einem ausgepickten Auge!

Irgendwann fallen mir meine noch intakten Augen dann doch zu. Zwei Stunden später reißt mich der Wecker aus meinen unruhigen Träumen. Schlaftrunken überlege ich, was denn heute ansteht, und komme zu dem Schluss, dass Sonntagmorgen ist. Zeit zum Nichtstun. Aber wieso denn bloß der Wecker? Ach ja. Die Hühner! Die Hühner wollen raus. Ich könnte mich erneut ohrfeigen, zumal es seit Toms Geburt das erste Mal ist, dass er mich nicht vor sechs Uhr geweckt hat und ich endlich, endlich länger hätte schlafen können! Wären da nicht die H... – ich will´s gar nicht aussprechen. Bockig drehe mich noch einmal um. Nach all der Grübelei heute Nacht bin ich viel zu müde, um aufzustehen. Kurz bevor ich wieder einschlafe, stürmen Emma und Tom ins Zimmer. »Mama, wir wollen zu den Hühnern!« Sie ziehen und zerren an der Bettdecke, ich halte dagegen. Aber sie wissen ganz genau, wie sie mich wach kriegen: Tom kitzelt mich am Fuß, Emma pustet in mein Ohr. Das nennt man wohl Teamarbeit. Wenn meine Kinder doch immer so harmonisch interagieren würden. Ich habe keinerlei Chance, und nach erfolglosem Gemecker quäle ich mich aus dem Bett und ziehe mir was über. Ein kurzer Blick auf meinen Mann: Der schläft unbeeindruckt und schnarcht zufrieden vor sich hin. Vermutlich hat er die nächsten zwei Stunden Ruhe, während ich mit den Kindern draußen bin. Für ihn sind die Hühner ein echter Glücksfall.

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Raus aus den Federn!

Alle nehmen Grün. Das fügt sich perfekt in die Landschaft ein. Auch Werner hatte gesagt: »Nimm Grün. Alles andere sieht nicht gut aus.« Jetzt aber leuchtet mir ein quietschgelber Hühnerstall entgegen und blendet meine Augen, die noch nicht mal ganz auf sind. Grün ist nur das Drumherum: die Wiesen, die Kiefern und die paar Blätter der Laubbäume, die sich noch nicht herbstlich bunt verfärbt haben. Damit Werner sich nicht aufregt, habe ich ihm sofort, nachdem er den Karton geöffnet und erschrocken die Hand vor die Augen gerissen hatte, erklärt: »Ein Unikat eben. Du liebst doch Unikate. Schau mich an.« Dagegen kann er nichts einwenden, und ich habe dazu extra so verführerisch wie möglich mit den Augenlidern geklimpert. Trotzdem hat Werner »Von wegen!« gesagt. Damit meinte er sicher den Stall. Ganz bestimmt meinte er den Stall. Alles andere wäre abwegig. Natürlich ließ ich unerwähnt, dass der Stall ein Restposten im Angebot war. Aber da keiner einen Stall in dieser grellen Farbe kaufen will und sie deswegen nicht mehr produziert wird, haut das mit dem Unikat ja sogar hin. Vor allem hört sich in Werners Ohren Unikat besser an als Restposten. Er mag Restposten nicht. Das klingt für ihn so nach Ramsch. Dabei kann hier von Ramsch wirklich nicht die Rede sein. Im Gegenteil. Der Stall ist hochmodern. Wie ein Ufo, das in unserer Wildnis gelandet ist, leuchtet die Hühnerbehausung.

Tom und Emma sind vorgelaufen und machen sich am Hühnerstall zu schaffen. Als ob sie meine Gedanken lesen könnte, ruft Emma: »Wir können ja Sonnenblumen drum rum pflanzen!« Sie war schon immer sehr kreativ. Und schon sehe ich den Stall in einem ganz anderen Licht: ein Feld voller Sonnenblumen und dazwischen ein paar Hühner! Wenn ich malen könnte, würde ich das direkt als Motiv nehmen. Bevor ich mich‘s versehe, hat Tom die Hühnerstalltür geöffnet, eine Schiebetür, die man über einen Hebel betätigt, den man geschickt drehen und ziehen muss. Genau das Richtige für Tom, den Praktiker, der keinem Knopf, keinem Hebel widerstehen kann. Und von solchen Mechanismen gibt’s am Stall mehr als genug. Als Nächstes ist die Kotschublade dran, dann die Klappe zum Nest. »Kein Ei drin!«, ruft Tom. Ich meine, ich kann es verstehen. Der Stall ist nicht nur babyentenquietschgelb, sondern auch noch aus Plastik. Er ähnelt einem Kinderspielhäuschen. Logisch, dass Tom begeistert ist. Vielleicht ist sein Rumgefuchtel am Stall ja der Grund dafür, dass kein Bewohner dieses tiny house für Hühner verlässt, und das Federvieh vorsichtshalber drinbleibt in dem winzigen, erhöhten Luxusapartment.

