AD(H)S - Evelyn Heinemann - E-Book

AD(H)S E-Book

Evelyn Heinemann

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  • Herausgeber: Kohlhammer
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2006
Beschreibung

Die Aufmerksamkeits-Defizit-Störung mit und ohne Hyperaktivität AD(H)S zählt heute zu den häufigsten Diagnosen im Kindes- und Jugendalter. Gegen den inflationären Gebrauch der Diagnose und die Tendenz, ausschließlich organische Ursachen in Betracht zu ziehen und demzufolge überwiegend medikamentös zu behandeln, lenkt das Buch die Aufmerksamkeit auf die soziokulturellen Hindergründe, die sich nicht zuletzt in veränderten Erziehungsformen niederschlagen. Die Lebensgeschichten der Kinder und Jugendlichen sowie ihre psychischen Konflikte werden beschrieben und geschlechtsspezifisch interpretiert. Anhand von Fallbeispielen werden Familiendynamiken szenisch verstanden und der analytische Prozess in Therapie und Pädagogik aufgezeigt. Die Frage des Ritalinkonsums wird ethnopsychoanalytisch und an Fällen kritisch hinterfragt. Das Buch besticht durch seine zahlreichen Fallbeispiele, die Theorie und Praxis miteinander verbinden.

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Seitenzahl: 335

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Die Aufmerksamkeits-Defizit-Störung mit und ohne Hyperaktivität AD(H)S zählt heute zu den häufigsten Diagnosen im Kindes- und Jugendalter. Gegen den inflationären Gebrauch der Diagnose und die Tendenz, ausschließlich organische Ursachen in Betracht zu ziehen und demzufolge überwiegend medikamentös zu behandeln, lenkt das Buch die Aufmerksamkeit auf die soziokulturellen Hindergründe, die sich nicht zuletzt in veränderten Erziehungsformen niederschlagen. Die Lebensgeschichten der Kinder und Jugendlichen sowie ihre psychischen Konflikte werden beschrieben und geschlechtsspezifisch interpretiert. Anhand von Fallbeispielen werden Familiendynamiken szenisch verstanden und der analytische Prozess in Therapie und Pädagogik aufgezeigt. Die Frage des Ritalinkonsums wird ethnopsychoanalytisch und an Fällen kritisch hinterfragt. Das Buch besticht durch seine zahlreichen Fallbeispiele, die Theorie und Praxis miteinander verbinden.

Prof. Dr. Evelyn Heinemann lehrt Allgemeine Sonderpädagogik an der Universität Mainz. Dr. Hans Hopf ist Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut.

Evelyn Heinemann Hans Hopf

AD(H)S

Symptome - Psychodynamik - Fallbeispiele - psychoanalytische Theorie und Therapie

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulüssig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfültigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen

Alle Rechte vorbehalten © 2006 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany

ISBN-10: 3-17-019082-2 ISBN-13: 978-3-17-019082-5

E-Book-Formate

pdf:

epub:

978-3-17-027688-8

mobi:

978-3-17-027689-5

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Symptome und Internationale Klassifikation

2 Ursachendiskussion

3 Die frühkindliche Entwicklung von Kindern mit AD(H)S – Ergebnisse eines Forschungsprojekts

4 Familiendynamik

5 AD(H)S bei Jungen und Mädchen

6 AD(H)S – eine Symbolisierungsstörung?

7 Psychodynamik bei Kindern mit AD(H)S – Fallstudien

7.1 Trennungs- und Bindungsstörungen

7.2 Selbst- und Objektabgrenzung durch Motorik: Individuationsstörung

7.3 Fehlen der väterlichen Funktion: Sexualisierung und Aggressivierung

7.4 Reizschutz gegen Depression

8 Gesellschaftliche Veränderungen und Erziehung

9 Ritalin – zur psychischen Bedeutung eines Medikaments

9.1 Ritalinkonsum

9.2 Ritualisierter Drogenkonsum aus ethnopsychoanalytischer Sicht

9.3 Fallbeispiele

10 Psychoanalyse und Pädagogik bei Mädchen mit AD(H)S

11 Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen mit AD(H)S

Literatur

Namensregister

Sachregister

Einleitung

Kindheit und Jugend erweisen sich zunehmend als störanfällig. Zum besseren Verständnis der Kinder und Jugendlichen in Pädagogik und Psychotherapie erschien es uns (E.H.; H.H.) daher nach der Veröffentlichung unseres gemeinsamen Buches „Psychische Störungen in Kindheit und Jugend“ im Jahre 2001 notwendig, einzelne Störungsbilder konkreter zu betrachten. Das Problem der AD(H)S erwies sich dabei als besonders dringlich.