Das Schlafzimmer ist klein bemessen, damit die Hühner im Winter den Raum mit ihrer Körperwärme aufheizen können. Der komplett isolierte Stall hat ein geräumiges Nest, das sogar Omas und Opas ohne Bücken und Ächzen von außen öffnen können, und es gibt eine Kotschublade, sodass man den Stall, ohne in Ohnmacht zu fallen, an der frischen Luft reinigen kann. Aber das Beste für alle Beteiligten ist: ausgerechnet das Plastik! Werner hatte mir ja prophezeit, dass die ganze Arbeit mit den Hühnern früher oder später an mir hängen bleiben wird. Erstens, weil er grundsätzlich nichts mit der Versorgung zu tun haben werde – so seine Klarstellung von vornherein –, und zweitens, weil die Kinder spätestens nach drei Wochen das Interesse verloren haben werden – so seine Überzeugung. Klar, dass ich Werner das Gegenteil beweisen muss. Schon allein, damit er nicht recht behält. Also hilft nur eins: Das Hühnerprojekt muss klappen! Und damit es klappt, muss alles so einfach wie möglich sein – insbesondere für mich (falls Werner eben doch recht behalten sollte). Dazu zählt die Bekämpfung der roten Vogelmilbe. Die kann nämlich verdammt lästig werden und das ganze Projekt ernsthaft gefährden. Aber ich habe nicht vor, wertvolle Stunden mit Chemie und Atemschutzmasken zu verbringen, nur um diese fiesen Biester loszuwerden, die wie Vampire nachts den Hühnern ihr Blut stehlen. Daher hausen unsere vier Hühner nun nicht in einem schnuckeligen Holzschuppen, sondern in einem Plastikgehäuse. Denn das mögen nicht mal die Milben. Und darauf kommt es an. Außerdem kann man unseren Hühnerstall nach Belieben mit dem Gartenschlauch ausspritzen – genau die richtige Beschäftigung für kleine Kinder an heißen Sommertagen. Da schlage ich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Der Stall ist rundum effektiv. An das quietschgelbe Schlafhäuschen ist sogar ein drei Quadratmeter großer raubtiersicherer Gitterauslauf (Run genannt) mit Trink- und Futterstation (das Esszimmer) angegliedert, in den sich nicht mal ein halb verhungerter Marder hineinquetschen könnte.

Aber das scheinen unsere Hühner nicht zu wissen, denn sie wagen sich immer noch nicht hinaus. Misstrauisch lugt Henni aus der Tür, zieht den Kopf aber schnell wieder zurück. Ich rufe Tom zur Ruhe. »Bitte mal keine Knöpfe am Stall betätigen«, sage ich. Die Hühner müssen sich erst an alles gewöhnen. Geduld ist gefragt. In Toms Alter eine Herausforderung. Ich schicke ihn Körner holen. So hat er was zu tun. Emma redet derweil beruhigend auf die gefiederte Gesellschaft ein. Sie schildert, wie verlockend schön es hier draußen ist, und beschreibt, wie auf der Kuhwiese nebenan der sonnendurchflutete Nebel aufsteigt, dass die Tautropfen auf den Grashalmen wie Edelsteine glitzern und dass außer einem harmlosen Feldhasen und zwitschernden Vögeln keine Tiere unterwegs sind. Damit meint sie Fuchs und Co., von denen keine Spuren zu sehen sind. Sie redet von unserem kleinen Wäldchen, dessen bunte Blätter herbstliche Stimmung verbreiten, und von der Weite, die unseren ehemaligen Bauernhof umgibt. »Hier dürft ihr überall herumlaufen«, lockt sie. Sie preist die Würmer, Schnecken und Käfer, das frische Gras und den Löwenzahn so eloquent an, dass den Hühnern eigentlich das Wasser im Schnabel zusammenlaufen müsste. Aber alles vergeblich. Sogar Henni hat sich wieder ins Innere des Stalles zurückgezogen. Ich gähne. Genauso gut könnte ich jetzt im Bett liegen. Trotzdem kann ich nicht umhin zu sehen, wie wunderschön so ein Sonntagmorgen bei uns auf dem Land ist – wenn man sich erst mal aus den Federn gequält hat: kein Trecker, kein Auto, nur der Wind und die Vögel in den Bäumen.

Tom kommt aus der Scheune. »Reicht das?«, schreit er herüber. Er schleppt gleich den ganzen Sack Hühnerfutter nach draußen. Ganz schön stark, der Junge. Ich muss einschreiten. Wir einigen uns auf zwei Becher Körnerfutter, einen für Emma, einen für Tom. Aber entweder unsere Hühner haben keinen Hunger, oder wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen. Unsere Tiere wollen uns immer noch nicht mit ihrer Anwesenheit beglücken. Und da hat Tom eine Idee. Er läuft zum Schuppen und holt Werners Mistgabel. Die bohrt er in die Wiese, rüttelt hin und her und zieht kurze Zeit später mit den Fingern einen Regenwurm aus der Erde, der sich nach oben gearbeitet hat. »Den Trick habe ich von Papa!«, strahlt er stolz. Jetzt will Emma auch mal. Bald haben sie einen ganzen Spielzeugeimer voller Würmer, die sich wie glitschige Aale darin kringeln. Ich kämpfe mit einem Würgereiz. »Versucht’s jetzt mal mit einem Wurm«, schlage ich vor und schlucke krampfhaft, aber Tom kippt gleich den ganzen Eimer im Auslauf vor der Hühnerleiter aus – nach dem Motto: Viel hilft viel.

Mal wieder ist es Henni, die als Erste den Kopf aus der Tür streckt und neugierig auf das Gewimmel am Boden schielt. Sie reckt ihren Hals Stückchen für Stückchen weiter hinaus. Jetzt will auch Isabella wissen, was los ist. Zwei Hühner schauen nebeneinander aus dem Stall – süß. Ich mache ein Foto mit dem Handy. Endlich wagt sich Henni ganz an die Öffentlichkeit. Majestätisch steigt sie die Leiter hinab – fehlt nur ein Orchester, das diesen historischen Moment gebührend untermalt. Weniger vornehm, sondern ausgesprochen gierig pickt sie in den Würmerhaufen und schlingt einen Wurm nach dem anderen hinunter. Das guckt sich Isabella nicht länger tatenlos mit an und dackelt hinterher. Gemeinsam schaufeln sie sich das Zeug in Windeseile in den Kropf, bis der Berg Würmer verschwunden ist. Gefühlt dauerte das zwei Sekunden. Das wäre sicher einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde wert – Rubrik: Regenwürmer-Wettessen. Ich behaupte, da kann (und will) kein Mensch mithalten. Nun sind immerhin fünfzig Prozent unserer Hühner draußen. Die anderen fünfzig Prozent kuscheln sich noch im Stall aneinander. Unsere romantischen Franzosen eben, die Henne Layla und der Hahn Momo, beides Vertreter der Rasse Marans.

Die Kinder besorgen Nachschub. An einer anderen Stelle versuchen sie noch mal ihr Glück mit der Mistgabel. Währenddessen mache ich es mir auf unserer Gartenbank gemütlich und beobachte Henni und Isabella, wie sie vorsichtig ihre Umgebung erkunden. Das Tor des Runs, ihres angegliederten Mini-Auslaufes, habe ich geöffnet. Zuerst wagt Henni sich auf die große, eingezäunte Wiese neben unserem alten Bauernhaus, die nun die Hühnerbehausung beherbergt. In ihrem schwarzen Gefieder trägt Henni königlich goldene Streifen im Halsbereich. Edel. Isabella folgt ihr, aber sie bleiben beide in Stallnähe. Verständlich, es ist ja alles noch fremd. Sie picken hier und scharren da, aber dort, wo Isabella scharrt, wächst innerhalb kürzester Zeit nichts mehr. Meine Güte, hat die Power in den Füßen! Schon sieht man nur noch einen weißen Fleck (Isabella) auf schwarzer Erde. Jetzt verstehe ich, was in der Rassebeschreibung von Sussexhühnern mit »scharrfreudig« gemeint war – mit Isabella haben wir da wohl in dieser Hinsicht ein typisches Exemplar erwischt (wobei »scharrwütig« passender wäre). Wenn wir mit Layla rassemäßig auch so einen Volltreffer gelandet haben, wird sie dasjenige Huhn sein, das unsere Kinder glücklich macht. Marans legen nämlich echte Schokoladeneier! Na ja, nur die Schale ist schokoladenfarben – der Inhalt nicht. Ich muss innerlich grinsen. Der Züchter hielt meine Frage, ob die Eier auch nach Schokolade schmecken, doch tatsächlich für ernst gemeint! Dabei dürfte selbst Kleinkindern klar sein, dass Hühner keine Schokolade produzieren. Und die meisten wissen sogar, dass Hennen auch ohne Hahn Eier legen.