Die teilweise weitreichenden öffentlichen Diskussionen zur Verursachung der AD(H)S sowie die massiven Probleme mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen in den pädagogischen Arbeitsfeldern und in der Psychotherapie haben uns dazu motiviert, mit diesem Buch engagiert Stellung zu beziehen sowie Anregungen und Ideen für die pädagogische und psychoanalytische Praxis zu entwickeln. Unsere Erfahrungen zeigen, dass wir AD(H)S psychoanalytisch verstehen und behandeln können. Mit diesem Buch möchten wir darlegen, dass einem Störungsbild wie AD(H)S spezifische intrapsychische und interpersonale Konflikte und Strukturdefizite zugrunde liegen. Mögliche organische Beeinträchtigungen sind nur als eine Vulnerabilität neben anderen zu sehen. Sie können verstanden und im pädagogischen Alltag sowie in psychoanalytischen Behandlungen bearbeitet werden.

Nach einer kurzen Darstellung der Symptome und der Internationalen Klassifikationen in Kapitel 1 erläutern wir in Kapitel 2 die Diskussion um organische Verursachungen und stellen dieser Diskussion das psychoanalytische Konfliktmodell gegenüber. In Kapitel 3 werden das Forschungsprojekt der Mitautorin (E.H.) und empirische Daten über Diagnose, Familiensituation, Schwangerschaft, frühe Entwicklung, Sprachentwicklung, Schulleistungen, Verhaltensauffälligkeiten, Ritalin und weitere Therapieerfahrungen der am Projekt teilnehmenden Jungen und Mädchen dargestellt. Sieben Familiensituationen betroffener Kinder werden dann in Kapitel 4 exemplarisch beschrieben und interpretiert. Kapitel 5 versucht, am Beispiel von vier Familien die Dynamik bei Jungen und Mädchen mit Hyperaktivität gegenüber Jungen und Mädchen ohne Hyperaktivität herauszuarbeiten. Im Anschluss folgt in Kapitel 6 eine psychoanalytische Betrachtung der AD(H)S als eine Mentalisierungs-, Symbolisierungs- und Spielstörung. In Kapitel 7 werden an ausführlichen Fallbeispielen die zentralen Konflikte und strukturellen Störungen, die aus psychoanalytischer Sicht einer AD(H)S zugrunde liegen, aufgezeigt. Die zentralen Konflikte sehen wir dabei in Bindungs- und Trennungsstörungen, Störungen der Selbst- und Objektabgrenzung (Individuationsstörung), in einer Sexualisierung und Aggressivierung als Abwehrleistung und in einem Reizschutz gegen Depression.

Da wir AD(H)S nicht als „individuelle Pathologie“, sondern auf dem Hintergrund veränderter soziokultureller Verhältnisse betrachten, werden wir in Kapitel 8 den Einfluss der unserer Meinung nach maßgeblichen gesellschaftlichen Veränderungen, wie Entödipalisierung und das Fehlen des „Nein“ in der Erziehung, diskutieren. Die Eltern sind nach psychoanalytischem Modell nicht „schuld“ am Entstehen der AD(H)S ihrer Kinder, sie sollten aber nach Möglichkeit ihren Anteil in Erziehung und Familiendynamik reflektieren. Da ein Einfluss dieser beiden Aspekte oft verleugnet wird, kommt es unserer Beobachtung nach zu einer ungenügenden Betrachtung der Elemente „Erziehungsstil“ und „Familiendynamik“, was die gesellschaftlich dominierende Suche nach einer organischen Ursache der „Krankheit“ erklären mag.

In einem psychoanalytischen Buch über AD(H)S darf eine kritische Analyse des Ritalinkonsums nicht fehlen. Anhand ethnopsychoanalytischer Überlegungen über den rituellen Umgang mit Drogen in matrilinearen Kulturen soll in Kapitel 9 die spezielle Funktion des Ritalins für die psychische Entwicklung und Konfliktabwehr kritisch hinterfragt werden. Unterstützt wird diese Frage nach der Funktion des Ritalins durch Vignetten und die Analyse eines Fallbeispiels. Dabei wird unsere Einschätzung deutlich, dass das Geben von Ritalin ein Versuch ist, die fehlende väterliche Funktion zu ersetzen.

In Kapitel 10 wird die psychoanalytisch-pädagogische Behandlung eines Mädchens mit AD(H)S dargestellt, und Kapitel 11 setzt sich anhand der psychoanalytischen Therapie eines Jungen mit AD(H)S mit behandlungstechnischen Fragen auseinander.

Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie empfehlen zur Behandlung einer AD(H)S ausschließlich Medikation mit Stimulanzien sowie Verhaltenstherapie (2003). Lediglich zur „Bewältigung der familiendynamischen Probleme“ wird auf aufdeckende Verfahren hingewiesen. Umso erfreulicher ist die Tatsache, dass viele Kinder mit der ärztlichen Diagnose „hyperkinetische Störung“ inzwischen in psychoanalytische Therapien kommen. Vermutlich streben immer mehr Eltern die psychoanalytische Behandlung an, weil sie ahnen, dass nur so zugrunde liegende Konflikte erkannt und aufgearbeitet werden können.

1 Symptome und Internationale Klassifikation

Die AD(H)S (Aufmerksamkeits-Defizit-Störung mit und ohne Hyperaktivität) gehört heute zu den häufigsten Diagnosen im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich. Nach einer repräsentativen Umfrage unter Eltern sind nach deren Meinung 3–10 % aller Kinder betroffen, im Jugendalter nimmt die Symptomatik ab (Döpfner/Frölich/Lehmkuhl 2000, 4). Das Verhältnis Jungen : Mädchen wird in den verschiedenen Studien mit 3–9 : 1 angegeben (Knölker 2001, 16; Döpfner/Frölich/Lehmkuhl 2000, 6).

Seit dem Buch „Struwwelpeter“ des Frankfurter Nervenarztes Dr. Heinrich Hoffmann (1845) werden bewegungsfreudige „Zappelphilippe“ als Störenfriede im familiären und sozialen Raum betrachtet (Laehr 1875; Schüle 1877; Pick et al. 1904, zit. in Nissen 2005). In seinem Buch „Die Charakterfehler des Kindes“, 1891 erschienen, entwarf Jean Paul Friedrich Schulz in dem Kapitel „Das unruhige Kind“ bereits eine sorgfältig ausgearbeitete Psychopathologie des hyperkinetischen Syndroms und beschrieb eine gelegentliche Komorbidität mit ticartigen Erscheinungen (Nissen 2005, 356). Der Heidelberger Kinderpsychiater August Homburger rechnete die psychomotorisch unruhigen Kinder zu den „psychopathischen Konstitutionen“ und entwarf 1926 modellhaft ein komplettes Erscheinungsbild der ADHS-Störung gemäß F90.0 ICD-10 (zit. in Nissen 2005). 1932 beschrieben Kramer und Pollnow das Hyperkinetische Syndrom mit der folgenden Anamnese: In den ersten Lebensjahren habe sich das Kind noch ruhig verhalten, dann seien nach einem fieberhaften Infekt oder im Anschluss an epileptische Anfälle starke Unruhezustände aufgetreten, die immer heftiger wurden. Meist habe die Unruhe im dritten oder vierten Lebensjahr eingesetzt und ihren Höhepunkt im sechsten Lebensjahr erreicht. In der Pubertät habe sich die Bewegungsunruhe schließlich wieder zurückgebildet (zit. in Nissen 2005, 475). Die in der alten psychiatrischen Literatur beschriebenen Kinder mit einem hyperkinetischen Syndrom wiesen so gut wie immer feststellbare organische Defizite auf, zumeist nach Krankheiten des Zentralnervensystems.