Dennoch sitzt da ein männlicher Vertreter seiner Art in unserem gelben Stall herum und denkt nicht ans Rauskommen. So langsam werde ich ungeduldig. Dafür hat Layla sich Richtung Ausgang gearbeitet und beäugt die Leiter kritisch. Mal setzt sie einen Fuß vor, zieht ihn wieder zurück, dann probiert sie es mit dem anderen Fuß. Ein ewiges Hin und Her. Die Kinder kommen mit einer weiteren Portion Regenwürmer angelaufen. Just in dem Moment flattert Layla waghalsig im Sturzflug die Leiter hinunter und landet auf der offen stehenden, wenig stabilen Tür des Runs, auf der sie schwankend zu balancieren versucht. Sie kippelt, was das Zeug hält, um bei dem Gewackel der Tür das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Emma greift beherzt ein, rettet sie gerade noch rechtzeitig und setzt sie sicher auf dem Boden ab. Puh, da geht uns allen ordentlich die Düse. Ein gebrochenes Hühnerbein hätte mir gerade noch gefehlt!

Jetzt hab ich’s. Diese dumme Leiter! Momo, die Memme, hat noch mehr Muffensausen davor als Layla. Zum Glück ist Emma erfinderisch. Während Tom nicht aufhören kann, Würmer zu suchen, sammelt Emma passende Stöcke. Die befestigt sie mit Klebeband an jeder Plastiksprosse, und schon haben die Hühner mehr Halt beim Treppensteigen. Tom streut neue Würmer vor die perfektionierte Hühnerleiter – dennoch tut sich nichts. Tom ist enttäuscht, Momo guckt nicht mal aus der Stalltür raus. Jetzt reicht’s. Nicht nur Momo droht hier zu verhungern. Mein Magen fängt ungemütlich an zu knurren. Ich habe jedenfalls nicht vor, ewig zu warten, bis Monsieur sich die Ehre gibt, seinen Palast zu verlassen. Ein kühner Griff und schwups hat Momo echtes Gras unter seinen Füßen. Iiiih, das Gras ist feucht! Er zieht die Füße bis zum Bauch. Also wirklich. Was für ein Weichei. Während ich ihn argwöhnisch mustere und nach verborgenen Hinweisen potenzieller Angriffslust suche, fällt mir auf, dass sein französisches Outfit in den deutschen Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold glänzt. Ich ahne, Momo ist ein Hahn voller Widersprüche – es beginnt schon bei der offiziellen Bezeichnung seines Gefieders. Die nennt sich gold-weizenfarbig, aber ist Weizen etwa mehrfarbig? Momo gesellt sich zu seiner Herzensdame Layla. Ihr schwarzes Gefieder schimmert je nach Lichteinfall grünlich. Sehr schick, finde ich. Ihre Beine wirken ein bisschen kurz geraten. Sieht putzig aus. Die beiden Franzosen sind derart schüchtern, dass sie es vorziehen, im raubtiersicheren Run zu verweilen. Henni und Isabella streifen derweil fleißig unter den Obstbäumen auf der Wiese herum – immer schön auf der Suche nach Fressbarem.

Und das habe ich nun auch vor: mich auf die Suche nach Nahrung zu begeben. Ein Blick auf die Uhr: Ups! Kein Wunder, dass mein Magen protestiert. Wie halten die Kinder nur so lange durch? Es ist inzwischen so spät, dass Werner bestimmt schon liebevoll den Frühstückstisch gedeckt hat. Wir schließen das Tor des Zaunes hinter uns, damit die Hühner nicht in die umliegenden Weiden und Wälder entwischen, denn sie kennen sich hier ja noch nicht aus. Nicht, dass sie sich noch verlaufen und ihren Stall nicht wiederfinden, obwohl der ja unübersehbar wie ein Stern am Himmel blinkt. Erwartungsvoll öffne ich die Terrassentür zur Küche und schnuppere, ob es nach Kaffee und frisch aufgebackenen Brötchen duftet. Fehlanzeige. Der Esstisch ist gähnend leer. Keine Teller, kein Besteck. Genauso wenig wie Momo den Stall verlassen wollte, wollte Werner offensichtlich sein Bett räumen. Was für männliche Gesellen habe ich mir da angelacht! Emma stellt die Butter auf den Tisch, Tom zählt das Besteck ab. Und während ich mich um Brot und Aufschnitt kümmere, freue ich mich schon auf unser erstes eigenes Frühstücksei.

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Zarte Annäherungsversuche

Alles hat seine Ordnung – wenn es nicht gerade unser Küchentisch ist, denn da deponiert Tom gerne das komplette Inventar seines Kinderzimmers, und Emma erledigt hier, mitten im Gewusel, ihre Hausaufgaben am liebsten. Dafür kann man sich bei uns auf die zeitliche Ordnung im Tagesablauf absolut verlassen (sehr zu meinem Bedauern): Sonntagmorgens wacht zuerst Tom auf, unmittelbar danach zwangsläufig ich, eine Weile später Emma und kurz vor Sonnenuntergang (gefühlt): Werner. Wer behauptet eigentlich, dass Ordnung in jeder Hinsicht wünschenswert ist? Ich wäre morgens wenigstens hin und wieder gerne mal an dritter und am liebsten an vierter Stelle statt wie üblich an zweiter. Bei den Hühnern verstehe ich ja noch den Sinn der gesitteten Reihenfolge, wer wann am frühen Morgen das Schlafzimmer verlässt. Jedes Mal schreitet zuerst Henni die Hühnerleiter hinunter, danach Isabella, im Anschluss Momo (und so was soll der »Anführer« seiner Damen sein!) und zuallerletzt Layla, die als Einzige immer noch mehrere Anläufe braucht, bevor sie behutsam die mit Ästen verstärkten Sprossen nimmt. Immerhin stürzt sie sich nicht mehr suizidgefährdet hinunter. Der Vorteil dieses geordneten Ablaufs: kein Gedränge am Ausgang wie bei der Love Parade, keine rasanten Überholmanöver auf der Hühnerleiter, keine Abstürze mit Einsatz des Hühner-Notarztwagens. Aber von alldem kann bei uns Federlosen ja nicht die Rede sein, wenn wir uns träge im Bett wälzen. Auf unsere nutzlose Aufsteh-Reihenfolge in unmenschlicher Frühe könnte ich gut und gerne verzichten. Werner ist da anderer Meinung. Wen wundert’s. Aber, da Tom mich sowieso weckt, muss ich mich wenigstens nicht darüber ärgern, die Hühner bei Tagesanbruch aus dem Stall lassen zu müssen. Leider ist dieses Übel nur eine Frage der Zeit. Sonnenauf- und -untergang haben ja auch ihren Rhythmus, und mir graut davor, wenn die Sonne vor Tom aufsteht!

Aber jetzt stehe ich mit Tom erst mal am Hühnerstall und atme die klare Herbstluft ein. Es ist der zweite Sonntagmorgen, an dem wir Hühnerbesitzer sind. Eine festgelegte Routine, wer die Hühner wann versorgt, haben wir nicht, denn bei uns verläuft kein Tag wie der andere. Meist bin ich es, die die Hühner morgens vor Schule, Kindergarten und Arbeit rauslässt. In der Regel versorgt Emma die Tiere mittags nach der Schule und bringt sie abends »ins Bett«. Nachmittags schaut Tom oft gemeinsam mit Emma oder mir bei unserem Kleinvieh vorbei, und wenn die Kinder nachmittags unterwegs sind, übernehme ich ihren Part. Der Wind trägt vereinzelt ein Muhen und Klappern aus Nachbars Kuhstall herüber, der dreihundert Meter von uns entfernt steht. Ein Tratsch über den Gartenzaun wie im Wohngebiet ist nur möglich, wenn der Bauer bis zu uns herüberstiefelt. Im Sommer stecken seine Kühe gerne mal ihre Nasen durch die Haselnusshecke und schielen auf unsere Teller, wenn wir draußen essen – eingehüllt von diesem aromatischen Duft, den ich so liebe: Kuhdung. Werner moniert zwar regelmäßig »Es stinkt!«, aber ich korrigiere beständig: »Wer hat schon eine so gesunde Landluft, Schatz?« Und dann essen wir einvernehmlich weiter.