1947 schufen Strauß und Lethinen mit der „minimal brain damage“ ein Konzept, nach dem hypostasierte, jedoch morphologisch nicht verifizierbare Hirnschädigungen als Ursachen für motorische Unruhe und kindliche Neurosen vermutet wurden. Aufgrund des fehlenden Nachweises einer mit der Symptomatik korrelierenden Hirnschädigung vollzog man schließlich einen Begriffswechsel (Mattner 2002, S. 10): Der Begriff „damage“ wurde 1966 in „dysfunction“ umgewandelt, und die gesamte Bezeichnung lautete fortan „Minimal cerebral dysfunction“ oder kurz „MCD“. Der Begriff MCD wurde später meist synonym zum Hyperkinetischen Syndrom gebraucht.

Lempp sprach in diesem Zusammenhang von einem „frühkindlich exogenen Psychosyndrom“ (Nissen 2005, 444f.). Übrig geblieben ist davon der Begriff der so genannten Teilleistungsstörung als ein „hirnorganisches Psychosyndrom“, obwohl ein kausaler Zusammenhang nie nachgewiesen werden konnte. Über das Ende der Diagnose MCD schreibt Nissen, dass die leichte frühkindliche Hirnschädigung, „diese unzulässig überdehnte, ubiquitäre Diagnose“ darum schließlich überfällig wurde, „weil sie mit Prävalenzraten von 10 bis 30 Prozent in einen definitorischen Gegensatz zum Begriff Normalität geriet“ (ebd., 445). Derselbe Autor geht gemäß Einschätzung neuerer Untersuchungen von einer hirnorganischen Kerngruppe von höchstens 1 bis 2 Prozent aus. Wir können diesen Prozess der unzulässigen Überdehnung einer Diagnose wiederum bei der ADHS beobachten, wenn inzwischen von Prävalenzraten bis zu 10 % gesprochen wird (Knölker 2001).

Die heute gängigen diagnostischen Kriterien für AD(H)S werden nach dem DSM IV und der ICD-10 erstellt. Nach dem DSM IV sind diese wie folgt (Knölker 2001, 15):

A.1 Unaufmerksamkeit

(sechs oder mehr der folgenden Symptome)

beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten

hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder bei Spielen aufrechtzuerhalten

scheint häufig bei Ansprache nicht zuzuhören

führt immer wieder Anweisungen anderer nicht vollständig durch und kann Schularbeiten, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen (nicht aufgrund oppositionellen Verhaltens- oder Verständnisschwierigkeiten)

hat oftmals Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren

vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich oft nur widerwillig mit Aufgaben, die längerdauernde geistige Anstrengungen erfordern (wie Mitarbeit im Unterricht oder Hausaufgaben)

verliert immer wieder Gegenstände, die er/sie für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt (Spielsachen,Hausaufgabenhefte, Stifte, Bücher oder Werkzeug)

lässt sich durch äußere Reize leicht ablenken

ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich

A.2 Hyperaktivität und Impulsivität

(sechs oder mehr der folgenden Symptome)

Hyperaktivität

zappelt häufig mit Händen oder Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum

steht in der Klasse oder in anderen Situationen, in denen Sitzen bleiben erwartet wird, immer wieder auf

läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen kann dies auf ein subjektives Unruhegefühl beschränkt bleiben)

hat oft Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen

ist häufig „auf Achse“ oder handelt oftmals, als wäre er/sie „getrieben“

redet übermäßig viel

Impulsivität

platzt häufig mit Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist

kann nur schwer warten, bis er/sie an der Reihe ist

unterbricht und stört andere häufig (platzt z. B. in Gespräche oder in Spiele anderer hinein)

B   Symptomatik tritt vor dem 7. Lebensjahr auf

C   Beeinträchtigungen durch diese Symptome in zwei und mehr Bereichen (Schule, Arbeitsplatz, zu Hause)

D   Deutliche Hinweise für klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen

E   Ausschluss

tief greifende Entwicklungsstörungen

Schizophrenie

andere psychotische Störungen

affektive, dissoziative Störungen

Angststörungen

Persönlichkeitsstörungen

Die AD(H)S setzt sich nach dem DSM IV aus den drei Komponenten Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität zusammen.