Über unseren Plastikstall und unsere gerade mal vier Hühner würde jeder eingefleischte Landwirt wahrscheinlich mitleidig schmunzeln. Ich dagegen freue mich gerade darüber, wie schnell unsere Hühnerschar sich an die Plastikleiter gewöhnt hat. Und an uns. Tom hält eine Hand voller Weizenkörner hin, und Henni und Isabella picken bereits gemeinsam. Layla nähert sich vorsichtig von der Seite und überlegt erst noch eine Runde, ob sie es ebenso wagen sollte. Das kennen wir nun schon von ihr, immer am Zögern und Zweifeln. Schließlich fressen tatsächlich alle Damen aus Toms Hand. Er kichert. »Das tut gar nicht weh, Mama! Es kitzelt!« Momo schleicht unschlüssig um Tom herum. Immerhin zieht er die Füße im taunassen Gras nicht mehr bis an den »Bauchnabel«. Ein weiterer Fortschritt auf der Maransseite, stelle ich zufrieden fest. Momo würde auch gerne naschen, aber dazu fehlt ihm (noch?) eine Portion Mut. Wie soll der bloß mal unsere Hennen beschützen? Aber vielleicht kommt das ja noch, wenn seine männlichen Hormone in die Gänge kommen – er kräht ja noch nicht mal (dabei ist er immerhin acht Monate alt). Layla steckt ihren Schnabel in den Wassernapf, hält den Kopf hoch und lässt das Wasser gluckernd die Kehle hinunterrinnen. »Die gluckst ja richtig! Pass auf, gleich rülpst sie noch!« Tom lacht sich schlapp. Keine Ahnung, warum kleine Jungs Geräusche, die vorne und hinten rauskommen, so amüsant finden. Die anderen Hühner trinken jedenfalls sittlich, ohne einen Ton von sich zu geben. Und sie spritzen einen netterweise auch nicht nass wie Layla, die im Anschluss ihren Kopf schüttelt und das restliche Wasser auf die Umgebung verteilt.

»Haben die Flöhe?«, fragt Tom, weil alle Hühner beginnen, sich zu putzen. Mit dem Schnabel ziehen sie jede Feder einzeln vom Anfang bis zum Ende durch. »Ich hoffe nicht!«, rein zufällig kratze ich mich hinter dem Ohr. »Hühner waschen sich mit dem Schnabel. So werden sie Dreck und Parasiten los. Sie ordnen die Federäste und verteilen die wasserabweisende Fettschicht, damit das Gefieder schön fluffig bleibt und die Hühner besser fliegen können.« Und Letzteres tun unsere neuen Mitbewohner nun auch, denn sie haben Emma entdeckt, die wach geworden ist und verschlafen in unsere Richtung schlurft. Alle Hennen stürzen lauthals quasselnd auf sie zu. Es sieht zum Piepen aus: Sie strecken den Hals weit nach vorne, rennen, geben mit den Flügeln Gas und heben ein Stückchen ab, rennen, fliegen, rennen, fliegen und bremsen kurz vor Emmas Füßen abrupt ab. Jugendlicher Übermut. Unsere Hühner sind ja noch nicht erwachsen. Das sieht man am Kamm. Er ist noch nicht so groß und rot wie bei einer legereifen Henne. Momo trottet, scheinbar überfordert von so viel Frauen-Power, gemäßigt hinterher. Dafür sieht Emma nach dieser stürmischen Begrüßung jetzt richtig wach aus – Müdigkeit verflogen – und beugt sich munter zu ihren Hühnern runter. Henni steht direkt vor ihr, schaut sie schräg mit einem Auge an und schnattert regelrecht. Man könnte meinen, wir hätten eine Gans oder Ente gekauft. Tom hält sich die Ohren zu: »Henni ist ja lauter als ich!« Das stimmt meist leider nicht, aber sie ist auf jeden Fall die mitteilungsfreudigste unserer Hennen. »Und Layla singt!«, findet Tom, denn sie produziert in ihrer Aufregung seltsame hohe, lang gezogene Töne, unterbrochen von einer Serie abgehackter Silben. Und natürlich bekommen die Hühner das, worauf sie spekuliert haben. Der Grund der Aufruhr: Leckerbissen! Emma hält den Hühnern Löwenzahn hin, den sich alle – außer Momo – gierig bei ihr abzupfen. Nicht, dass Momo uns vor lauter Angst noch verhungert!

Ich traue meinen Augen kaum. Werner kommt aus dem Haus. Im Schlafanzug. Es ist noch nicht mal Mittag. In der Hand hält er die Kompostschüssel. »Delikatessen für die Hühner!«, verkündet er stolz. »Recycling von unseren Essensresten. Genial, oder?« – »Lass mal sehen, was du hast«, sage ich bloß. Avocados sind zum Beispiel tabu. Aber die sind gar nicht dabei. Dafür Unmengen Paprikakerne. »Was sollen die Hühner denn mit diesem Müll?«, frage ich entrüstet. Werner ignoriert meine Empörung und schmeißt den Hühnern die Paprikakerne einfach vor die Nase. Eins zu null für Werner. Alle Kerne weg. Wer hätte das erwartet? Dabei ist es ja an sich kein Wunder. Paprikakerne sehen aus wie Körner. Und Hühner lieben sie. Genauso wie anscheinend Fliegen, denn Isabella hat einen dicken Brummer entdeckt und hüpft wie ein überdimensionierter Flummi geschickt in die Luft, um ihn zu erwischen. Ulkig. Tom fängt natürlich sofort an, es Isabella nachzumachen. Er springt auf und ab und erhascht imaginäre Fliegen.

»Guck mal, was du machst!«, schimpft Emma. Tom hält inne und sieht, was geschehen ist. Die Hühner haben das Weite gesucht und verstecken sich unter ihrem gelben Stall. Die Farbe verätzt mir die Netzhaut inzwischen gar nicht mehr. Man gewöhnt sich an alles. An hektisches Gehüpfe sind unsere Tiere jedoch noch nicht gewöhnt. »Ups«, sagt Tom. Ich muss was klarstellen. »Hühner sind Fluchttiere. Wenn sie sich erschrecken, bringen sie sich schnell in Sicherheit. Ihr solltet euch langsam bewegen, sie kennen uns ja noch gar nicht richtig.« Ich bin überrascht. Sonst sind oft zehn Ermahnungen nötig, bis ich mir endlich Gehör verschafft habe. Aber Tom sieht ja, wie ängstlich die Hühner unterm Stall hervorschauen. Er geht in die Hocke und versucht ganz ruhig, seine neuen Kumpels mit Futter wieder anzulocken. Es dauert etwas länger als sonst, aber die Hühner fassen zum Glück Vertrauen und wagen sich wieder heran. Als Tom aufsteht, um ihnen auch noch Regenwürmer zur Entschädigung zu suchen, macht er vorsichtige, bedächtige Bewegungen. »Toll«, lobe ich ihn.

Nach dem Mittagessen gehen wir drei noch mal zu den Hühnern. Heute gab es Brokkoli als Beilage. Schauen wir mal, ob ihnen die übrig gebliebenen Strünke schmecken. Es ist ein sonniger Herbsttag. Die Bäume unseres kleinen Waldes leuchten in den verschiedensten Farben um die Wette, und es ist beinahe sommerlich warm. Emma öffnet die Pforte zu der umzäunten Wiese, auf der unser Hühnerstall samt raubtiersicherem Auslauf steht. Aber niemand von uns kann irgendein Huhn entdecken. Sie sind wie vom Erdboden verschluckt. Kein Huhn scharrt und pickt irgendwo herum. Emma fängt besorgt an zu suchen. Mich durchzuckt es frostig bis in die Zehenspitzen. Hoppla, so war das ja gar nicht vorgesehen! Die Hühner sollten ins Herz der Kinder! Schließlich war es ursprünglich Emmas Wunsch, noch ein Haustier zu bekommen – einen eigenen Hund. Denn unser Hund gehört auf jedem Papier offiziell mir. Was nichts zur Sache tut. Finde ich. Anders als Emma. Sie will einmal von Anfang an alles mit ihrem Tier alleine machen. Was sicher meine Schuld ist. Als Emma noch nicht zur Schule ging, durfte sie in meiner Praxis Welpen an Kinder sozialisieren. Unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen durfte sie sogar aggressiven Hunden beibringen, dass Kinder im Grunde genommen doch ganz nett sind. Dadurch hat Emma sich zu einer prima Hundeflüsterin entwickelt und würde das am liebstem am eigenen Hund ausleben. Stattdessen suchen wir jetzt das, was die Alternative zum Wunsch-Hund geworden ist: die Hühner. Ich meine, wahrscheinlich haben alle Tierärzte so etwas wie eine genetische Veranlagung zur Tierliebe. Trotzdem habe ich nicht damit gerechnet, dass mir dieses Federzeug dermaßen ans Herz wachsen würde. Aber dieses kalte Zucken, das mir gerade durch Arme und Beine fährt, ist ein eindeutiges Indiz dafür, dass die Hühner wie durch Kapillarkräfte in mein Innerstes gezogen sind.