Nach der ICD-10 (Dilling u. a. 1993, 293ff.) wird eine Gruppe hyperkinetischer Störungen beschrieben, die charakterisiert sind durch einen frühen Beginn und überaktives, wenig moduliertes Verhalten mit deutlicher Unaufmerksamkeit und Mangel an Ausdauer bei Aufgabenstellungen. Das Verhalten ist situationsunabhängig und zeitstabil. Die Diagnose einer reinen Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität ist im Rahmen der Hyperkinetischen Störung der ICD-10 (Kategorie F 90.0) nicht möglich. Für sie sieht die ICD-10 eine Restkategorie F 90.8 vor, die jedoch völlig unspezifisch ist.

Verschiedene andere Störungen können laut ICD-10 (ebd., 293f.) hinzukommen: „hyperkinetische Kinder sind oft achtlos und impulsiv, neigen zu Unfällen und – eher aus Unachtsamkeit als vorsätzlich – zu Regelverletzungen, worauf sie mit den disziplinarischen Folgen konfrontiert sind. Ihre Beziehungen zu Erwachsenen sind oft von Distanzlosigkeit und einem Mangel an normaler Vorsicht und Zurückhaltung geprägt; bei anderen Kindern sind sie unbeliebt und können isoliert werden. Eine kognitive Beeinträchtigung ist üblich, spezifische Verzögerungen der motorischen und sprachlichen Entwicklung sind überproportional häufig.“

Weiterhin wird von sekundären Komplikationen wie dissozialem Verhalten und niedrigem Selbstwertgefühl gesprochen. Begleitende Leseschwierigkeiten und andere schulische Probleme sind verbreitet.

Die Hauptsymptome sollten in mehr als einer Situation (zu Hause, Schule etc.) vorkommen. Die Überaktivität kann sich neben Herumlaufen und Aufstehen auch in ausgeprägter Redseligkeit und Lärmen oder im Wackeln, Zappeln u. Ä. äußern.

Neben der Distanzlosigkeit in sozialen Beziehungen kommt es gelegentlich zu Unbekümmertheit in gefährlichen Situationen und impulsiver Missachtung sozialer Regeln. Schwierigkeiten, zu warten bis man an der Reihe ist, Lernstörungen und motorische Ungeschicklichkeiten treten gehäuft auf.

Neben den Hauptsymptomen werden von Döpfner/Schürmann/Frölich (1998, 2ff.) zusätzlich andere Auffälligkeiten beschrieben:

a) Soziale Probleme im Kontakt mit anderen Kindern

Viele hyperaktive Kinder verhalten sich anderen Kindern gegenüber zudringlich, unterbrechen deren Aktivitäten oder versuchen, diese zu dominieren und zu kontrollieren. Ein großer Teil zeigt zusätzlich Aggressivität gegenüber Gleichaltrigen. Auch in Gleichaltrigengruppen verletzen sie die Grenzen und entziehen sich den Regeln. Sie sind oft unbeliebt oder werden abgelehnt.

b) Oppositionelle Verhaltensstörungen

Die Kinder mit Hyperaktivität neigen zu einer deutlich verminderten Frustrationstoleranz mit Wutausbrüchen. Gehäuft treten oppositionelle Verhaltensstörungen mit aktivem Widersetzen gegenüber Anweisungen und Regeln von Erwachsenen auf. In der weiteren Entwicklung können auch Störungen des Sozialverhaltens mit dissozialen Verhaltensauffälligkeiten vorkommen.

c) Verminderte Intelligenzleistungen

Bezüglich verminderter Intelligenzleistungen gibt es widersprüchliche Untersuchungen.

d) Entwicklungs- und Schulleistungsdefizite

Nahezu alle Studien belegen Schulleistungsdefizite. Kinder mit ADHS erreichen geringere Leistungen in Sprach-, Lese-, Rechtschreib- und Rechentests.

e) Emotionale Auffälligkeiten

Es ist nach Döpfner/Schürmann/Frölich nicht verwunderlich, dass Kinder, die seit dem Kindergartenalter negative Rückmeldungen, Ablehnungen und Misserfolge erhalten, auch vermehrt emotionale Auffälligkeiten zeigen. Sie fallen durch mangelndes Selbstvertrauen, soziale Unsicherheiten, Ängste und depressive Befindlichkeiten auf. Von den Eltern werden hyperkinetische Kinder neunmal häufiger als ängstlich und depressiv beschrieben.

Den Verlauf hyperkinetischer Störungen während der Kindheit und im Jugendalter fassen Döpfner/Schürmann/Frölich (1998, 8ff.) wie folgt zusammen:

Viele hyperkinetische Kinder fallen bereits im Alter von drei Jahren durch Überaktivität, eine geringe Aufmerksamkeitsspanne und oppositionelles Verhalten auf. Außerdem werden gehäuft Rückstände in der motorischen Entwicklung, der Sprachentwicklung und in der Entwicklung der visuellen Wahrnehmung genannt.

Im Kindergarten- und Vorschulalter ist das hervorstechendste Merkmal die motorische Unruhe, Aufmerksamkeitsschwäche, erhöhte Aggressivität und eine erhöhte Rate an negativ-kontrollierenden Eltern-Kind-Interaktionen.

Im Schulalter steigern sich die Probleme. Hier zeigen sich vermehrt Störungen in den Beziehungen zu Gleichaltrigen, relative Leistungsschwächen, beginnende dissoziale Verhaltensweisen (Lügen, Stehlen), Wutausbrüche und verminderte Selbstwertgefühle.

Hyperkinetische Kinder rufen in den Unterricht herein und hören nicht zu, wenn der Lehrer spricht. Hausaufgaben werden nicht oder unordentlich gemacht. Darüber hinaus ist ein erhöhtes Maß an Klassenwiederholungen, Ausschluss vom Unterricht, Schulverweisen sowie Schulabbrüchen zu beobachten (Döpfner/Frölich/Lehmkuhl 2000, 18).

Im Jugendalter kommt es eher zu einer Verminderung der motorischen Unruhe, dafür treten die Aufmerksamkeitsstörungen in den Vordergrund. Die Schule wird häufig mit einem niedrigeren Schulabschluss beendet.

2 Ursachendiskussion

Dopaminmangelhypothese

Seit den 1970er Jahren geht man bei der Ursachensuche für AD(H)S von einer biochemischen Störung der synaptischen Überträgersubstanzen des Gehirns aus – eine Theorie, für die nach Mattner (2002, 11) bislang der empirische Beleg fehlt. Dass sich trotz des fehlenden Nachweises die Hypothese einer organischen Verursachung hält, bezeichnet Mattner als zunehmende „Medizinisierung“ abweichenden Verhaltens, das so zur individuellen pathologischen Kategorie wird.

Im Leitfaden für Kinder und Jugendpsychiatrie (Döpfner/Frölich/Lehmkuhl 2000, 10) wird auf die Kumulation von Störungen innerhalb bestimmter Familien hingewiesen, was auf eine genetische Verursachung schließen lasse. Adoptions- und Zwillingsstudien dienen der Untermauerung einer genetischen Hypothese. Die Autoren zitieren Studien von Edelbrock aus dem Jahr 1995 und von Gilles aus dem Jahr 1992. Dort wurde eine Konkordanz von 81 % bei eineiigen und 29 % bei zweieiigen Zwillingen ermittelt. Döpfner/Frölich/Lehmkul gehen von einer 70–91 %igen (ebd., 11) genetischen Bedingtheit bei der Eigenschaft Hyperaktivität-Impulsivität aus. Genetische Störungen bewirkten eine Störung des Dopamin-Stoffwechsels. Möglicherweise könnten jedoch auch Komplikationen während der Schwangerschaft, Exposition gegenüber toxischen Substanzen oder neurologische Erkrankungen als Ursache angeführt werden oder verstärkend wirken (ebd., 10). Familiären Belastungsfaktoren komme keine primäre ätiologische Bedeutung zu (ebd., 14), während psychosoziale Belastungen zum Schweregrad der Störung beitragen könnten, aber nicht primäre Ursache seien. Hyperkinetische Störungen verursachten negative Interaktionen zwischen Kind und Eltern, Erziehern, Lehrern etc. Inkompetentes Erziehungsverhalten und andere Belastungen verstärkten dann die Störung (ebd., 16).

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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