Tom wuselt über die Wiese, nimmt jeden Busch auseinander und – welch Erleichterung – entdeckt sie. Sie sind noch da. Platt liegen sie auf der Erde, hinter einem Johannisbeerstrauch, die Beine abgestreckt. Wenn wir es mittlerweile nicht besser wüssten, bekämen wir den nächsten Schock des Lebens. Auf den ersten Blick sehen die Hühner nämlich verdammt tot aus. Oder halb vergiftet. Dabei betreiben sie lediglich Wellness. Eng aneinandergekuschelt wälzen sie sich in einer Kuhle, schlagen sich mit den Flügeln den Sand um die Ohren und lassen sich die Sonne auf den Bauch scheinen. Layla, unsere Transuse, döst mit geschlossenen Augen. Eine gemütliche Runde. Sehr einladend. Ich warte auf den Moment, wo Tom es ihnen nachmacht. Nachvollziehen könnte ich es, aber ihn mitten am Tag in die Badewanne zu stecken, darauf habe ich gerade keine große Lust.

Da ist doch was. Ein seltsames Geräusch. Eine schnurrende Katze im Anmarsch? Ob die leichte Beute machen will, weil unsere Hühner gerade wie immobilisiert sind? Das kommt ja gar nicht infrage. Keiner frisst unsere Hühner. Weder Werner noch ein anderes Tier. »Hört ihr das auch?«, frage ich die Kinder. Wieder. Dieses Schnurren. Die Kinder schauen sich um. Aber nirgends ist eine Katze. Wir besitzen auch keine Katzen (Werner möchte nicht, dass sie unseren Bestand an Singvögeln dezimieren). Aber vom Nachbarhof schaut ab und zu die eine oder andere bei uns vorbei, und alle paar Jahre wirft eine verwilderte Katze Junge in unserem Schuppen oder Holzstapel. »Ich weiß es«, sagt Emma, »Isabella schnurrt, immer wenn sie sich den Hals im Sand reibt!« Und tatsächlich. Ich höre genau hin: Isabella schnurrt genüsslich wie eine Katze. Das ist ja ein Ding! Denn das ist ziemlich selten. Tom schnurrt jetzt natürlich auch. Mit dem ganzen Sand in ihrem ursprünglich weißen Gefieder sieht Isabella aus wie ein Ferkelchen, das sich suhlt. »Das dauert aber lange«, wundert sich Tom, zumal die Hühner nicht, wie sonst inzwischen üblich, auf uns zugesprungen sind, sondern weiter gelassen in ihrem Loch herumlungern. Dabei sehen sie sogar, dass wir etwas Leckeres dabeihaben. Und doch haben die Hühner die Ruhe weg. Das kann noch länger dauern. Zwanzig bis dreißig Minuten Sandbaden sind schon drin, wenn sie nicht unterbrochen werden. Ich spreche aus Erfahrung. Das Sandbadeverhalten von Hühnern in verschiedenen Haltungssystemen zu untersuchen war ein Teil meiner Doktorarbeit – Schnurren gehörte nicht dazu.

Ob ich den Kindern erzählen soll, dass Hühner in industriellen Haltungsanlagen kaum richtig sandbaden können, obwohl das für ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden wichtig ist? Durch das Sandbaden entfernen sie nämlich Fette und Parasiten aus dem Gefieder, aber in Käfigsystemen fehlt angemessenes Material, sodass die armen Tiere sogar verzweifelt versuchen, sich das Futter aus dem Trog durch die Käfigstangen ins Gefieder zu manövrieren und sich auf harten Metallstäben reiben. Und in Bodenhaltung müssen sie praktisch in ihren Exkrementen baden, wenn sie nicht schon vorher von den Massen ihrer Artgenossen vertrieben werden. Da gibt es nämlich nicht nur vier entspannte Hühner wie unter unserem Johannisbeerstrauch, sondern eine mindestens vierstellige Anzahl Burn-out-gefährdeter Hühner. Es ist ein beglückender Anblick, unsere aneinandergeschmiegten Zweibeiner bei ihrem Beautyprogramm zu beobachten. Es macht ihnen nichts aus, wenn sie einen Flügel, ein Bein oder den Sand des anderen abbekommen. Die Sonne scheint. Es herrscht Friede, Freude, Eierkuchen. Ich beschließe, diesen Moment nicht durch grausame Berichte zu ruinieren. Den Brokkoli nehmen wir unverrichteter Dinge wieder mit. Wir wollen das Glück nicht stören und kommen später noch mal wieder.

Apropos Glück – natürlich machen Kinder glücklich –, aber Hühner haben Kindern gegenüber einen kleinen Vorteil: Hühner gehen abends von alleine und ohne Murren und frühzeitig